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Männer, Muskeln und die Macken der Kunstbranche: Entdecken Sie die rasante Komödie "Lauter nackte Männer" von Tina Grube als eBook bei dotbooks. "Hemden weg, Hosen runter, schließlich geht es hier um Kunst!" Mona malt meterhohe Ölgemälde in kraftvollen Farben – und zwar am liebsten von formschönen, durchtrainierten Männerkörpern. Ganz schön provokant! Und offensichtlich zu selbstbewusst für den Kunstmarkt: Niemand interessiert sich für Monas Bilder. Bis zu dem Tag, als eins von ihnen in einer Galerie auftaucht … unter dem Namen eines Mannes! Sofort wird es für ein Vermögen verkauft. Zuerst ist Mona sprachlos. Dann wird sie angriffslustig – und beschließt, als geheimnisvoller Malerfürst richtig durchzustarten … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Tina Grubes "Lauter nackte Männer". Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Über dieses Buch:
»Hemden weg, Hosen runter, schließlich geht es hier um Kunst!« Mona malt meterhohe Ölgemälde in kraftvollen Farben – und zwar am liebsten von formschönen, durchtrainierten Männerkörpern. Ganz schön provokant! Und offensichtlich zu selbstbewusst für den Kunstmarkt: Niemand interessiert sich für Monas Bilder. Bis zu dem Tag, als eins von ihnen in einer Galerie auftaucht … unter dem Namen eines Mannes! Sofort wird es für ein Vermögen verkauft. Zuerst ist Mona sprachlos. Dann wird sie angriffslustig – und beschließt, als geheimnisvoller Malerfürst richtig durchzustarten …
Über die Autorin:
Tina Grube, geboren in Berlin, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, arbeitete in renommierten Werbeagenturen und begann schließlich, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Ihre turbulenten Komödien wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die beiden Bestseller Männer sind wie Schokolade und Ich pfeif auf schöne Männer erfolgreich verfilmt. Tina Grube pendelt heute zwischen ihren Wohnsitzen in New York und Mailand und arbeitet bereits an ihrem nächsten Roman.
Bei dotbooks erscheinen außerdem Tina Grubes Romane Männer sind wie Schokolade, Ich pfeif auf schöne Männer, Schau mir bloß nicht in die Augen, Das kleine Busenwunder und Ein Mann mit Zuckerguss.
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Neuausgabe November 2014
Copyright © der Originalausgabe 1998 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock/Leeremy
ISBN 978-3-95520-772-4
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Tina Grube
Lauter nackte Männer
Roman
dotbooks.
Für meinen Mann
Pampelmusen sind sauer.
Männliche Musen sind selten.
Saures mag ich nicht.
Raritäten liebe ich.
Dich liebe ich.
»Schöner Hut, junge Frau.«
Immer wieder erregte es ein wenig Aufsehen, mein Super-Lieblingsstück. Trug eben nicht jeder – beziehungsweise jede –, so einen schwarzen Herrenhut mit bunter Spitzenborte. Ich tippte kurz an die Krempe und lächelte den rotwangigen Gemüseverkäufer an.
Was hatte mich nur auf den Wochenmarkt getrieben? Wahrscheinlich wieder mal ein chronischer Vitaminmangel. Ja, ich brauchte Vitalitätsstoff. Unschlüssig schaute ich auf die leuchtende Farbenpracht der vielen Früchte, Früchtchen und gemüsigen Spezialitäten, die sicher jedes Vegetarierherz erregt höher hüpfen ließen.
»Sind die frisch?« fragte ich schon mal testweise und deutete auf die fein säuberlich aufgereihten Artischocken.
»Aber natürlich, junge Frau, alles ist frisch«, sagte der Verkäufer mit gespielter Entrüstung.
Mhm, Artischocken mußte man mindestens so dreißig Minuten lang kochen. Dann galt es, die einzelnen Blätter abzuzupfen und an den unteren Blatteilen ein wenig herumzulutschen, bis sich ein riesiger Abfallhaufen ergab. Das Beste gab's erst ganz zum Schluß. Den Artischockenboden, zwar köstlich, aber wiederum so wenig, daß man schon mindestens zehn Stück davon haben mußte, um auch nur annähernd satt zu werden. Nee, das war wohl nicht das richtige für mein bescheidenes Haushaltsbudget. Mein Blick glitt weiter.
»Gurken?« murmelte ich.
Nö, langweilig.
Eifrig hatte der Verkäufer bereits eine Gurke in der Hand und fuchtelte mit dem grünen Teil vor mir herum.
»Vielleicht doch besser Tomaten?« fragte ich mehr mich selbst als ihn.
»Welche Sorte?« wollte er wissen, nun schon etwas ungeduldig in Anbetracht der Hausfrauenschlange, die sich, mit professionellen Einkaufskörben bewaffnet, hinter mir bildete. »Cherry-Tomaten, holländische Tomaten, Fleischtomaten oder Strauchtomaten?«
Äh, vielleicht doch gar keine Tomaten. Die meisten Sorten sahen irgendwie mutiert aus. Außen gut, innen unter Garantie wässerig-lasch-fad. Wußte doch jeder, daß die Dinger heutzutage in den Gewächshäusern so hingezüchtet wurden, daß sie förmlich nach nix mehr schmeckten.
Meine Entscheidungsschwierigkeiten bei diesen normalen Dingen des Lebens schienen den Verkäufer nun doch zu nerven.
»Ooh«, staunte ich plötzlich und zeigte aufgeregt nach rechts. »Die sind aber schön.«
Irgend etwas klingelte bei mir. Nachdrücklich und unüberhörbar. Ich starrte auf Orangen. Auf selbstverständlich ganz toll frische Orangen.
»Aus Spanien«, erklärte der Verkäufer so stolz, als hätte er sie über Nacht dort persönlich im Schweiße seines Angesichts vom Baum gepflückt und im olympiareifen Dauerlauf hierhertransportiert.
Schon hatte ich zwei der prachtvollen Kugeln in meinen beiden Händen. Ich ließ sie in den Handflächen hin- und herkullern. »Davon zwei«, sagte ich begeistert. »Aber ohne Flecken.«
Sein Blick sprach Bände. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für eine völlig überspannte Person der überflüssigen Art. Na ja, was konnte er schon erwarten bei einer, die nicht mal so einen praktischen Korb dabeihatte, sondern bestimmt gleich nach einer Plastiktüte fragen würde.
»Flecken? Das spielt bei denen gar keine Rolle. Innen sind die alle gleich.«
Ich schob meinen Hut ein wenig zurück. »Ich will die ja nicht essen«, erklärte ich.
Der Verkäufer war nun vollends irritiert. »Sie wollen sie nicht essen, soso. Ach, Sie wollen sie auspressen«, sagte er dann.
Ein wirklich blitzgescheites Kerlchen. Das war in der Tat Möglichkeit zwei.
»Auspressen? Nein, das eigentlich auch nicht.«
Er scharrte inzwischen mit den Füßen. Schließlich fragte er: »Wozu brauchen Sie denn dann bitte Orangen?«
So ganz genau wußte ich das selbst nicht. Es war mehr so eine Ahnung, so ein zwingendes Gefühl. Aber ich war ihm wohl eine Antwort schuldig, wenn ich schon kein besonders toller Umsatzbringer sein würde.
»Zum Malen.«
»Ach, Sie wollen Apfelsinen malen?«
Nee, nix lag mir ferner. Ich male nur nackte Männer. Aber das würde ich ihm wohl besser nicht anvertrauen. Fröhlich hielt ich die Orangen fest. Zwei Handvoll prächtigster Rundungen. So prall und üppig wie ein muskulöser männlicher verlängerter Rücken. Mein Kopf projizierte wie üblich vollautomatisch bereits erste Entwürfe für mein nächstes Bild. Jetzt war mir auch klar, was mich hierhergetrieben hatte. Die Intuition, die künstlerische, jawoll!
»Apfelsinen malen? Na ja, so ungefähr«, nickte ich kurz und betrachtete noch mal kritisch die beiden Auserwählten. »Das wär's.«
Erleichtert packte er die beiden Orangen in eine Papiertüte. Da bekam ich nun aber Angst, ich könnte sie beim Nachhausetragen zerdrücken.
»Hätten Sie vielleicht eine Tragetasche für mich?« fragte ich. Ganz, ganz lieb und vorsichtig.
Er reichte sie mir rüber. »Noch einen Wunsch?«
Sein Ton war irgendwie ein klein wenig schneidend, fand ich. Aber sonst brauchte ich nichts. Im Tiefkühlfach hatte ich noch eine Packung Rahmspinat. Was das Thema Nahrungsaufnahme betraf, würde die für heute schon reichen. Dazu noch eine sprudelnde Multi-Vitaminpille Marke Jungbrunnen mit der Extraportion Mineralstoffe zur Vorbeugung gegen Grippe, nächtliche Wadenkrämpfe und wogegen auch immer.
***
Zufrieden marschierte ich zurück nach Hause. Prust, keuch, schnauf, die sechs Stockwerke bis zu meiner kuscheligen Mansardenwohnung verlangten wieder mal vollen körperlichen Einsatz. Geschafft. Zufrieden schleuderte ich meinen Hut aufs Sofa.
»Hier, Papa, guck mal«, präsentierte ich meine Orangen dem Gemälde meines Vaters und betrachtete seine markanten Gesichtszüge. Irgendwann hatte ich es mir angewöhnt, mit ihm zu sprechen. Nur weil er nicht mehr auf der Erde wohnte, war das schließlich noch lange kein Grund, ihn zu ignorieren.
»Ja, ich weiß, ich soll mich auf meinen richtigen Beruf konzentrieren, aber schließlich bist du schuld an meiner Passion«, nickte ich Vaters Selbstbildnis zu.
Der Papa nämlich war ein großer Künstler. Ein verkannter, leider. Deshalb nagten wir als Kinder immer eher am Hungertuch als an kulinarischen Köstlichkeiten.
»Mona, werde Lehrerin, das ist ein reeller Beruf für eine Frau«, hatte er immer gepredigt. »Gemalt wird höchstens in der Freizeit, so nebenbei, verstanden?«
Klar, schon in Ordnung. Folgsam hatte ich Kunst und Deutsch fürs Lehrfach studiert. Unglücklicherweise war ich nicht die einzige mit dieser glorreichen Idee. »Das Wort Lehrerboom gab's zu deinen Zeiten eben noch nicht, Papa«, sprach ich laut meine Gedanken aus, während ich schon nach dem Skizzenblock angelte.
Abgesehen davon fand ich meine Referendarzeit in der Grundschule auch nicht so spannend. Krakeelende Kids, die begeistert mit Wasserfarben herumpanschten, aber nur, weil bunte Pampe zu machen so schön war. Und die unbegeistert Grammatik paukten, um schließlich beim Kapitel Kommasetzung diesen hübschen kleinen, oft so notwendigen Strich überall dahin zu setzen, wo er unter Garantie nicht hingehörte. Nee, da lobte ich mir doch meine erwachsenen Sprachschüler, die ich inzwischen zu Hause unterrichtete. Wer sein Geld ausgab, um bei mir zu lernen, der meinte es auch ernst und ließ sich von mir brav und ohne aufzumucken fördern und fordern. Bezahlt ist schließlich bezahlt. Es lebe das kapitalistische menschliche Naturell.
Der Kohlestift glitt schnell über das weiße Blatt. Ein wunderschöner nackter Mann von hinten mit knackigem Po reckte und streckte sich.
»Nicht schlecht«, murmelte ich.
Nächstes Blatt, die Proportionen stimmten noch nicht. Beine zu kurz und Arme zu lang, das war tödlich. Schließlich hatte ich nicht die Absicht, einen verwachsenen Gnom auf Leinwand zu bannen.
Kurz schaute ich auf Papas Bild. Nie würde ich vergessen, welch wunderbare Vorträge er mir bei seiner Arbeit gehalten hatte. Über Proportionen, über Perspektiven, sogar über die Grundbegriffe der handwerklichen Vorbereitungsarbeiten.
»Du mußt fester an der Leinwand ziehen, wenn du sie auf Holz spannst, Mona, aber nicht zu fest. Mit Gefühl.«
Überhaupt, es gab nichts bei dieser ganzen geliebten, verfluchten Malerei, das ohne Gefühl ging.
***
»Schau dir dieses Bild an, Mona«, hatte Papa gesagt. Da war ich gerade fünf Jahre alt. Mit Bus und Bahn sind wir für einen Tag nach Paris gepilgert. Den Eiffelturm habe ich nicht gesehen. Aber den Louvre. Diese Zauberwelt der Kunst. »Es ist von Leonardo da Vinci. Er war ein Suchender, ein Pionier. Und er hat die Mona Lisa gemalt«, erklärte Papa andächtig.
»Mona Lisa? So heiße doch ich«, hatte ich erstaunt geflüstert.
Papa mußte lachen. Sein tiefes, rauhes Lachen. Dann durfte ich mich auf seine Schultern setzen, um meiner Namensschwester auch aus angemessener Höhe ins Gesicht blicken zu können.
»Diese Frau hat ein Geheimnis, kannst du das sehen? Ein Meisterwerk des Ausdrucks, kleine Mona. Leonardo hat gemalt, was er gefühlt hat, verstehst du?«
Keine Ahnung, was ich damals verstanden oder gedacht habe. Aber fühlen konnte ich jedenfalls eine ganze Menge.
Und dann, nach Hause zurückgekehrt, kam das Blau-und-Gelb-Spiel. Ohne Ende hatte ich Papa genervt, daß ich nun auch selbst malen wollte. So lange, bis er mich mehr und mehr einweihte. Klein-Mona-Lisa saß auf dem alten Dielenfußboden und hatte entdeckt, was passierte, wenn man Blau und Gelb ineinandermischte.
»Wiese«, hatte ich fassungslos gesagt. Papa legte mir dann eine rote und eine gelbe Farbtube hin. Das gab »Apfelsine«.
Lächelnd betrachtete ich die gerade erstandenen Orangen.
»Hast heute auch wieder deine Hände im Spiel gehabt, Papa, was?«
***
So, nun waren die Beine länger. Kritisch betrachtete ich den zweiten Entwurf. Wie sollte ich das Bild nennen? Vielleicht Orangenpopo? Nein, das klang nach Zellulitis. Gedankenverloren kniff ich mich in meinen Oberschenkel. Einmal kräftig zusammengedrückt, und schon entstand eine kleine Kraterlandschaft wie bei 'ner Apfelsinenhaut. Klarer Fall von weiblichen Fettzellen, die man wohl brauchte, um die Dehnung der Haut bei 'ner Schwangerschaft zu verkraften.
Aber was könnte das mit einem Mann zu tun haben? Babys können die Männer trotz Emanzipation immer noch nicht kriegen. Wollen sie auch sicher nicht, schließlich ist so eine Geburt mit höllischen Schmerzen verbunden. Nix für die wehleidigen Herren der Schöpfung.
»Kikeriki«, machte es plötzlich. Ich schaute auf meinen Gockel. Freundin Vivian hatte ihn mir geschenkt. Er war aus Plastik und an mein Telefon angeschlossen. Wenn es läutete, krähte das Vieh immer los.
»Ruhe, ich arbeite.«
»Kikeriki, kikeriki.«
»Wenn's denn sein muß«, sagte ich und erhob mich.
»Mona Linde.«
»Hier auch Linde«, schlug mir die vertraute Stimme meines Bruderherzens entgegen.
»Tagchen, Herr Doktor«, erwiderte ich fröhlich, »was macht die Kunst?«
»Na, das könnte ich wohl eher dich fragen. Jedenfalls, das einzige, was hier an Kunst erinnert, ist die Tatsache, daß zur Zeit die Wände fertiggestrichen werden.«
Ist die Tatsache, daß ... Mein Bruder Adrian sprach immer so schön gewählt.
»Und wann ist alles fertig?« erkundigte ich mich.
»So in drei Wochen. Deshalb rufe ich auch an. Zur Kanzleieröffnung veranstalte ich eine Party. Mit geladenen Gästen aus den guten Kreisen, verstehst du?«
»Du mit deinen guten Kreisen. Hat dir deine Geliebte Sibille verschafft, den Zugang zu den Snobs, was?«
Ich konnte Sibille nicht ausstehen. Die sogenannte Lebensgefährtin meines Bruders. Eine durch und durch verwöhnte Ziege aus reichem Elternhaus, die ohne Perlenkettchen und Hermès-Tuch keinen Fuß auf die Straße setzte.
»Nenn sie nicht immer ›meine Geliebte‹«, gab Adrian zurück.
»Wieso?« fragte ich harmlos. »Tut ihr es, du weißt schon was, etwa nicht? Soll ich sie mal aufklären?«
»Untersteh dich. Und über mein Sexleben rede ich nicht mit dir, Kleine, klar?«
»Oje, jetzt haste wieder deinen Anwaltston drauf, Herr Doktor.«
Adrian der Kluge war nämlich ein richtiger Mann. Ein gebildeter, anständiger. Papa hatte ihm gesagt, er solle Jura studieren. Das wär was Reelles für Jungs. Außerdem war Papa wohl klar, daß Adrian weder das Sangestalent von Mama noch das Maltemperament von ihm selbst geerbt hatte. Und der Adrian, der war so ein Analytischer, Seriöser, von Kind an. Diese ganze Schlamperei in unserer Künstlerfamilie fand er schon als kleiner Junge blöd. Er war immer der einzige, der penibel akkurat angezogen war. Nun kämpfte er für die Gerechtigkeit. Hoffentlich würde er nicht so 'n Anwalt, der immer nur die Reichen herauspaukte, wenn sie am Rande der Legalität versuchten, ihre Penunse zu vermehren.
»Also, es wird jedenfalls ein schönes Fest, zu dem ich dich selbstverständlich auch einladen möchte.«
»Prima, natürlich komme ich. Wann genau?«
Ich notierte Datum und Uhrzeit mit Kohlestift.
»Und, Mona, du kannst mir einen großen Gefallen tun. Bitte verschone meine Leute mit Diskussionen über Reichtum und Armut und über Kunst. Schaffst du das, nur für mich, nur dieses eine Mal?«
Ich verdrehte die Augen. »Klar, Adrian. Und wahrscheinlich soll ich mir auch die Ohren waschen und mich hübsch züchtig anziehen, oder?«
»Genau. Danach kannst du dich wieder mit deinen Farben vollschmieren, du kleine Verrückte.«
Man konnte ihm nicht böse sein. Heimlich liebte er meine Malerei und auch die feurigen Diskussionen, die ich ihm nie ersparen konnte. Aber er war wie Papa der Meinung, ich solle besser eine tolle Lehrerin sein, anstatt mich ins Armenhaus zu pinseln. »Schon gut, Brüderchen. Du hast nichts von mir zu befürchten. Ich werde schweigen und ganz reizend aussehen.«
Noch ein Küßchen in den Hörer und bye-bye.
Mhm, was schenkt man seinem einzigen und Lieblingsbruder zur Kanzleieröffnung, wenn man gerade mal wieder ziemlich pleite ist? Nachdenklich nuckelte ich an meinem Kohlestift herum. Igitt. Das schmeckte bitter. Während ich mir die schwarze Farbe vom Mund wischte, überlegte ich fieberhaft weiter.
Genau! Das war es doch! Ein Bild, ein Kunstwerk, ein Original. Von mir natürlich. Sonst würde ihm seine blöde Freundin Sibille womöglich noch so einen konservativen alten Schinken mit 'ner Segeljacht an die Wand hängen. Oder mit 'ner dekadenten Jagdgesellschaft von anno Dutt, so eine Spießigkeit mit totgeschossenen Truthähnen, Entchen oder gar ermordeten Füchschen. Das mußte ich auf jeden Fall verhindern.
Gedankenversunken rollte ich wieder die Orangen in meinen Händen hin und her. Dieses neue Werk, ja, das sollte er bekommen.
Wie werden Orangen eigentlich so süß und saftig? Spanien. Spanien, das hatte der Obstverkäufer doch gesagt. Und was war in Spanien? Wärme. Sonne. Natürlich, ist doch gar nicht so schwer, Mona!
Ich betrachtete meine ausgestreckte Männergestalt. Schnell noch ein paar Striche, Arme noch höher, geöffnete Hände. Und rechts oben die glühende Sonne. Nun sah es doch aus, als würde der schöne nackte Mann nach der Sonne greifen.
»Der Sonnengreifer«, platzte ich heraus.
Es klingelte, es rauschte in meinen Öhrchen. Das passierte mir immer, wenn ich auf der richtigen Fährte war. Klar, ich schenke dem Adrian einen Sonnengreifer. Nach den Sternen grapschen kann ja jeder. Aber mein Bruder, der sollte eben etwas noch viel Spektakuläreres bekommen.
Das einzige, was mir für das Spektakel noch fehlte, war allerdings ein Aktmodell. Edgar, mein immer bereiter guter Freund, war auf unbestimmte Zeit in den Urlaub gefahren. Der Schlingel, warum ausgerechnet jetzt? Und ohne nackten Originalmann konnte ich diesen wunderbaren Körper nicht malen. So ein Mist. Ich würde jemanden anheuern müssen. Schon wieder eine ungeplante Geldausgabe. Aber der Sonnengreifer war es mir wert. Und Adrian natürlich auch.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß es Zeit zum Aufräumen war. Gleich würde Paolo aufkreuzen zu einer Doppelstunde Sprachunterricht.
Bis in Kürze, schöner Sonnengreifer!
Weg mit dem Skizzenblock. Und her mit meiner herrlich altmodischen Schiefertafel.
Da saßen wir nun. Paolo, reinrassiger Italiener und seit drei Monaten Manager in einer deutschen Modefirma. Kein Hobby-Lerner, sondern ein Zwangsverpflichteter. Er mußte lernen für seinen Job, der Paolo. Eine für mich denkbar gute Voraussetzung, weil das immer die dankbarsten Schüler waren.
Auf dem Fußboden lag derweil faul und breit Mausi herum. Mausi war das Gegenteil von reinrassig, eher so eine wilde Promenadenmischung aus Dackel, Schäferhund und Boxer, vielleicht noch mit einigen zusätzlichen Cockerspaniel-Genen von seiner Ururgroßmutter. Warum Paolo seinen Hund, ohne den er bei mir nie antrat, Mausi genannt hatte, war mir allerdings schleierhaft. Wahrscheinlich lag das an dem noch mangelnden Wortschatz meines Schülers. Aber egal. Eine Herausforderung mehr.
Paolo holte tief Luft. Der erste Satz in einer neuen Stunde war eben besonders schwer. Aber nun ging's los.
»Ich trinke einen Vogel.«
Und ich wußte, ich hatte keinen Hörschaden. Aber was mir mein männliches Gegenüber hier präsentierte, ließ mich doch kurzfristig an der perfekten Funktion meines Trommelfells oder Innenohrs zweifeln.
Treuherzig schaute er mich an.
»Wiederholen Sie das bitte«, sagte ich vorsichtshalber. Gewissermaßen als schnelle Generalüberprüfung meiner Öhrchen.
Er fixierte mich ohne eine Spur von Unsicherheit. Dann ließ er laut und deutlich seine Stimme ertönen.
»Ich trinke einen Vogel!«
Na, bravo. Ein Musterschüler. Sogar einer, der heute geflügelte Worte von sich gab. Hier waren mal wieder meine pantomimischen Fähigkeiten gefragt.
»Das war noch nicht ganz richtig«, tröstete ich schon mal vorab meinen Kandidaten. »Paolo, lassen Sie uns gemeinsam überlegen. Das hier, das ist Trinken«, erklärte ich. Ein imaginäres Glas wanderte von meiner Hand Richtung Mund. Kopf leicht in Schräglage, unsichtbares Glas an die Lippen gesetzt und nun als Krönung schöne, satte Gluckglucklaute. Mona, eines Tages solltest du doch zur Bühne gehen.
»Ah, gluck, gluck«, strahlte Paolo.
»Trinken«, nickte ich geduldig.
»Trinken«, wiederholte Paolo artig.
Gut so, Junge, du schaffst es. Eines fernen Tages jedenfalls. Vielleicht.
Unterm Tisch knurrte etwas.
»Mausi trinken?« fragte Paolo und lächelte mich charmant an. Mausi knurrte lauter. Aha, Durst hatte das Tier. Offensichtlich verstand der Köter jedenfalls jedes Wort. Wenigstens der, das war doch auch schon mal was. Ich nickte zustimmend und erhob mich. Etwas unschlüssig schaute ich in der Küche meinen Schüsselbestand an. Nee, die gute mit dem Jugendstilrand mußte es nun wirklich nicht sein. Mit einer Plastikschüssel voller Wasser kehrte ich zurück. Sofort schlabbte Mausi mit langer rosa Zunge darin herum. Schade eigentlich, daß der bereits leicht zerschlissene Teppich nun auch noch Mausi-Sabber-Spuren abbekam.
Aber jetzt mit voller Kraft voraus zurück zum Thema.
»So, Paolo, das ist Trinken.« Fingerzeig auf Mausi. »Und nun, Paolo, was ist das?«
Wahrscheinlich sah ich gerade eher aus wie eine Kuh auf der Weide kurz vorm Bäuerchen. Aber was blieb mir übrig, als meine Kiefer mahlen zu lassen und nun zur Abwechslung etwas vor mich hin zu schmatzen? Gleichzeitig hatte ich einen unsichtbaren Löffel in der Hand, den ich emsig zum Munde führte.
Paolo überlegte. Ich konnte es ihm ansehen. Er war nicht blöd und merkte ganz genau, auf welches Wort ich hinauswollte. Da war es, ganz hinten in der Gehirnrinde, und wollte partout nicht nach vorn gelangen.
»Ach, Mona, ich erinnere mich nicht«, stöhnte er.
»Essen«, sagte ich laut und deutlich mit langsamer Lehrerinnenartikulation.
»Essen«, wiederholte Paolo.
So, nun waren wir doch schon einen Schritt weiter.
»Nun sagen Sie den Satz noch mal mit dem richtigen Verb.«
»Ich essen einen Vogel.«
Okay, das mit dem Vogel würde ich ihm erklären, sobald das Verb endlich richtig war. Ich schüttelte den Kopf.
»Das Verb, Paolo, bitte korrigieren Sie das.«
»Ich ißt einen Vogel«, erklärte nun mein Einstein.
Herrje, jetzt hatte er auch noch vergessen, wie das in der Ichform hieß. War wohl nicht sein Tag.
»Paolo. Ganz langsam. Ich esse, du ißt, er ißt, klar?« Das schrieb ich jetzt mit quietschender Kreide auf die Schiefertafel.
»Also?« fragte ich aufmunternd.
»Ich esse einen Vogel.«
Wunderbar. Ein neuer deutscher Satz war geboren. Nun also ran an den Vogel. Was hatte ich ihm in seiner letzten Stunde für schöne Speisekartenworte beigebracht. Kartoffelsuppe, Salat, Würstchen, Schnitzel und – ja, das Huhn, das mußte er meinen.
»Paolo, denken Sie nach. Das Wort ›Vogel‹ haben wir neulich gelernt, das sind die netten Tiere da draußen.« Ich deutete aus dem Fenster. Was für ein Glück. Da gurrte gerade eine dicke, fette Taube vor sich hin.
»Haben Sie darauf Appetit?« fragte ich.
Paolo schüttelte sich plangemäß.
»Sie meinen doch sicher ...«, begann ich. Meine Arme pendelten auf und ab. Nun gut, Flügelchen hatte das dicke Vieh da draußen auch. Aber gegen die Gurrlaute setzte ich ein aufgeregtes Gackern. Ich wünschte, mein Telefon würde klingeln. Das wäre doch eine passende Untermalung, das schöne Kikeriki.
Nun nickte er, der hungrige Paolo. Die übliche Suche im Kopf begann und endete mit einem großen Loch, das er in die Luft starrte.
»H – u – h – n«, half ich. Eindeutig das Wort des Tages.
»H – u – h – n«, echote Paolo.
Erwartungsvoll schaute ich ihm in seine braunen Augen. Ich konnte sehen, wie hochkonzentriert er war.
»Ich esse ein Huhn«, tönte Paolo.
»Bravissimo«, klatschte ich. Ja, ich war eine gute Sprachlehrerin. Und Paolo machte Fortschritte, wenn man bedachte, daß er vor fünf Minuten noch ganz sicher war, einen Vogel zu trinken.
»Was essen Sie außerdem gern, Paolo?«
Man muß das Ganze ja schließlich vertiefen. Sonst würde Paolo beim nächsten Mal unter Garantie Orangensaft essen wollen. Apropos. Sehnsüchtig schaute ich auf die beiden Apfelsinen. Wenn ich doch nur weitermalen könnte, verdammt noch mal.
»Ich esse gern Kartoffelsalat.«
»Prima. Und was essen Sie dazu?«
Gekonnt malte ich ihm ein prächtiges Würstchen an die Tafel.
»Bockwurst«, antwortete Paolo.
Hinreißend. Diese Worte brauchte er vielleicht nicht unbedingt in seiner Modefirma. Aber in der Mittagspause würde er sich nicht blamieren. Und das war eindeutig mein Verdienst.
»Mausi«, rief Paolo plötzlich aus.
»O nein, alles, nur das nicht«, schrie ich und rannte los. Mausi wollte sich gerade über das Allerheiligste, meinen Hut, hermachen. Normalerweise waren diese Viecher doch eher wild auf alte Socken oder Pantoffeln.
Eine wilde Verfolgungsjagd setzte in meinem Wohnzimmer ein. Das war das richtige für Mausi, eine ausgemachte Mordsgaudi. Sämtliche Schäferhundanteile in seiner Blutbahn verlangten ihr Recht. Und noch eine Runde um die Schiefertafel herum, die schon bedenklich vibrierte.
»Ich hab ihn«, sagte Paolo triumphierend und hielt mir meinen Hut entgegen. Bei genauerer Betrachtung – meinen verbeulten Hut.
Ich stöhnte. Hätte schlimmer sein können. Aber Mausis Spucke auf der Hutkrempe fand ich auch ziemlich abtörnend. Paolo holte gewandt ein blütenweißes Leinentaschentuch aus seiner Brusttasche. Ja, meine Schüler haben Stil. Ihre Hunde allerdings weniger. Vorsichtig rieb Paolo an meinem Hut herum.
»Fast wie neu«, lobte ich ihn anerkennend. Vorsichtshalber setzte ich meinen Hut auf den Kopf. Da konnte Mausi nicht so ohne weiteres herankommen.
»Aus jetzt«, befahl Paolo, als Mausi prompt versuchte, an mir hochzuklettern. Meine nicht sehr beeindruckende Körpergröße von einem Meter dreiundsechzig flößte diesem Riesenhund eben nicht den nötigen Respekt ein. Herrchens Stimme da schon eher. Und Mausi verstand eindeutig Deutsch, alle Achtung.
Gemeinsam richteten wir dann die inzwischen umgefallene Schiefertafel wieder auf. Nun hatte ich auch noch zerbröselte Kreide auf dem geschundenen Teppich, so ein Ärger. Ich ließ mich erschöpft auf meinen Stuhl sinken. Und Mausi legte mir zur Versöhnung seine Pfote aufs Knie.
»Er entschuldigt sich«, erklärte Paolo.
»Schon gut«, lächelte ich matt.
»Und ich kann einen neuen Satz«, frohlockte er.
Oh, Überraschung, Überraschung. Aufmerksam betrachtete ich meinen Schüler. Das war immer die größte Freude, wenn einer so langsam selbständig wurde, draußen im Alltag noch unbekannte Sätze aufschnappte und sie dann zu mir brachte.
»Ich liebe dich.« Und da schmiß er ihn, den glühenden Blick.
Auch das noch. Ich hatte immer angenommen, daß sich Patienten in ihre Psychotherapeuten verliebten. Aber Schüler in die Lehrerin, brauchte ich das?
Ich tätschelte Mausis Hundekopf, um Zeit zu gewinnen. Freundlich leckte Mausi daraufhin meine Strümpfe. Liebesbeweise aller Art vereinigt euch.
»Paolo, das ist ein sehr schöner Satz. Es gibt aber noch einen anderen Ausdruck. Der heißt: ›Ich mag dich.‹ Aber wir duzen uns nicht. Ich bin Ihre Lehrerin, verstanden? Also, der Satz heißt: Ich mag Sie. Wiederholen Sie das bitte.«
Ha, das übliche Spiel funktionierte. Mein Lehrerinnenton konnte eben so wunderbar zwingend sein..
»Ich mag Sie«, repetierte der gute Paolo.
»Ich mag Sie auch«, sagte ich ergeben. »Und dabei soll es auch bleiben, okay? Jetzt aber ran an die unregelmäßigen Verben. Haben Sie Ihre Übungen gemacht, Paolo?«
»Aber ich ...«, versuchte er einen neuen Anlauf.
»Kein Aber, haben Sie oder nicht?« fragte ich streng.
»Ja«, antwortete Paolo.
Brav, brav.
Er zückte seinen Block und las den Lückentext vor, den ich ihm beim letzten Mal mitgegeben hatte.
»Ich gehe, ich ging. Ich stehe, ich stand. Ich singe, ich singte.«
»Nein, Paolo, ich sang. Tralalitralala. Sang mit ›a‹.«
»Sang«, echote Paolo.
So paukten wir noch ein Stündchen vor uns hin, während Mausi schöne Hundeträume genoß. Sein gelegentliches Schnaufen und Stöhnen störte auch wirklich nur ein kleines bißchen. Als die beiden schließlich weg waren, blickte ich auf den Hundertmarkschein, den Paolo für die Doppelstunde bezahlt hatte. Das und der klägliche Rest auf meinem Konto erlaubten wirklich keine großen Sprünge, eher verhaltene Hüpferchen.
Also, muß ich mich wohl warm arbeiten, überlegte ich. Die Heizung im Atelier wird ausgedreht. Malen kann ich schließlich auch im dicken Pullover, zur Not noch mit Schal dazu. Nicht zu vermeiden ist auch die Reduzierung des Speiseplans. Eine Mahlzeit am Tag muß reichen. Tja, und Teebeutel sind billiger als der gute Kaffee aus Kolumbien. Zur Not konnte man so ein Beutelchen sicher auch zweimal verwenden.
»So könnte es gehen, Papa«, blinzelte ich dem Bild an der Wand zu.
Na, wem erzählte ich das. Viel anders war das bei uns früher auch nicht. Von der Hand in den Mund – wenig in der Hand, also auch wenig im Mund. Klare Rechnung nach Adam Riese.
»Ach, Papa, als Künstler hat man es schon schwer«, stöhnte ich stirnrunzelnd. »Besonders, wenn man neue Farben braucht. Außerdem brauche ich noch ein Aktmodell. Und ein neues Kleid, genau, das brauche ich obendrein. Unbedingt sogar, denn den Adrian will ich ja auf seinem Kanzleifest nicht blamieren.«
Mhm, das Kleid sollte auf Pump funktionieren. Meine Schneiderin Natalie hatte immer ein großes Herz für mich.
»Platsch«, machte es.
Ganz langsam schaute ich an mir herunter. Ich stand in Mausis Wasserschüssel. Besser als im berühmten Fettnäpfchen, aber nicht besonders viel besser. Nun brauchte ich jedenfalls erst mal trockene Strümpfe.
»Guten Tag«, begrüßte ich fröhlich die Frau aus der Anzeigenannahme der größten örtlichen Tageszeitung. Sie war für mich schon eine alte Bekannte, weil ich bei ihr in regelmäßigen Abständen Inserate für meine Sprachstunden aufgab. Was nicht hieß, daß sie mich jemals wiedererkannte. Sie war so der Typ des ignoranten Wesens. Weder eifrig noch bemüht, dafür zum Ausgleich schön langsam.
»Hallo«, gab sie träge zurück und drehte ihren Kaugummi gemächlich von der linken in die rechte Backe.
»Eine Anzeige will ich aufgeben.«
»Ach ja?« kam es näselnd retour.
Das war wirklich eine. Wie von einem anderen Stern. Wahrscheinlich waren ihre Vorfahren vom Faulpelzplaneten zur Erde geflogen.
»Aber heute nicht für Sprachstunden«, erklärte ich munter. Na, fällt jetzt der Groschen, weißt du, wer ich bin?
»Nein?« sagte sie gelangweilt ohne die Spur einer Ahnung und fischte eine Zigarette aus einer leicht zerdrückten Packung.
Hey, Mädel, Auftrag lacht, nun wird nicht geraucht.
»Jetzt gleich!« sagte ich in bestimmtem Ton.
Sie zog kurz die Augenbrauen hoch und legte den Glimmstengel widerstrebend hin, um sich dann erst mal der eingehenden Betrachtung ihrer langen Fingernägel zu widmen. Klarer Fall von sorgsam montierten Plastikkrallen aus dem Nagelstudio mit dunkelvioletter Farbe drauf. Marke gefährlicher Vampir.
»Also, ich denke mir das so«, setzte ich schon mal an.
Immerhin nahm sie ihren Block zur Hand. Wenn sie jetzt noch 'nen Kugelschreiber fände, könnte es eigentlich richtig losgehen.
»Der Text soll lauten: Aktmodell gesucht.«
Sie kramte geräuschvoll in der Schublade herum. Als erstes förderte sie eine Packung Kleenex zutage. Es folgte der bewußte dunkellila Nagellack. Nee, nicht noch eine Schicht auflegen, bitte. Aha, ein Schreibgerät namens Bleistift mit heftigsten Nagespuren. Offensichtlich ein Objekt, an dem sie ihre Nervosität austobte. Zumindest, wenn sie nicht gerade beim Arbeiten einschlief. Skeptisch schaute sie auf die stumpfe, kaum noch vorhandene Spitze. Ein paar Probe-Krakelspuren bewiesen, daß der es unter Garantie nicht tun würde. Die Sucherei im Zeitlupentempo ging weiter. Aber einen anständigen Anspitzer hatte sie ganz offensichtlich nicht in ihrem unerschöpflichen Schreibtischreservoir.
»Hier.« Ich legte ihr meinen Kugelschreiber hin, den ich inzwischen aus meiner Tasche geholt hatte. Geduld war im Moment nicht gerade meine Stärke.
Ohne aufzublicken fragte sie: »Wie war das nun?«
Salam alaikum. In der Ruhe liegt die Kraft.
»Aktmodell gesucht.«
Ich schaute über den Tresen, während sie – mit meinem Kugelschreiber – nun notierte.
Nacktmodell, las ich.
»Nein, nicht Nacktmodell. Aktmodell gesucht«, korrigierte ich.
»Und, was soll 'n das sein?« näselte sie und knatschte ein wenig auf dem Bubble Gum herum. Außerdem war wohl nach wie vor der Zeigefingernagel weitaus spannender als diese anstrengende Arbeit.
»Na, in gewissem Sinne ist ein Aktmodell schon so etwas wie ein Nacktmodell«, erklärte ich ergeben.
»Sag ich doch«, gab sie zufrieden zurück.
»Ich möchte aber, daß Sie Aktmodell schreiben. A – k – t, verstehen Sie?«
»Wenn Sie unbedingt wollen«, meinte sie achselzuckend. »Ist ja Ihre Anzeige«, pampte sie noch hinterher.
Sie zerriß den Bogen mit gespreizten Fingern und nahm sich einen neuen vor. Ganz langsam, natürlich. Bloß nichts überstürzen.
»Aktmodell gesucht«, stand da nach einer Weile schließlich und endlich deutlich in kindlicher Handschrift. Und nach meiner Buchstabiererei orthographisch sogar ganz richtig.
Ich überlegte. »Besser ist, wir schreiben: Männliches Aktmodell gesucht.«
Sie tippte ungehalten mit den Plastiknägeln auf der Schreibtischplatte herum. »Jetzt brauche ich noch ein neues Formular«, näselte sie vorwurfsvoll. Ratsch, ratsch, zerriß sie Blatt Nummer zwei und zückte nun das dritte.
»Männliches Aktmodell gesucht. Und weiter?« wollte sie wissen. Ein Kleenextuch wurde aus der Box gezupft. Damit tupfte sie nicht sichtbare Schweißperlen über der Oberlippe weg. Die hatte aber auch einen Streß, die Gute.
»Ja, also weiter. Mhm, ich würde jetzt schreiben: Knackiger Po Bedingung«, sprach ich. Das war schließlich wichtig, damit sich nicht jemand mit vermanschter Figur meldete, um meine hart verdiente Lehrerinnenkohle zu kassieren.
Der Anzeigendame war derweil der Mund offenstehen geblieben. Ganz deutlich konnte ich ihn an der unteren Zahnreihe kleben sehen: einen grellpinkfarbenen Kaugummiklumpen mit ein wenig Spucke drumherum.
»Knackiger Po Bedingung?« fragte sie gedehnt.
Hoffentlich verschluckte sie vor lauter Schreck nicht das leuchtende, klebrige Ungetüm. Mannomann, die war doch höchstem so alt wie ich, um die sechsundzwanzig. So jung und schon so verklemmt.
»Ich bin nicht nur Sprachlehrerin, ich bin auch Malerin«, ließ ich sie wissen.
Hektisch kaute sie nun weiter und blickte mich zum ersten Mal richtig an. »Malerin, so, so«, murmelte sie.
Wahrscheinlich sah sie mich in weißer Uniform mit Malerrolle und Wandanstrichfarben vor sich. Das mußte ich richtigstellen, sonst würde sie nie kapieren, worum es ging. Man soll seine Mitmenschen ja nicht dumm sterben lassen.
»Und ich male schrecklich gern Männer, nackte Männer. Von hinten.« Meine Gedanken schweiften etwas ab. Ich lehnte mich auf den Tresen. »Haben Sie schon mal ganz bewußt einen Männerkörper betrachtet?« fragte ich sie. »Die Schultern, die Muskelstränge zwischen den Schulterblättern. Die sanfte Linie, wenn der Rücken in den Po übergeht? Und dann diese Kurve des Allerwertesten, Sie wissen schon, diese Rundung, diese göttliche Wölbung. Wenn der Mann dann noch lange Beine hat, dann ist die Proportion so wunderbar, nicht wahr? Ein wirkliches Kunstwerk, der menschliche Körper ...«
Mit den Händen malte ich diese ganze Herrlichkeit in der Luft nach.
»Knack, knack«, hörte ich.
Aufgeregt biß das Wesen mit Nachdruck auf meinem Kugelschreiber herum.
Ich kam wieder zu mir. Was hatte mich nur wieder getrieben? Ausgerechnet dem Kaugummiwunder gegenüber bekam ich einen Schwärmanfall über die menschlichen Formen. Oh, jetzt war sie aber wach.
»Ich hatte da mal einen Freund«, sagte sie in vertraulichem Tonfall. »Der war Leichtathlet. Der hatte so 'nen Körper, so 'nen durchtrainierten mit lauter Muskeln und so. Und ganz lange Beine, zum Laufen, also schnell laufen, meine ich.«
»Toll«, sagte ich freundlich.
Ihre Züge verdüsterten sich.
»Rausgeschmissen hab ich den!«
»Warum das denn?« fragte ich neugierig.
»Na, betrogen hat er mich, das Schwein.«
Nun knetete sie mit beiden Händen verbissen auf dem Kugelschreiber herum, als wollte sie ihm stellvertretend für ihren betrügerischen Sportler den Hals umdrehen.
»Nein, unglaublich.« Ich schüttelte voller Anteilnahme den Kopf.
»Mit 'ner Kugelstoßerin. Können Sie sich das vorstellen? Mit 'ner Kugelstoßerin. Das war echt die Höhe. Wissen Sie, wie die aussehen, diese Kugelstoßerinnen? Na, sooo!« rief sie empört und malte nun ihrerseits mit den Händen eine Gigantenfrau von mindestens hundertdreißig Kilo Lebendgewicht in die Luft.
»Nicht zu fassen«, stimmte ich ihr zu.
»Und wie die stöhnen, diese Kugelstoßerinnen. Haben Sie das schon mal im Fernsehen gehört? Die stehen da so ...«, sie erhob sich und baute sich hinter dem Tresen auf. »Also, die stehen da so, dann drehen sie sich irgendwie, na ja, so ähnlich ...«
Sie war beim Vorführen etwas ins Torkeln geraten. War auch zugegebenermaßen schwierig, diese Drehung mit ihren hohen Stilettoabsätzen.
»Nach der Drehung, ja, da werfen sie diese blöde Kugel, die sie sich vorher an den Hals gedrückt haben, weg. So weit eben, wie's geht. Und dann, dann stöhnen sie dabei immer. Ganz laut!«
Mitleidig schaute ich sie an. Mit ›so einer‹ betrogen zu werden hatte eindeutig nachdrückliche Spuren auf ihrer Seele hinterlassen.
»Glauben Sie, daß der die nur gebumst hat, weil die so schön stöhnen kann?« fragte sie mit verzweifelter Näselstimme.
Interessante Theorie, wirklich, da sollte man mal drüber nachdenken. Und dieses Wesen hatte ich für verklemmt gehalten. War ja eher eine erfahrene Sexualphilosophin.
»Keine Ahnung. Aber bestimmt war es richtig, daß Sie ihn rausgeschmissen haben«, versicherte ich.
»Ja, klar. Trotzdem, gut ausgesehen, das hat er«, sinnierte sie.
Bevor sie wieder die alte Lethargie überkam, mußte ich dringend versuchen, den Anzeigenvorgang weiter voranzutreiben.
»Äh, jedenfalls, über Geld müssen wir noch etwas schreiben. Vielleicht einfach nur ›Bezahlung sofort‹.«
Eifrig zückte sie den malträtierten Kugelschreiber.
»Nee, das reicht nicht«, erwiderte sie und dachte kurz nach. »›Gute Bezahlung sofort‹, das ist besser.« Schon wollte sie notieren.
»Na, ich weiß nicht. So gut kann ich eigentlich nicht bezahlen.«
»Spielt keine Geige. 'ne Anzeige muß sich verlockend anhören, verstehen Sie, sonst meldet sich keiner.«
Na ja, schließlich war sie wohl so was wie ein Profi, zumindest theoretisch. Und wenn sie sich nun schon so engagierte ... Ich nickte.
»Chiffre oder Telefonnummer?« fragte sie voll neugefundenem Elan.
»Ich hab's ziemlich eilig mit dem Malen. Da geb ich lieber meine Telefonnummer an.«
»Bei der Anzeige, ehrlich?« fragte sie zweifelnd.
»Ja, bitte«, nickte ich entschieden. Auf die Zusendung der Chiffre-Post konnte ich absolut nicht warten. Es juckte mir in den Fingern. Malen, malen, malen will ich.
»Welche Rubrik?«
»Was würden Sie denn sagen?« erbat ich ihren Rat.
»Modelle vielleicht?«
War gewissermaßen naheliegend. Trotzdem überkam mich ein ungutes Gefühl. Was stand denn da so normalerweise?
»Haben Sie mal ein Beispiel?« fragte ich.
Jetzt erhob sie sich tatsächlich wieder. Dienstbeflissen wackelte sie zum Nachbartisch und griff eine aktuelle Zeitungsausgabe. Gemeinsam beugten wir uns darüber.
»Tanja, bildschön und versaut. Auch Sonderwünsche wie Badespaß und Dildo-Spiele«, las ich stirnrunzelnd.
»Exotisch-erotischer Knallbonbon mit riesengroßer Oberweite«, kicherte meine neue Verbündete.
»Totale Sklavin, absolut tabulos und ohne Hemmungen«, stand in der nächsten Zeile.
Diese Rubrik war ganz offensichtlich ein richtiger Supermarkt der Fleischeslust und Perversiönchen.
»Das kann es irgendwie nicht sein. Was gibt's denn sonst noch?« fragte ich.
»Mhm. Bekanntschaften vielleicht.«
»Bekanntschaften?« Da war ich mir auch unsicher.
»Wissen Sie, wenn bei mir allerdings jemand eine Anzeige in der Rubrik ›Bekanntschaften‹ aufgeben will, dann empfehle ich immer eher die Sparte ›Heiraten‹. Das ist nämlich seriöser. ›Bekanntschaften‹ ist unseriös«, erklärte sie. Und kaute weiter auf meinem Kugelschreiber herum.
»Nur – ich will ja weder eine Bekanntschaft, noch will ich jemanden heiraten. Es geht ja nur um ein Aktmodell, nicht wahr?«
»Dann bleibt nur eins!« sagte sie.
Ein unerwarteter Geistesblitz?
»Sonstiges«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
Ich zuckte mit den Schultern. Besser als ›Modelle‹ oder ›Heiraten‹ allemal.
»Gut. So machen wir das. Rubrik Sonstiges.«
»Nun brauche ich noch Ihren Namen und Ihre Adresse. Für unsere Unterlagen, der guten Ordnung halber, verstehen Sie?«
Der guten Ordnung halber half ich ihr, die letzten Zeilen des Formulars auszufüllen.
»Mona Lisa Linde«, las sie laut vor. »Mona Lisa, das kommt mir so bekannt vor.«
»Von Leonardo da Vinci«, half ich freundlich nach.
Sie überlegte und schüttelte den Kopf. »Nein, der war aber hier noch nie.«
Wunderte mich nicht. Doch einen Kurs in Kunstgeschichte wollte ich ihr wahrlich ersparen. Das würde sie für den Rest des Tages nur durcheinanderbringen.
»Was kostet das?« fragte ich statt dessen.
»Moment, rechne ich sofort aus.« Emsig kramte sie wieder in der Schublade. Ein Taschenrechner kam zum Vorschein. Vorsichtig, wegen der teuren Fingernägel, tippte sie darauf herum.
»Siebenundvierzig Mark fünfzig«, sagte sie voller Stolz. Wahrscheinlich, weil sie noch alle Nägel dran hatte.
Und da ging er fast völlig hin, der schöne Fünfzigmarkschein. Papa hatte immer die Mama gemalt, das war günstiger. Aber ich konnte ja nicht plötzlich heiraten, nur um ein Modell gratis zu haben.
»Ja, dann wünsche ich Ihnen viel Glück. Wenn ein besonders schöner Mann dabei ist, können Sie ihn mir vielleicht mal vorbeischicken?« witzelte sie.
Das Wesen entwickelte tatsächlich auch noch Humor.
»Klar, mache ich. Aber nur, wenn er kein Leichtathlet ist, okay?« grinste ich zurück.
Das war geschafft. Ich war schon fast an der Tür, als ich hinter mir ein aufgeregtes Trippeln vernahm.
»Ihr Kugelschreiber!« rief sie und hielt mir das Prachtstück entgegen.
Ich blickte auf die Nagespuren, die sie ihm verpaßt hatte. Zum Glück war es nur einer von den billigen.
»Äh, schenke ich Ihnen.«
»Danke schön«, sagte sie und machte tatsächlich einen kleinen mädchenhaften Knicks.
Das Inserat war auf den Weg gebracht, und über Kugelstoßerinnen war ich nun auch bestens im Bilde. Ob ich wohl mal einen männlichen Kugelstoßer malen sollte? Aber die waren wahrscheinlich doch etwas zu massig für meinen künstlerischen Geschmack. Im Moment war es eher angesagt, mein nächstes Projekt in Angriff zu nehmen. Das Kleid für Adrians Kanzleieröffnung mußte dringend besprochen werden.
»Schneiderei« stand in altmodischen Buchstaben vor mir an einer akkurat geputzten Fensterscheibe. Sie waren schön schnörkelig, diese Lettern, und im übrigen reichlich verblichen, weil die gute Natalie ihren kleinen Laden schon seit bestimmt fünfzig Jahren betrieb.
»Klingelingeling«, ertönte melodisch das Türglöckchen. Automatisch summte ich das nach, während ich Ausschau nach Natalie hielt.
»Mona, mein Herz«, rief sie mir entgegen.
Ach, tat das gut, mal wieder hier zu sein. Natalie und ihr Ehegatte Franz hatten schon meine Eltern gekannt. Sämtliche Kleider von Mama waren in Natalies Schneiderei entstanden.
»Wurde auch Zeit, daß du uns zwei Alte mal wieder besuchst«, begrüßte mich Natalie und gab mir zwei dicke Küßchen auf die Wangen.
»Ist doch Ehrensache. Außerdem gestehe ich lieber gleich: Natalie, du mußt mir ein Kleid nähen. Der Adrian gibt ein Fest, und ich soll mich anständig benehmen und anständig aussehen, verstehst du?«
Natalie lachte. »Wie können Geschwister nur so verschieden sein wie Adrian und du? Hat dein Bruder immer noch einen Stock im Rücken und diesen Gesichtsausdruck, als würde er permanent die ganze Welt analysieren? Na, wenigstens du kommst ganz nach deinen Eltern. Deiner Mutter siehst du immer ähnlicher, mein Herz. Nur – du bist noch dünner und filigraner geraten.«
Na ja, ich möchte die Frau sehen, die bei nur einer Packung Rahmspinat am Tag nicht dünn ist. Aber egal, ich würde Natalie bestimmt nicht die Ohren volljammern. Schließlich gab es so was wie Künstlerstolz.
»Komm her, mein Herz, wir machen es uns erst mal gemütlich.«
Schon drückte sie mich auf einen Sessel und schob mir ein dickes Sofakissen in den Rücken. Herrlich, hier war die Welt noch in Ordnung.
»Franz, guck doch mal, wer da ist«, rief Natalie in den Hintergrund.
Dort entdeckte ich ihren zeitunglesenden Gatten, der sich, kaum gerufen, auch schon in Trab setzte.
»Die Mona«, strahlte er mich an.
»Guten Tag, Franz. Wie geht es dir?« fragte ich den alten Freund herzlich.
»Ach, dem geht's immer prima«, antwortete Natalie statt dessen. »Franz, hol doch mal den Kaffee. Und die Plätzchen dazu, ja?«
Im Laufe der Jahre hatten die beiden eine wunderbare Arbeitsteilung entwickelt. Natalie schneiderte. Und weil Natalie so eine energische Person mit Überblick ist, wußte sie immer, was sonst noch gerade zu tun war. Das sagte sie dann dem Franz. Franz der Gutmütige sorgte postwendend für die Ausführung. Damit es der Natalie auch bestens ging. Nichts war für ihn wichtiger als das, denn er liebte sie abgöttisch.
Aber heute wurde tatsächlich ein kleiner Widerspruch laut: »Ich denke, du willst abnehmen, Natalie.«
Empörter Blick von Natalie. Ein wenig rundlich war sie aber tatsächlich geworden.
»Nicht doch für mich, Franz. Die Plätzchen sind für Mona. Du magst doch so gern Plätzchen, nicht wahr, mein Herz?«
Eifrig nickte ich. Ich mochte alles, was ein paar Gramm mehr auf meine Rippen bringen konnte.
Während Franz sich nun seinen Pflichten widmete, setzte sich Natalie zu mir.
»Du glaubst nicht, was mir letzte Nacht passiert ist, Mona-Herz«, stöhnte sie.
»Was denn?« fragte ich und tätschelte schon mal ihr Händchen. Mußte ja etwas besonders Schreckliches gewesen sein. Eine Maus unterm Bett? Oder Einbrecher vielleicht?
»Ich mache gerade eine ...«, sie schaute sich um, als befürchtete sie, ein lauschender Spion könnte sich hier verstecken, »... eine Diät. Na ja, so zwei, drei Kilo müssen runter. Wenn man mal stürzt, weißt du, in unserem Alter ist das gefährlich, dann ist es besser, man ist etwas leichter. Damit man sich nicht so schlimm die Knochen bricht, Herzchen, verstehst du?«
Nie, niemals würde Natalie zugeben, daß sie mit ihren siebzig Lenzen immer noch eitel war. Ich nickte. Klar, war alles nur wegen der Knochen.
»Und letzte Nacht, da hatte ich einen wunderbaren Traum. Ein duftender Braten brutzelte im Ofen. Kein fetter Braten, ein, na, sagen wir, eher so ein guter, gesunder Braten. Ich habe die ganze Zeit zugeschaut, wie er außen eine herrlich goldbraune Kruste bekam. Nicht zuviel und nicht zu wenig, du kennst das.«
Ich wünschte, ich würde es kennen. Ein Braten, herrje, wann war mir so etwas zum letzten Mal über die Zunge gerutscht? Schon bei der bloßen Vorstellung lief mir das Wasser im Munde zusammen. Ich schluckte.
»Jedenfalls, er war schließlich fertig, der Braten. Ich bin an die Küchenschublade gegangen und habe ein Bratenmesser herausgeholt. Da lag er vor mir, und ich wollte ihn anschneiden. Dann ist es passiert.« Ein herzzerreißender Stoßseufzer von Natalie folgte.
»Was ist passiert?« fragte ich teilnahmsvoll.
»Na, aufgewacht bin ich. Ist das nicht schrecklich? Kurz vorm Anschneiden. Da liefen mir direkt die Tränen.«
Ich konnte mich nicht mehr halten und kicherte vor mich hin. Arme Natalie, welch grausames Schicksal. Nicht mal im Traum war ihr ein ausgiebiges Futtern vergönnt.
Franz kam mit großem Tablett. Er stellte mir ein Kaffeetäßchen hin. Eine der Großmutter-Sammeltassen, von denen es jede nur ein einziges Mal gab. Meine hatte ein Röschendekor, Natalies zierten Stiefmütterchen, und Franz begnügte sich mit einem Gänseblümchenmuster.
»Wie köstlich!« Gierig nahm ich einen Schluck des guten Schwarzen. Eindeutig um Klassen besser als die blöden Teebeutel daheim. Automatisch kickte ich meine Ballerinaschuhe von den Füßen und zog die Beine auf den Sessel. Hier waren Verwöhnaroma und Kuschelklima angesagt.
»Hörste, Franz, das Kind summt. Das hast du von deiner Mutter, mein Herz. Ach, was konnte deine Mutter singen. Und was war sie für eine elegante Frau. Sie trug nur Spitze, mußt du wissen.«
Das hatte Natalie mir bestimmt schon hundertmal erzählt, aber ich hörte es doch immer wieder gern. Dazu schnell ein Schokoladenplätzchen.
»Und du, Natalie, wie lange willst du eigentlich noch schneidern?« holte ich sie in die Gegenwart zurück.
»Bis sie tot umfällt«, warf Franz ein.
Natalie streichelte beruhigend seine Wange.
»Wenn ich meine Hände nicht bewege, werde ich verrückt, mein Herz. Außerdem, so ein bißchen Geld wirft es immer noch ab. Kann ja auch nicht schaden, nicht wahr, Franz?« Wie üblich wartete sie seine Antwort nicht ab. »Nicht, daß wir das Geld wirklich brauchen. Der Franz, der hat immer brav geklebt. Mit der Rente würden wir schon über die Runden kommen. Aber wie gesagt, meine Hände, meine Hände brauchen Arbeit.«
Anschaulich fuchtelte sie ein wenig mit den kleinen Patschhändchen herum. Franz brummelte etwas Unverständliches. Insgeheim war er aber doch reichlich stolz auf seine aktive und vor allem so geschickte Natalie.
»Natalie, das neue Kleid. Äh, wie soll ich sagen. Also, können wir das wieder mit Ratenzahlung machen?« fragte ich vorsichtig.
»Klar doch, mein Herz. Wie immer. Wie gesagt, wir haben doch unsere Rente.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Schon peinlich, aber Natalie und Franz waren von meiner Familie und mir sowieso nichts anderes gewöhnt als meist sehr langwierige Abstotteraktionen. Adrian natürlich ausgenommen.
»Ich habe wie immer ein paar Ideen für dich gesammelt, Mona. Überhaupt, wie du aussiehst. Du solltest immer nur Kleider tragen und nicht diese engen Hosen«, rügte sie mich.
War aber so praktisch. Schwarzer knapper Pullover, dazu eine schwarze enge Hose und Ballerinas. Fertig war die Laube. Oder mein Alltagslook.
»Franz, hol doch mal die Mappe, wo ich Mona draufgeschrieben habe.«
Gesagt, getan. Ein kleiner Stapel mit Zeitschriftenausrissen wurde auf den Tisch befördert.
»Guck mal, so was steht dir, mein Herz.«
Natalie präsentierte mir eine ganze Serie von Ideen. Begeistert folgte ich ihren Erklärungen. Oh, Natalie hatte nicht nur einen ausgezeichneten Geschmack, sie kannte auch meine Maße und wußte, wie man mich hübsch verpacken konnte.
»Das hier, toll nicht? Aber, Kind, du siehst zur Zeit so mager aus, da ist das Dekolleté nicht günstig. Dein Schwanenhals ist gut, aber die knochigen Schlüsselbeine, die müssen wir besser verstecken, sonst schenkt dir noch jemand 'nen Groschen.«
Meinetwegen ruhig gleich ein dick und fett gefülltes Sparschwein.
»Hier, das ist auch hübsch, nicht wahr?« Sie deutete auf ein blaues Kleidchen mit Seidenkragen. Dann schaute sie mich an, ganz bewußt, und überlegte.
»Nein, die Farbe ist falsch. Du mit deinen kurzen schwarzen Haaren solltest kein Dunkelblau tragen. Wenn es etwas Gedecktes sein soll, dann besser gleich Schwarz. Das ist auch eleganter, besonders wenn ich so an Adrians Vorstellungen über eine gepflegte Schwester denke.«
Das Wort gepflegt sprach sie mit leichtem Naserümpfen aus. Ich wußte, sie haßte es. Für sie gab es nur zwei Arten, Kleider zu beschreiben. Elegant oder eben nicht elegant. Das war die gute, alte Schneiderschule.