Leb wohl, Shanghai - Angel Wagenstein - E-Book

Leb wohl, Shanghai E-Book

Angel Wagenstein

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein bewegender und mitreißender Roman über das Schicksal jüdischer Musiker

Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs können sich das Musikerehepaar Elisabeth und Theodor Weisberg und die junge Schauspielerin Hilde Braun aus Deutschland nach Shanghai retten. Zu jener Zeit ist diese Stadt ein Ort der Extreme: Märchenhafter Reichtum existiert neben bitterstem Elend, schreckliches Leid neben ausgelassenem Vergnügen. Die jüdischen Flüchtlinge müssen entweder hungern oder sich mit einem improvisierten Leben jenseits von Glanz und Ruhm arrangieren. Untergebracht in einem Massenschlafsaal verliert Elisabeth Weisberg fast den Verstand. Hilde Braun hingegen wird, weil sie "arisch" aussieht, Sekretärin bei der deutschen Botschaft. Als sie geheime Informationen aus Berlin an den Widerstand weiterleitet, begibt sie sich in Lebensgefahr …

Mit großer Erzählkraft entspinnt Wagenstein eine Fabel von Leben und Tod, Liebe, Mut und Menschlichkeit in finsteren Zeiten.

Der Autor gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 451

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Vorspiel
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
ZWEITER TEIL
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Ausklang
Nachbemerkung des Autors
Copyright
Manfred Durniok, der mir China erschlossen hat, zum Gedächtnis
Anstelle eines Vorworts
Die Fassade der Berliner Philharmonie hatte fast gar keine Fenster, dafür waren Dach und Außenwände des modernistischen Gebäudes neckisch geschwungen. Es ragte – gelblich und unschön – einsam empor inmitten einer geräumten Trümmerlandschaft am Rande West-Berlins, das manche auch »das freie Berlin« nannten. Unweit der Philharmonie verlief die Mauer. Sie war kein ewiges Bollwerk wie ihre fernöstliche Schwester, sondern einfach eine Wand, die trennte: Menschen und Welten, Ideen und Ideale, Erinnerungen und Ansichten über das, was gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen war – und natürlich jenes andere, das hätte geschehen können oder sollen.
Ich saß in der dritten Reihe Parkett auf dem äußersten rechten Platz in einem ansonsten vollkommen leeren, halbdunklen Saal, in dem nur die Notbeleuchtung brannte. Sogar das Podium, auf dem an diesem Morgen eine Orchesterprobe stattfand, wirkte finster und bedrückend. Geprobt wurde das Konzert für Violine und Orchester in D-Dur, Opus 35, von Tschaikowsky. Dirigent Herbert von Karajan musste mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden sein, denn ständig lief bei der Probe etwas nicht so, wie er es sich vorstellte. Schon zweimal hatte er wütend das Podium verlassen und war kurz darauf humpelnd wieder zurückgekehrt.
Auch bei seiner zweiten Rückkehr verstummte das Flüstern und Tuscheln unter den Musikern nicht sofort. Einer der Bläser kicherte in sich hinein, bei den Streichern schnarrte provozierend eine Geigensaite, Wortwechsel und leises Gelächter waren bis auf meinen Platz im Parkett zu vernehmen. Was Karajan genau verstanden hatte, konnte ich nicht beurteilen; jedenfalls verlor der Maestro die Beherrschung.
»Hab ich den Herrn nicht verboten, Chinesisch zu red’n? Hab ich oder hab ich net?«, überschlug sich seine dünne, näselnde Stimme mit dem starken Wiener Akzent.
Dass er so empfindlich reagierte, mochte daran liegen, dass sich in den Reihen seines Eliteklangkörpers gar kein Chinese befand. Warum also sprachen diese Herrschaften dann Chinesisch, wenn nicht, um sich ungestört über ihn lustig machen zu können?
Er klopfte mit seinem Dirigentenstab ans Pult, hob die Arme, die Musik setzte ein. Wenige Takte später brach er erneut ab, stieß eine Verwünschung aus und zerbrach seinen Dirigentenstab, als säße er vor einer Klasse schwer zu bändigender Halbstarker. Der Orchesterdiener eilte sofort hinaus, um ihm einen neuen zu holen. Als Karajan sich leicht nach rechts drehte, um den Taktstock in Empfang zu nehmen, bemerkte er, dass jemand im Zuschauerraum saß. Er legte die Hand über die Augen, um nicht von den Notlichtern an den Saalwänden geblendet zu werden, und rief in nicht gerade liebenswürdigem Ton aus: »Sie da, wer sind Sie denn?«
Ich sagte es ihm. Ich erwartete, dass er mich nun fragte, was ich hier in der Probe mache, oder mich gleich des Saales verwies. Doch Karajan erteilte mir weder die ausdrückliche Erlaubnis zu bleiben, noch verjagte er mich. Stattdessen drehte er sich schweigend wieder zum Orchester um, klopfte ans Pult, als wäre nichts gewesen, und sagte: »Achtung, die Herrschaften! Noch aamal gaanz von vorn!«
Der Solist, der die ganze Zeit über ruhig geblieben war, zog sich von seinem Platz vor dem Orchester an die Seite zurück, setzte sich auf einen freien Stuhl, legte sein Instrument quer über die Knie und wartete geduldig, ohne jedes Anzeichen von Widerwillen oder Verärgerung, ab, bis sein Einsatz gefragt war. Von meinem Platz aus konnte ich gut das schlohweiße Haar und das blasse, langgezogene Gesicht des Mannes sehen. Um seine Gesichtszüge erkennen zu können, dafür reichte die Beleuchtung nicht aus.
Es war dieser Mann, dessentwegen ich hier war. Der Filmproduzent M. D. hatte mich in die Philharmonie eingeschleust und mir versprochen, er wolle gegen Ende der Probe auf einen Sprung hereinschauen und mich dem Mann vorstellen. Denn genau mit ihm, dem Geigenvirtuosen Theodor Weisberg, wollte ich mich eingehend unterhalten.
Ich interessierte mich für eine Geschichte, die lange zurücklag und an die sich kaum noch jemand erinnerte, von den wichtigen Details ganz zu schweigen. Weisberg aber war eine der wichtigsten Figuren darin gewesen.
Schauplatz dieser Geschichte war Hongkou, riesige Vorstadt der Megalopole Shanghais, der chinesischen Hafenstadt an der Mündung des gewaltigen Stroms Jangtsekiang. Dort hatte sich zwischen 1937 und 1945 ein kaum bekanntes Kapitel aus der tragischen Odyssee der Juden während des Zweiten Weltkriegs abgespielt.
Shanghai war damals aufgeteilt in chinesische Viertel wie Nantao und Zhabei, die aus allen Nähten platzten vor Menschen, und die konzessionierten Luxusviertel der Kolonialmächte, International Settlements genannt. Das waren den entsprechenden Nationen verwaltungstechnisch unterstellte Gebiete, zu denen Chinesen keinen Zutritt hatten. Dort gab es erstklassige Hotels und Restaurants, englische Klubs und Spielkasinos.
An dieser Situation änderte sich weder nach dem ersten japanischen Überfall von 1932 noch nach dem schweren Luftangriff des Jahres 1937 etwas, in dessen Folge Shanghai unter japanische Besatzung geriet. Allein im ersten Jahr nach der japanischen Besatzung sammelten die städtischen Reinigungstrupps die Leichen von über dreißigtausend an Hunger und Krankheiten gestorbenen Menschen von den Straßen. Und dies im Schatten des zweiundzwangziggeschossigen Broadway-Palastes, in dem der Botschafter Hitler-Deutschlands, Ottomar von Dambach, beim Pokern in einer Nacht achtzigtausend Shanghai-Dollar verspielte. Es gewann sie Sir Elias Edzra, ein Sepharde aus der Gruppe der sogenannten Bagdadjuden, die sich schon im elften Jahrhundert entlang der Seidenstraße niedergelassen hatten und im Lauf der Zeit bis in den Fernen Osten gelangt waren.
Nach dem Opiumkrieg und dem Nankinger Vertrag von 1842, als die Engländer Hongkong annektierten und mit dem Bau des Hafens von Shanghai begannen, eroberten sich die Bagdader Juden rasch wichtige ökonomische Positionen. Kaum ein Jahrhundert später finanzierten und versicherten ihre Banken und Makleragenturen die Lieferungen von Zinn, Rohkautschuk und Chinin für das Dritte Reich. Dieses hatte keinerlei Berührungsängste mit jüdischem Geld, wenn es seiner bedurfte. Und die Bagdad-Sepharden, Eigentümer von Instituten wie der Shanghai Banking Corporation, der Yokohama Spacy Bank und des Sasson House, hatten ebenfalls keine Vorbehalte gegenüber ihren deutschen Geschäftspartnern, solange diese korrekt zahlten.
Shanghai – heute eines der großen Tore des neuen China zur Welt – war damals ein unentwirrbares Knäuel aus wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen, diplomatischen Intrigen und persönlichen Ambitionen, ein Sammelbecken für die chinesische Unterwelt, für internationale Abenteurer, Spione und Spekulanten, Heimatlose und Verfolgte sowie solche, die süchtig nach einem aufregenden Leben oder nach schnellen Gewinnen waren.
Die Chinesen, die eigentlichen Herren dieses alten Landes, waren sozial tief gesunken. Die einen hatten nichts als die Sorge, wie sie an ihr tägliches Schälchen Reis kommen sollten, die anderen, die Kollaborateure und Marionetten der japanischen Okkupationsmacht, sorgten sich eher, wie sie mit komplizierten Manipulationen das bewahren und vermehren konnten, was sie ihrem eigenen Volk stahlen.
All dies nämlich spielte sich ab vor dem unablässigen, mal nahen, mal fernen Grollen eines blutigen Bürgerkriegs, der an allen Fronten zugleich geführt wurde zwischen der projapanischen chinesischen Republik unter der Marionette Wang Chin Wei, den nationalistischen Divisionen Chiang Kai-sheks und der Volksbefreiungsarmee der Kommunisten unter Führung Mao Tse-tungs.
Shanghai, Ort des Glanzes und des Elends, barfüßiger Kulis und ihrer Rikschen, kleiner Prostituierter und ihrer trunkenen Seeleute, östlicher Porzellanzerbrechlichkeit und brutaler Grausamkeit des Krieges, des Opiumrauschs und menschlicher Tragödien, war mit seinem begrenzten Statut als »offener Stadt« der einzige Platz, an dem zwanzigtausend deutsche und österreichische Juden eine teuer erkaufte Zuflucht finden konnten. Hinzu kamen weitere dreitausendachthundert Juden aus anderen, von Nazi-Deutschland besetzten Ländern, denen die Flucht nach Shanghai gelungen war, bevor die Krematorien in den Konzentrationslagern die Luft Europas mit dem süßlichen Geruch verbrannten Menschenfleischs erfüllten.
Vorspiel
Sinfonie Nr. 45, genannt »Abschiedssinfonie« von Joseph Haydn
Das spärliche Licht des Sonnenuntergangs, vom feinen Nebel über dem Wang Pu gefiltert, gelangte nur mit Mühe in die düstere Halle des halb zerstörten Werks für Stahlkonstruktionen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben und die von Detonationswellen in die Wände geschlagenen Löcher leuchtete matt der rote Widerschein des Abendhimmels. Drinnen, angeleuchtet von den Petroleumlampen und chinesischen Papierlaternen, die die nur schemenhaft erkennbaren Anwesenden mitgebracht hatten, warfen geknickte Betonsäulen und aufragende Eisenträger schwankende Schatten. Die Neuankömmlinge betraten die Halle durch ausgebombte Tore oder stiegen gleich durch die Löcher in den Wänden über Ziegelschutt hinweg auf die bereits Sitzenden zu. Seltsame Gestalten kamen, als handelte es sich um eine Szene aus einem absurden Theaterstück, über dunkle Eisentreppen aus verschiedenen Richtungen herbei. Sie trugen ungewöhnliche oder, besser gesagt, ganz und gar nicht in diese Umgebung passende – Kleidung. Die Garderobe der Damen – elegante Kleider aus der Vorkriegszeit und neckische Hütchen mit Schleiern – schienen aus einer versunkenen Welt zu stammen, einer Welt, in der man Rang und Namen repräsentierte, wenn man ein Festkonzert im Musikvereinssaal der Wiener Philharmoniker besuchte oder zu einem Empfang ins Berliner Schloss Charlottenburg ging. Einige Männer trugen Restbestände dessen, was einmal eine Abendgarderobe gewesen sein musste, alte Smokings oder Fräcke, die aber auf bizarre Weise in Arbeiterhosen ihre Fortsetzung fanden. Andere hatten ihre nackten Füße in Sandalen gesteckt und sahen von oben bis unten aus wie Straßenfeger oder Hafenarbeiter. Allen gemeinsam war, dass sie, wenn sie sich einen Platz gesucht hatten, als Erstes die Lampen, mit denen sie ihren Weg hierher erleuchtet hatten, irgendwo an Eisenrohren aufhängten oder auf heil gebliebenen Maschinenteilen abstellten. In der riesigen Halle, in die einst ganze Eisenbahnwaggons auf Schienen hineinfuhren, wirkten ihre Flämmchen wie Glühwürmer, die sich hierher verirrt hatten.
Die Menschen begrüßten einander mit jener steifen Förmlichkeit, wie es Gottesdienstbesucher nach der Messe tun oder entfernte Verwandte, die sich auf einer Hochzeit zum ersten Mal begegnen. Hier und da verbeugte sich jemand, um einer Dame die Hand zu küssen, die in einem zerrissenen Spitzenhandschuh steckte. Wer genau hinschaute, konnte unter den Fingernägeln die Schwärze aus den örtlichen Färbereien erkennen, die einfach nicht abzuwaschen war.
So absurd diese steife Förmlichkeit auch war, ihr entströmte dennoch etwas wie ungekünstelte freudige Erregung in Erwartung von etwas Feierlichem und Großem.
Unterdessen hörte der Zustrom in die Halle nicht auf. Zu vernehmen waren in der feierlichen Stille indes nur vereinzelte Schritte und Flüstern oder gedämpftes Lachen. Am Ende des gewaltigen Raums hatte man ein improvisiertes Podium errichtet, über dem in der feuchtwarmen Zug luft, die nach Sumpf und fauligem Fisch roch, ein Transparent gespannt war. Darauf stand in großen roten Buchstaben:
WELCOME! GOD BLESS AMERICA!
Die gekreuzten amerikanischen Flaggen, die zur Dekoration von Hand auf Reispapier oder Fetzen von Baumwollstoff gemalt waren, erweckten den Eindruck, dass hier gleich ein Baseballspiel zwischen zwei College-Mannschaften aus der Provinz ausgetragen würde. Stattdessen war auf dem Podium eine stattliche Anzahl von Stühlen zu sehen, vor denen behelfsmäßig aus Latten zusammengenagelte Notenpulte standen. Auf dem Hallenboden waren lange Bänke aufgestellt, die ebenfalls nicht gerade so aussahen, als hätte ein gelernter Tischler sie angefertigt. Mitten durch sie hindurch führten Bahnschienen. Die Menschen, die sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck Plätze suchten, ließen die ersten Reihen frei, die offenbar für Ehrengäste reserviert waren.
Und da kamen sie auch schon, die Ehrengäste, durch die ausgebombten Fabrikportale, an denen verbogene Bleche hingen, die einmal Tore gewesen waren. Der Hall des militärisch strammen Schritts der etwa fünfzig amerikanischen Marines auf der Metallschwelle, die – angeführt von ihrem Offizier – hereinmarschiert kamen, hörte sich merkwürdig deplatziert an im Rahmen eines Konzerts, das den endlich eingetretenen Frieden feiern sollte.
Applaus brandete auf, brach sich an Wänden und Decken und erfüllte den leeren Raum mit seinem Widerhall. Die Anwesenden, ganz gleich, ob sie in Abendgarderobe oder in den billigen Lumpen von Schwarzarbeitern steckten, waren aufgestanden und klatschten frenetisch Beifall. Eine solche Begrüßung hatten die hereinkommenden Soldaten in dieser ungewöhnlichen Umgebung wohl nicht erwartet, denn sie nickten ein wenig verlegen mit den Köpfen nach links und rechts, bevor sie ihre Ehrenplätze einnahmen. Nur einer von ihnen, ein Hauptmann, erwiderte die Geste und beklatschte die Anwesenden mit hoch über den Kopf erhobenen Händen. Schwer zu sagen, wer nun der Held dieser feierlichen Veranstaltung war – die Amerikaner oder die Bewohner dieser Ruinen.
Ein schlecht gekleideter, vollkommen ergrauter Mann mit hoher Stirn und wachsbleichem Gesicht, der wirkte, als hätte er sein ganzes Leben über ein Mikroskop gebeugt verbracht oder in der weißen Sterilität eines Krankenhauses, empfing den Hauptmann. Während er sich zurückhaltend verbeugte, stellte er sich leise in englischer Sprache vor: »Professor Sigmund Mandel von der Selbstverwaltung Hongkou. Willkommen, Captain. Bitte, folgen Sie mir doch. Ihre Plätze sind vorn.«
Mit einer eleganten Bewegung geleitete er den Hauptmann an seinen Platz. Unterwegs hielt er kurz an, um ihm einen japanischen Offizier der Sanitätseinheit vorzustellen, der sich – allein am Ende seiner Bankreihe sitzend – die Asche einer Zigarette in die Handfläche stippte.
»Erlauben Sie mir, Ihnen den Oberst vorzustellen. Er hat sich besondere Verdienste um unser Lazarett erworben. Dank ihm … wie soll ich sagen … sind viele von uns heute noch unter den Lebenden.«
Der kleine Japaner mit den dicken runden Brillengläsern war wohl tief in Gedanken versunken gewesen, denn er fuhr zusammen und sprang wie ertappt auf. Dabei versuchte er, unbemerkt seine Zigarettenkippe mit dem Fuß auszutreten. Sein Gesicht blieb dabei vollkommen undurchdringlich. Er schlug die Hacken zusammen und grüßte militärisch, obwohl er im Rang höher stand als der Amerikaner. Letzterer schaute ihn verdattert an, erwiderte den Gruß aber nicht. Für ihn war nach der Kapitulation Japans vom 2. September 1945 der Platz eines japanischen Offiziers, auch wenn er seine Schulterklappen abgenommen hatte, vor einem alliierten Kriegsgericht oder gar in einem Gefangenenlager.
Der Hauptmann ging vorbei, und Professor Mandel lächelte dem Japaner ein wenig zerstreut zu, bevor er seinem hohen amerikanischen Gast nach vorn folgte.
Kaum eine Minute später, als hätten sie nur darauf gewartet, bis der amerikanische Captain seinen Platz einnahm, betraten die vermutlich zerlumptesten Musiker, die jemals in einem Orchester gespielt hatten, das improvisierte Podium. Einer von ihnen, offenbar der Konzertmeister, mit schulterlangem Haar und unter die Achsel geklemmter Geige, trat vor, verbeugte sich hölzern, machte eine linkische Bewegung mit dem Arm und erklärte dann: »Das Shanghai-Kammerorchester der Dresdner Akademischen Philharmonie wird, unseren hohen amerikanischen Gästen zu Ehren, Joseph Haydns Sinfonie Nr. 45, genannt Abschiedssinfonie, zum Erklingen bringen.«
Er sprach so leise, dass die Leute unten auf den Bänken flüsternde Nachbarn mit einem »Schscht« zur Ruhe ermahnen mussten. Als er geendet hatte, versuchte wieder jemand zu applaudieren, doch eine strenge Aufforderung zur Ruhe erstickte dieses Unterfangen im Keim.
Erwartungsvolle Stille trat ein. Die Musiker hielten einander nacheinander eine angezündete Kerze hin, und der Pultnachbar entzündete seine Kerze an der des Nebenmanns. Dann steckten sie sich die brennenden Wachslichter auf ihre Notenpulte.
Die amerikanischen Marines schauten einander verständnislos an. Vermutlich hatten sie daheim in Illinois oder Minnesota entweder keine Gelegenheit gehabt, eine Aufführung dieser Sinfonie von Joseph Haydn zu erleben, oder sie hatten sie, mitsamt der ganzen übrigen klassischen Musik, notorisch verpasst.
Der Konzertmeister, der für diesen Abend auch die Rolle des Conférenciers übernommen hatte, war kein anderer als Theodor Weisberg. Geduldig wartete er ab, bis das von Haydn selbst vorgeschriebene Kerzenritual beendet war, dann sagte er ins Publikum hinein: »Die vier Sätze der Sinfonie tragen die Bezeichnungen Allegro assai – Adagio – Allegretto und Presto-Adagio.«
Und schon erklangen die Anfangsakkorde der Abschiedssinfonie.
Nein, dies war kein gewöhnliches Konzert, denn die Menschen, die an diesem Abend den hohlen Bauch dieser nach Sumpf und verfaultem Fisch stinkenden Fabrikhalle füllten, nahmen Abschied von Shanghai.
ERSTER TEIL
1
Das Konzert im Festsaal der Dresdner Philharmonie hatte längst begonnen an diesem Abend des 9. November 1938. Die Kristallleuchter an der Decke waren auf Notbeleuchtung gedämpft, so dass die Kerzen, die seitlich an den aus rötlichem Acajubaumholz gefertigten Notenpulten steckten, in noch festlicherem Glanz erstrahlten. Konzertmeister Theodor Weisberg und die Mitglieder seiner Akademischen Philharmoniker trugen dem Anlass entsprechend Smoking. Das ebenfalls festlich gekleidete Publikum im Parkett und auf den Rängen hielt in gespannter Erwartung den Atem an. Sie wird selten gespielt, Haydns Sinfonie Nr. 45 in fis-Moll, und es war nicht leicht gewesen, an eine Eintrittskarte zu kommen.
In der Ehrenloge, wo zu Bismarcks Zeiten die Hohenzollern und ihre Vertrauten Platz genommen hatten, saßen an diesem Abend vier SS-Offiziere. Der Ranghöchste unter ihnen, Hauptsturmführer Lothar Hassler, war ein ausnehmend schöner Mann, blond und blauäugig, als wäre er einem jener noch immer an Hauswänden und Litfasssäulen klebenden Plakate von der Berliner Olympiade 1936 entsprungen, auf denen ausschließlich »reinrassige« Ariertypen zu sehen waren, obwohl weder Hitler selbst noch Goebbels oder Himmler diesem Rasseideal auch nur annähernd entsprachen. Hassler hingegen erinnerte mit seinem kantigen Wikingerprofil geradezu an die Helden der Filme Leni Riefenstahls.
Der Jüngste unter den SS-Offizieren, vermutlich sein Adjutant, neigte sich zu Hassler hinüber und reichte ihm dienstbeflissen das aufgeschlagene Programmheft.
»Allegro assai. Wenn ich mich nicht irre, heißt das so viel wie: ›recht fröhlich‹, Hauptsturmführer.«
»Das wollen wir doch hoffen«, grummelte Hassler finster, »und zwar nicht nur hier und jetzt, sondern in ganz Deutschland und die ganze Nacht.«
Während Haydns Sinfonie ihren musikalischen »Abschied« leicht und duftig in den Konzertsaal ergoss, bekamen auch die letzten Gutgläubigen Anlass, sich von ihrer bequemen Illusion jenes gemütlichen alten Bratenrock-Deutschlands zu verabschieden, das Heine in seinem »Wintermärchen« aufs Korn genommen hatte. Denn diese Nacht von Mittwoch auf Donnerstag würde als »Reichskristallnacht« in die Geschichte eingehen, eine Bezeichnung, die nichts mit den Kristallleuchtern an der Decke der Dresdner Philharmonie zu tun hatte, sondern mit dem Geräusch, das die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte beim Bersten verursachten.
Ja, in dieser Nacht zertrümmerten in ganz Deutschland sowie im kurz zuvor unter großem beiderseitigen Jubel »angeschlossenen« Österreich Frohnaturen, bis zum Kragen abgefüllt mit Bier, die Scheiben jüdischer Geschäfte, bis es unter dem Tritt ihrer Stiefelsohlen lustig klirrte und krachte. Die zu Tode erschrockenen alten Juden, die, vom Lärm erwacht, nachsehen gingen, was da passierte, wurden durch die Straßen geschleift, nachdem ihnen ein Pappstreifen mit der Aufschrift »JUDE« an die Brust geheftet worden war. Die Synagogen an der Fasanenstraße und der Oranienburger Straße in Berlin sowie die am Schwedenplatz in Wien gingen in Flammen auf; es brannten die jüdischen Gotteshäuser in Leipzig, München, Frankfurt und Stuttgart – und zweihundert weitere …
Allegro assai – recht fröhlich!
Lothar Hassler hielt sich das Opernglas vor die Augen, ließ den vergrößernden Doppelkreis über das Publikum wandern, hob es an und verharrte auf dem Gesicht einer jungen Frau mit kupferblondem, sanft von einem der Deckenlüster angestrahltem Haar, die in der Loge gegenüber saß. Das war die berühmte Mezzosopranistin Elisabeth Müller-Weisberg, Ehefrau des nicht minder renommierten Konzertgeigers Theodor Weisberg.
Als müsste er eigens überprüfen, dass diese prachtvolle Deutsche tatsächlich mit einem Juden verheiratet war, richtete Hassler den Fokus seines Fernglases nun auf den befrackten Mann am ersten Pult der Ersten Geige und ließ seinen Blick lange und voller Neugier auf ihm ruhen. Kaum zu fassen: Dieser gegenüber seiner Frau mickrig wirkende Mann war sogar Mitglied der Preußischen Akademie der Künste!
Draußen ergossen sich unterdessen die Fackelzüge über die Hauptstraße, angeführt von stattlichen Männern, die im bekannten Rhythmus der Schützenvereine – bum-bum-bumbumbum – die Pauke schlugen. Sollte doch niemand auf die Idee kommen, dass der Deutsche nur in philharmonischen Festsälen musikalisch war. Im Marschtakt der Pauken intonierten sie:
Auf der Heide blüht ein Blü-ü-melein,
Eins! Zwei!
Und das heißt E-e-e-rika …
Genau an der Ecke, an der sich die renommierte Buchhandlung Meyersohn & Söhne befand, kam einem der frohgemuten Fackelträger die Idee, einen Scheiterhaufen aus Büchern zu bauen, für den er am geeignetsten die Werke von Karl Marx, Heinrich Heine, Sigmund Freud, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Leonhard Frank, Baruch Spinoza, Marcel Proust, Franz Kafka und Henri Bergson hielt. Albert Einsteins Werk Die Quantenstruktur der Strahlung tat seinem Titel alle Ehre und sprühte Funkensträußchen, bevor es mit weit geöffneten Buchdeckeln aufflog wie der arme Vogel Phönix.
2
Im Festsaal der Dresdner Philharmonie hatte inzwischen der Schlusssatz der Abschiedssinfonie begonnen, »Presto – Adagio«, der Satz, der ihrem Titel Abschiedssinfonie Inhalt verlieh. Zwei der Orchestermusiker, der Oboist und der Hornist, rafften ihre Noten zusammen, bliesen ihre Kerzen aus und verließen leise das Podium.
Hinter den Kulissen wurden die beiden Bläser zu ihrer Überraschung von einem Pulk uniformierter SS-Leute schon erwartet, von ihnen verhaftet und grob Richtung Ausgang geschubst. Als die beiden Opfer lautstark dagegen protestierten, bedeutete ihnen ein Mann in Breeches über hochglanzpolierten schwarzen Stiefeln mit zynisch über die Lippen gelegtem Zeigefinger lächelnd, sie möchten doch bitte still sein, um das Konzert nicht zu stören. Im Gebaren des Sturmführers lag nicht das geringste Zeichen von Bosheit – nur die wohlwollende Gesinnung, dass die Regeln guten Betragens auch von Mitbürgern, die an ihre jüdischen Quasselstuben gewöhnt seien, doch bitte eingehalten werden sollten.
Theodor Weisberg sah, ohne seinen Bogen von den Saiten zu nehmen, über die Flämmchen der brennenden Kerzenstummel hinweg, wie hinter den Kulissen seine beiden Kollegen von den braunen Uniformhelden abgeführt wurden. Verwirrt warf er seinem Nebenmann am zweiten Pult einen fragenden Blick zu. Auch andere Mitglieder des Kammerensembles hatten bemerkt, was da vor sich ging, denn ein kaum wahrnehmbarer Aufruhr ging durchs Orchester, als wäre eine Windbö in trockenes Laub gefahren. Doch alle spielten weiter, als wäre nichts geschehen.
Laut Partitur war nun die Zeit für den Kontrabassisten und das Violoncello gekommen, das Podium zu verlassen. Im Gegensatz zu ihren Bläserkollegen ahnten sie schon, was ihnen bevorstand; aber was sollten sie machen? Dies hier war ein öffentliches Konzert, und das ahnungslose Publikum verfolgte jede ihrer Bewegungen. Also packten sie, einer nach dem anderen, ihre Noten zusammen, bliesen die Kerzen an ihren Pulten aus und begaben sich – nach einem letzten fragenden Blick zum Ersten Geiger – zögerlich hinaus. Dort wiederholte sich das Spiel wie gehabt: Der Mann mit den blank polierten Stiefeln machte lächelnd ein Zeichen, doch Ruhe zu bewahren, und flüsterte, bevor er auch sie in Gewahrsam nahm: »Pssst! Ich bitte doch um Respekt vor dem Werk eines arischen Komponisten!«
Der beflissene Adjutant in der Ehrenloge neigte sich zu Lothar Hassler hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist ein Skandal, dass all diese Orchestermusiker Juden sind!«
»Nein«, entgegnete Hauptsturmführer Hassler, »nicht alle. Jedenfalls glauben manche, es nicht zu sein. Na, macht nichts, wir werden sie schon noch über ihre jüdische Großmutter aufklären. Aber es ist ein Skandal, dass wir es zulassen konnten, wie sie vor unseren Augen ganz Deutschland in eine Synagoge verwandelt haben … Ah, still jetzt, jetzt ist er an der Reihe.«
Konzertmeister Theodor Weisberg packte seine Noten ein, blies seine und damit die letzte Kerze aus und ging mit steifen Schritten hinaus. Hinter ihm schlugen die Schatten zusammen. Das Podium versank in Dunkelheit …
Eine geraume Zeit andächtigen Schweigens verging, bevor die Kristallleuchter an der Saaldecke wieder in voller Festbeleuchtung erstrahlten und tosender Applaus den Saal erfüllte. Doch die Musiker, sie kehrten nicht, wie es Brauch war, mit ihren Instrumenten aufs Podium zurück, um sich vor dem applaudierenden Publikum zu verneigen. Sie konnten es nicht mehr.
Die Menschen im Saal waren vielleicht irritiert, doch sie wussten nicht, dass sie gerade dem letzten Konzert der Dresdner Akademischen Philharmonie gelauscht hatten.
3
Bis zum Beginn des neuen Mondjahres waren es noch mehr als zwei Monate. Vorher war nicht zu erwarten, dass die japanischen Besatzer ihr eisernes Regime lockern und Verwandten, die durch die Okkupation getrennt worden waren, gestatten würden, einander zu besuchen. Nach dem julianischen Kalender war es November, das Wetter der Jahreszeit entsprechend. In Deutschland hätte man vielleicht gesagt: Bei so einem Sauwetter schickt man keinen Hund vor die Tür! Doch wir befanden uns in China, und China war bitterarm. Deshalb waren zwischen Longhua und Nanshi im Süden und Zhabei und Hongkou im Norden Shanghais alle Hunde, die den Fehler gemacht hatten, frei auf der Straße herumzulaufen, längst aufgegessen. Die Luft war frostig und feucht. Sie roch nach Bratfett, Gully und Schlamm. Auch die Brise vom Meer brachte keine Erfrischung, sondern nur den Gestank der endlosen Sümpfe an der Wang-Pu-Mündung. Der Wang Pu war der linke Arm des breiten Jangtsekiang, durch den die großen Überseeschiffe den Hafen von Shanghai erreichten.
Es dämmerte. Auf den Aberhunderten von Dschunken, die beängstigend nah an den gewaltigen, hoch über sie aufragenden Schiffsbäuchen der großen Frachter und Passagierschiffe entlangdümpelten, brannten schon die Papierlaternen. Unzählige Lichtstreifen gaukelten und schaukelten über die schmutzige, ölverschmierte Wasserfläche und leckten an schwimmendem Unrat. Auf den Dschunken standen Kleinhändler, die sich gegenseitig in einer Sprache überschrien, die sie für Englisch hielten. Sie boten alles zum Verkauf feil, was sie gerade an Bord hatten: Gemüse, Obst und Fisch, Souvenirs und Talismane oder kleine, aus Büffelhorn oder Nephrit geschnitzte Götterfiguren.
Die von der endlosen Reise gelangweilten Transitpassagiere gafften über die Reling ihrer Überseeschiffe zu den Schreihälsen hinab. Nein, sie würden hier nicht von Bord gehen! Nicht nur, weil die Gerüchte von der Geschicklichkeit der Taschendiebe und Kleinbetrüger am Hafen ihnen Angst eingejagt hatten, sondern auch, weil sie schon in wenigen Stunden ihre Reise nach Süden fortsetzten, nach Singapur, Hongkong oder Macao, manche von ihnen sogar bis nach Manila oder Bombay. Den Passagieren aber, die in Shanghai über schmale Gangways von Bord gingen, stand der Sinn nicht nach Souvenirs und schon gar nicht nach Obst oder Gemüse. Meist waren es japanische Geschäftsleute, Bankangestellte und Makler, die mit der Fährlinie der Schifffahrtsgesellschaft Kobe von den Inseln ans asiatische Festland kamen, um in den neu eröffneten Niederlassungen großer Tokioter Firmen zu arbeiten. Einige hochrangige Regierungsvertreter wurden von Limousinen empfangen. Chauffeure in Uniform und Vertreter der Konsulate oder der großen Banken hielten ihnen den Wagenschlag auf und beförderten sie vom Hafen weiter zum Flughafen Longhua, von wo aus sie entweder nach Peking oder noch weiter zum neuen, von den Japanern auf dem Gebiet der Mandschurei gegründeten Staat Mandschukuo flogen. Später, als die Kapazität der Kriegsschiffe erschöpft war, übernahmen die Fährschiffe auch den Transport militärischer Einheiten aus Japan.
Hoch über den Docks, den Lagerhallen und den niedrigen gelben Gebäuden der japanischen Kommandantur, der Hafenverwaltung, der Kontore der Schifffahrtsgesellschaften, des Zollamtes und der Grenzschutzpolizei, über den Kränen und hoch aufgeschichteten Truhen und Ballen, jenseits der schweren schwarzen, vom Lichtkegel der Papierlaternen gesprenkelten Wassermassen des Flusses, spiegelte der bewölkte Himmel den trüben orangefarbenen Widerschein der Hotels und Bürogebäude wider, die entlang des legendären Prachtboulevards Bund lagen. Der Bund folgte dem Flusslauf aufwärts und war der Umschlagplatz für Geld, Kapital und Vermögenswerte schlechthin. In ihn mündeten die in gleißendes Licht getauchten Prachtstraßen, von denen die Menschen auf den Dschunken märchenhafte Dinge gehört hatten. Beim Hören würde es wohl auch bleiben, denn die Menschen auf den Dschunken kamen auf dem Wasser zur Welt, lebten auf dem Wasser, seit sie denken konnten. Ihre Vorväter hatten bis zu den Knien im schlammigen Wasser der Reisfelder an den Flussmündungen gestanden, ohne jemals die im englischen Kolonialstil errichteten Prunkgebäude zuseiten der Boulevards zu erblicken, von den Spielhallen, Tennisplätzen, Herrenklubs, Hotels und Nobelrestaurants ganz zu schweigen, vor denen breitbeinig und mit würdigem Gesichtsausdruck, weißem Turban und lässig in die Schärpe geschobenem Krummsäbel indische Sikhs, massig wie Kleiderschränke, Wache schoben.
Etwas in der Art muss auch der Kapitän des von Roststellen übersäten Frachtschiffs »Tscheljabinsk« gedacht haben, als er, über die Reling gelehnt, auf dem Kartonmundstück einer erloschenen russischen Papyrossa herumkaute. Er machte den Eindruck, als hätten er und sein Schiff alles gesehen: vom Russisch-Japanischen Krieg von 1905, der durch die verheerende Niederlage der Russen in der Seeschlacht bei der Insel Tsushima in der Koreastraße besiegelt wurde, bis hin zu den dramatischen Umbrüchen der Oktoberrevolution 1917 in ihrer fernöstlichen Variante.
Die »Tscheljabinsk« kam aus der Mekongmündung, wo sie Rohkautschuk aus den französischen Plantagen von Indochina, dem heutigen Hinterindien, geladen hatte. In Shanghai wiederum wurde ihr Bauch gefüllt mit Baumwolle und Rohseide, die sie nach Wladiwostok zu verschiffen hatte, wo die Naturfasern ihre lange Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn fortsetzten. Ihr Kapitän schaute gleichmütig den Trägern zu, die über die Landungsbrücke aufs Schiff trippelten. Von ihnen war nichts zu sehen außer einem Paar dürrer Beine; der Rest verschwand unter riesigen Stoffballen. In umgekehrter Richtung liefen andere Träger mit flachen Kisten aus rohem sibirischen Zedernholz, auf denen in Schablonenbuchstaben stand: URALMASH – USSR. Die Ruhe verließ ihn auch dann nicht, als einem ausgezehrten Träger sein Ballen entglitt und er reglos auf dem fettigfeuchten Bord liegen blieb. Vermutlich war es ein Schwächeanfall, denn seinen Tagelohn, einen halben Shanghai-Dollar, sollte er erst in zwei Stunden bekommen. Dieser Betrag hätte mehr als ausgereicht für eine Schale Reis mit ein paar Stücken Lauch sowie ein Kännchen grünen Tee. Der Kapitän gab knapp und ungerührt Anweisung, den Mann zu »entfernen«. Zwei seiner Matrosen trugen ihn in eine Kajüte, auf deren ovale Eisentür ein rotes Kreuz gemalt war.
Eine halbe Stunde später »entsorgten« ihn zwei Trägerkollegen. Niemand, weder auf dem Schiff noch an Land, schenkte diesem kleinen Beerdigungszug Beachtung. Was bedeutete schon ein Träger mehr oder weniger in diesem namenlosen, nach Schweiß und Zwiebeln stinkenden, gesichtslosen Ameisenhaufen namens Shanghai mit seinen Abermillionen Menschen und dem schreienden Kontrast aus bitterster Armut und unerhörtem Reichtum? Die Behörden sammelten Morgen für Morgen Tausende Hungertote von den Straßen auf. Was machte da schon einer mehr oder weniger? Dies geschah in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Bis zum Ausbruch des Krieges waren es keine zehn Monate mehr.
4
Als sie die Vorhänge aufzog, war sie zutiefst enttäuscht. Hilde wusste zwar nicht, was genau sie erwartet hatte, doch dieser Anblick deckte sich nun wirklich in nichts mit jenen Postkartenansichten, die die Touristen scharenweise in die französische Metropole an der Seine lockten. Im Rechteck ihres Hotelzimmerfensters war eine trostlose Stadtlandschaft aus rußgeschwärzten Fassaden zu sehen, zwischen denen Wäsche hing. Weit unten und so klein, als handelte es sich um die Anlage einer Modelleisenbahn, breitete sich ein Gewirr aus Gleisen, Pfeilen, Hochspannungsleitungen und Signalen aus, zwischen denen Waggons abgestellt waren und eine einsame Lokomotive dampfend und zischend hin und her rangierte.
Das kleine Hotel war für Leute mit begrenztem Reisebudget. Zwei Sterne am Eingang, von denen einer allerdings nicht mehr so recht leuchten wollte, versprachen nicht mehr als nötig, aber auch nicht weniger. Man konnte von hier aus weder den Eiffelturm noch Montmartre sehen, weder den Triumphbogen noch das geschlängelte Band der Seine, dessen Grauschattierung stets die Farbnuancen des Himmels widerspiegelte. Hilde wusste von alldem, auch ohne es je mit eigenen Augen gesehen zu haben. Der Boulevard Saint-Michel, der Louvre, Notre-Dame, ja selbst der Eigentümer des Bistros an der Ecke waren ihr so vertraut wie das Innere ihrer Handtasche. Nein, sie war nie in Paris gewesen, hatte aber während ihres Studiums der französischen Sprache und Literatur an der Humboldt-Universität so viel über diese Stadt gelesen und so viele Abbildungen, Fotos und Filme gesehen, dass sie sich alles ohne Mühe vorstellen konnte. Dabei hatte sich in ihr die Sehnsucht entwickelt, Paris in seinem wirklichen Glanz zu erleben. Sie wollte Pariser Luft atmen, ihren Geschmack auf der Zunge spüren und – wenn sie hinunter ins Eckbistro ging, um einen Kaffee zu trinken, würde der Wirt sie schon beim Hereinkommen mit seinem provenzalischen Akzent fragen: »Bonjour, Mademoiselle Hilde! Ça va? Un café et un croissant comme toujours, n’est-ce pas, Mademoiselle Hilde?«
Trotz ihrer momentanen Enttäuschung über den Anblick, der sich ihr aus dem Hotelfenster bot, war sie glücklich, endlich hier zu sein, raus aus der in letzter Zeit bedrückenden Atmosphäre Berlins! Wenigstens für kurze Zeit einmal ihre Sorgen vergessen, den Schauspielunterricht, der sie auch nicht weiterbrachte, und die Idioten, die behaupteten, eben dies zu können, falls sie ihnen als Gegenleistung für eine Nebenrolle auf der Matratze kurz eine Hauptrolle gewährte. Endlich einmal kein permanentes Umstellen bei den Massenszenen, in denen sie als Statistin mitwirkte, ohne je zu begreifen, warum diese Einstellung unbedingt noch einmal gedreht werden musste. Tag für Tag stand sie sich von morgens bis abends für fünf Reichsmark in Babelsberg die Beine in den Bauch, ohne zu wissen und je zu erfahren, worum es in besagtem Film überhaupt ging. Sie musste es sich gefallen lassen, von dahergelaufenen Regieassistenten scheinbar zufällig angegrapscht und plump belästigt zu werden, und das alles nur wegen der winzigen Hoffnung eines jeden Statisten, eines Tages dem Regisseur »aufzufallen« … Eines schönen Tages würde dieser von seinem Klappstuhl aus grübelnd seinen Blick über die Reihen schweifen lassen, plötzlich mit dem Finger seine Assistentin zu sich winken und fragen: »Du, wer ist denn die da, die Blonde da hinten?« In diesem Moment würde das ganze sinnlose Spektakel schlagartig aufhören, und der kometenhafte Aufstieg zum großen Filmstar würde seinen schicksalhaften Verlauf nehmen.
In Wirklichkeit passierte so etwas natürlich nie.
Fast nie.
Hilde jedoch war es passiert, und deshalb war sie an diesem Morgen auch nicht in ihrer kleinen Mansardenwohnung in Berlin-Grunewald erwacht, sondern in Paris.
Jemand klopfte vorsichtig an die Tür. Im Spalt erschien der blanke Schädel von Werner Gauke, dem legendären einarmigen Fotografen der UFA. Er hatte seinen Arm in der Schlacht von Verdun verloren; doch das minderte seine Größe als künstlerischer Fotograf nicht im Geringsten. Sein subtil austariertes Chiaroscuro, das Spiel zwischen Licht und Schatten, hatte ihn nicht nur einmal auf die Seiten der Hochglanzzeitschriften gebracht, und große Abzüge seiner Modefotografien hingen in den teuren Schaufenstern an der Friedrichstraße und dem Kurfürstendamm. Berühmt war er auch als Schürzenjäger – auch wenn das bei denen, die ihn nicht persönlich kannten, ungläubiges Staunen hervorrief.
»Sind wir so weit, Püppchen?«, fragte er durch den Türspalt. »Nimm alle drei Kostüme mit, wir arbeiten den ganzen Tag. Hab uns schon einen Wagen bestellt. Aber erst mal trinken wir einen Kaffee zusammen – ich warte unten auf dich!«
»Nur eine Dusche, und ich bin schon unten.«
»Zehn Minütchen hast du, Püppchen! Ich küsse dich!«
Seine Lippen formten sich schmatzend zum Luftkuss, dann war sein Kopf auch schon verschwunden und die Tür wieder geschlossen.
Im Bistro wartete die nächste Enttäuschung auf Hilde: Der Wirt hatte nichts mit dem Provenzalen ihrer Fantasie zu tun, sondern war eine Wirtin, noch dazu eine aufgedunsene Matrone, die aussah wie eine ehemalige Bordsteinschwalbe, die ihre Ersparnisse in diesem Lokal angelegt hatte. Statt eines echten café in einer kleinen Tasse bekam sie eine billige Mischung in einer großen Schale serviert, deren Geschmack einen nicht gerade geringen Zichorienanteil verriet und sie unangenehm an den Muckefuck erinnerte, den sie in Babelsberg in den Kaschemmen um die Filmstudios der UFA vorgesetzt bekam. Immerhin gab es Croissants! Was wäre Paris ohne Eiffelturm, Moulin Rouge und Croissants?
Danach gingen die Fotoaufnahmen los. »Schau mal nach unten? – Lehn dich doch mal an das Geländer – ja, weiter, noch weiter … – Lass doch mal locker, Mädchen, nicht so steif wie ein Denkmal! – Und jetzt auf der Bank da ausstrecken – weiter, ja, die Tittchen schön raus! – Bisschen rechts, Püppchen, du verdeckst mir ja den ganzen Obelisken!«
Der liebe Werner, füllig geworden mit den Jahren, setzte alle seine in Lederhüllen um seinen Hals baumelnden Kameras und Objektive und all seinen Ideenreichtum ein, um sich der ihm übertragenen Aufgabe – ausdrucksvolle Fotoserien von einer schönen Deutschen vor dem Panorama der französischen Hauptstadt zu schießen – so ehrenvoll wie nur möglich zu entledigen. Nicht nur einmal wischte er sich dabei mit einem riesigen Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken.
Dass diese Hilde Braun nun hier vor seiner Linse stand, war reiner Zufall …
Nach 1933 waren alle deutschen Filmproduktionen und Studios – von UFA und Bavaria Film angefangen bis zu TOBIS und Terra – der Kontrolle des nationalsozialistischen Propagandaministeriums unterstellt worden. Die linke Volkskino-Union, die in ihren fruchtbarsten Jahren von Lichtgestalten wie Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Käthe Kollwitz und Béla Balasz geleitet worden war, hatte sich in alle Winde zerstreut. Hollywood hatte schon vor Zeiten Ernst Lubitsch, Georg Pabst und Billy Wilder aufgesaugt sowie die Schauspieler Emil Jannings, Lia de Puti, Pola Negri, Elisabeth Bergner, Greta Garbo und Peter Lorre. Lange zuvor hatte der »blaue Engel« Marlene Dietrich mit ihrem Regisseur Josef von Sternberg eine neue Heimat in Beverly Hills gefunden. Fritz Lang machte sich gleich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf und davon und drehte 1934 in Frankreich seinen berühmten Film Liliom. Die deutschen Leinwände verwaisten, die große Zeit von Kuhle Wampe und Doktor Mabuse, des Klassikers Metropolis und der Straße ohne Freude von Pabst (mit Greta Garbo) war vorbei, das klassische deutsche Kino – tot.
Da erstrahlte der Stern der Leni Riefenstahl.
Die Karriere der mittelmäßigen Schauspielerin und leidenschaftlichen Sportlerin hatte mit eher durchschnittlichen Bergfilmen begonnen. Sturm über dem Montblanc wurde sogar bis in die Tiefen der UdSSR bekannt. Jeder Künstler hat irgendwann einmal seine Sternstunde, und wenn er die nicht verpasst, dann stehen ihm der Weg zu Ruhm und Erfolg offen. Riefenstahls Sternstunde war der Nürnberger Kongress der NSDAP. Damals, es war 1935, drehte sie Triumph des Willens, einen Film voller Pathos und Bombast, der an viele sowjetrussische Dokumentarfilme aus jener Zeit erinnerte, nur mit anderer Ausrichtung: Hier war nicht mehr die »Klasse«, sondern die »Rasse« des Menschen Thema. Es folgte eine Reihe weiterer Produktionen der rasch zum Liebling der Partei gekürten Regisseurin, deren Gipfel Unsere Wehrmacht bildete, ein Kulturfilm, in dem die ästhetischen Parameter des Nationalsozialismus definitiv ausgebildet waren. Leni Riefenstahl hatte tätigen Anteil an der Schaffung jenes Klischees, das sich in das staatlich propagierte überhaupt verwandelte: das Bild des deutschen Soldaten, der zwar »zäh wie Leder« und »hart wie Kruppstahl« war, doch nicht muskelbepackt wie ein Gorilla, sondern von einer beinahe feminin anmutenden nordischen Schönheit. Dieses Idealbild schmeichelte dem Nationalstolz – und niemand schenkte dem unwesentlichen Detail Beachtung, dass weder der Führer selbst noch seine engsten Mitarbeiter wie Martin Bormann, Helmut Göring, Dr. Joseph Goebbels oder Heinrich Himmler ihm entsprachen. Und von jenen Schönlingen in den höheren Etagen der Macht, die so aussahen, wie der Arier aussehen sollte, wurde zumeist gemunkelt, dass sie homosexuell seien.
Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin gaben Riefenstahls Karriere weiteren Auftrieb durch den Film Fest der Nationen – eine pathetische Eloge auf das arische Blut. Der schwarzamerikanische Modellathlet Jesse Owens warf mit seinen vier Goldmedaillen zwar ein wenig Schatten auf die grenzenlose Herrlichkeit und Überlegenheit der weißen Rasse, aber gute Künstler wissen ja, dass Schatten das Licht nur umso heller erscheinen lässt. Der kolossale Erfolg des Films, vor allem unter der nationalsozialistischen Elite, inspirierte Riefenstahl zu einer Fortsetzung. 1938, fast schon an der Schwelle zum Krieg, drehte sie den Nachfolger Fest der Schönheit.
Und hier schlug Hilde Brauns Sternstunde. Denn sie war eine auffallend schöne junge Frau, schlank, blond und blauäugig, geradezu die Verkörperung der künftigen arischen Mutter reinrassiger deutscher Kinder und damit ideales Anschauungsmaterial für die Propaganda des Dritten Reichs. Wie üblich war sie als Statistin engagiert worden, doch unter dem Einfluss der Naziästhetik begleiteten Riefenstahls Assistenten ihre Kniffe in Hildes Po mit Komplimenten wie dem, dass ihre Augen klar seien wie skandinavische Seen und derlei Unfug. Die Maskenbildnerinnen küssten die schöne Statistin zur Begrüßung auf die Wange und sagten: »Da ist sie ja wieder, unsere schöne Walküre!«
Bei so viel Aufmerksamkeit vonseiten ihrer Crew war es nicht verwunderlich, dass eines Tages auch die Schöpferin des Festes der Schönheit Hilde bemerkte.
»Wie heißt du denn, schönes Kind?«, fragte Leni Riefenstahl und fuhr sanft mit einem Finger über die Umrisse von Hildes Lippen.
Die junge Frau lief vor Verwirrung rot an. War die große Leni Riefenstahl etwa lesbisch, oder war das nur der mütterliche Ausdruck ihrer Sympathie? War dies der Moment, auf den die kleine Statistin gewartet hatte? Sie schluckte, bevor sie antwortete: »Hilde Braun.«
»Du bist wundervoll, Hilde. Ich werde dich brauchen. Melde dich bei mir, wenn ihr aus Paris zurück seid.«
»Aus Paris?«, fragte Hilde verständnislos.
Riefenstahl hatte auf einmal beschlossen, in ihr Fest der Schönheit eine Serie von Standbildern einzufügen mit einer Paradedeutschen, die ihre Vorzüge mit Pariser Hintergrund dekorierte. War das künstlerischer Instinkt? Der Hauch des Krieges lag schon in der Luft, und die Besetzung von Paris war nicht mehr fern. Arthur Neville Chamberlain, der britische Premierminister, von dem niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob er ein Genie oder ein Dummkopf war, hatte den Kontinent bei seinem Treffen mit Hitler in München bereits abgeschrieben.
Fräulein Hilde Braun erhielt einen Vertrag und fünfhundert Reichsmark Vorschuss, eine für sie ungeheure Summe, für die Erlaubnis, ihre Bilder unbegrenzt sowohl für den entstehenden Film als auch für die Seiten des Nazi-Blatts Der Stürmer – der »Zeitung für den echten Arier«, wie die Reklame es nannte – zur Verfügung zu stellen.
5
Die Stufen, die zu Sacré-Cœur hinaufführten, wollten kein Ende nehmen. Hilde und Werner hatten darauf verzichtet, die Zahnradbahn zu benutzen, denn beim Treppensteigen konnte der Fotograf spontan auf eine ungewöhnliche Perspektive reagieren und sie in eine seiner genialen fotografischen Inszenierungen umsetzen. Hilde blieb stehen und drehte sich um, um auf ihn zu warten, denn Gauke war nicht nur wesentlich älter als sie, sondern auch schwer beladen mit seiner Ausrüstung. Er hatte diesmal keinen Assistenten dabei – ein Beleg dafür, dass das Deutsche Reich alles tat, um die so kostbare fremde Währung nicht zu verschleudern. Endlich hatte Werner Hilde eingeholt. Er wischte sich keuchend die Stirn ab, auf der feine Schweißperlen glänzten, und stieß schnaufend hervor: »Na und, ist unser Püppchen zufrieden?«
Hilde ließ ihren leuchtenden Blick über Paris gleiten, wie eine Eroberin, der diese Stadt schon bald zu Füßen liegen würde. Je weiter man in die Ferne blickte, desto dichter wurde der Dunst, der – verfärbt von der Abendsonne – über dem Panorama lag. Der Eiffelturm, die Seine und ihre Brücken, die Île de la Cité, die Kirche Sainte-Marie-Madeleine und der Obelisk schienen von einem rosaroten Schleier eingehüllt zu sein. O uferloses, ewiges, eitles, sündiges, intimes und hochnäsiges Paris!
In einer plötzlichen Aufwallung der Gefühle küsste Hilde ihren Fotografen auf die Wange. Gauke protestierte gutmütig: »Doch nicht so! So küsst die liebe Tante Frieda den kleinen Peter. Ich hab was Besseres verdient. Denn die Idee mit Paris, die hab ich der Riefenstahl gesteckt, ich allein und kein anderer. Und ich will dir auch gern gestehen, warum. Ich hab nämlich ein Auge auf dich geworfen!«
Er schickte sich an, sie auf den Mund zu küssen, doch Hilde entschlüpfte seinen Armen mit der Wendigkeit eines Fisches und sprang fröhlich weiter treppaufwärts, der zuckerbäckerweißen Kathedrale entgegen.
Oben angekommen, stützte sie die Ellbogen aufs steinerne Geländer. Nun hatte sie einen vollkommen freien Blick über die ganze Stadt in all ihrer Größe und Pracht. Da spürte sie plötzlich auf ihrem Arm die Hand und auf ihrem Gesicht den heißen Atem des Fotografen. Sie wollte Werner nicht düpieren und zog ihren Arm nicht fort. Sie schaute ihn nur eine Weile verwundert an, um sich dann, als wäre nichts gewesen, wieder in den Anblick zu vertiefen.
»Ich beneide die Menschen, für die Paris ihre Heimatstadt ist. Vielleicht, weil ich keine Heimatstadt habe. Stuttgart hat mir in meiner Kindheit am besten gefallen, aber geboren bin ich da nicht. Und meine Kindheit – passé und perdu. War schon seit zehn Jahren nicht mehr in Stuttgart und weiß noch nicht mal, was aus dem Grab meiner Eltern geworden ist. Tja, und jetzt dieses graue und abstoßende Berlin. Jeden Tag mit der Stadtbahn nach Potsdam. Dann nach Babelsberg … Dann …«
»… Und dann die Filmstudios von der UFA mit dem einarmigen Werner Gauke, stimmt’s?«
Hilde streichelte ihm – zum Zeichen, dass sein kleiner Ausfall ihre freundschaftlichen Gefühle für ihn in keiner Weise beeinträchtigt hatte – liebevoll über die Hand, die noch immer auf ihrem Unterarm lag.
»Ja«, stimmte sie zu, »die UFA, Werner Gauke. Der ›Magier des fotografischen Helldunkel‹. Nicht wahr, so schreiben sie doch über dich? Aber sie schreiben nicht, dass er mein einziger Freund ist in diesen nach Leim und Farbe stinkenden Pavillons, in denen alles eine Lüge auf Zelluloid ist.«
»So ist das eben manchmal. Lügen in vierundzwanzig Rechtecken die Sekunde. Aber nicht immer. Weißt du, wie man die Proportionen der Leinwand nennt? Goldener Schnitt. Und bei den großen Filmen wird das wirklich golden, Püppchen.« Und linkisch fügte er hinzu: »Du bist doch so ein goldener Schnitt. Ich glaub, ich könnt mich glatt in dich verlieben wie so ein Pennäler.«
»Tu’s nicht, Werner, denn ich könnte das nicht erwidern. Ich fürchte, ich kann mich überhaupt in niemanden verlieben. Niemals …«
»Nun aber mal langsam mit den jungen Pferden. Du bist doch erst dreiundzwanzig …«
»Mit dreiundzwanzig weiß der Mensch alles, was zu wissen sich lohnt. Der ganze Rest, den die Leute in ihrem verbleibenden Leben noch dazulernen, das sind doch bloß Einzelheiten …«
6
In einem kleinen, ausschließlich von Touristen besuchten Restaurant gleich hinter der Kirche aßen sie zu Abend. Die Gegend wimmelte von Künstlern, die vor den Augen der Passanten jahrein, jahraus immer wieder ein und dasselbe Motiv zeichneten – die Basilika Sacré-Cœur -, ein Souvenir aus Paris für zehn Francs. Kirche und Kunst waren eine so symbiotische Beziehung eingegangen, dass van Gogh hier offenbar als Heiliger verehrt wurde: Das steile Sträßchen, in dem sich das Restaurant befand, nannte sich Rue Saint-Vincent.
Hilde stocherte in ihrem Coq au vin, nippte an ihrem Wein und stocherte wieder.
»Du trinkst viel und isst gar nichts«, tadelte Gauke sie. Worauf Hilde schlagfertig konterte: »Und du isst viel und trinkst gar nichts.«
In ihrem Kopf schien sich ein Gedanke eingenistet zu haben, der sie völlig in Beschlag nahm; sie wirkte vollkommen abwesend.
»Du hast mir noch gar nichts von deiner Frau erzählt, und von deinen Kindern. Wie viele sind es denn – zwei, drei?«
»Zwei. Bestehst du darauf, dass ich dir von ihnen erzähle?«
»Nicht sonderlich. Nur … Ich kenne euch deutsche Männer allzu gut. Genau jetzt, abends um …« – sie schaute auf ihre Armbanduhr – »… um kurz vor halb zehn kommt die Zeit, in der gestandene deutsche Familienväter mittleren Alters anfangen, ihren jungen Begleiterinnen die herzerweichende Geschichte zu erzählen, wie einsam sie doch zu Hause sind und warum ihre Ehefrauen, so gut und ergeben sie auch sein mögen, sie einfach nicht verstehen …«
Der Fotograf lachte schallend.
»Du bist ja ein richtiges Teufelchen!«
»Sicherlich. Und? Rieche ich auch nach Schwefel?«
»Mach keine Rolle draus. Du riechst nach dem Parfüm, das ich dir heute Morgen geschenkt habe – Mon Boudoir. Und um deine indirekte Frage zu beantworten: Ja, ich fühle mich meiner Familie wirklich sehr verbunden. Aber deswegen bin ich doch nicht unempfänglich für alles, was es außerhalb von ihr gibt? Findest du das sehr schlimm?«
»Grundsätzlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn man dabei ehrlich ist wie du. Die meisten Männer aber lügen einfach das Blaue vom Himmel herunter, nur um an ihr Ziel zu gelangen.«
Gauke schaute sie lang an, als wollte er in ihrem Gesicht bereits die Antwort lesen, bevor er die Frage überhaupt gestellt hatte.
»Und … Gelange ich an mein Ziel?«
»Schau mal, mein lieber Werner. Guter Freund! Das hier ist Hähnchen in Weinsauce. In unserem Fall bist du das Hähnchen, und der Wein, den wir getrunken haben, ist ausreichend, um uns lauter dummes Zeug reden zu lassen. Wir sollten gehen. Ich bin einfach hundemüde.«
7
Es war schon spät in der Nacht. In Hildes kleinem Hotelzimmer verbreitete nur das Nachttischlämpchen sein orangefarbenes Licht. Sie lag im Pyjama auf dem Bett und las irgendein Buch, als die Tür zu ihrem Zimmer sich öffnete und Werner Gauke sich auf leisen Sohlen hineinstahl. Der Verdun-Veteran war vermutlich der Einzige, dem es gelang, mit nur einem Arm, einer Flasche Champagner unter der Achsel und zwei Gläsern in der Hand auch noch eine Tür zu öffnen.
»Darf ich?«
»Du bist doch schon drinnen, was fragst du?«, erwiderte Hilde gleichmütig.
Der Fotograf tat so, als hätte er sie nicht gehört, setzte sich auf die Bettkante und stellte schweigend die beiden Gläser auf den Nachttisch. Dann holte er die Flasche, die er unter seinen Armstumpf geklemmt hatte, hervor, goss ein und reichte Hilde ein Glas. Doch diese nippte nicht einmal daran, sondern stellte es gleich wieder zurück. Dann nahm sie auch Werner das seine aus der Hand und platzierte es neben ihres.
»Nun hör mir gut zu, Werner, und lass uns reinen Tisch machen, denn morgen reist du ja schon zurück nach Berlin.«
»Moment, soweit ich informiert bin, reisen wir zusammen.«
»Dann bist du schlecht informiert, Werner, denn zurückreisen wirst nur du. Ich bleibe hier. Ich möchte nicht das arische Mannequin in Leni Riefenstahls künstlerischen Visionen sein.« Und als Werner nicht sofort antwortete, neckte sie ihn: »Jetzt riech ich wohl wirklich nach Schwefel, hm?«
»Nach Mon Boudoir riechst du, Püppchen. Hast du dir das auch gut überlegt, und weißt du, was du da tust?«
»Ganz genau weiß ich das, hab mein Gewissen nach allen Regeln der Moral befragt.«
»Leider gibt es nicht nur die Regeln der Moral, sondern auch Gesetze und Strafen.«
»Die gelten nur dann, wenn sie mich erwischen.«
»Da hast du auch wieder recht, Püppchen. Heißt das, dass wir dich nicht mehr in Babelsberg zu sehen kriegen?«
»Offen unter Freunden gesagt – nein, nie wieder. Für den Anfang reichen mir ja die fünfhundert Mark, die ich heute mit ehrlicher Arbeit verdient habe. Die Negative, die das beweisen, hast du. Was danach kommt, werden wir sehen.«
Gauke war nachdenklich geworden. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, seufzte.
»Da haust du mich ja bei der Studioleitung ordentlich in die Pfanne. Vergiss nicht, dass ich die Idee mit den Fotos vor Pariser Hintergrund hatte.«
»Entschuldige, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Stell dir vor, was passiert wäre, wenn deine Studioleitung irgendwann herausgefunden hätte, dass ich Jüdin bin und du mich protegiert hast?«
Im ersten Moment verstand der Fotograf nicht recht. Eine Sekunde später aber sprang er wie von der Tarantel gestochen auf.
»Wie bitte? Was hast du da gesagt?«
»Genau das, was du gehört hast: Ich bin Jüdin, wie meine Mutter und mein Vater auch.«
Diese wie unschuldig dahergesagten Worte drangen nur langsam in Werners Gehirn. Schließlich brach er in ein hysterisches Gelächter aus.
»Nein, das ist nicht wahr. Das ist ein Witz, oder!«
»Vielleicht liegst du damit gar nicht so falsch, mein lieber Werner. Und zwar mit dem jüdischen Witz von Isidor, der sich taufen ließ und danach Siegfried nannte. Hilde Braun ist leider weder eine Hildebrand noch eine Brunhilde Braun, sondern eine geborene Rahel Braunfeld. Mein Vater hat es für angezeigt gehalten, unsere Namen zu ändern, als wir uns in Stuttgart niederließen. Vorher waren wir in Wien. Da hatte er eine Hutmacherfirma. ›Hüte-Braunfeld – Hoflieferant‹. Als die Doppelmonarchie zerbrach, änderten sich die Dinge rasch. Die Firma stand bald vor der Pleite, und so musste Vater sich nach einer neuen Bleibe für sich und uns umsehen. In Stuttgart waren jüdische Hüte aber auch nicht sehr beliebt und Hoflieferanten sowieso aus der Mode. Damit wir überleben konnten, haben wir uns alle christlich taufen lassen. Aus den Braunfelds wurde die Familie Braun. Aber das macht mich natürlich noch nicht zur Arierin, verstehst du?«
8
Am nächsten Tag warteten Hilde und Werner vor dem Schlafwagen unter den verräucherten Arkaden des Bahnsteigs auf die Abfahrt des Zugs vom Bahnhof Paris Est.
»Du hast mehr Erfahrung. Was sagt man in solchen Momenten?«, brach Hilde endlich das Schweigen.
»Na, so rührende Abschiedsworte eben.«
»Na gut. Dass du ein großer Fotograf und erfolgreicher Schwerenöter bist, wusste ich ja vorher schon. Aber jetzt weiß ich, dass du auch schwer in Ordnung bist. Wenn ich dir Kopfschmerzen bereitet haben sollte, tut mir das leid. Aber es ist nicht immer zu vermeiden – c’est la vie, so sagt man doch, nicht? Ich dank dir für alles, Werner. Werd dich nicht vergessen … So, jetzt bist du an der Reihe.«
»Ja, jetzt ich … Also, ich hab einfach keine Worte für den Streich, den du der ganzen arischen Rasse gespielt hast. Ich glaub, den werde ich der guten Leni Riefenstahl lieber ersparen. Soll sie doch weiter an das Gute glauben, und dass Deutschland die Welt erneuern wird. Ansonsten … Ich werd dich auch nicht vergessen, Püppchen. Bist das tollste Prachtmädel, das mir je begegnet ist, und das erste, das ich nicht rumgekriegt hab.«
Er wühlte in der Innentasche seines Sakkos, zog die Brieftasche heraus, drückte sie sich mit dem Armstumpf gegen die Brust, holte mit geschickten Fingern einen Scheck heraus und schob ihn in Hildes Reverstäschchen.
»Das ist ein dienstlicher Scheck über zweitausend Francs. Den hab ich mitbekommen für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Na ja, jetzt bist du eben dieses Unvorhergesehene. Steck ihn ein. Ich werde das schon irgendwie plausibel machen, bin schließlich ein alter Studiofuchs! Ja, und jetzt könntest du mich eigentlich auch zum Abschied küssen.«
Hilde umarmte ihn und küsste ihn inbrünstig auf die Wange. Dann beeilte sie sich zu sagen: »Ja, ja, ich weiß, so küsst die liebe Tante Frieda den kleinen Peter. Aber die Welt strotzt nur so vor Verliebten, während gute Tanten eine seltene Kostbarkeit sind. Ich hab dich wirklich gern!«
Die Lokomotive pfiff, der Schaffner forderte die Reisenden auf einzusteigen und ihr reserviertes Schlafwagenabteil aufzusuchen.
»Ick drück dir die Daumen, Hilde … oder wie du da noch mal auf Jüdisch heißt. Leicht wirst du es nicht haben, sag ich dir, aber du schaffst das schon. Verrät mir mein kleiner Finger. Bleib so lang auf dem Bahnsteig, bis ich im Abteil bin, sonst verpasst du noch das Allerwichtigste: dass ich dir aus dem Fenster mit dem Taschentuch winke!«
Doch als Werner die Scheibe seines Abteilfensters herunterzog, war Hilde schon nicht mehr da. Er entdeckte sie in der Menschenmenge, die sich zum Ausgang wälzte.
»Hilde!«, rief er ihr hinterher, und noch einmal: »Hilde!«
Doch sie drehte sich nicht mehr um, hob nur die Hand und winkte zum Abschied. Dann verlor sie sich in der Menge.
9
Man konnte schwerlich behaupten, dass Elisabeth Müller-Weisberg im engeren Sinn des Wortes »schön« war. Aber die Frau des Geigers Theodor Weisberg, der seit seiner Verhaftung am Abend des 9. November 1938 wie vom Erdboden verschluckt war, hatte ein aristokratisches Auftreten und eine ganz besondere Ausstrahlung. Ihr Profil wirkte nobel und stolz, ganz besonders jetzt, als sie in ihrem langen, erlesenen Blaufuchsmantel durch die verschneiten Straßen Dresdens schritt. Eine solche Dame war selbst für die Stadt Augusts des Starken, der es an altem Adel nicht mangelte, ein ungewöhnlicher Anblick, und man hätte sich nicht gewundert, bei einem Rundgang durch die Ausstellungsräume des Zwingers auch diese Dame porträtiert zu finden.