Schau mir bloß nicht in die Augen - Tina Grube - E-Book

Schau mir bloß nicht in die Augen E-Book

Tina Grube

4,6

Beschreibung

Tiefe Blicke, ein großes Geheimnis und viel Herzklopfen: "Schau mir bloß nicht in die Augen" von Tina Grube jetzt als eBook bei dotbooks. Manche Frauen haben alles – doch manchmal trügt der schöne Schein … Stella hat Karriere in einer New Yorker Kosmetikfirma gemacht. Ein neuer Name für ein Designerparfüm? Das perfekte Konzept für den Luxus-Lippenstift? Kein Problem für die Marketingchefin, die für ihre sprühenden Ideen berühmt ist. Und wenn sie am Abend nach Hause kommt, wird sie schon sehnlichst erwartet – dummerweise nicht von einem feurigen Liebhaber, sondern von einer kleinen Ente. Die hat sich nun genauso bei ihr eingenistet wie Stellas Mutter. Und während eine zickige Kollegin versucht, an ihrem Stuhl zu sägen, tauchen auch noch zwei Männer auf, die Stellas wohlgeordnetes Leben mit charmantem Lächeln ins Gefühlschaos stürzen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Tina Grubes "Schau mir bloß nicht in die Augen". Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch:

Manche Frauen haben alles – doch manchmal trügt der schöne

Schein!

Stella hat Karriere in einer New Yorker Kosmetikfirma gemacht. Ein neuer Name für ein Designerparfüm? Das perfekte Konzept für den Luxus-Lippenstift? Kein Problem für die Marketingchefin, die für ihre sprühenden Ideen berühmt ist. Und wenn sie am Abend nach Hause kommt, wird sie schon sehnlichst erwartet – dummerweise nicht von einem feurigen Liebhaber, sondern von einer kleinen Ente. Die hat sich nun genauso bei ihr eingenistet wie Stellas Mutter. Und während eine zickige Kollegin versucht, an ihrem Stuhl zu sägen, tauchen auch noch zwei Männer auf, die Stellas wohlgeordnetes Leben mit charmantem Lächeln ins Gefühlschaos stürzen …

Über die Autorin:

Tina Grube, geboren in Berlin, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, arbeitete in renommierten Werbeagenturen und begann schließlich, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Ihre turbulenten Komödien wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die beiden Bestseller Männer sind wie Schokolade und Ich pfeif auf schöne Männer erfolgreich verfilmt. Tina Grube pendelt heute zwischen ihren Wohnsitzen in New York und Mailand und arbeitet bereits an ihrem nächsten Roman.

Bei dotbooks erscheinen Tina Grubes Romane Männer sind wie Schokolade, Ich pfeif auf schöne Männer, Lauter nackte Männer, Das kleine Busenwunder und Ein Mann mit Zuckerguss.

***

Neuausgabe März 2015

Copyright © der Originalausgabe 1999 by Tina Grube und Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München

ISBN 978-3-943835-85-4

***

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Tina Grube

Schau mir bloß nicht in die Augen

Roman

dotbooks.

Für meinen Mann

Mein erster Blick

gilt immer

dir.

Verrückt

Ich hasse Airconditioning! Meine Nase nimmt es übel mit Allergienieserchen, und – als Krönung obendrauf – gibt's aus irgendeiner Ecke immer einen schneidenden Windzug, kühl bis eiskalt, der mir unattraktive Gänsehäute beschert. Aber heute habe ich es geschafft: eine Mittagspause ganz für mich allein, in freier Natur und ohne nervige Klimaanlage. Herrlich. Bewaffnet mit einem Lunchpaket, schlendere ich durch den New Yorker Central Park und atme tief durch.

Sauerstoff, durchdringe meine Lungen, bring meinen Kreislauf in den perfekten Rundumschwung, und gib mir die Energie, die ich unter Garantie für diesen Tag noch brauchen werde. Sauerstoff, aktiviere bitte, bitte auch mein Groß- und mein Kleinhirn, damit ich klug und schnell und bloß nicht blöd und lahm die richtigen Entscheidungen treffe.

Schon schnuppere ich wieder an meinem Handgelenk. Klarer Fall von Berufskrankheit. Hm, ist dieser Duft gelungen! Eine ungewöhnliche Duftkomposition, die meinem Arbeitgeber, dem Kosmetikgiganten Beauty Unlimited, hoffentlich die Kassen mit dicken, fetten Dollars füllen wird. Und mir auch ein wenig, mit einer Erfolgsprämie nämlich. Wenn der Duft floppt, könnte ich vielleicht wieder bei Mama einziehen. Als gefeuerte Ex-Supermanagerin. Aber Bangemachen gilt nicht!

Schnell noch mal schnuppern. Ich muß an den Designer Enrico Rocca denken. Für ihn habe ich den neuen Duft entwickelt, natürlich erst, nachdem er mir seine vielsagende Interpretation über die Duftlage der Nation übermittelt hatte. Wie waren doch noch gleich seine Worte?

»Darling, Stella, wir brauchen Unschuld. Heute sind doch alle so schrecklich versaut, so abgefuckt. Also, Unschuld muß her, verstehst du?« sagte Enrico Rocca.

»Klar doch, Unschuld, gute Idee«, nickte ich.

»Aber nicht so auf die Vorstadtart. Nicht von hinterm Mond, weißt du, mehr so ein bißchen naiv, nur einen Hauch, natürlich. Gewissermaßen frisch und unverbraucht. Ich seh den Typ Mann für den Duft genau vor mir.«

Schön und gut, ist ja auch nichts einzuwenden gegen eine männliche Jungfrau, aber trotzdem war mir das noch nicht genug. Was Enrico auch immer sah, ich mußte es aus ihm herausholen.

»Wie benimmt er sich denn so, der frische, unverbrauchte Typ?« lockte ich.

»Der ist nicht schüchtern und zurückhaltend, eher frech, unbekümmert und megalocker, weißt du? Der hat mit gar nichts was am Hut.«

»Du meinst also, er ist eher unkonventionell?«

»Sowieso«, sagte Enrico. »Das macht ihn auch erotisch, für alle, also für Männer und Frauen. Weil's eben ein Freigeist ist, ein unkomplizierter. Fast ist er ein bißchen durchgedreht, nicht durchgeknallt, aber durchgedreht, na, du weißt schon, Stella.«

Klar, außer Marketing-Vizepräsidentin für Parfüms und dekorative Kosmetik war ich nebenbei ja auch noch Hellseherin. »Er ist also ein bißchen ungezähmt?« fragte ich vorsichtig. Enrico war nämlich immer so schrecklich empfindlich, wenn er sich falsch verstanden fühlte.

»Ungezähmt, wohl auch, ja.«

Stella, noch einen Anlauf, wir werden diesen noch unbekannten Dufttyp schon einkreisen. »Eine Spur verrückt?«

»Verrückt, genau. Vor allein aber erotisch«, schwärmte Enrico und verdrehte vielsagend die Augen.

So kam es also, daß wir einen Wunderknaben als neuen, modernen Vorbildmustermann zusammengebastelt hatten. Unschuldig, gleichzeitig frech, verrückt und vor allem so erotisch, daß es Enrico die Schnürschuhe und den Damen quasi die Pumps auszieht. Aus diesen Vorgaben hatten die Parfümeure nun in den letzten zwölf Monaten unter meiner Regie diesen Duft gezaubert.

»Mad«, sage ich probeweise und lausche dem Klang des Wortes. Mad, also verrückt, so soll er heißen. Das paßt zu Enrico wie die berühmte Rocky-Faust aufs Auge, und es ist gleichzeitig trendy. Ha, nieder mit Schlips, Kragen, Filzpantoffeln und angepaßten Langweilern – her mit den Verrückten!

***

Mit meiner Lunchtüte lasse ich mich auf einer Parkbank nieder. Aus der großen Plastiktüte hole ich eine kleine Plastiktüte mit einem echten Plastikbesteck und eine Plastikschüssel, die mit einem Plastikdeckel verschlossen ist. Darin wartet mein Essen, genauer gesagt, ein biologisch einwandfreier Salat. Um mich herum gibt's außer mir noch reichlich andere Büroflüchtlinge. Gemeinsam werden wir den täglichen Büroflüchtlings-Lunch-Plastikberg bauen, unter dem New York eines Tages sang- und klanglos verschwindet. Das müßte ich mal den Filmleuten von King Kong oder vom grausamen Ungeheuer Godzilla erzählen. Die Monstergefahr samt Zähnefletschen und Menschenfresserei war nichts für diese Stadt, gemessen an der Lunch-Plastikschüsselpest.

Trotz alledem pike ich zufrieden in meinen Salat und entspanne mich, genüßlich kauend.

Mein Blick gleitet zur Nachbarbank. Dort sitzt einsam ein alter Mann. Seine Schultern sind abgesunken, doch er schaut nicht unzufrieden.

Er erinnert mich an damals. Damals, als ich noch in Deutschland war. Und ganze fünf Jahre alt ...

***

Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich recht einfache Grundbedürfnisse. Dazu gehörten, neben regelmäßiger Nahrungsaufnahme, reichlich Schlaf und ein paar Streicheleinheiten, auch das Spielen mit anderen Kindern.

»Laß die doch, die ist so komisch«, sagte die Anführerin der kleinen Kindertruppe im Park.

»Aber ...«, erwiderte ich. Ich wollte mitspielen, doch schon wieder ließ sie mich nicht. Und ich wußte, warum. Es lag nicht an meiner Kleidung. Obwohl – auch die wäre ein Grund gewesen. Alle anderen trugen Jeans und T-Shirts. Ich natürlich ein Rüschenkleidchen mit Puffärmeln. Mein amerikanischer Vater konnte sich meiner deutschen Mutter gegenüber einfach nicht durchsetzen. Mädchen trugen eben Kleidchen, fand sie. Am besten niedliche rosa Kleidchen, fand sie.

»Huuuuu, wie die schon guckt«, grölte nun ein anderes Mädchen.

Ein paar Jungen kamen hinzu. Plötzlich stand ich in der Mitte eines Kreises, den die anderen gebildet hatten.

»Mißgeburt, Mißgeburt«, riefen sie hämisch im Chor. Sie stießen mich hin und her, boxten und kniffen mich in die Arme, bis sie schließlich lachend wegrannten und mich allein zurückließen.

Heiße Tränen tropften auf gestärkte rosa Rüschen.

»Weint da jemand?« ertönte eine Stimme hinter mir.

Ich heulte Rotz und Wasser, meine Unterlippe zitterte, und mir war fast ein bißchen übel. Mißtrauisch wandte ich mich langsam um. Wollte mir da einer den Gnadenstoß versetzen?

Die Stimme hinter mir gehörte einem alten Mann, der einsam auf einer Parkbank saß. Seine Schultern waren abgesunken, doch er schaute nicht unzufrieden.

»Alle sind immer so gemein zu mir«, wimmerte ich und zog lautstark das Heulwasser in der Nase hoch.

Der alte Mann nestelte in seiner Manteltasche und hielt mir nun ein Taschentuch entgegen. »Komm, Kleine, trockne deine Tränen, und putz dir erst mal die Nase.«

Zögernd ging ich auf ihn zu. Mama hatte mir verboten, mit Fremden zu sprechen. Aber heute war wohl eine Ausnahmesituation. Außerdem durfte ich schon gar nichts in der Nase hochziehen, und eine unangenehme Rotzblase bildete sich auch bereits. So nahm ich denn das Taschentuch.

»Danke«, sagte ich artig, schnaubte hinein und ließ mich neben dem alten Mann auf die Bank fallen.

»Wie heißt du denn, Kleine?«

»Stella.« Unglücklich schniefte ich ein bißchen vor mich hin.

»Warum bist du denn so traurig?«

»Weil, weil, na ja, die lassen mich nie mitspielen und sind immer so gemein zu mir.«

»Die anderen Kinder? Aber warum denn?«

»Darum!« antwortete ich trotzig, hob meinen Kopf, schaute den alten Mann an und zeigte auf meine Augen.

»Weshalb? Ich versteh nicht, Kind.«

»Ja siehst du das denn nicht?« Ich war empört.

»Nein, Kind, ich kann nichts sehen. Ich bin fast ganz blind.«

»Blind?« fragte ich. Blind. Blind bedeutete doch, daß man im Dunkeln lebte. Wie grauenhaft. Ich starrte den alten Mann an. »Siehst du auch keine Farben und nichts?«

»Nein, auch keine Farben, nur ein paar Umrisse. Aber mach dir keine Sorgen, das ist schon lange so, ich habe mich daran gewöhnt. Doch erzähl mir mal, was ist mit dir? Warum wollen die anderen Kinder nicht mit dir spielen?«

Ich seufzte. »Na ja, ich sehe wohl ein bißchen komisch aus. Mit meinen Augen, da stimmt was nicht. Nicht so wie bei dir, nein, ich kann alles sehen, aber ...«

»Was aber?«

Die Gelegenheit war fast einmalig. Er konnte es nicht sehen, ich könnte ihm jetzt irgendeine Geschichte auftischen. Aber er war mir ein alter Opi. Und Opis waren wohl eher zum Ausheulen gut als zum Anschwindeln. Also beschloß ich, bei der häßlichen Wahrheit zu bleiben.

»Ja, weißt du, mein rechtes Auge ist ganz anders als mein linkes«, flüsterte ich.

»Anders? Wie anders?«

»Ich, ich habe ein blaues Auge und ein braunes Auge«, quetschte ich endlich hervor.

»Ein blaues und ein braunes Auge? Das habe ich ja noch nie gehört«, sagte der alte Mann und schüttelte den Kopf.

»Kein Wunder. Ist ja auch nicht normal. Es sieht eben – komisch aus. Eben so anders.« Ich schniefte noch ein wenig vor mich hin. »Was hast du hier?« fragte ich den alten Mann und zupfte an einer leuchtendgelben Armbinde mit ein paar schwarzen Punkten darauf.

»Tja, es ist ein Zeichen, das Zeichen, daß ich blind bin. Wenn ich das trage, dazu die Sonnenbrille und den weißen Blindenstock, dann machen mir die Leute den Weg frei.«

Das gefiel mir. »Dann rempelt dich keiner an und schubst dich keiner hin und her? Ob ich wohl auch so eine gelbe Binde tragen könnte und so eine Sonnenbrille und so einen Stock?«

»Um Gottes willen, Stella, das wäre nicht richtig. Ach, weißt du, ich war auch immer ein bißchen anders als die anderen. Man muß lernen, damit zu leben.«

»Warst du denn als junger Mann auch schon blind?«

»Nein, aber da hatte ich ein anderes gelbes Zeichen an der Kleidung, einen Stern. Weil ich ein Jude bin. Weißt du, was Juden sind?«

Ich überlegte kurz. »Nein, nicht so richtig«, gab ich zurück.

»Es gibt Christen, die gehen in die Kirche, weißt du das schon?«

»Ja.« Ich nickte eifrig. »Mit Mama und Papa gehe ich auch ab und zu in die Kirche. Sonntags.«

»Siehst du, und die Juden gehen nicht in die Kirche, sondern sie gehen in eine Synagoge. Das ist ein anderes Gotteshaus für eine etwas andere Religion. Eben anders. Und da gab es mal eine Zeit, da waren die Leute gemein, gemein und grausam zu uns Juden, weil wir anders waren.«

»So wie die Kinder vorhin zu mir?«

»Nein, Stella, noch viel schlimmer. Du wirst das eines Tages in der Schule lernen, im Geschichtsunterricht.«

»Ist das eine sehr traurige Geschichte?«

»Ja.«

»Werde ich weinen müssen?«

»Wahrscheinlich schon.«

Der alte Mann schwieg, nahm kurz seine Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. Dann saß er einfach nur bewegungslos neben mir.

Hm, Genaueres würde ich also in der Schule erfahren. Wo sie mir Geschichten erzählen, bei denen ich weinen müßte. Blöde Schule, wohin man auch hörte, irgendwie war an der Schule nicht allzuviel Gutes dran. Meine Zukunftsaussichten erschienen mir alles andere als rosig.

»Ich will nicht in die Schule und traurige Geschichten hören und mich von den Kindern herumschubsen lassen, weil ich anders bin.«

»Du mußt kämpfen, Kind. Anderssein ist nun mal schwierig in dieser Welt. Du mußt kämpfen!« Der alte Mann nickte zur Bekräftigung seiner Worte vor sich hin.

Ich wollte aber nicht anders sein. Und vom Kämpfen verstand ich noch nichts. Also, die Blindenbinde kam für mich nicht in Frage, der weiße Stock wohl auch nicht. Aber da war doch noch etwas: Am nächsten Tag wünschte ich mir von meinen Eltern eine dunkle Sonnenbrille.

Heute muß ich nicht mehr täglich eine Sonnenbrille tragen, ich kenne einen anderen Trick, um »den kleinen Unterschied« zu verbergen. Aber eines habe ich trotzdem gelernt: kämpfen. Ich habe mir mein Reich bei Beauty Unlimited erobert, und nun bin ich Expertin für Parfüms und dekorative Kosmetik, sprich Schminke in allen Variationen. Fragen aus der Serie »Wie kriege ich den Lippenstift so kußfest, daß auch der Schoßhund beim Küßchengeben keine Farbe an seiner Schlabberzunge hat?« bis hin zu »Welcher Lidstrich zaubert den Nofretete-Look am überzeugendsten, ohne abzubröckeln und ohne nach einem Tauchgang im gechlorten Swimmingpool zu verwischen?« können mich nicht mehr schrecken. Nein, gar nicht.

***

Die leergefutterte Plastikschüssel wandert in den schon übervollen Mülleimer. So, jetzt wird sich die Dame Vizepräsidentin noch eben die Füße vertreten, um gegen den platten Bürohintern anzukämpfen, und der Kampf für die Entwicklung der besten Schönheitsmittelchen kann weitergehen.

»Schnatter, schnatter, quak, schnatter«, höre ich plötzlich. Es klingt so verdammt kläglich. Mehr nach Ente als nach Frosch, aber in Biologie und bei 'Tiergeräuschen bin ich nicht so gut. Suchend schaue ich umher. Fröhliche Enten auf dem See, fröhliche Enten am Uferrand.

»Schnatt, schnatt, schnattelischnatt.«

Abseits, versteckt unter einem Busch, da sitzt eine Ente, die gar nicht fröhlich ist. Ein Flügel hängt gespreizt am Ententier herab. Huh, das sieht aber gar nicht gut aus. Wahrscheinlich ist der Flügel gebrochen. Wahrscheinlich tut das auch richtig weh, wie ein gebrochener Arm oder so.

Ich schaue mich ratlos um. Irgend jemand ist bestimmt hier für die Enten zuständig. So ein Entenpfleger vielleicht, oder einer der Gärtner. Vielleicht. Oder auch vielleicht ganz sicher. Klar doch. Entschlossen drehe ich mich um. Schließlich werde ich in der Firma erwartet. Bin ja schließlich vielbeschäftigt.

»Schnitteldischnatter, schnatt, schnatt«, weint die Ente kümmerlich.

Okay, das war's. Wenn ich jetzt einfach weitergehe, dann werden mich diese Schnatterschreie noch in den Schlaf verfolgen, und es besteht die Gefahr, daß ich nachts mit Taschenlampe und schlechtem Gewissen und allen Gefahren eines dunklen Parkes zum Trotz auf Entensuche gehe. Also mache ich kehrt.

»Ist ja schon gut. Ich helfe dir ja, du Ente.« Ich starre auf das Federvieh. »Na, großartig. Wie faßt man dich Ente eigentlich an? Donald Duck und der Dagobert und die Daisy und selbst Tick, Trick und Track aus Entenhausen, die können wenigstens sprechen. Du schnatterst hier nur rum. Bist keine große Hilfe.«

Seufzend ziehe ich meinen Leinenblazer aus. Er ist hellblau und wird in Kürze Gras- und Erdflecken von feuchten Entenfüßen haben. Bravo. Heldentum wird wohl doch nicht belohnt. Ich wickle also die Ente vorsichtig in meine Jacke und nestele in der Blazertasche nach meinem Handy.

»Benita«, platze ich sofort heraus, als sich meine Mitarbeiterin meldet. »Benita, ich bin im Central Park und habe eine kranke Ente vor mir. Du kennst dich doch mit Tieren aus. Wo, um alles in der Welt, ist hier in der Nähe ein Tierarzt?«

»In der dreiundsechzigsten Straße, zwischen der zweiten und der dritten Avenue, Hausnummer 43, Doktor Cramer«, sagt Benita, die Tierliebhaberin, prompt. »Wie lange wirst du wohl brauchen?«

»Keine Ahnung, habe keine Erfahrung mit Enten.«

»Wird sich nun wohl ändern«, erwidert Benita mit ironischem Unterton.

»Vielen Dank für dein Mitleid, Benita«, gebe ich zurück. »Um die Misere perfekt zu machen, werde ich wohl auch noch das Meeting mit dem Flakondesigner verpassen, zu ärgerlich.«

Unruhig bewegt sich das Tier in meiner Jacke. Prima, jetzt hat es die Grasflecken so richtig bis in jede Faser gerieben.

»Stella, ich mache die Besprechung mit dem Produktdesigner allein. Und ich gebe deiner Sekretärin Bescheid. Ach, da ist Jennifer. Warte mal, Stella. Jenny, welche Termine hat Stella heute noch? Aha. Also, Stella, du hast Ivo Kingsley zu dir bestellt. Aber das ist erst in zwei Stunden.«

»Gut, Benita, bis dahin bin ich wieder da, bestimmt. Verdammt, aber ich kann diese Ente hier nicht einfach so liegenlassen.«

»Natürlich nicht. Die Ente geht vor«, sagt Benita zum Abschied. Und meint das auch noch ernst.

***

Gar nicht so einfach, ein Taxi heranzuwinken, wenn man eigentlich beide Hände voll Ente hat. Endlich hält eines der gelben Autos. Der Fahrer beobachtet desinteressiert, wie ich versuche, in sein zerbeultes Gefährt zu steigen.

Nein, steig bloß nicht aus, Junge. Bleib du mal schön sitzen, und laß mich möglichst mit schlangenähnlichen Verrenkungen und mit der Nasenspitze, denn die habe ich noch frei, die Türe öffnen.

»Schnattiquakquak«, macht die Ente, als ich sie samt ihrem neuen Leinenblazerzuhause auf der schmutzigen Fahrbahn absetze.

Tür auf, meinen Körper hinein, vorbeugen, ja, noch ein wenig mehr, Stella, Stretching ist die Devise, ja, du schaffst es! Ente mit Jacke hochheben, auf den Schoß nehmen, Tür zu. Eigentlich ganz simpel. Und froh kann ich sein. Froh, daß es nur eine Ente und kein Schwan ist, denn Schwäne sind bekanntlich größer und schwerer.

»Dreiundsechzigste Straße, zwischen der zweiten und dritten Avenue«, sage ich zu dem Fahrer, laut, deutlich und ohne Freundlichkeit. Die ist mir voll und ganz abhanden gekommen.

»Dreiundsechzigste Straße?« fragt er.

Nein, bring mich lieber gleich auf den Mond, damit ich dich dort in einem Krater versenken kann.

»Ja«, erwidere ich knapp.

»Zwischen der zweiten und dritten Avenue?«

»Quakschnattquakdischnatt«, antwortet die Ente für mich.

»Ah«, freut sich jetzt der Chauffeur, »Abendessen.«

»Abendessen?« frage ich gedehnt. Ob's da wohl ein Restaurant gibt hei der Adresse, das er meint? Besonders helle scheint der Bursche wohl nicht zu sein. Wer geht schon um ein Uhr mittags zum Abendessen?

»Abendessen, Ente, lecker, lecker«, freut er sich nun.

Verstehe. Er ist kein Vegetarier. Und er ist in der Tat nicht besonders helle. Als oh eine schicke Lady wie ich ihr Abendessen in noch lebendiger Form in einem Achthundertdollar-Leinenblazer transportiert.

»Nix Abendessen«, sage ich böse.

»Abendessen, Abendessen«, freut sich der Fahrer.

Nun, sein Wortschatz scheint ebenso begrenzt wie seine Erfahrung mit Ladies in New York. Und natürlich hilft er mir auch nicht beim Aussteigen, schließlich habe ich ja nur mein Abendessen im Arm.

***

Ich versuche gerade, an der Praxistür zu klingeln, wieder habe ich nur die Nasenspitze frei, da wird die Tür von innen aufgerissen. Verdutzt schaut mich ein älterer Herr an. Verdutzt, weil ich mich nicht so schnell aufrichten kann, wie ich es gern würde, und weil mein Entenpaket auch recht extravagant ist.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragt er.

»Ich möchte zu Doktor Cramer.«

»Schnattelschnattschnatt.«

»Und meine Ente möchte auch zu Doktor Cramer«, füge ich der Vollständigkeit halber hinzu.

»Tja, da sind Sie hier im Grunde richtig. Ich bin Doktor Cramer. Nur, die Praxis ist über Mittag geschlossen. Können Sie bitte in zwei Stunden wiederkommen?«

»O nein, tun Sie mir das nicht an. Schauen Sie, ich habe hier eine echte Central-Park-Ente. Sie ist am Flügel schwer verletzt, und Sie müssen ihr helfen. Es ist auch für die Allgemeinheit, schließlich ist sie eine öffentliche Ente. Und – ganz im Vertrauen: Sie ist auch meine Mittagspausenbeschäftigung. Helfen Sie uns, bevor die arme Ente auch noch Eier legt, die sie wegen ihrer Verletzung nicht ausbrüten kann.«

Dr. Cramer betrachtet mich amüsiert. »In bezug auf die Eier kann ich Sie beruhigen. Ihre Ente ist ein Erpel.«

»Ein Erpel?«

»Ja, ein Enterich!« lacht er.

Ich fasse es kaum. Da trage ich die ganze Zeit einen Mann auf Händen, einen schnatternden Entenmann.

»Gut, also keine Eier, Herr Doktor. Aber schicken Sie uns nicht weg. Ich fürchte, der Knabe hier hat echte Schmerzen.«

Galant verbeugt sich der Doktor. »Sie haben mich überzeugt. Ein öffentlicher Enterich muß selbstredend eine Vorzugsbehandlung bekommen.«

Ich folge dem netten Doktor erleichtert in seine Praxis. Der Enterich wird erst mal geröntgt, und ein paar Minuten später betrachten wir fachmännisch den Entenflügel von innen.

»Hier, die Röntgenaufnahme bestätigt, was ich auch schon gefühlt habe. Mehrere Knochenbrüche im Flügel. Ich muß operieren. Leider ist meine Assistentin nicht hier, Mittagspause. Können Sie Blut sehen?« fragt Doktor Cramer.

Sehen schon. Im Sinne von erkennen. Rot ist es, und es erweckt den Wunsch nach Augen zuhalten, weglaufen und tiefer Ohnmacht. Ich straffe mich. Schließlich geht es um ein Enterichleben!

»Es wird schon irgendwie gehen«, sage ich tapfer.

»Fein. Also, er bekommt als erstes eine Inhalationsnarkose.«

Der hat's gut, der merkt nichts mehr.

»So, unser Freund schläft schön. Ich decke ihn jetzt mit den Operationstüchern zu. Nur den Flügel lassen wir frei, da müssen wir dran arbeiten, nicht wahr?« Aufmunternd nickt mir der Doktor zu.

Dran arbeiten. Liebe Güte. Ich liebe meine Arbeit für die Kosmetikindustrie. Übrigens von Minute zu Minute mehr.

Der Doktor scheint bereit und wendet sich kurz mir zu. »Das sind Ihre Handschuhe, hier. Bitte ziehen Sie sie an, und schieben Sie das Tablett mit den Instrumenten näher heran.«

»Jawohl, Sir«, versuche ich zu witzeln. Instrumente war fein ausgedrückt. Ich starre auf schärfste Skalpelle und andere chromblitzende Gefährlichkeiten.

»Ich schneide jetzt, lege die Knochen frei und entscheide dann, ob ich nagle oder spicke.«

Hier wird mit allen Tricks gearbeitet. Spicken kenne ich nur von Hasenbraten, aber man lernt ja nie aus.

»Greifen Sie mal zu der Zange dort, und spannen Sie etwas von dem weißen Zeugs hinein. Wenn ich sage ›tupfen‹, dann tupfen Sie ganz vorsichtig das Blut im Operationsfeld weg.«

»Wenn's weiter nichts ist«, quetsche ich hervor.

Der Herr Doktor schneidet, der Frau Marketing-Vizepräsidentin wird's flau im Magen.

»Tupfen.«

Der Frau Marketing-Vizepräsidentin wird's nun kotzübel und weich in den Knien. Aber: Sie tupft, was das Zeug hält.

»Gut so«, lobt der Doktor und schnippelt weiter an dem Enterichflügel herum.

Ich atme hechelnd vor mich hin, so wie ich es mal im Fernsehen bei einer Frau in den Wehen gesehen habe. Hechel, hechel, hechel, nur nicht an den Schmerz denken, nur nicht an den Mittagssalat denken, der wieder ans Licht der Welt will, hechel, hechel, hechel.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragt der Doktor besorgt.

Der Salat arbeitet. Ich muß aufstoßen. »Oh, Verzeihung. Doch, doch, es geht schon. Ein bißchen ungewohnt für mich. Ich bin nämlich im Kosmetikbusineß.« Hechel, hechel, hechel. »Und ich liebe meine Arbeit. Nagellacke, Lippenstifte, Parfüms.« Nie waren sie so reizvoll wie heute.

Doktor Cramer nickt kurz und betrachtet sein Werk. »Ich werde spicken. Sehen Sie, die Knochen sind wie Maccaroni. Ich schiebe etwas in die Röhren, als Verbindungsstücke sozusagen.«

Sehr schön. Die Knochen sind Maccaroni, das Blut ist kein Blut, sondern Tomatensoße. Warum hat er das nicht gleich gesagt? Ristorante italiano bei Dottore Cramer.

Nach einer Stunde und reichlich Spickerei sind schließlich auch die Schnitte vernäht. Doktor Cramer wickelt den operierten Flügel eng an den Körper.

»Ich fixiere den Flügel jetzt. Er darf ihn in den nächsten Wochen nicht bewegen. Achten Sie darauf. Den Verband können Sie in ein paar Tagen wechseln, aber immer schön eng an den Körper bringen und fest zukleben.«

Damit ist unser Schicksal besiegelt. Ich muß den Enterich mit nach Hause nehmen, er wird in meinem Minigarten leben und sich von mir verarzten und versorgen lassen.

Was fressen denn Enten überhaupt? Bestimmt etwas schrecklich Ekliges. Maden. Maden? Erneut kriecht mir ein Würgen die Kehle hoch. Muß ich jetzt dicke Stubenfliegen für ihn fangen oder glitschige Regenwürmer aus dem Erdreich buddeln?

»Ach, Herr Doktor, was, bitte, frißt er denn so?«

»Alles.«

»Alles? Wie meinen Sie das?«

»Enten sind Allesfresser. Wechseln Sie ein bißchen ab. Mal Kartoffeln, mal Gemüse oder mal irgendein Tierfutter aus der Dose. Sie werden sehen, er ist sehr genügsam.«

»Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich dachte schon an Würmer und so 'n Zeug. Vielen, vielen Dank. Was bin ich Ihnen schuldig, Herr Doktor?«

Er lächelt. »Nichts, ist ja nicht Ihre Ente, oder?«

»So gesehen haben Sie recht. Nochmals vielen Dank.«

»Schnaaaaaaaaaaaaa«, versucht sich die Ente in warmen Abschiedsworten und schläft sofort wieder ein.

***

Ich wohne nur ein paar Straßen weiter in der Upper East Side. Zügig schleppe ich meinen pennenden Enterich in mein gemietetes Häuschen. Zu dem typisch New Yorker Brownstone gehört ein Minigarten im Hinterhof. Dort bette ich den Enterich sanft ins Gras.

»Na, bist du wach? Hoffentlich tut's nicht so weh.«

Der Enterich bewegt sich nicht. Wahrscheinlich wundert er sich. Über seine neue Umgebung, über seinen verpackten Flügel, einfach über alles eben.

Von nebenan ertönen Klavierklänge. Mozart.

»Das ist nur der komische Kauz im Nachbarhaus. Der spielt am liebsten Mozart. Besser, als wenn er mit seinen Chemikalien in seinem Kellerlabor dunkelgrünen Rauch produziert. Er war nämlich mal Chemiker, weißt du.«

Während ich dem Enterich die Nachbarschaftsverhältnisse erkläre, bröckle ich ihm ein wenig trockenes Weißbrot in eine Schüssel. Schnell noch ein zweites Schüsselchen mit Wasser. Müde beobachtet mich mein neuer Hausgenosse und läßt den Schnabel auf den Schüsselrand sinken. Zu schwach zum Futtern, der Arme.

»So, ich muß jetzt dringend in die Firma. Sei schön brav, iß was und schlaf ein wenig. Es wird schon alles wieder gut werden.«

Vorsichtig streichele ich das grüne Entenköpfchen und rase dann los.

»Schnattischnattquak«, höre ich noch.

Hübsch hat er das gesagt, mein Adoptiventerich.

Mister Vision

Als ich ins Büro stürme, sehe ich als erstes Jennifers verklärten Blick. Meine Sekretärin himmelt unverhohlen und leider auch mit halboffenem Mund einen Mann an, der mir momentan noch den Rücken zudreht.

»Bin wieder da«, rufe ich Jenny zu.

Damit habe ich sie gestört auf Traumebene Nummer eins: Großer Unbekannter entführt kleine Sekretärin.

Ihre Lippen schließen sich, auch die Trance scheint langsam zu weichen. Sie strafft ihre Streublümchenbluse und kehrt mühsam auf die Erde zurück. Arme Jenny, sie schwebt doch so gern.

»Mister Kingsley ist hier«, erklärt sie.

Der Rücken dreht sich, vor mir steht er: Ivo Kingsley, internationaler Trendberater. Ein Mister Vision, wie er leibt und lebt. Unser Trendguru, unser Maestro mit den Gespür für die Zukunft. Einmal im Monat konsultiere ich ihn, um dem Geist der Zeit auf der Spur zu bleiben.

»Stella, wunderbar, dich zu sehen. Du bist mein schönster Termin in dieser Woche. Wie geht es dir?« fragt Ivo, breit lächelnd.

Charme, laß nach. Oder auch nicht.

»Gut, gut. Na, dich brauche ich wohl nicht zu fragen. Wo hast du diese Bräune her, du Globetrotter?«

Oje, Jennys romantisch beflügeltes Köpfchen kippt schon wieder andächtig zur Seite. Traumebene Nummer zwei: Jenny mit Held, verliebt, auf Weltreise.

Aber ich kann sie verstehen. Dieser Mann ist nicht nur groß, gutaussehend und braungebrannt, nein, er hat es auch, dieses gewisse Etwas. Eine Aura eben.

»Meine Bräune stammt aus Afrika.«

»Afrika«, haucht Jenny.

»Jenny, sag mir, was ich verpaßt habe und was mich noch erwartet«, unterbreche ich Traumebene Nummer drei: Liebesgeflüster im afrikanischen Busch.

»Benita sagte, du hättest eine Ente?« fragt Jenny.

»Ja, stimmt, genauer gesagt, einen verwundeten Enterich, den ich erst mal verarzten lassen mußte. Aber davon später. Also, was liegt an?«

Jenny schnappt sich eifrig ihren Notizblock. Amüsiert schaue ich auf ihre handschriftlichen, sauberen Aufzeichnungen. Vor jedes neue Thema malt Jenny immer eine kleine Blume.

Sie widmet sich nun ihren diversen Blümchen beziehungsweise den Notizen: »Benita ist noch im Meeting mit dem Produktdesigner. Und du hast in genau eineinhalb Stunden eine Besprechung mit dem Boß, mit Evelyn und mit Ted. Planungsmeeting über Neuentwicklungen.«

»Okay, dann bis später, Jenny, und stell bitte keine Anrufe durch.«

Ich gehe mit Ivo Kingsley in mein Büro und schließe die Tür hinter uns. Lässig läßt er sich in einem der Ledersessel nieder. Er sieht aus wie immer, wie ein Prototyp, den man für eine ganze Serie kreativer Visionäre gebrauchen könnte. Die braunen langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, Dreitagebart, leuchtendblaue Augen in vollendeter Korrespondenz mit leuchtendblauem Hemd. Ohne Krawatte, weil Trendgurus keine Kulturstricke tragen. Und obligatorisch: der schwarze einreihige Anzug. Weil Trendgurus ohne Krawatte zwar von ihren Auftraggebern zähneknirschend akzeptiert werden, jedoch ohne Anzug arbeitslos sind. Ein gewisses seriöses Element muß schon sein. Wie auch immer – dieser Mann ist eine Augenweide par excellence. Und nicht nur das!

Stella, konzentrier dich. Ich atme tief durch. »Ivo, ich will dir nachher konkret von einem Projekt erzählen und mich von dir beraten lassen. Vorher würde ich aber gerne von dir hören, was es so Neues gibt, welche Trends sich durchzusetzen scheinen, welche Ferntrends es deiner Meinung nach gibt.«

»Nun«, beginnt Ivo, »da wäre zuerst einmal die Authentizität in unserer fraktalen Gesellschaft.«

Das ist doch schon mal eine echte Information. Muß man erst darauf kommen: Au-then-ti-zi-tät. Ein wunderbares Wort! Hab ich noch nie in meinem Leben benutzt, wahrscheinlich, weil es sich nicht besonders leicht aussprechen läßt und irgendwie zum Stottern verleitet.

Also, noch mal zürn Mitdenken für mein armes Hirn: Au-then-ti-zi-tät, was ja wohl soviel heißt wie Echtheit. Echtheit. Echtheit in unserer fraktalen Gesellschaft! Versteh nur Bahnhof.

»Erklär mir das genauer«, fordere ich Ivo schließlich auf.

»Das fraktale Bild unserer Gesellschaft ist dir ja klar, oder?«

Nee, nicht mit mir. Ich interpretiere nichts von diesem Fraktalkram, und ich mache auch keinen Fremdwörtertest. Dich kenne ich, du Guru, du sollst mich gedanklich anregen, nicht prüfen. So lächle ich milde. Ein wenig Provokation meinerseits könnte nicht schaden.

»War die Gesellschaft nicht schon immer fraktal, also zerrissen, verschiedenartig?« frage ich listig.

Ivo nickt. »Sicher doch, nur – die Fronten verstärken sich. Du mußt dir die Gesellschaft vorstellen als riesengroßen Kuchen. Und es werden mehr einzelne Kuchenstücke, immer mehr, verstehst du?«

»Klar doch. Früher gab es Erdbeerkuchen, Schokoladenkuchen und Nußtorte. Heute außerdem Stachelbeerbaiser, Nougateclair, Heidelbeersahne und Eierlikörtorteletts.« Im Kuchenessen bin ich Profi.

»Genau, Stella. Und zusätzlich wären da noch kleine Küchlein in Dutzenden von Variationen. Also – die Gesellschaft ist fraktal, teilt sich in immer mehr Untergruppen. Die Kommunikation zwischen den Gruppen erfährt immer mehr Störungen.« Er beugt sich ein wenig vor.

Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut, denn er riecht so gut.

»Was, äh, trägst du für einen Duft, wenn ich fragen darf?« Wenn ich fragen darf, bevor ich das Sprechen verlerne und auf einer von Jennifers Traumebenen lande?

»Geheimnis. Ich mische mir meine Sachen selber, je nach Stimmung. Je nachdem, was ich vorhabe.«

Ich rieche einige Noten heraus, die wir Parfüms für den Erotiktouch beimischen. Moschus, Ambra, Zibet – Ivos Duft scheint nur vom Erotiktouch zu leben. Was hat er wohl vor?

»Äh, wo waren wir stehengeblieben?« frage ich.

»Wir haben das mit der fraktalen Gesellschaft beleuchtet und die schlechte Kommunikation zwischen den einzelnen Gesellschaftsgruppen geklärt. Diese Gruppen bezeichne ich übrigens als Szenen.«

Recht hat er, klingt auch schicker.

»Abgesehen davon leben wir ja auch mit der Entmaterialisierung unserer Kommunikation.«

»Wer schreibt schon noch Briefe?« werfe ich ein.

»Zum Beispiel. Aber zurück zur Authentizität.«

Genau, wird auch Zeit, daß das Au-Wort an die Reihe kommt.

»Die Szenen haben zur Authentizität natürlich ein unterschiedliches Verhältnis.«

»Natürlich. Ist einleuchtend«, sage ich und nicke wissend.

Ivo beobachtet mich skeptisch. Wahrscheinlich versucht er herauszufinden, ob ich ihm folgen kann. Ich kann, ich will, ich werde.

Mein aufforderndes Lächeln wirkt. Ivo erklärt weiter: »Authentizität in diesem Zusammenhang ist Ehrlichkeit! Die neue Ehrlichkeit!«

»Das ist es also!« sage ich. »Die neue Ehrlichkeit!«

»Genau, die neue Ehrlichkeit. je jünger die Szenen, desto aggressiver wird Authentizität gelebt, geradezu gefordert.«

»Mit anderen Worten: Die jungen Szenen scheuen auch nicht davor zurück, die alten Szenen als verlogen zu beschimpfen?« jetzt kriegt das Ganze Substanz, jetzt wird's langsam Philosophie zum Anfassen.

»Richtig, Stella, nur mußt du das immer mehrdimensional sehen. Alter allein ist nie ausschlaggebend. Es gibt auch ältere Szenen, die sind militant authentisch. Und junge, die leben mehr vom Phänomen der Dekadenz und haben somit nicht das geringste Gespür für die neue Ehrlichkeit.«

»Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht«, stöhne ich.

»Wenn du in vielen Szenen bist, lebst, dann ist es gar nicht so kompliziert. Dann fühlst du, was abgeht.«

»So wie du, ja?«

»Ich habe Zutritt zu fast allen Szenen.«

Klar, am Wochenende Schachspielen mit dem Pfarrer, montags Hip-Hop-Tanzen in der Teenagerdisco, zweimal im Monat mit ortsansässigen Bauarbeitern Bierflaschen stemmen und hier und da ein paar Termine mit den Intellektuellen aus Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

»Du, Ivo, du bist ja auch ein Trendberater. Welcher normale Mensch wie ich hat denn die Zeit, sich in allen Szenen zu tummeln?«

»Bist du denn ein ganz normaler Mensch?« fragt Ivo und mustert mich intensiv.

»Keine Ahnung. Wohl nicht verrückter als die meisten. Wenn auch in mancherlei Hinsicht – anders.« Ich senke die Augenlider. Obwohl das eigentlich Quatsch ist. Niemand kann mein gut getarntes Geheimnis erkennen.

»Wenn du mich fragst, bist du ein ganz besonderer Mensch, Stella, eine ganz besondere Frau.«

Besondere Frauen stehen auf ganz besondere selbstgemischte Parfüms von ganz besonderen Männern. Puh.

»Äh, vielen Dank für das Kompliment, Ivo. Laß uns doch mal über Sport reden.«

»Über Sport?« fragt er.

»Das war jetzt vielleicht ein bißchen abrupt. Ich meine, ich brauche mal deine Meinung zu den Trends in puncto Sport.«

»Nun, auf jeden Trend folgt auch immer ein Gegentrend.«

»Das heißt im Klartext?«

»Sport ist ja nichts anderes, als aus der Ruhe in die Bewegung zu kommen. In den letzten Jahren ist das kultartig übersteigert worden. Im Gegenzug kommt natürlich auch eine Welle der Abwehr, der Suche nach dem Ruhezustand.«

»Die Suche nach dem Ruhezustand?« wiederhole ich fragend.

Ivo grinst. »Du kannst es auch Faulheit nennen.«

»O ja, laß mich raten: etwa die neue Faulheit?«

»Das ist doch nicht abwegig, oder?«

»Abwegig nicht. Im Grunde sogar überaus sympathisch. Es paßt mir nur überhaupt nicht in den Kram. Ich spiele nämlich ernsthaft mit dem Gedanken, einen sportlichen Duft für Frauen herauszubringen. Da wird mir doch wohl die verdammte neue Faulheit jetzt keinen Strich durch die Rechnung machen, oder?«

»Kommt drauf an, wie du es anstellst. Es muß dir bewußt sein, daß Sport in sich schon fraktal ist.«

Womit wir wieder bei diesen tausend verschiedenen kleinen Kuchen wären.

»Stella, sieh es so: Sport als fraktale Größe beinhaltet Vergnügen, Kampf, Kult, Überzeugung, Jugendwahn. Selbst die Jungbrunnenidee, aber das ist ein anderes Kapitel.«

»Bestimmt ein hübsches. Reinspringen und Runzeln wegbaden.«

Ivo grinst. »Jedenfalls darfst du nicht einseitig werden mit deiner Duftinterpretation, verstehst du? Überlege dir gut, welche Zutaten du nimmst, wie du deine Idee kommunizierst.«

»Schade, ich dachte, das würdest du für mich machen.«

»Ich? Du bist hier die Marketingfrau. Ich bin dein Trendberater. Ich liefere dir ein Bild dessen, was sich in den Szenen abspielt.«

Ein sauguter Job. Alles ist möglich, nichts ist sicher, außer der Tatsache, daß es keine Sicherheit gibt.

»Trotzdem, Ivo, sehr interessant. Authentizität oder neue Ehrlichkeit, Fraktalität und neue Faulheit. Was ich damit anfange, weiß ich zwar noch nicht, aber ich werde es auf den Grund meiner kreativen Seele sacken lassen.«

»Ich hätte da noch etwas zur neuen Ehrlichkeit anzumerken«, sagt Ivo bedeutungsvoll.

»Ja?«

»Ich will ein Date mit dir.«

Hat Ivo Kingsley gerade gesagt, er will ein Date mit mir? Ich glaub's ja kaum, praktizierte Authentizität. Ich hab ein neues Lieblingswort!

»Du meinst ein Rendezvous, Ivo, eine private Verabredung?«

»Genau das. Was hältst du davon?«

»Ganz ehrlich?« necke ich ihn.

Ivo nickt und schaut mich abwartend an.

»In Ordnung, Mister Vision. Das ist hier übrigens dein Spitzname. Den wollte ich dir verraten, weil ich heute so authentisch hin.«

»Mister Vision?« Ivo lacht.

Weiße Zähne blitzen in braunem Gesicht mit blauen Augen. Warum habe ich keinen Fotoapparat zur Hand? Meine Mutter glaubt nämlich, ich hätte es immer nur mit blassen Büromännern und buntgeschminkten Bürofrauen zu tun.

»Also, Stella, wie wäre es mit morgen abend um acht Uhr im Vong?«

»Einverstanden. Allerdings dürfte es nicht so einfach sein, so kurzfristig eine Reservierung im Vong zu bekommen.«

»Ist auch nicht nötig. Ich habe schon reserviert.« So spricht er und verabschiedet sich mit einem Küßchen auf die Wange.

Nun bin ich noch mehr perplex. Schon reserviert? Kann er wirklich in die Zukunft sehen?

Wie auch immer, jetzt weiß ich jedenfalls, warum er seinen heutigen Duft mit Moschus, Ambra und Zibet gemischt hat. Liebe geht durch den Magen, Verführung durch die Nase ...

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