Lavendelmädchen - Diana Volkmann - E-Book

Lavendelmädchen E-Book

Diana Volkmann

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Beschreibung

Diana Volkmann wächst bei ihrer Großmutter im Harz auf. Der Nachbar nimmt das kleine Mädchen unter seine Fittiche – es kommt über viele Jahre zu Missbrauch. Als sie ihre Großmutter informiert, wiegelt diese ab. Sie schaut weg, wie viele andere auch. Erst als ein Arzt bei Diana Verletzungen diagnostiziert, findet der Missbrauch ein Ende. Diana Volkmann ist seit Jahren in Therapie, sie lebt in einer stabilen Beziehung und hat ihren Weg gefunden. Dies ist ihre Geschichte.

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Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten, die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes so weit verfremdet sind, dass eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden Personen zufällig und nicht beabsichtigt sind.

Prolog

Es ist ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel strahlt in sattem Blau, die Luft fühlt sich an wie Seide, und die ganze herrliche Harz-Landschaft erscheint mir heute wie das Paradies. In voller Pracht stehende Bäume säumen die Straße. Auf den Feldern reift goldgelber Weizen. Idylle pur, die sich in meinem kleinen Heimatort fortsetzt.

Die Dorfstraße hat, so lange ich denken kann, ein Kopfsteinpflaster. Die Häuschen sind bunt gestrichen. In den Vorgärten blühen prächtige Rosen, und dichte Chrysanthemen-Büsche flankieren die frisch gefegten Hauseingänge. Auch auf dem Bürgersteig liegt kein Blatt, kein Stück Papier, nichts. Aus einem Fenster klingt von fern leise Schlagermusik – der einzige Hinweis darauf, dass hier überhaupt jemand lebt. Es ist Sonntagnachmittag fünfzehn Uhr und der malerische Ort menschenleer.

Wir sind zu Gabys Geburtstag eingeladen, der Langzeitfreundin meines Onkels. Wir, das sind David und ich. David ist seit sechs Jahren mein Lebenspartner. Er arbeitet als IT-Fachmann in einer Klinik in Halberstadt und ist mein Traummann. Nicht nur äußerlich attraktiv: groß, schlank, mit dunklen Haaren und einem fein geschnittenen Gesicht, sondern auch charakterlich ein Hauptgewinn: ehrlich, fürsorglich, verantwortungsbewusst und humorvoll. Ich liebe ihn, von ganzem Herzen.

Gaby lebt mit Onkel Frank, dem Bruder meines Vaters, direkt im Dorfkern. Ihr kleiner hellgrüner Bungalow steht etwas versteckt auf einem Gartengrundstück hinter dem Haupthaus, einem ebenfalls gelben Gebäude mit schneeweißen Fenstern und Türen. Hier wohnte früher meine Oma. Seitdem sie im Altenheim lebt, ist das Haus vermietet. Ich kenne die neuen Mieter nicht. Viele Jahre schon bin ich nicht mehr hier gewesen.

Eigentlich wollte ich auch nie wieder zurückkehren. Aber ich mag Gaby. Sie hat viel für mich getan, und als ich gestern ihren Anruf mit der Einladung erhielt, war ich gerührt und habe spontan zugesagt.

Gaby wird fünfzig Jahre alt und hat zu einer der typischen Kaffee-und-Kuchen-Feiern eingeladen. Es wird garantiert Obsttorte geben, dazu Waffeln mit Schlagsahne und heißen Kirschen. Das ist Familientradition. Ich freue mich, Gaby zu sehen. Sie ist eine hübsche Frau und sieht viel jünger aus, als sie ist. Gaby ist mädchenhaft schlank, trägt gern Jeans und Pulli, ihre schwarzen Haare hat sie zu einem flotten Bob schneiden lassen. Zumindest war das vor einem Jahr so, als ich sie zufällig traf. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.

David war erst nicht so begeistert von meiner Idee, diesen herrlichen Sommertag ausgerechnet auf einer Geburtstagsfeier meiner Familie zu verbringen. Aber dann habe ich ihn überredet und gemeint, dass wir ja nicht allzu lange bleiben würden.

»Und was ist mit dem Haus?«, hat er besorgt gefragt.

Doch ich habe seine Bedenken sofort weggewischt.

»Das macht mir nichts aus. Wichtig ist, dass Oma nicht kommt. Gaby hat sie bewusst nicht eingeladen.«

David blieb skeptisch.

»Gaby hat es mir versichert«, beruhige ich ihn. »Sie weiß doch, dass ich ihr auf keinen Fall begegnen will!«

Jetzt sind wir gleich da.

»An der nächsten Kreuzung links«, dirigiere ich David durch das Geflecht der engen Dorfstraßen. In Schlangenlinien steuern wir durch die engen Häuserzeilen, vorbei an der alten Heißmangel, dem ehemaligen Friseursalon, dem Gasthof Ritter, in dem es früher immer das leckerste Eis gab, und natürlich dem Konsum, der heute Edeka heißt und mal das Herz des Dorfes war, in dem man Neuigkeiten immer aus erster Hand erfahren konnte. Die Frauen trafen sich an der Wursttheke bei Ingrid, die Männer am Tresen bei Ritters. Ich bin mir heute sicher, dass ich sehr oft Thema des Klatsches war …

»Soll ich hier einparken?« David sieht mich fragend von der Seite an.

Ich nicke. »Ja, hier, am Zaun. Dahinter wohnen übrigens die Beckers, die hatten früher eine kleine Pferdezucht. Ich weiß nicht, ob sie heute immer noch Tiere halten.«

»Sieht nicht so aus«, meint David mit einem Blick auf das lang gestreckte rot geklinkerte Backsteingebäude. »Die Ställe scheinen leer zu sein. Aber das Haupthaus wirkt bewohnt, alles ist blitzsauber und gepflegt. Da wächst ja kein Halm auf dem Hof«, spöttelt er grinsend.

Ich recke meinen Hals, um besser über den Zaun sehen zu können. »Meinst du? Ich weiß nicht, irgendwie sieht das alles unbewohnt aus. Ob sie auch schon tot sind?«

Die Beckers sind, so lange ich zurückdenken kann, Omas Nachbarn gewesen. Eine große Familie mit vier Kindern. Was wohl aus ihnen geworden ist? Ich habe alle aus den Augen verloren.

David schüttelt den Kopf. »Nee, sieh doch mal, die Nebentür steht offen. Ich denke, die Leute sind hinter dem Haus im Garten und genießen die Sonne. Bei dem Wetter treibt es doch jeden ins Freie.«

Ich sehe David lachend an. »Ja, ja ich weiß, du wärst heute viel lieber spazieren gegangen. Das hast du nun wirklich oft genug angemerkt. Ich habe es kapiert!«

David muss schmunzeln.

»Hast ja recht!«, meint er. »Ich füge mich ab jetzt in mein Schicksal. Also komm, Schatz, wir lassen uns jetzt mal lieber die Waffeln deiner Tante schmecken, und ich bin lieb, versprochen.«

David parkt das Auto nahezu perfekt auf dem kleinen Seitenstreifen, sodass wir die Ausfahrt nicht zuparken und auch nicht das perfekt gepflegte Außenbeet touchieren.

»Kannst du so weit laufen, Schatz«, will David jetzt fürsorglich wissen und steht schon am Kofferraum, um meine Krücken zu holen.

Er ist immer so aufmerksam. Auch das liebe ich an ihm. »Ich verwöhne eine Frau gern«, sagt er häufig.

Ich nehme beherzt die knallroten Krücken, die er mir sogar so hinhält, dass ich beim Aussteigen sofort an die Griffe komme.

Bis zu Gabys Haus sind es nur wenige Schritte.

Auf der rechten Seite, gleich im Anschluss an das Grundstück der Beckers, steht ein Einfamilienhaus mit einem überdachten Eingang und einer großen Sonnenterrasse. Es gehörte mal den Saalmeiers, Heinz und Frieda Saalmeier. Heinz ist 2008 und Frieda 2010 verstorben. Beide waren über achtzig Jahre alt. Ihr Haus ist verkauft. An wen weiß ich nicht. Ich habe nie gefragt. Es interessiert mich auch nicht. Aber es scheinen jüngere Leute zu sein, vermutlich mit Kindern. Denn im Garten liegen zwei kleine Biene-Maja-Fahrräder.

Das Grundstück ist im Gegensatz zu all den anderen supersauberen Gärten fast schon ein bisschen verwildert. Der Holzzaun hat kleine Macken, sogar die Farbe ist an manchen Stellen abgesplittert, und die bunten Sommerblumen wachsen unsortiert durcheinander.

Wenn das Heinz wüsste, schießt es mir durch den Kopf. Der Garten war sein Ein und Alles, er arbeitete immer stundenlang darin. Am wichtigsten waren ihm seine glutroten Rosen. Die hat er in meiner Erinnerung jeden Tag geschnitten, gegossen, gedüngt.

Genauso wie den Lavendel. Es gab ein ganzes Beet davon, damit Frieda genug zum Dekorieren hatte. In der ganzen Wohnung standen dicke Sträuße Lavendel, oft sogar in den passend lilafarbenen Vasen. Aber Frieda liebte nicht nur ihr Aussehen. Sie mochte auch, wenn die ganze Wohnung nach Lavendel roch.

»Geht’s noch?« David merkt, dass ich stehen geblieben bin, und hakt mich jetzt kurz unter. Er ist groß und kräftig und kann mich mit seinen starken Armen führen und halten wie ein Kind. Ich vertraue diesen Armen und diesem Mann. Sie geben mir so viel Schutz.

Aber im Moment komme ich allein zurecht. Ich brauche keine Hilfe.

»Ja klar«, sage ich. »Es sind ja nur noch wenige Meter!«

»Sieh mal, der Lavendel. Der blüht ja wie in der Provence«, höre ich David sagen. »Wir haben jetzt schon den Orient und Afrika bereist. Das nächste Mal geht’s in die Provence. Ich möchte zu gern mal die riesigen Lavendelfelder sehen. Wie das wohl riecht, wenn auf so großer Fläche alle blühen. Das muss unglaublich schön sein …«

Der schwere Körper nimmt mir die Luft. Ich kann nicht mehr atmen. »Bitte, gehe zur Seite, bitte«, jammere ich. Ich spüre die knorrige Hand auf meinen Schenkeln, fühle den heißen, nassen Atem an meinem Hals. »Das magst du doch, ich weiß es. Sag, dass du mich lieb hast, jetzt!«

»Diana, Liebling, was ist los?« David steht vor mir, fasst mich mit beiden Händen an den Schultern und sieht mir fest in die Augen. »Liebling? Hallo? Sag doch etwas. Du bist ja ganz weiß. Ist dir nicht gut?«

»Es tut auch nicht weh. Ich glaube, du bildest dir das sowieso alles nur ein. Du musst dich entspannen und nur daran denken, dass wir uns lieb haben …«

»Diana, Schatz, es geht dir nicht gut. Das sehe ich doch! Komm, ich bringe dich zu deiner Tante ins Haus.«

David nimmt mir eine Krücke ab und stützt mich nun.

»Komm, noch ein paar Meter. Dann gibt es erst einmal einen warmen Kaffee. Der bringt dich wieder in Schwung. Du zitterst ja. Was hast du denn? Du hast doch gesagt, dass es dir nichts ausmacht, das Haus wiederzusehen. Du wolltest doch hierherkommen.«

Ich erwidere nichts. Aber ich weiß ab diesem Augenblick, dass mein Besuch hier ein Riesenfehler ist.

Lavendel! Der ekelige Geruch steckt plötzlich in meiner Nase und geht nicht mehr weg, die ganze Straße riecht auf einmal danach. Er geht von diesem mittlerweile zugewucherten Beet auf Heinz’ ehemaligem Grundstück aus. Die dunkellilafarbenen Blüten wachsen trotzig vermischt mit Unkraut und Rosen durch den Gartenzaun hindurch und sind fast mit Händen zu greifen. Heinz war immer so um Ordnung im Garten besorgt, und jetzt wächst hier alles durcheinander.

»Lass uns bitte nach Hause fahren«, sage ich leise und bleibe abrupt stehen. »Es hat keinen Sinn. Es war gut, dass ich jahrelang nicht hier gewesen bin, sehr gut sogar. Ich will weg und weiß jetzt: Ich kehre nie mehr wieder zurück!«

»Und Gaby, was sagen wir ihr?«, wirft David ein. »Wir müssen wenigstens kurz Bescheid geben.«

Ich bekomme kaum mehr Luft. Die Übelkeit hat mich mit aller Macht gepackt. Mein Magen krampft. In meinem Mund spüre ich Flüssigkeit. Und dann dieser bohrende Schmerz.

»David, verzeih«, bekomme ich gerade noch heraus, bevor ich mich übergeben muss. Ich halte mich mit der rechten Hand am Zaun fest, mit der linken umklammere ich die Krücke, und dann bricht alles aus mir heraus und in hohem Schwall auf den Lavendel. Dreimal würgt mein Magen die Reste meines Frühstücks heraus, und danach fühle ich mich so schlapp, dass ich nur noch eins will: nach Hause.

Ich nehme die Krücke, die auf den Boden fiel, wieder hoch und schleppe mich, so schnell es geht, mit Davids Unterstützung zurück zum Auto, wo er mir beim Einsteigen hilft.

»Bitte, schnell weg hier«, flehe ich ihn an und kann nicht erwarten, dass er den Motor anlässt und den Rückwärtsgang einlegt. »Gaby schreibe ich gleich eine Nachricht. Sie wird mich verstehen«, presse ich noch heraus. Weg, nur weg, so schnell wie möglich!

***

»Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?« David beobachtet mich sichtlich irritiert und auch etwas genervt. Ich weiß, dass er es nicht mag, wenn ich in einem Restaurant das Besteck abputze. »Das vermittelt dem Besitzer, dass sein Lokal nicht sauber ist«, meint er. Mag sein, aber mir vermittelt fremdes Besteck das Gefühl von Schmutz und Bakterien, und beides will ich vermeiden. Kann man das nicht verstehen?

»Es merkt doch niemand«, sage ich leise und versuche, meine Stimme überzeugend klingen zu lassen. Ich will David heute nicht noch mehr zumuten. Erst habe ich ihn dazu überredet, mit mir den Geburtstag meiner Tante zu feiern, dann weigere ich mich, zu ihr ins Haus zu gehen, übergebe mich stattdessen auf der Straße und verlange dann, dass er mit Vollgas wieder zurückfährt! Ich denke, es reicht für heute.

Zum Trost für den verpfuschten Tag hat er mich nun zum Kaffee eingeladen, und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihn mit meinem Sauberkeitsfimmel zu blamieren. Ich muss mich zur Ordnung rufen, sonst ist die Stimmung gleich im Keller.

»Bitte entschuldige mich. Ich gehe zur Toilette!« Mit einem Ruck lege ich das Besteck und die Serviette auf den Tisch. »Bin sofort wieder da!«

»Was möchtest du essen?«, fragt David noch schnell, aber ich tue so, als ob ich die Frage nicht gehört hätte, und steuere ungeduldig die Toilettenräume an.

Das Besteck schien mir wirklich ekelig zu sein, richtig klebrig. Es war einfach nicht richtig gewaschen. Aber irgendwie fühlen sich meine Hände heute auch schmuddelig an. Einfach scheußlich. Ich muss sie waschen, gründlich.

Zum Glück ist der Seifenspender voll, und ich bin allein im Waschraum. Ich genieße das lauwarme Wasser auf meiner Haut, den wohlig nach Rosmarin und Nelken duftenden Desinfektionsschaum. Wir sind in einem Bio-Café, hier legt man Wert auf spezielle Seifen. Für mich das Paradies.

Immer schneller reibe ich meine Hände gegeneinander, nehme immer mehr Schaum, bis sich zwischen meinen Fingern eine dichte, cremige Masse bildet. Durch das Aufschäumen entfaltet die Seife ihren Geruch noch intensiver als sonst. Ich liebe diesen Duft, er wirkt trotz seiner Lieblichkeit antiseptisch und vermittelt mir Sauberkeit, Reinheit, das Gefühl, sich nichts Krankmachendes, nichts Unappetitliches einzufangen.

Immer intensiver knete ich jeden einzelnen Finger, reibe den Schaum auch in die kleinste Hautfalte, und dann halte ich meine Hände unter das reine Wasser und reibe so lange weiter, bis nicht mehr der geringste Schaum auf meiner Haut übrig ist, die Hände sich glatt und sauber anfühlen.

Tun sie das? Nicht wirklich. Ich strecke meine Hand erneut unter den Seifenspender und nehme dieses Mal eine riesige, pampelmusengroße Menge auf meine Handfläche. Allmählich wird es, ich muss noch länger reiben, irgendwann ist dann hoffentlich alles Schmutzige weg, und ich fühle mich rein, zumindest für den Moment.

Manchmal stellt sich das Gefühl von Sauberkeit aber auch gar nicht ein, und ich höre erst auf, wenn sich der weiße Schaum mit meinem blassrosa Blut vermischt und in den feinen Rissen auf der Haut die Seife brennt. Dann habe ich übertrieben, und meine Haut hält die Tortur nicht mehr aus. Das passiert mir immer wieder, und ich muss dann ein paar Tage lang eine starke medizinische Creme auftragen, damit die Haut heilen kann. Dazu benutze ich dann Einmalhandschuhe.

So weit darf ich es heute nicht kommen lassen. David wartet draußen auf mich, und er kann sich genau vorstellen, was ich mache, wenn ich ihn zu lange warten lasse.

Er weiß, dass ich einen Waschzwang habe. Ich stehe neuerdings dazu, spreche zumindest mit Freunden und der Familie offen darüber.

David stört sich nicht wirklich daran. Zumindest lässt er es mich nicht wissen, wenn es so wäre.

»Bei uns ist es wenigstens immer blitzblank«, frotzelt er häufig, wenn ich mal wieder mit einem Putztuch jeden Winkel in der Wohnung abputze. Er sitzt dann am PC und spielt Computerspiele oder surft durch das Netz und lässt mich einfach gewähren. Auch wenn ich mehrfach täglich dusche, lässt er mich machen. Anfangs hat er sich daran gestört, dass ich zu viel Wasser verbrauche. Aber mittlerweile ist das vorbei. Er weiß, dass ich nicht dagegen ankomme, und sagt schon lange nichts mehr dazu.

Aber in einem Lokal stört er sich an meinem Reinlichkeitsfimmel. Es ist ihm peinlich. Ich verstehe das auch.

Mittlerweile stört ihn aber bestimmt auch, dass er allein am Tisch sitzt und auf mich warten muss!

Wir wollten uns einen schönen Sonntag machen und den Tag nach dem Debakel mit einem entspannten Aufenthalt in einem Café retten. Und nun sitzt er mutterseelenallein an einem Gartentisch, und ich stehe am Waschbecken und sehe zu, wie sich das Wasser seinen Weg durch den Schaumberg bahnt. Wem kann so etwas schon gefallen?

Noch einmal, noch einen Durchgang, dann höre ich auf. Dann fühle ich mich auch wieder gut, ganz bestimmt.

»Diana!«, höre ich da Davids Stimme.

Er klopft jetzt auch an die Tür.

»Diana, ist alles okay?«

»Ja, ja, alles gut. Ich komme«, rufe ich laut. »Ich habe mir nur kurz die Hände gewaschen.«

Abrupt drehe ich den Wasserhahn zu, ziehe mit einem Ruck das Papier aus dem Spender und trockne vorsichtig meine angegriffenen Hände. Die Haut ist mittlerweile ganz aufgeweicht und an manchen Stellen richtig durchgescheuert. Verdammt! Das wird wieder schmerzhaft.

Als ich die Tür öffne, laufe ich David direkt in die Arme.

»Bist du sauer?«, frage ich direkt.

»Ach nein, es ist alles gut.« Seine Stimme klingt verständnisvoll. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Du warst fast zwanzig Minuten weg.«

»Ach, die Zeit vergeht heute wie im Flug«, plappere ich drauflos und habe Angst, dass David mir Vorwürfe macht. Aber er ist ganz ruhig, richtig liebevoll.

»Ich habe uns Kuchen bestellt. Komm jetzt, lass uns den Tag genießen.«

Am Tisch wechselt er sofort das Thema.

»Was hältst du davon, wenn wir nach Kuba fliegen?«, fragt er unvermittelt. »Das hat dir doch im Fernsehen so gut gefallen.«

David ist supersüß. Er weiß, dass es mir nicht guttut, wenn ich so lange meine Hände wasche, und will mich auf andere Gedanken bringen.

»Du, sieh mal.« David hält mir sein Handy hin. »Ich habe gerade das Hotel hier gefunden. Wie findest du das? Schau mal, die haben einen Pool direkt mit Meerblick, und der Flug ist im Verhältnis zu vergleichbaren Angeboten spottbillig. Nächstes Jahr können wir das finanziell schaffen.«

»Sofern ich bis dahin einen Job habe«, unterbreche ich seine Schwärmereien. »Im Moment bleiben wir lieber hier am Baggersee.«

David schmunzelt. »Ja, diesen Sommer ist das auch keine schlechte Idee. Aber im nächsten Jahr möchte ich wieder etwas sehen, etwas erleben. Ich habe schon richtiges Fernweh.«

»Mal schauen«, weiche ich aus.

»Das klappt schon.« David ist hartnäckig.

»Seitdem du die Reha absolvierst, geht es dir jeden Tag besser. Du machst Fortschritte, wirklich, und findest garantiert bald eine Arbeit. Hast du denn schon eine Vorstellung, was du machen möchtest.«

»Ja klar!« Ich nicke. »Ich möchte in einem Büro arbeiten. Das gilt nach wie vor und wäre toll. Ich weiß nur noch nicht genau, wo: in einer Klinik, einer Firma, einer Behörde. Ich kann mir aber auch eine Arbeit am Empfang vorstellen. Auf jeden Fall traut mir die Rentenkasse schon einen Halbtagsjob zu. Und stufenweise kann es dann sogar mehr werden. Ich soll erst einmal sehen, wie lange mein Körper funktioniert. Wenn es gut klappt, ist später vielleicht sogar eine Umschulung möglich. Ich gebe mir jedenfalls große Mühe.«

»Das machst du doch immer«, sagt David und lächelt mich an. Er nimmt meine Hand und drückt sie aufmunternd.

Das Gespräch über meine Zukunft tut mir gut. Ich habe jetzt nicht mehr das drängende Gefühl des Beschmutztseins und genieße den leckeren Zitronenkuchen und meinen herrlichen Cappuccino.

***

»Kannst du nicht schlafen?«, fragt David und dreht sich unruhig auf die Seite. Hoffentlich habe ich ihn nicht geweckt. Aber wenige Momente später schon höre ich ihn wieder leise schnarchen.

Gott sei Dank! David braucht seinen Schlaf. Er hat eine harte Woche vor sich und muss ein wichtiges Projekt abschließen.

Wir sind deshalb bereits um zweiundzwanzig Uhr ins Bett gegangen. Jetzt zeigen die großen Ziffern des Digitalweckers in leuchtendem Rot 2.30 Uhr, und ich habe noch kein Auge zubekommen. So viele Dinge gehen mir durch den Kopf: Bekomme ich nach mehreren Jahren im Krankenstand bald wirklich einen neuen Job? Kann ich irgendwann vielleicht sogar eine weitere Ausbildung machen in einem Beruf, der mir gefällt? Als Friseurin kann ich nicht mehr arbeiten.

Im Augenblick bekomme ich nur ein Übergangsgeld. Ich möchte aber so gern wieder ein eigenes sicheres Einkommen.

Ich bin jetzt hellwach. Um David nicht zu stören, schleiche ich mich vorsichtig aus dem Bett, setze mich in der Küche an den Tisch und stelle das Radio an. Ich bin nachts regelmäßig hier und höre am liebsten MDR. Die Moderation hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Sie vermittelt mir, nicht allein zu sein. Es ist schön, den Leuten im Studio zuzuhören und sich von ihnen durch das Programm führen zu lassen. Es ist ein bisschen so, als säße man gleich nebenan, so, als ob man befreundet sei.

Bleib still liegen, mein Herz,

Erschreck dich nicht

Ich bin ein Freund

Der zu dir spricht.

Im Radio spielen sie gerade mein Lieblingslied von Unheilig.

Hast mir gezeigt

Was wirklich wichtig ist

Hast ein Lächeln gezaubert

Mit deinem stillen Blick

Ohne jedes Wort

Doch voll von Liebe und Leben

Hast so viel von dir

An mich gegeben.

Ich liebe diesen Text. Er hört sich an, wie für mich geschrieben.

Ich fang ein Bild von dir

Und schließ die Augen zu

Dann sind die Räume nicht mehr leer

Lass alles andere einfach ruhen

Ich fang ein Bild von dir

Und dieser eine Augenblick

Bleibt mein gedanklicher Besitz

Den kriegt der Himmel nicht zurück.

Fast jede Nacht sitze ich hier vor dem Radio und höre Musik. Meistens surfe ich dabei noch im Internet, sehe mir Modetipps an oder lese Rezepte. Ich mag diese Ruhe der Nacht, diese Stimmung. Wenn alles schläft, die Stadt dunkel ist, dann fühle ich mich in meiner Wohnung wunderbar geborgen. Sie ist mein Nest, sie gibt mir Sicherheit. Ist Schutz vor der Welt da draußen. Aber es wird mir in diesen Stunden auch schmerzlich klar, dass ich so nicht weitermachen kann. Ich kann mich nicht mein Leben lang verstecken, zurückziehen, allein sein wollen.

Ich bin Anfang dreißig und will nicht die nächsten Jahre in dieser Wohnung verbringen. Ich will endlich ein großes, starkes Mädchen sein, eine Frau, die ihren Weg geht – ohne Angst und all die schlimmen Gespenster aus der Vergangenheit, die mich ständig begleiten. Ich will nicht länger über diese Vergangenheit, die mich bis heute prägt, nachgrübeln. Sie ist vorbei und nicht zu ändern. Was zählt, ist die Zukunft, das, was vor mir liegt. Darum geht es mir. Ich will nach vorn sehen und endlich Normalität in meinem Leben haben. Deshalb will ich auch wieder arbeiten.

Der Hals über Kopf abgebrochene Besuch bei Gaby ist ein Rückschlag. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich bei ihr am Tisch sitzen könnte und es mir nichts ausmachen würde, aus dem Fenster auf Heinz’ Haus zu sehen. Da habe ich mich überschätzt. Aber es ist nur ein kleiner Rückschritt, mache ich mir Mut. Ich lecke jetzt meine Wunden, und morgen geht’s wieder weiter – und aufwärts.

Ich stehe am Fenster und sehe hinaus in die Nacht. Draußen fährt ein Auto vorbei. Über die Dächer hinweg kann ich die Umrisse des Kirchturms sehen. Ich schaue in die Dunkelheit und bin stolz auf mich. Ich weiß, dass ich schon viel erreicht habe. Ich bin aus der Dunkelheit herausgetreten, die mein Inneres erfüllt, und habe nach und nach den Vorhang zur Seite geschoben, damit sichtbar wird, was mir zugestoßen ist. Was man mir angetan hat.

Das war der erste Schritt in mein neues Leben. Aber es war nur der Auftakt. Um mit der Erinnerung an das Grauen wirklich leben zu können, wird noch viel Zeit vergehen, in der ich um meine Zukunft kämpfen muss, wird noch viel Kraft nötig sein, um das Geschehene zu bewältigen.

Doch ich werde es schaffen. Ich glaube ganz fest daran. Dafür aber ist es wichtig, dass ich endlich offen ausspreche, was passiert ist …

Kapitel 1

»So, meine Kleine, heute gibt es dein Lieblingsessen: Gehacktesstippe mit dunkler Soße und Kartoffelbrei.«

Tante Frieda stellt mir den Teller mit dem leckeren Essen hin und streichelt mir dabei liebevoll über den Kopf.

Meine Güte, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich diesen Geruch liebe. Gehacktesstippe, die macht niemand so gut wie Tante Frieda. Ich könnte sie täglich essen. Und der Kartoffelbrei ist einfach fantastisch. Bei Oma schmeckt er längst nicht so gut.

Ich bin fünf Jahre alt, und seit einigen Monaten gehe ich jeden Mittag zu Onkel Heinz und Tante Frieda. Es war Omas Idee. Bislang hat sich Opa immer um mich gekümmert. Aber er hatte Krebs und war sehr lange krank. Jetzt ist er gestorben.

Deshalb ist niemand mehr zu Hause, der auf mich aufpassen kann. Oma arbeitet in den nahe gelegenen Harzer Werken, einer Fabrik für Motorentechnik. Sie ist dort in der Küche. Das passt zu ihr, denn sie kocht für ihr Leben gern. Opa hat auch bei den Harzer Werken gearbeitet. Er war Heizer und hat in vier Schichten dort gearbeitet. Wenn die Zeiten passten, sind sie morgens immer zusammen dorthin gegangen. Es sind nur ein paar Schritte.

Ich könnte auch den ganzen Tag im Kindergarten bleiben. Er ist ja bis neunzehn Uhr geöffnet. Aber Oma meint, ich solle mittags nach Hause kommen und zu Heinz und Frieda gehen, die direkt gegenüber wohnen. Dort bekomme ich Mittagessen und kann so lange bleiben, bis Oma mich abholt.

Gern wäre ich auch zu meinen Eltern gegangen, die nur fünf Gehminuten vom Kindergarten entfernt wohnen. Aber Mama und Papa haben keine Zeit für mich. Mama putzt in einer Firma in Halberstadt, und Papa ist Pferdepfleger auf einem Gehöft hier in der Nähe.

Anfangs haben wir alle in Omas Haus gewohnt. Meine Eltern hatten dort aber nur ein Zimmer, in dem auch ich geschlafen habe. Das wurde ihnen schließlich zu eng, und als sie im Ort eine kleine Wohnung bekommen konnten, sind sie ausgezogen. Ich wollte gern mitkommen, aber Mama meinte, ich sei bei Oma besser versorgt.

Sie haben mich einfach in dem großen Zimmer zurückgelassen. Es ist nicht mal umgeräumt worden. Ursprünglich war es das Schlafzimmer von Oma und Opa, und so sieht es auch noch aus. Ich habe jetzt ein riesengroßes Doppelbett aus dunklem Holz für mich ganz allein, dazu einen gewaltigen Kleiderschrank, zwei Nachttische, eine Holztruhe und ein kleines Tischchen mit Stuhl und fühle mich ziemlich verloren. Zumal Oma nicht viel mit mir macht. Wenn sie von der Arbeit kommt, essen wir zusammen, und dann setzt sie sich vor den Fernseher und sieht sich Krimis an, am liebsten amerikanische mit Columbo. Dazu trinkt sie ein Glas Wein oder Bier. Stören darf ich sie dann nicht mehr. Sonst wird sie ärgerlich.

Oma möchte, dass ich abends in meinem Zimmer bleibe. Damit ich nicht das Bad benutzen muss, hat sie mir einen Putzeimer neben das Bett gestellt, um Pipi zu machen.

Aber manchmal habe ich noch Hunger und möchte mir aus der Küche etwas zu essen holen. Das mag sie jedoch gar nicht und schimpft sofort. »Du hättest am Tisch essen können. Jetzt gibt es nichts mehr!«, meint sie dann barsch und schickt mich sofort zurück in mein Zimmer.

»Kinder brauchen klare Ansagen«, meint sie immer. »Sonst tanzen sie einem auf der Nase herum!«

Ich tanze ihr nie auf der Nase herum. Ich traue mich das gar nicht. Denn Oma ist streng und oft auch brutal. »Ihr rutscht schon mal die Hand aus, aber sie meint es nicht so«, sagt Mama immer entschuldigend. Sie weiß es vielleicht nicht, aber Oma rutscht nicht nur die Hand aus. Wenn ich in ihren Augen frech bin, schlägt sie mit allem, was sie in die Finger bekommt. Am liebsten mit ihrem Teppichklopfer. Anfangs habe ich vor Angst und Schmerzen geschrien und gehofft, dass sie dann aufhört. Aber das interessiert sie nicht. Sie hört erst auf, wenn ich mich nicht mehr wehre und keinen Mucks von mir gebe. Dann darf ich ins Bett und liege dort und warte darauf, dass die Schmerzen aufhören.

Das tun sie aber nicht immer. Einmal konnte ich tagelang nicht richtig laufen, weil mir mein Rücken so wehtat. Aber Oma hat mir gesagt, dass ich im Kindergarten nichts erzählen dürfe. Sonst bekäme ich eine »richtige Tracht Prügel«, so, wie ich es noch nie erlebt hätte. Ich kann mir vorstellen, was dann passiert.

Also sage ich nichts und versuche, es Oma immer irgendwie recht zu machen. Dann lässt sie mich in Ruhe. Aber es klappt nicht immer. Wenn ich zum Beispiel beim Essen ein Glas umstoße, mein Spielzeug abends nicht in einer Kiste verstaue oder meine Haare nicht so kämme, wie sie es mag, rastet sie aus, beschimpft und schlägt mich. Ich bin froh, wenn es dann nur die Hand ist.

Oma ist aber nicht nur bei mir so brutal. Sie ist auch zu meinem Vater und ihrem anderen Sohn, Onkel Frank, so und auch zu meiner Mutter. Vermutlich sind deshalb auch alle ausgezogen, und ich muss hierbleiben, damit sie nicht allein ist. Zumindest hat Oma das mal gesagt.

Wir haben zusammen in der Küche gesessen. Sie hat abgewaschen, ich habe gemalt. Mama war kurz vorher zu Besuch da, und ich habe geweint, weil sie mich nicht mitgenommen hat.

Oma hat mich getröstet und gemeint: »Ich brauche dich doch bei mir. Wenn du auch noch ausziehst, kann ich ja gleich sterben.« Und dann hat sich mich gefragt, ob ich das vielleicht wolle.

Natürlich nicht!

An dem Abend war sie auch richtig lieb zu mir. Wir haben noch Plätzchen gebacken. Ich durfte den Teig auf das Backbrett streichen; später, als die Plätzchen aus dem Ofen kamen, hat Oma mir bunte Zuckerstreusel und farbige Dekorationspaste gegeben, und ich durfte alles verzieren.

Am nächsten Tag waren wir gemeinsam in einem Tierpark. Oma ist mit mir im Bus dorthin gefahren. Das war richtig schön. Ich habe Rehe gesehen und Wildschweine, und ich durfte kleine Ziegen füttern.

Auf dem Heimweg hat sie mir ein Eis gekauft.

»Siehst du, bei Oma ist es auch ganz schön«, hat sie auf der Heimfahrt gesagt und die ganze Zeit meine Hand gehalten.

Aber sie ist selten so freundlich, lacht wenig und sieht auch schon richtig brummig aus. Oma ist klein, pummelig und trägt meistens die langen, altmodischen Sachen ihrer längst verstorbenen Mutter auf. Sie legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten. Ihre Haare sind kurz und lockig, aber auch oft strähnig. Doch das ist ihr egal.

Manchmal denke ich, sie will gar nicht hübsch sein. Ich weiß nicht, warum sie so ist.

Und ich kann mir auch nicht erklären, warum für sie immer alles schlecht ist. Sie scheint einfach keine Freude am Leben zu haben und lässt es jeden spüren, der in ihrer Nähe ist.

Ich habe oft das Gefühl, ihr lästig zu sein, und wäre am liebsten unsichtbar, damit ich sie nicht störe oder gar ihren Zorn auf mich ziehe. Glücklich bin ich bei ihr selten.

Bei Onkel Heinz und Tante Frieda ist das anders. Da fühle ich mich pudelwohl. Sie sind beide immer gut gelaunt und freuen sich richtig, wenn ich komme.

»Da ist ja unsere kleine Prinzessin«, sagt Heinz immer, wenn ich vor der Tür stehe, und dann hat er schon eine Idee, was wir gemeinsam unternehmen könnten. Meistens gehen wir in den Garten, und ich helfe ihm beim Blumenpflanzen, oder wir gießen zusammen die Beete. Ich durfte mir sogar schon ein eigenes kleines Beet anlegen mit meinen Lieblingsblumen, gelben Minirosen, die ich mir aus einer großen Kiste aussuchen konnte. Noch ist dort nur Erde, aber in ein paar Wochen wird alles blühen, in dunklem Rot und leuchtendem Gelb. Das hat mir Heinz zumindest versprochen.

Es gibt bei den beiden auch niedliche Kaninchen, die ich füttern kann. Sie heißen Tom und Jerry. Eines ist ganz schwarz und das andere braun. Sie sind total süß, und ich darf sie streicheln. Heinz und ich haben auch schon zusammen ihre Ställe sauber gemacht. Mittlerweile kann ich es sogar allein.

Ich darf auch bei den Hühnern Eier einsammeln und mit Heinz das Werkzeug sortieren. Es ist immer etwas los, und jeder Tag macht Spaß.

Heinz macht lustige Scherze und erzählt ständig Witze. Aber er kann auch Tierstimmen nachahmen. Manchmal grunzt er wie ein Schwein, piept wie ein Vogel, gackert wie ein Huhn oder bellt wie ein Hund. Vor Kurzem haben wir das beide zusammen im Garten gemacht und uns hinterher über uns selbst kaputtgelacht. Ich kenne niemanden, der so spaßig ist wie Onkel Heinz.

Mit Tante Frieda koche ich immer. Sie macht mir leckeren Vanillepudding, und ich darf die Milch dazugeben und kräftig aufschlagen. Seitdem ich dort bin, gibt es jeden Tag Vanillepudding, und das nur, weil ich ihn so gern esse.

»Du bekommst ihn, solange du magst«, hat Tante Frieda gesagt, und dann hat sie mich in den Arm genommen und ganz fest gedrückt.

Ich mag Heinz und Frieda. Bei ihnen ist das Leben schön. Sie schreien mich nie an, und die Zeit mit ihnen vergeht wie im Flug.

Sie selbst haben keine Kinder und sagen immer: »Du bist jetzt unsere Tochter!« Ich freue mich riesig darüber.

Oft träume ich davon, für immer bei Heinz und Frieda bleiben zu können, weil sie einfach so lieb zu mir sind. Außerdem besitzen sie ein wunderschönes Haus, in dem alles hell und sonnig ist und nicht so muffig wie bei Oma.

Sie haben eine ganze neue schneeweiße Küche, ein Esszimmer mit einem großen hellen Lacktisch und eine riesengroße Stube mit zwei Sofas, einem Ecksofa zum Fernsehen und einem kleineren zum Lesen. Es steht etwas versteckt in der Ecke, direkt neben einem Regal.

Im ganzen Haus duftet es immer nach frischen Blumen. Frieda dekoriert gern, hat überall im Haus Vasen mit dicken Rosensträußen und üppigen Gestecken aus Lavendel stehen. »Blumen machen glücklich«, sagt sie oft und liebt es, ganz geduldig die verblühten Blätter aus den Sträußen zu zupfen. Oft summt sie dabei fröhlich vor sich hin.

Frieda ist so ganz anders als Oma. Auch äußerlich. Frieda macht sich gern hübsch, trägt modische Hosen und Pullis, dazu etwas Schmuck, eine Kette, Ohrringe. Ihr Haar ist schulterlang, und sie steckt es sich regelmäßig hoch. Manchmal darf ich ihr sogar dabei helfen.

Heinz ist auch immer schick angezogen, trägt Jeans, Karohemden und Turnschuhe. Er ist schlank wie Frieda, obwohl die beiden gern und viel essen. Mit seiner Halbglatze, den kurzen weißen Haaren und seiner feinen goldfarbenen Brille sieht er ein bisschen aus wie unser Bürgermeister.

Beide trinken übrigens nie Alkohol, zumindest habe ich das noch nie gesehen. In meiner Familie ist das anders. Bei uns wird viel getrunken, Bier- und Schnapsflaschen stehen eigentlich immer auf dem Tisch. Und entsprechend lautstark geht es dann zu, es wird wild durcheinandergeredet, und manches Mal gibt es auch richtigen Streit.

Heinz und Frieda sind stiller, ruhiger, freundlicher. Ich mag das lieber, viel lieber.

Heute haben sie sogar eine Überraschung für mich.

Ich komme gerade aus dem Kindergarten und merke sofort, dass etwas anders ist. Die beiden stehen nämlich im Flur und kichern merkwürdig.