Leben aus zweiter Hand - Janina David - E-Book

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Janina David

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Beschreibung

Janina David, durch ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen »Ein Stück Himmel«, »Ein Stück Erde«, »Ein Stück Fremde« berühmt geworden, erzählt in diesem Roman die Geschichte der Sozialarbeiterin Victoria. Sie beschreibt das Leben einer Frau, die durch traumatische Erfahrungen und ihre Neigung, sich für andere bis zur Selbstaufgabe einzusetzen, in Depressionen versinkt und keinen Ausweg mehr zu sehen scheint. Ein fesselnder psychologischer Roman von großer Glaubwürdigkeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 650

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Janina David

Leben aus zweiter Hand

Roman

Aus dem Englischen von Michaela Huber

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]Leben aus zweiter Hand [Teil 1]Leben aus zweiter Hand [Teil 2]Leben aus zweiter Hand [Teil 3]

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Meine liebe Claire,

dieser Brief wird Dich überraschen. Abgesehen von einigen Ansichtskarten aus den Ferien habe ich Dir, glaube ich, noch nie zuvor geschrieben. Doch hier ist er: der erste und definitiv letzte Brief von Deiner lieben Freundin und einstigen Kollegin Victoria.

 

Victoria Bennet stand vom Tisch auf und zündete sich nervös eine Zigarette an. Sie hatte begonnen, endlich. Nach wochenlangen sorgfältigen Vorbereitungen – alles nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie vorausberechnet hatte – war sie bei der letzten Etappe des Rennens angelangt. Bilanz ziehen. Die letzte, endgültige Erklärung finden.

Ihr Plan – ihr Neujahrs-Vorsatz von diesem Jahr – war ihr so einfach und so verführerisch erschienen, in den frühen Morgenstunden jenes ersten Januartages, als sie schlaflos in ihrem Bett gelegen hatte, abwechselnd schwitzend und frierend, dauernd die Lage verändernd, sich herumwerfend, um den Schmerz in ihren Gliedern zu besänftigen – war es Arthritis, würde sie als Krüppel enden, wie Leah, hilflos an den Rollstuhl gefesselt? O Gott, nein. Gab es keine Möglichkeit, dem herannahenden Verhängnis zu entrinnen? Wäre es nicht besser, einfacher, für alle Beteiligten angenehmer, wenn sie aufhörte zu existieren? Ja. Victoria setzte sich in ihrem zerwühlten Bett auf. Dies also ist mein Neujahrs-Entschluß, der eine, den ich einhalten werde; die ganze Sache muß nur methodisch und ohne Sentimentalitäten angegangen werden. Niemand darf es wissen. Bis zum Schluß. Soll ich einen Abschiedsbrief hinterlassen? Wem? Wer würde es wissen wollen? Vater? Claire? Julia? Greg? Während sie an den Fingern abzählte, schlief sie ein.

Am nächsten Tag kehrte sie zu ihrem Plan zurück; sie würde keine unbezahlten Rechnungen hinterlassen. Keine Schulden. Auch keine schmutzige Wäsche. Stell dir bloß vor, was Martha dazu sagen würde … Dann der Letzte Wille und das Testament, sorgfältig durchdacht und bei ihren Rechtsanwälten hinterlegt. »Ich rechne damit, in den nächsten Wochen recht viel unterwegs zu sein. Man weiß ja nie …, ich will nicht, daß meine wenigen Freunde alle Entscheidungen treffen müssen …« Ein Lächeln, ein Schulterzucken: »Sicher bin ich neurotisch. Das Reisen ist heutzutage ja sicher, auch in den Fernen Osten … Wohin? Ach, Malaysia … mein Vater war dort … eine Plantage, um genau zu sein. Klingt das nicht großartig? War es allerdings gar nicht. Verdammt harte Arbeit, schreckliches Klima, hat die Gesundheit des Armen ruiniert. Muß ich hier unterschreiben? Ja, richtig, und die Zeugen? Hier … Vielen herzlichen Dank. Jetzt kann ich guten Gewissens losfliegen. Ja, werde ich. Bis dann …!«

Als nächstes: einige kurze, fröhliche Briefe an entfernte Bekannte, in denen von einem langen Urlaub die Rede war. »Habe beschlossen, das Heute zu genießen und das Morgen sich selbst zu überlassen. Werde ein bißchen auf Reisen gehen. Vielleicht sogar nach Polen. Möglicherweise finde ich noch einige Verwandte meiner Mutter, man weiß ja nie. Melde mich, sobald ich zurück bin.«

Der Winter war schon fast vorüber. Eisenhut und Schneeglöckchen und sogar schon ein paar Primeln blühten im Garten. Krokusse und Osterglocken bahnten sich ihren Weg durch die abgestorbenen Blätter des letzten Herbstes. Der Frühling würde bald kommen, und auch die gelegentlichen Morgenfröste konnten seine triumphale Ankunft nicht länger aufhalten. Victoria fühlte, wie plötzlich die Panik in ihr aufstieg: Es gab keine Zeit zu verlieren, sie hatte sich geirrt, als sie dachte, sie hätte noch Monate vor sich … sie mußte sich beeilen. »Sie muß gegangen sein, bevor auf der Welt wieder einmal die Knospen aufbrechen, bevor das Sonnenlicht die Erde überflutet und – für alle sichtbar – diese leere, nutzlose, überflüssige Existenz ins volle Licht rückt …«

Sie schob einen Stapel Kleidungsstücke, Papiere, Schuhe, Bücher und Fotografien in eine Plastiktüte, band sie mit einem Schnürsenkel zu und öffnete die Wohnungstür in der Absicht, das Bündel nach unten in die Mülltonne zu tragen. Jemand war dort unten im Hausflur, auf dem Treppenabsatz der ersten Etage. Es war Mrs. Morton, die langsam ihren Einkaufswagen die Treppe hinunterzog; die Räder schepperten auf jeder Stufe. Victoria zog sich zurück und schloß die Tür hinter sich.

Sie blickte sich in der Wohnung um und rang ungeduldig die Hände. In ihre Schreibmaschine auf dem Tisch war immer noch der Brief an Claire eingespannt, den sie heute morgen begonnen hatte. Wo war der Tag geblieben? Sie kehrte an die Arbeit zurück:

 

Wenn Du mich fragst, wohin ich gehe, Claire, so will ich es Dir jetzt sagen: Es gibt da eine Bucht an der Ostküste, auf dem Weg nach Aldeborough, wohin ich, wohin wir – Greg und ich – uns einmal im Nebel verirrt hatten.

*

Es war ihr erstes gemeinsames Wochenende gewesen. Greg mußte sein neues Auto einfahren. So ergab sich die Gelegenheit, aus London herauszukommen und einander besser kennenzulernen. Der Nebel überraschte sie auf einer einsamen, gewundenen Küstenstraße. Weiße Nebelschwaden senkten sich plötzlich vom Nachthimmel und schlossen sich wie die Hand Gottes um sie. Die Motorhaube des weißen MG verschwand vor ihren Augen. Greg stellte den Motor ab. »Wir werden es einfach aussitzen müssen«, sagte er. »Es kommt vom Meer herüber. Vielleicht ist der Spuk ganz schnell vorbei. Hoffen wir nur, daß sonst niemand auf dieser Straße fährt.« Sie machten Licht und lehnten sich unbehaglich in den niedrigen Sitzen zurück. Victoria bedauerte, nicht bei dieser Gelegenheit wenigstens einmal Hosen angezogen zu haben. Niedrige Sportsitze ruinieren weiße Röcke, weil der Saum zwangsläufig über den ölverschmierten Boden schleift. Doch seit sie erfahren hatte, was Ogden Nash über Frauen in langen Hosen gesagt hatte, war ihr Selbstvertrauen ernsthaft ins Wanken geraten:

Verhülle nur deine Beine in Hosen;

Es sind ja deine Beine, meine Liebe.

Du siehst göttlich aus, wenn du dich näherst –

Doch hast du dich einmal von hinten betrachtet?

Das kleine Gedicht trug den Titel »Wofür?« Victoria war sich nicht sicher, wie sie von hinten aussah, doch sie hatte das Gefühl, dies sei nicht der richtige Augenblick für Experimente.

Das Wageninnere füllte sich mit Zigarettenrauch. Draußen schien sich der Nebel noch zu verdichten. »Es ist eine Strafe«, dachte sie. »Gott straft mich für meine Sünden. Ich habe eine Affäre mit einem Mann, mit dem ich nicht verheiratet bin. Ich bin eine armselige, elende Sünderin. Wenn ich unversehrt hier herauskomme, verspreche ich …« Doch sie konnte sich nicht das Versprechen abringen, Greg aufzugeben. Wie albern, sicher würde Gott das verstehen? Was war schon Schlimmes dabei, mit einem Mann zu schlafen, wenn es doch ganz danach aussah, als würden sie ohnehin eines Tages heiraten? War es möglich, daß Er jede unserer Missetaten beobachtet und sofort bestraft? Nur Kinder glaubten an so etwas. Ich werde versuchen, bei der Arbeit besonders gut und aufmerksam zu sein, beschloß sie. Sie versprach nichts. Man verhandelt nicht mit Gott. Es war lediglich eine Entscheidung aus freiem Entschluß. Das hatte mit Greg nichts zu tun. Selbstverständlich würde ihre Arbeit von ihrem Glück profitieren. Und es war doch besser, zum Glück der anderen beizutragen, den Kranken und Bedürftigen zu helfen, als Greg aufzugeben. Wer hätte etwas von einem solchen Opfer? Würde sie etwa besser arbeiten, wenn es ihr schlecht ginge?

Der Nebel lichtete sich so schnell, wie er sich über sie gesenkt hatte, und sie fuhren weiter auf der im Scheinwerferlicht blaßgolden schimmernden Straße, bis sie vor einem weißgestrichenen Hotel am äußersten Ende der Küstenstraße hielten.

Es geht doch nichts über eine Klostererziehung, wenn es darum geht, einem die Wahrnehmung von »Sünden« in jeglicher Form lebenslang einzuimpfen, mit dem Erfolg, daß man ein so empfindsames Gewissen entwickelt, daß man jede Möglichkeit der Grenzüberschreitung bereits vereitelt, bevor einem die Idee dazu überhaupt kommt, überlegte sie später, als sie sicher im Bett lag und Gregs gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Es spielt keine Rolle, wie lautstark wir unsere intellektuelle Einsicht verkünden: »Aber meine Liebe, ich fürchte, ich gehöre schon lange nicht mehr zu den regelmäßigen Kirchgängern; ja, wieder eine verlorene Seele, magst du sagen; sicher, ich bedaure es manchmal, besonders an Ostern und an Weihnachten natürlich, aber das ist ohnehin schon so kommerzialisiert …« Doch beim Druck auf den richtigen Knopf, bei Angst zum Beispiel, kommt alles wieder hoch … Bitten, Gebete, reumütige und fieberhafte, tränenreich abgelegte Gelübde, sich zu bessern. Die Beichte: Ja, wenn ich nur … ach, um die Absolution zu erhalten, wie froh wäre ich, meine Buße auf mich zu nehmen, wenn ich nur … Und wenn die Gefahr vorüber war, welch glückselige Erleichterung dann das Gefühl mit sich brachte, wieder vom Schicksal begünstigt zu sein, die Vergebung errungen zu haben, rein zu sein, geliebt und in Sicherheit …

»Ich habe mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, daß du nicht schnarchst«, bemerkte sie am nächsten Morgen. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, als ob es den Nebel letzte Nacht nie gegeben hätte. Victoria fühlte sich wieder mutig.

»Du aber auch nicht.«

Er war dabei, sich vor dem Badezimmerspiegel zu rasieren, während sie sich quer über das Bett ausgestreckt hatte, auf die Ellbogen gestützt dalag und hinaussah aufs blaue Meer. Die Fensterscheibe hatte einen Sprung. Er zerteilte das Bild von Himmel und Meer, ein ungenauer Riß, der ihr Gesichtsfeld in zwei Hälften spaltete; wie jene schlecht aneinandergeklebten Plakathälften, bei denen ein Riß mitten durch ein lächelndes Gesicht geht oder ein Buchstabe in einem entscheidenden Wort fehlt.

Sie drehte den Kopf hin und her, und der Sprung ließ das Bild vor ihren Augen verschwimmen. Ein paar Köpfe waren auf dem Wasser zu sehen. »Hast du Lust, vor dem Frühstück noch eine Runde zu schwimmen?« fragte Greg.

»Sieht aus, als wäre es kalt.« Sie schauderte. »Ich werde lieber hier ein Bad nehmen.«

Sie gingen hinunter, folgten dem Duft von gebratenem Speck, der ihnen den Weg zum Frühstücksraum wies. Ein kleiner, dunkelhäutiger Kellner mit schwarzen Augen, schütteren schwarzen Locken und zurückweichendem Haaransatz brachte ihnen Kaffee.

»Komisch, hier an diesem abgelegenen Ort einen italienischen Kellner anzutreffen«, bemerkte Greg.

»Woher weißt du, daß er Italiener ist?«

»Na schau ihn dir doch an. Achte mal auf seinen Akzent.«

»Er könnte auch Spanier sein.«

»Italiener. Und nicht nur das; ich wette, er ist Neapolitaner.«

Als Auslandskorrespondent einer berühmten Zeitung hatte Greg viele Jahre in fernen Ländern verbracht und war stolz auf seine Fähigkeit, einen ausländischen Akzent genau identifizieren zu können, selbst wenn er die Sprache selbst nicht sprach. Als der Kellner mit ihrer Bestellung zurückkehrte, sagte Greg etwas auf Italienisch zu ihm. Der Mann blickte ihn zunächst verblüfft an, dann lächelte er breit: »Sie Ausländer? Woher kommen?«

Victoria kicherte. »Wir sind keine Ausländer. Wir glauben, Sie sind Italiener. Stimmt’s?«

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Ich nicht Italiener. Ich Brite«, verkündete er kühl und stolzierte davon.

Nun ja, vielleicht doch ein Spanier, kamen sie überein. Sie hinterließen ein großzügiges Trinkgeld unter dem Milchkrug, holten ihre Taschen und fuhren nach London zurück.

*

Victoria holte tief Luft, drückte ihre Zigarette aus und betrachtete noch einmal, was sie geschrieben hatte. Wenn das so weitergeht, werde ich für den Brief ein Jahr brauchen. Soviel Zeit hatte sie nicht.

 

Dies war das erste Mal, daß ich die kleine Bucht an der Ostküste sah, Claire. Ich bin später wieder dort gewesen. Aus offensichtlichen Gründen kann ich Dir keine genaueren Angaben darüber machen. Ich bin sicher, ich finde die Stelle ohne Schwierigkeiten wieder. Ein riesiger Baum, vermutlich ein Weißdorn, wächst dort auf halber Höhe des Kliffs. Gott weiß, wie er es geschafft hat, an einer solch exponierten Stelle zu überleben. Der Wind hat ihn in eine merkwürdige Form gebogen, die es ermöglicht, bequem zwischen seinen Wurzeln Platz zu nehmen und dabei von den überhängenden Zweigen so geschützt zu sein, daß niemand, der oben entlanggeht, sehen kann, was darunter ist, selbst jetzt nicht, wo die Äste kahl sind. Und bei dem Wetter würde ohnehin niemand das steile Kliff hinunterklettern. Also werde ich, sobald ich diesen Brief beendet habe, zu meinem Auto gehen und zu jenem Baum fahren. Diesen Brief werde ich unterwegs einwerfen. Ich werde das Auto ein Stück vor meinem Ziel abstellen und nur meine Tasche mit der Thermosflasche, dem Whisky und dem Vorrat an Tabletten mitnehmen. Ich werde mich gemütlich zwischen die Wurzeln auf den grasbewachsenen Abhang setzen, mit Blick aufs Meer, mich sicher wie in einer Wiege fühlen, und dann werde ich meinen Plan ausführen.

Jetzt, wo ich Dir den wichtigsten Teil erzählt habe, wirst Du vermutlich die übliche Frage stellen: »Warum?« Als ob du das nicht wüßtest. Denke an die Fakten wie mein Alter, meine Vergangenheit und meine Zukunftsaussichten.

Was mein Alter betrifft – gut, ich weiß, ich bin jünger als Du, und keine von uns ist, wenn man es relativ betrachtet, alt. Und wage es nicht, die Wechseljahre zu erwähnen! Die haben damit nichts zu tun. Ich bin noch nicht soweit, und außerdem werden sie ohnehin als Entschuldigung für jede ungewöhnliche Handlung im Leben einer Frau angeführt, ganz gleich, wie alt sie ist. Als Dot und Nigel sich endlich nach 15 Jahren Ehekrächen trennten, erzählte mir Nigels 20jährige Freundin allen Ernstes, es sei Dots Wechseljahre-Hysterie gewesen, die das Leben mit ihr so schwierig gemacht hätte. Dot war zu jener Zeit gerade 36, und es waren nicht die Wechseljahre, sondern Nigels Seitensprünge, die sie zur Raserei brachten. Als sie erst einmal frei war, sich ihr Leben nach eigenem Gutdünken einzurichten, hat sie sich in eine bemerkenswert gelassene und ausgeglichene Frau mittleren Alters verwandelt, und niemand hat es jemals wieder gewagt, ihr gegenüber das schreckliche Wort in den Mund zu nehmen. Roses Gehässigkeit wurde immer ihrem »schwierigen Alter« zugeschrieben. Dabei kenne ich sie jetzt beinahe acht Jahre, und sie ist nie anders gewesen. Als sie mit der Hormontherapie begann und sich ihre Stimmung nicht besserte, beschlossen wir, daß sie die Menopause jetzt rückwärts zurücklege und sich auch die nächsten acht oder mehr Jahre nicht ändern werde. Nach allem, was ich gehört habe, ist Rose schon in ihrer Jugend unmöglich gewesen.

Erlaube mir jedoch, zu meiner eigenen Geschichte zurückzukehren. Schließlich ist dies mein Abschiedsbrief an Dich. Ich bin jetzt auf der falschen Seite der 40er. Mein ganzes Leben lang habe ich fest daran geglaubt, jung zu sterben. Jedenfalls lange, bevor ich die 40 erreicht hätte. Ich weiß nicht, wer oder was mir diese Idee in den Kopf gesetzt hat. Vielleicht hat mir einmal eine Zigeunerin aus der Hand gelesen und mir einen frühen Tod vorhergesagt. Über 40 zu sein ist für sich genommen keine ausreichende Begründung dafür, sich das Leben zu nehmen, doch ich kann beim besten Willen nicht erkennen, warum ich weiterleben sollte. Mir scheint mein ganzes Leben wie eine lange Achterbahnfahrt, abwechselnd in die höchsten Höhen hinauf und in die tiefsten Tiefen hinab; je tiefer die Depression, desto größer die unausweichlich folgende Euphorie. Ich hatte mich schon an jenen Rhythmus gewöhnt und rechnete nicht mehr damit, daß sich an ihm etwas ändern würde. Die Höhen entschädigten mich immer für die Tiefen. Doch in den letzten Jahren scheint es nur abwärts, abwärts, abwärts zu gehen. Nicht in einem plötzlichen Fall, sondern in einem sanften Abstieg, den ich nicht aufhalten kann. Ich scheine einem unausweichlichen Ende zuzugleiten. Statt zu akzeptieren, daß es weitergehen wird, statt passiv zu warten und meine Tage mit bedeutungslosen Beschäftigungen zu füllen, ziehe ich es vor, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und einfach zu beschleunigen. Wie Du weißt, habe ich es nie leiden können, etwas dem Zufall zu überlassen. Also wäre es unlogisch, ausgerechnet jetzt damit anzufangen. Wir bemühen uns unser ganzes Leben lang, die Kontrolle darüber zu gewinnen, was wir tun und was uns angetan wird; warum sollten wir also nicht auch die Art unseres Todes bestimmen? Gibt es denn etwas Persönlicheres als den Tod?

Wir sind beide in unserem Beruf dem Tod in vielfältiger Form begegnet. Wir wissen, wie er aussehen kann. Warum sollten wir also darauf warten, bis wir von irgendeinem Gebrechen dahingerafft werden? Warum sollten wir auch noch die letzte Operation durchleiden, von der man sich nie mehr erholt? Oder den allmählichen entwürdigenden Prozeß der Senilität akzeptieren, wenn die Sinne absterben, die Wahrnehmungsfähigkeit, das Gedächtnis, die Fähigkeit, dieses oder jenes noch zu schätzen oder unter Kontrolle zu halten, verlorengeht? Warum auf den Schmerz warten, das Elend, die Verzweiflung des hohen Alters und der Hilflosigkeit? In wessen Namen sollten wir durchhalten bis zum bitteren Ende?

Ich teile Deinen religiösen Glauben nicht, der – da bin ich sicher – den Selbstmord verurteilt. Religionen sind so schnell bei der Hand mit Verurteilungen. All das Gerede von Liebe, Liebe, Liebe … ich werde dich lieben, wenn du das tust, was ich sage. Andernfalls wirst du zur Hölle fahren. Du kannst heute jede Zeitung aufschlagen und nachprüfen, was die Gläubigen einer bestimmten Religion den Gläubigen einer anderen Religion antun. Und dabei wird jede Armee mit aller Kraft daran glauben, daß Gott auf ihrer Seite ist. Reicht das nicht, uns von jedem Glauben zu kurieren?

Soweit zu Gott; nun will ich mich meinem Vater zuwenden. Auch er hat einen Anteil an meiner Entscheidung. Wenn unsere Beziehung eine andere gewesen wäre – wer weiß? Vielleicht wäre ich dann nicht die Art von Frau geworden, die …

*

Victoria seufzte und rieb sich die Augen. Sie stand auf, zündete sich eine weitere Zigarette an und trat ans Küchenfenster. Etwas Interessantes ging dort drüben im alten Lagerhaus auf der anderen Seite des Kanals vor sich. Von ihrem Standort hoch oben unter dem Dach hatte Victoria einen weiten Blick über die Bäume hinweg direkt in die großen quadratischen Fenster des schwarzen, grimmig aussehenden Gebäudes, das bis vor kurzem leergestanden hatte, offenbar zu langsamem Verfall verdammt. In den letzten Tagen jedoch, seit sie begonnen hatte, ihren Abschiedsbrief zu schreiben, war dort drüben auf allen Etagen Leben eingekehrt. Menschen bewegten sich in den düsteren Räumen, Fenster wurden geöffnet, Köpfe – alles junge Gesichter – reckten sich hier und dort heraus, beobachteten, was draußen vor sich ging, blickten hinunter zum Kanal und hinauf zu den Bäumen.

Gerade jetzt, als sie hinaussah und an ihrem Kaffee nippte, kletterte ein Mann auf ein Fensterbrett im ersten Stock, öffnete ein rußverklebtes Fenster und stand dort, Arme und Beine ausgestreckt, wie ein schwarzes, großes X im quadratischen Rahmen. Sie mußte wohl eine Bewegung gemacht haben, die seine Aufmerksamkeit weckte. Sein Gesicht wandte sich nach oben, ihr zu, eine Hand löste sich aus dem schützenden Rahmen. Er winkte ihr zu. Rasch trat Victoria zur Seite. Das Lagerhaus und seine neuen Bewohner gingen sie nichts an. Früher hätte sie die Veränderung begrüßt. Jetzt hatte sie nichts mehr mit alldem zu tun.

 

Sie trank ihren Kaffee aus, wusch die Tasse ab – seit Tagen benutzte sie jetzt nur noch eine Tasse, eine Untertasse und einen Teller, wusch sie nur ab, wenn sie für die nächste Mahlzeit gebraucht wurden, statt weiteres Geschirr aus dem Schrank zu nehmen. Irgendwie verstärkte das ihr Gefühl, sich von ihrer Umgebung zurückzuziehen; um sich nicht unnötig von den Objekten um sie herum stören zu lassen, benutzte sie nur das Notwendigste für ihre letzten, frugalen Bedürfnisse. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück. Die Dämmerung brach herein, und sie knipste die Lampe an. Dann schaltete sie sie wieder aus. Was sie ihrem Vater zu sagen hatte, konnte genauso gut in der Dunkelheit gesagt werden.

*

Mein lieber Vater,

(Würde ich einen Brief schreiben – ich würde so beginnen.)

Hier ist endlich mein Abschiedsbrief an Dich. Das letzte Glied einer langen und verwickelten Kette, die meine früheste Kindheit mit dem heutigen Tag verbindet. Unser ganzes Leben scheint eingebunden in zahllose Bogen Briefpapier, in allen Pastelltönen, manche mit Eselsohren, manche – wie peinlich – parfümiert, auf denen ich in den letzten Jahren mit einer Vielzahl farbiger Tinten versucht habe, mit Dir in – Verbindung? – nur in Verbindung zu bleiben? – einen Weg zu Dir zu finden, mich an Dich zu binden und Dich an mich, Dich dazu zu bringen, Notiz von mir zu nehmen, Dich zu zwingen, mir zu antworten, zu reagieren. Sollte Dir dies chaotisch erscheinen, so vergib mir. Ich schreibe nicht wirklich, und Du liest nicht mehr.

Da waren zuerst jene frühen Briefe, ein großes, ungelenkes Gekrakel an den liebsten Daddy, irgendwo dort draußen im Krieg. Der tapfere Daddy, der auf dem kalten und gefährlichen Meer segelte, mitten durch unaussprechliche Gefahren, verfolgt von einem teuflischen Widersacher. Geliebter, unsinkbarer Daddy. Ich betete jede Nacht und zweimal sonntags für Deine Sicherheit und hoffte, daß Du bald nach Hause kommen würdest. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, Du mögest zurückkehren, obwohl ich überhaupt nicht wußte, warum.

Du hattest einmal in bezug auf Greg gemeint, ich würde meine Zeit an den falschen Mann vergeuden. Ich wehrte mich dagegen. Doch daran war etwas Wahres. Sogar mehr, als Du ahntest. Ich hatte mir schon sehr früh in meinem Leben die schlechte Angewohnheit zugelegt, auf den falschen Mann zu warten – als ich auf Dich wartete, Daddy.

Erinnerst Du Dich an jenen Sommer im Krieg, als Du auf Urlaub nach Hause kamst, kurz nachdem Dein Schiff nach einem Torpedoangriff gesunken war? Wir lebten in der Hütte, Mutter und ich, weit von London und all seinen Gefahren entfernt. Dort waren wir einigermaßen glücklich. Zumindest ich. Bis Du kamst. Natürlich war ich zunächst sehr aufgeregt. Nach so langer Abwesenheit sehnte ich mich danach, meinen Heldenvater, der aus dem Krieg zurückkam, willkommen zu heißen. Schon allein Mutters tränenreiche Freude überzeugte mich davon, daß es sich tatsächlich um einen großen Augenblick handelte. Ich hatte Zeit, Dich in Deiner Abwesenheit ein wenig zu vergessen und in meiner Phantasie eine neue, glänzende Oberfläche zu schaffen, die allmählich den wirklichen Menschen überdeckte. Es war dieser farbig leuchtende Glanz, der zuerst abblätterte. Du warst weder so groß noch so umwerfend wie die Wachspuppe meiner Träume. Ich war in Deiner Abwesenheit beträchtlich gewachsen. Du hattest Dir einen Schnurrbart stehen lassen. Er war dick und kitzelte unangenehm, als Du mich küßtest. Und er roch nach Tabak.

Als ich mich in Deine Arme warf oder es wenigstens versuchte, da Du keine Anstalten machtest, mich aufzufangen, wurde mir mit scharfer Stimme befohlen, vorsichtig zu sein: Daddy war nach seiner Verwundung immer noch schwach, und ich war »ein solch großes und kräftiges Mädchen«. Also schlich ich mich in den Garten, fühlte mich wie ein Elefant und beobachtete, wie Du und Mutter Arm in Arm durch die Tür gingt. Seither brauchtest Du mich nur mit diesem ganz bestimmten Blick anzusehen – den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen langsam, mit traurigem Blick, über meinen Körper gleiten lassend –, und ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her, setzte mich auf meine Hände, verbarg meine Füße unterm Stuhl und fühlte mich riesig und plump und schuldig.

In der ersten Nacht nach Deiner Ankunft wurde ich in das kleine Schlafzimmer in der Mansarde gesteckt. Selbstverständlich konnte ich nicht weiterhin bei Mutter schlafen. Vielleicht war es die Art, wie es geschah … ohne ein Wort der Erklärung … Vielleicht hat Mutter auch etwas gesagt, im Vorübergehen, in ihrer fieberhaften, tanzenden Aufregung, Dich wieder zu Hause zu haben … Falls dies der Fall war, habe ich es in meinem verwirrten Kopf nicht mitbekommen. Doch was einen tiefen Eindruck hinterließ, war meine Verbannung unters Dach, wo der Wind die ganze Nacht heulte, die Katzen sich balgten und wie Säuglinge schrien und wo die Tauben in der Dämmerung wie ein Hagelsturm über die Ziegel ratterten. Die ganze Nacht fror ich, hatte Angst und war unfähig, ein Auge zuzutun.

Da ich in London aufgewachsen war, war diese Hütte mein erster Vorgeschmack auf das Landleben. Alles war neu und beängstigend: die vollständige Dunkelheit des Nachts, die Geräusche auf dem Bauernhof, das panikartige Auseinanderstieben der Gänse und Enten, der frühmorgens krähende Hahn. Heute sind mir solche Geräusche angenehm willkommen. »Zurück zur Natur«, rufen wir. »Hier gibt es frei laufende Hühner und Dünger ohne Gift, o glorreiche Ökologie …«

Damals war es ein Dschungel voll wilder Tiere, die unter meinem Fenster lauerten. Ich wollte zu Mutter und der Sicherheit unseres Himmelbetts zurück, das wir bis zu Deiner Ankunft geteilt hatten. Ich sehnte mich nach ihren tröstenden Armen, ihrer Wärme und den Geschichten, die sie mir flüsternd erzählte, bis ich einschlief.

Vermutlich fühlte sich Mutter auch unbehaglich, allein zu schlafen, und hatte mir deshalb erlaubt, ihr Bett zu teilen. In London hatte ich mich in meinem Kinderzimmer sehr wohl gefühlt, ohne mich jemals zu fürchten. Deine Rückkehr hat mich zum ersten Mal jene Schlaflosigkeit kosten lassen, von der ich seither immer wieder befallen werde.

Also sind bereits von so frühem Alter an die Dinge zwischen uns schiefgelaufen. Was nicht ungewöhnlich ist und nicht ernst genommen werden sollte. Die meisten meiner Kinderfreunde haben ähnliche emotionale Aufregungen durchgemacht, überall hat der Krieg das Familienleben zerstört, die Rückkehr der Väter die in ihrer Abwesenheit eng geknüpften Bindungen unterbrochen. Alle anderen scheinen sich gut damit abgefunden zu haben. Warum war es bei uns nicht so? Ich habe keine klare Erinnerung mehr an jenen Sommer noch an Dich. Ich glaube, ich versuchte, Dir aus dem Weg zu gehen; der wirkliche Vater widersprach der Phantasiefigur, die ich lieben gelernt hatte, zu sehr. Mein selbst gewähltes Exil im Garten oder bei den Dorfkindern war um so bitterer, weil davon zu Hause kaum Notiz genommen wurde. Vor Deiner Ankunft waren Mutter und ich unzertrennlich gewesen. Wir gingen überall gemeinsam hin: einkaufen, Besuche machen oder nur im Wald spazieren. Wir arbeiteten im Garten, kochten und nähten. Ich hatte dann das Gefühl, genauso sei es richtig. Mutter muß wirklich sehr einsam gewesen sein, um mich so nah bei sich zu dulden. Und schrecklich verzweifelt über ihre Verwandten in Polen. Wir waren in jenem Sommer 1939 in Warschau gewesen, hatten ihre Familie besucht, wenige Wochen vor dem deutschen Einmarsch. Als mit einem Engländer verheiratete Polin war sie der Neugier, den Fragen und dem Neid ausgesetzt. Und zu einem guten Teil auch der Bösartigkeit. Ich war kaum alt genug, um der Unterhaltung folgen zu können – ich habe immer bedauert, die Sprache so vollständig verlernt zu haben –, doch ich verstand genug. Ich wußte, wann sie unfreundlich waren, unsere Kleidung, Schuhe, Mutters Frisur kritisierten: »Was für ein verrückter Haarschnitt. So trägt man das also jetzt in London? So würde ich mich nie im Leben frisieren lassen! Schsch, das Kind … ach, ist schon in Ordnung, es versteht ja nichts. Ja, hier in Polen, da wissen die Frauen sich zu kleiden. Und sie verstehen sich auch noch auf ein paar andere Dinge … Bist du sicher, daß das Kind nicht …? Nein, wie sollte es …? Armes Wurm, sie hat die Haare ihres Vaters, wir können ihr nie vertrauen, keiner in unserer Familie hat jemals rote Haare gehabt … Ich hoffe, Wanda hat wenigstens nicht verlernt zu kochen. Wir müssen uns diesen Mann von ihr einmal gut ansehen, wenn er herkommt. Mal sehen, was an ihm so Besonderes ist. Warum ist das Kind so dünn? Was gibt sie ihm zu essen? Sagt doch glatt, es gibt in England keinen Sauerrahm, stell dir das vor. Was essen die da bloß?«

Als Du schließlich in Warschau ankamst, war es ein Empfang mit gemischten Gefühlen. Männern mit rotem Haar kann man niemals trauen – das war die allgemeine Überzeugung. »Jeder weiß doch, daß sie in der Liebe falsch sind. Wart’s nur ab, in ihrer Ehe wird irgend etwas schiefgehen.«

Aber es gab keine Zeit zu warten. Du kamst, um uns zu drängen, nach Hause zurückzukehren. Es würde Krieg geben, sagtest Du. »Unsinn«, sagten die Tanten. »Hitler würde das niemals wagen. Wir haben die beste und tapferste Armee in der Welt. Die Deutschen sind am Verhungern. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« Wir kehrten mit dem letzten Schiff zurück, das Danzig verließ, bevor das Debakel begann.

Mutter muß tatsächlich in jenem Sommer 1942, als wir in die Hütte zogen, sehr einsam gewesen sein. In London gab es zumindest Geschäfte, Theater und das Kino, das sie so liebte, und natürlich all ihre Freunde. Auf dem Land gab es nur mich.

Wenn Du länger geblieben wärest, hätten sich die Dinge vielleicht zum Besseren gewendet. Vielleicht hätte jemand von Euch, nachdem der Freudentaumel der Wiedervereinigung einmal vorüber gewesen wäre, meine Bestürzung bemerkt und versucht, etwas von Eurer Freude auch mit mir zu teilen? Doch Dein Urlaub war bald zu Ende, und ich nahm Mutter ihren Kummer bitter übel. Zumindest würde ich wieder in ihr Bett zurückkehren können, dachte ich. Doch als es dann soweit war, hörte ich sie nur in ihre Kissen weinen, genauso wie sie es getan hatte, als Du uns das erste Mal verlassen hattest, um in den Krieg zu ziehen. Allerdings weinte ich damals mit ihr, und jetzt war ich ungeduldig angesichts einer Trauer, die ich nicht teilen konnte.

Du hast Dir in jenen letzten wenigen Tagen bewußt einige Mühe gegeben, freundlich und väterlich zu mir zu sein, doch ich konnte keinen Grund darin sehen, anzunehmen, was Du zu bieten hattest, oder irgend etwas von mir aus zu unternehmen, da Du ja wieder gehen würdest. Wenn Du uns wirklich liebtest, würdest Du bleiben, dachte ich. Wenn Du niemals wieder auf Urlaub zurückkehrtest, würde Mutter jetzt nicht weinen. Ich beschloß, meine Zuneigung zu bremsen, bis sich die Situation geklärt hatte. Vielleicht bis nach dem Krieg, wenn die Dinge sich normalisiert hätten. Ich hatte natürlich keine Vorstellung davon, was das bedeutete, da ich zu jung war, mich noch an Einzelheiten unserer Vorkriegsexistenz zu erinnern. Doch ich wiederholte diese Formel im Geiste immer wieder und fand etwas Trost in den Worten. Es gab jetzt keinen Grund zur Aufregung. Es konnte alles bis nach dem Krieg warten.

Wie sehr jene frühen Pflanzen doch Wurzeln geschlagen haben, Daddy. Was habe ich seither anderes getan, als »unnötige« innere Anteilnahme zu vermeiden, vor dauerhaften Bindungen davonzulaufen, die ausgestreckte Hand zu ignorieren, da ich mir in meiner Phantasie bereits die Abschiedsszene ausmalte? Ich wußte immer, wie eine Beziehung enden würde, noch bevor sie recht begonnen hatte.

»Das Problem bei euch Leuten ist, daß ihr zuviel unterwegs seid«, meinte vor kurzem eine meiner polnischen Verwandten, die mich hier besuchte. »Für euch ist es ein Leichtes, mal eben ein Flugzeug zu besteigen und nach Amerika, Australien oder zum Wochenende ›nur‹ an die Costa Brava zu fliegen. Du müßtest einmal eine Weile in unserem System leben, nur um zu erkennen, wie sich deine Wahrnehmung der Menschen in deiner Umgebung verändert, wenn du weißt, daß du sie in genau derselben Umgebung, denselben Häusern, derselben Kleidung den Rest deines Lebens sehen wirst.«

Ich dachte darüber nach: Es war nicht so sehr die Tatsache, daß meine alten Freunde wegzogen, emigrierten oder zur Arbeit ins Ausland gingen, obwohl das oft genug geschehen ist; sondern ich suchte mir meine Freunde (und Liebhaber) unter jenen, die nur auf der Durchreise waren. Amerikanische Gastprofessoren, australische Ärzte, die ihre Doktorarbeit hier schrieben, und Auslandskorrespondenten, die überhaupt kaum hier waren. Von der ersten Begegnung an bestand also die Aussicht, wieder auseinanderzugehen. Ob der Abschied eine Erleichterung sein oder mir das Herz brechen würde, konnte nur die Zeit entscheiden. Bis dahin würde ich im Heute leben, keine Pläne schmieden, die Alltagspflichten einer langweiligen, gewöhnlichen Existenz beiseite lassen, denn »dies« würde ohnehin nicht für immer dauern. Erst wenn »dies« vorbei wäre, würde das wirkliche Leben beginnen. Irgendwann, in unbestimmter Zukunft. Ich beklage mich nicht, Daddy. Es war alles mein eigenes Werk. Meine eigene Entscheidung.

»Paß gut auf deine Mutter auf«, sagtest Du an Deinem letzten Urlaubstag. Feierlich versprach ich, genau das zu tun. Und ich meinte es auch so. Ich war so ernsthaft, wie eine Siebenjährige nur sein kann. Daher die Schuldgefühle, die kindischen, unermeßlichen, lebenszerstörenden Schuldgefühle, die Du niemals verstanden hast.

Natürlich wollte ich mit ihr nach London zurückkehren, und als sie sich weigerte, mich mitzunehmen, schmollte ich, weinte, benahm mich in der Tat sehr schlecht und wurde für den Tag und die folgende Nacht zu June Powell geschickt, um dort, mehr oder weniger in Ungnade gefallen, auf Mutters Rückkehr zu warten. Du kennst den Rest besser als ich, da sie sofort nach Dir schickten und Du nach London gingst, um Dir das Haus anzusehen, bevor Du zu uns herunterkamst. Es war ein Volltreffer, sagten sie. Nichts war von dem Haus übriggeblieben. Von Mutter keine Spur. Keine Spur. Doch einige Leute hatten sie hineingehen sehen, kurze Zeit bevor die Bombe fiel, und niemand hatte sie herauskommen sehen. Sie war hineingegangen, um unsere Winterkleidung und andere Kleinigkeiten herauszuholen, insbesondere meinen Malkasten und für sich einige Musterstickereien, um uns beide an den folgenden Winterabenden zu beschäftigen. Und ich hatte so sehr darauf gedrängt, mit ihr zu gehen …

Als Du mich bei June besuchen kamst, saß ich auf dem Dachboden, die Hände über den Ohren, den Kopf unter einem Kissen. June hatte mir bereits auf möglichst schonende Weise beigebracht, daß Mutter nicht zurückkehren würde. Ich wollte Dich nicht sehen. Besonders nicht vor all diesen Fremden. Warum kamst Du nicht zu mir auf den Dachboden, um mir zu sagen, daß Du mich nicht verantwortlich machtest für das, was geschehen war. Die Powells hatten meine Beteuerungen nie verstanden, daß »es nicht meine Schuld war«. Möglicherweise hinderte Dich Dein eigener ungeheurer Schmerz – ich weiß, Du liebtest sie – daran, die rechten Worte zu finden. Vielleicht fehlte den Gefühlen zwischen uns die notwendige Intensität, um vermitteln zu können, was Du mich zweifellos verstehen lassen wolltest. Selbstverständlich hast Du mich nie für Mutters Tod verantwortlich gemacht, wie könntest Du auch? Weshalb also wuchs in mir die Überzeugung, daß – Du manchmal wünschtest, ich wäre anstelle von Mutter in das Haus gegangen?

Bei der einen Gelegenheit, als ich Dich mit dieser Anschuldigung konfrontierte, hast Du mich entsetzt angestarrt. Nicht wegen der Bedeutung, die in ihr lag: Dein Mangel an väterlichen Gefühlen für mich – sondern wegen meiner blasphemischen Mißachtung der natürlichen Ordnung der Dinge, Dein liebster Satz, der die Welt für Dich wieder in Ordnung brachte, nach dem Eltern natürlicherweise ihre Kinder liebten und umgekehrt. Aus dem deutlich hervorging, daß Du mich liebtest und mir niemals irgend etwas Böses wünschen könntest. Du hast Dein ganzes Leben an diesem rührenden Glauben festgehalten, Vater, aber irgendwie ist es Dir nicht gelungen, mich davon zu überzeugen.

*

Victoria blickte auf ihre Armbanduhr und seufzte. Es war Zeit zu gehen. Zwar hatte sie in den letzten Wochen kaum mehr Freunde gesehen, doch diese Gelegenheit konnte sie sich nicht entgehen lassen. Sie würde sich von einigen ihrer engsten Freunde verabschieden können, ohne sie die Wahrheit erkennen zu lassen. Und während sie das dachte, spürte sie, daß sie rationalisierte, Entschuldigungen erfand, wo sie doch vorgehabt hatte, bis zum Ende keine Ausnahmen mehr zu machen. Also ist dies die Ausnahme, die die Regel bestätigt, beschloß sie. Julia und Stan gehörten zu ihren engsten Freunden, das eine beinahe perfekte Paar, das sie kannte, eine solide Ehe, drei kluge Kinder, ein Haus, das Freunden und Fremden immer offenstand, in der jeder, der Geld, eine Unterkunft, eine Mahlzeit oder eine Schulter zum Ausweinen brauchte, jederzeit willkommen war.

Victoria zog ihren alten Bademantel aus, in dem sie jetzt ihre meiste Zeit verbrachte, und zog ein rotes Kleid an, mit langem Rock und gekräuseltem Oberteil. Auch das Kleid war sichtlich alt. Das Gummiband des Oberteils war ausgeleiert und ließ ihren Busen ungewöhnlich schlaff aussehen. Zögernd zupfte sie an den losen Fäden herum. Da es sich um Julias Party handelte, war es vielleicht gar nicht nötig, ein Kleid anzuziehen? Ein paar alte Jeans und ein Pullover würden auch genügen. Andererseits: Es handelte sich um ein besonderes Ereignis, ein Hochzeitstag …, selbst Julia würde möglicherweise dem Anlaß entsprechend angezogen sein. Sie beschloß, das Kleid anzubehalten. Sie bürstete sich das Haar und trug sorgfältig grünen Lidschatten auf. Rotes Haar und ein rotes Kleid. Wer hatte noch gesagt, das passe nicht zusammen? Grüner Lidschatten war vermutlich inzwischen »out«, doch das war der einzige Lidschatten, den sie auf ihrem Toilettentisch noch fand. Und sie würde keinen mehr kaufen. »Kurz bevor sie sich umbrachte, wurde die Verstorbene gesehen, wie sie ein neues Abendkleid und Make-up einkaufte. Deutliche Anzeichen dafür, daß sie geistig verwirrt war.«

Sie warf sich einen alten Wollschal über die Schultern, nahm ihre Handtasche, die Schlüssel und ein in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den kompliziert aus vielfarbigen Schleifen gebundenen Stern nicht zu knicken, der die Mitte des Päckchens einnahm und in den sie eine Grußkarte gebunden hatte. Beim Einsteigen ins Auto verfing sich ihr Absatz im Kleidersaum. Sie hörte den Stoff reißen und fluchte. Sie würde nicht wieder nach oben gehen und den Schaden reparieren. Vor der Abreise noch einmal zurückzugehen brachte Pech. Sie konnte sich jetzt keine Katastrophe mehr leisten. Nicht in diesem späten Stadium ihres Planes. Sie würde sich einfach nur eine Sicherheitsnadel von ihrer Gastgeberin leihen.

Wie lange hatte sie Julia nicht gesehen? Victoria konnte sich nicht mehr erinnern. Nicht seit Julias Rückkehr aus den Staaten. In diesem Fall würde ihre Freundin sicherlich ihr Äußeres verändert und ein neues Glaubensbekenntnis angenommen haben. Außerdem würde sie gerade eine neue Diät ausprobieren. Julia sog Modeerscheinungen, Dialekte, Trends und Überzeugungen wie ein Schwamm aus der Luft um sich herum auf. Das einzige, was sich niemals veränderte, war ihre hundertprozentige Begeisterung für die jeweils neueste Entdeckung. Claire betrachtete das als einen Mangel an psychischer Stabilität und prophezeite ihr einen totalen Zusammenbruch in nicht allzu ferner Zukunft, doch seit Victoria und Julia sich vor etwa 25 Jahren im College zum ersten Mal getroffen hatten, blühte und gedieh Julia weiter. Von einer Welle unfehlbaren Vertrauens in ihre jüngste Entdeckung getragen, war es ihr irgendwie gelungen, einen gutaussehenden und erfolgreichen Ehemann an Land zu ziehen, drei intelligente, wenn auch schwierige Kinder großzuziehen und eine bunte Vielfalt an Tätigkeiten auf dem sozialen Sektor anzunehmen. Sie nahm an Ausbildungsprogrammen für Studenten teil, unterrichtete in Colleges und Krankenhäusern, saß in unzähligen Komitees, verfaßte Zeitschriftenaufsätze über kontroverse Themen und war eine der originellsten Verfechterinnen freier Geburtenkontrolle für Minderjährige und freier Abtreibungen. Zu ihren gegenwärtigen Projekten gehörte ein Leihmütter-Beratungsdienst, den sie aufgrund ihrer Amerika-Erfahrungen aufgebaut hatte.

Die Kinder blieben meist in der Obhut ausländischer Aupair-Mädchen und lernten früh, für sich selbst zu sorgen. Die Zwillinge entwickelten ihre eigene Geheimsprache und schienen emotional selbstgenügsam zu sein, solange sie zusammen waren. Tristan, der älteste Sohn, war am liebsten mit Erwachsenen zusammen. Die Kinder wurden nie von den informellen Treffen ausgeschlossen, die in Julias Haus stattfanden, und durften bei allem, was ihre Mutter tat, zuhören und sich beteiligen. Victoria erinnerte sich lebhaft, wie der zehnjährige Tristan einmal eine hochschwangere Frau, die zu Gast war, fragte, warum sie nie an eine Abtreibung gedacht hätte, solange es noch Zeit gewesen sei. Als die schockierte Frau protestierte, sie hätte sich ihr Baby sehr gewünscht, zuckte Tristan ungeduldig mit den Schultern. Hatte sie noch nie etwas von Überbevölkerung gehört? Was sei mit all den verhungernden Kindern in Afrika? Und den Chinesen, die sich wie die Kaninchen vermehrten? »Sie haben bloß kein soziales Gewissen, stimmt’s?« meinte er zum Schluß und ging türenknallend aus dem Zimmer.

»Ich fürchte, all die ausländischen Au-pair-Mädchen hatten einen schlechten Einfluß auf seine Grammatik«, seufzte Stan, »aber wenn ich versuche, ihn oder die Mädchen zu korrigieren, beschuldigt mich Julia, elitär zu sein. Vermutlich bin ich es auch. Ich bin eben so aufgewachsen und finde es sehr schwierig, das konventionelle Eltern-Kind-Verhältnis zu durchbrechen.« Er seufzte erneut, entschuldigte sich und verschwand in seiner Dunkelkammer. Seitdem die Kinder auf der Welt waren und Julia sich mit ganzem Elan in ihre Arbeit stürzte, hatte er sich das Fotografieren als Hobby zugelegt und verbrachte den größten Teil seiner Freizeit damit, auf dem Lande mit einer ganzen Ansammlung von Kameras und komplizierter Ausrüstung herumzustreifen und mit »Aspekten der Realität« zu experimentieren.

»Wir müssen die Welt um uns herum auf neue Weise betrachten. Ich suche nach Mitteln, das einzufangen, was ich wirklich sehe. Wobei es sich nicht um konventionelle Betrachtungsweisen handelt. Wie weiß ich, daß das, was ich sehe, das gleiche ist, das ein anderer sieht, wenn er dasselbe Objekt betrachtet? Wie kann man sich dessen sicher sein? Was ist Realität? Wie soll man sie definieren? Existiert das Objekt an sich?« Seine Experimente trugen zu seiner Unsicherheit über die Natur des Universums noch weiter bei und führten zu immer längeren Aufenthalten in der Dunkelkammer. Schließlich ging er dazu über, Fotos mehrfach zu belichten und auf diese Weise seltsame Schattenspiele zu kreieren. »Situative Vereinfachungen« nannte er sie. Er plante eine Ausstellung seiner Arbeiten unter dem Titel »Die Essenz des Augenblicks«.

Victoria fand diese Bilder irritierend, während Julia – wie immer – ermutigend reagierte. »Warum soll er kein Hobby haben, wenn er es braucht? Es ist zwar kostspielig, aber wir können es uns leisten. Jedenfalls zahlt er es aus eigener Tasche. Wir können nicht alle irgendwelche Abendkurse in – Töpferei oder Polsterei oder irgend etwas anderem belegen. Wir sind nicht sehr praktisch veranlagt in unserer Familie. Stan hat eine besondere künstlerische Ader.«

Claire hatte ihnen vor kurzem erzählt, sie habe in Abendkursen eine Tischler- und Schreinerausbildung begonnen. Nun war sie beleidigt. Sie betrachtete Stans vielschichtige Komposition und bemerkte: »Mir scheint, Stan versucht, dem Universum eine Art Ordnung überzustülpen. Er hat eine ganz merkwürdig chaotische – hmm – Weltanschauung, findest du nicht auch?«

»Keine Ahnung, was du meinst.« Julias Stimme klang kühl, aber höflich. »Stan ist ein ganz einfacher Mann ohne jeden Schnörkel. Ich kenne ihn in- und auswendig. Schließlich ist er mein Mann.«

Doch all das hatte sich vor langer Zeit abgespielt, vor Julias Aufenthalt in Amerika, wo Stan zwei Jahre als Dozent gearbeitet hatte. Victoria hatte ihre Freundin seit ihrer Rückkehr nur einmal gesprochen, und Julia war völlig aus dem Häuschen gewesen:

»Es war die herrlichste Zeit meines Lebens. Wie du weißt, bekam ich keine Arbeitserlaubnis, also habe ich alle möglichen Kurse belegt. Mein Gott, ich hätte nie gedacht, daß es für mich noch so viel zu lernen gibt! Das hat mein ganzes Leben verändert!«

»Was genau hast du gemacht?«

»Oh, eine ganze Menge! Einen Fotokurs und ein Filmdiplom zum Beispiel. Darüber werde ich dir aber mehr erzählen, wenn wir uns sehen. Ich mußt jetzt gehen. Ich habe noch einiges in der Dunkelkammer zu tun.«

»Stans Dunkelkammer?«

»Ja natürlich, Dummchen. Nur daß es nicht mehr seine ist. Na ja, nicht ganz. Er war sehr lieb und läßt mich rein, wann immer ich will. Er hat sich aus der Fotografie ein wenig zurückgezogen.«

Das wette ich, dachte Victoria. Armer Stan. Sie hoffte, sein nächstes Hobby würde er vor Julia retten können, zumindest so lange, bis er selbst keine Lust mehr dazu hatte. Vielleicht würde er auch etwas finden, für das sie kein Interesse aufbrächte? Doch Victoria konnte sich beim besten Willen kein Thema vorstellen, für das Julia kein Interesse entwickeln könnte und das sie, wenn sie es einmal aufgegriffen hatte, nicht vollständig okkupierte. Sie hatte das Gefühl, daß Stan dazu verurteilt war, im dunkeln zu tappen und jedesmal aufs neue weitere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu finden, bis er die Suche entweder leid war oder – die Erleuchtung gefunden hatte.

*

Victoria parkte vor dem großen, im gregorianischen Stil erbauten Haus in einer Straße in Islington. Der Garten machte einen hoffnungslos verwilderten Eindruck, der Rasen erstickte vor Moos und Unkraut, die einst blühenden Rosenbüsche wucherten wild. Seit Jahren hatte sie niemand beschnitten. Schon von draußen war das Geräusch der Party zu vernehmen. Die Eingangstür stand offen. Victoria trat ein und wünschte, sie hätte sich nicht die Mühe gemacht, herzukommen. In dieser Menge wäre ihre Abwesenheit von niemandem bemerkt worden. Sie zögerte. Es war immer noch Zeit, sich zurückzuziehen.

Wie ein großer grellbunter Vogel stürzte Julia sich auf sie, umarmte sie, in eine atemberaubende Parfümwolke gehüllt. »Victoria, Liebling, wie herrlich, dich wiederzusehen! Du siehst ja großartig aus! Komm rein und laß mich dich vorstellen … aber du kennst ja sicher die meisten Leute hier … Hört mal alle zu, das hier ist Victoria, du mußt mich entschuldigen, ich muß nach dem Essen schauen, komm zu mir in die Küche auf einen Schwatz, wenn du willst, oh, ich habe dir ja so viel zu erzählen …!« In ihrem blumengemusterten Folklorekleid, das mit Perlen, Pailletten und Spiegelstückchen bestickt war, das Haar in langen Löckchen über die Schultern fallend, lief sie trippelnd davon; die Absätze ihrer roten Stiefeletten waren bis aufs Holz heruntergelaufen, das Leder blätterte ab. Sie roch stark nach »Tweed«, Deodorant und Gin.

Wie betäubt machte Victoria ein paar Schritte hinter ihr her, bis sie von einer Gruppe der Gäste gestoppt wurde. Offenbar kannten sich alle untereinander. Sie schienen tief in angeregte und intime Gespräche versunken zu sein, die einen Neuankömmling ausschlossen. Überall sah sie in Gesichter, die redeten, tranken und aus kleinen Schüsselchen gereichte Knabbereien kauten. Alle Rücken wandten sich ihr zu. Wo immer sie sich näherte, rückten Gruppen dichter zusammen, Körper drückten sich näher an andere Körper, und Köpfe neigten sich enger zueinander. Stan war nirgendwo zu sehen.

»Die liebe Julia arrangiert immer solch herrliche Parties, auf ihr Wohl.« Ein bärtiger Mann erhob das Glas in ihre Richtung. Victoria stellte fest, daß auch sie ein Glas in der Hand hielt. Sie beäugte das bärtige Gesicht. Wer versteckte sich da hinter all dem Haar? Kannte sie ihn?

»Sie scheinen sich nicht mehr an mich zu erinnern. Ich bin Barry. Wir haben uns bei einer dieser Parties hier schon einmal gesehen, genau hier in diesem Raum.«

»Tut mir leid, ich kann mich …«

Der Wein war sauer.

»Aber ich erinnere mich an Sie. Sie trugen ein sehr ähnliches rotes Kleid, und ich dachte noch, wie mutig und unkonventionell, Rot zu tragen, bei diesem flammend roten Haar. Ich finde das sehr – gewagt – sehr – provokativ …«

»Ach ja?«

Der Wein schmeckte wie reiner Essig. Er roch nach Aceton. Sie blickte sich verzweifelt nach dem Ausgang um.

»Sie sind Sozialarbeiterin, stimmt’s? Sehen Sie, ich erinnere mich genau. Sie und Julia. Sie haben irgendwann früher einmal zusammen gearbeitet.«

»Sie haben wirklich ein gutes Gedächtnis. Ja, Julia und ich haben im College zusammen gewohnt. Und seitdem sind wir befreundet. Was ist denn das für ein Zeug? Doch nicht etwa Wein?«

»Gut, nicht? Ich weiß auch nicht, wie Stan es schafft, ein solch köstliches Gesöff beizuschaffen. Muß sich wohl mit einem Weinimporteur angefreundet haben. Guter alter Stan … Soll ich Ihr Glas nachfüllen lassen?«

»O nein, vielen Dank, du liebe Zeit, sind das die Kinder? Wie sie gewachsen sind! Ich muß ein paar Worte mit den Mädchen wechseln. Entschuldigen Sie mich …«

Dawn und Dove, die Zwillinge, saßen in ihren langen, gerade geschnittenen Kleidern zusammen auf einem Bohnensack auf dem Fußboden. Das Haar fiel ihnen dicht über die Augen; man hätte unmöglich sagen können, wohin sie blickten. Tristan hatte sich auf dem Teppich im Nachbarzimmer ausgestreckt und sah fern, das Getöse um ihn herum nahm er gar nicht wahr.

Die Mädchen mußten jetzt 14 oder 15 sein. War Tristan drei oder fünf Jahre älter als sie? Sie wünschte, sie könnte die Gesichter der Zwillinge erkennen. So die Haare in die Augen hängen zu haben, war doch sicher schädlich. Sie trugen keine Brille mehr. Vermutlich hatten sie jetzt Kontaktlinsen. Früher hatten sie niedlich ausgesehen mit ihren runden Kassengestellen. Natürlich hatte Amerika all das verändert. Ihr IQ lag angeblich über 140. Kleine Genies? Wie schade, daß sie nie einen BH tragen würden. Sie würden ihre Figur fürs Leben ruinieren. Wenn ihnen erst mal die Brüste bis auf die Taille hingen, wäre es zu spät, daran noch etwas zu ändern. Vielleicht kümmerten sich kleine Genies um so etwas nicht, aber warum tat es nicht wenigstens Julia? Woher hatten sie diese scheußlichen Kleider? Die armen Kleinen … Nicht einmal Heimkinder würden so etwas tragen … Außerdem lag es am Alter, daß sie so schüchtern, verlegen und gleichzeitig feindselig waren, was in ihrem Fall doppelt stark wirkte. Doch auch das war keine Entschuldigung, derartig auszusehen …

Ihr fiel ihr eigener zerrissener Saum ein. Sie schlich an der Wand entlang, sich den Blicken der anderen Gäste entziehend, zur Küchentür und drückte die Klinke herunter. Der Gestank nach verbranntem Curry überwältigte sie. Das Küchenfenster und die Hintertür standen weit offen, der Rauch quoll bis unter die Decke, und der Luftzug fegte einen Stapel Papierservietten in die Luft wie Herbstblätter im Sturm.

»Mach bloß die blöde Tür zu, der verdammte Curry ist angebrannt! Sprich mich jetzt bloß nicht an, ich versuche gerade, die Situation zu retten. Wir haben nichts anderes zu essen im Haus!« Julias weite Ärmel flatterten über dem Kessel auf dem Herd in Wolken von blauem Qualm. Victoria zog sich auf den Flur zurück und betrat hastig die Treppe. Irgendwo in einem der Schlafzimmer mußte es einen Nähkorb geben, der eine Sicherheitsnadel enthielt. Danach könnte sie ja auch nach Hause gehen. Sie war jetzt sicher, daß niemand sie vermissen würde.

Das erste Schlafzimmer gehörte sicher den Zwillingen. Das zweite mußte Tristans sein. Selbst wenn Julia nie nähte, was wahrscheinlich war, wenn man den Zustand der Kleider der Mädchen betrachtete, mußte sie ganz bestimmt irgendwo Sicherheitsnadeln haben … Victoria öffnete eine weitere Tür.

Der wogende Haufen auf dem Bett trennte sich in zwei Hälften. Das Mädchen zog hastig ihr Kleid herunter. Der Mann, bärtig und zerzaust, starrte sie wütend an: »Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, hier einfach hereinzuplatzen … o mein Gott, Victoria …«

»Stan?«

Unfähig zu denken oder sich daran zu hindern, marschierte Victoria in das Zimmer, durchquerte den Raum bis zum Fenster, nahm den großen, mit rosafarbenem Stoff überzogenen Nähkorb mitsamt seinem Holzständer, stolzierte zurück zur Tür und schloß sie wortlos hinter sich. Auf dem Treppenabsatz blieb sie einige Sekunden stehen, sich an dem Korb mit beiden Händen festklammernd, dann überließ sie ihn seinem Schicksal und floh aus dem Haus.

*

Wie du weißt, Claire, bin ich ohne beide Elternteile aufgewachsen. Vater war in Malaysia, als ich in die Hauptschule ging, und davor war er im Krieg. Als er zurückkam, war ich erwachsen. Vater kehrte nach England zurück, als ich mich gerade von Greg getrennt hatte. Er schien zutiefst geschockt zu sein, als ich ihm an einem regnerischen Tag kurz nach seiner Rückkehr alles erzählte, doch ich hatte ein gebrochenes Herz, und er war schließlich mein Vater, der mich seinen eigenen Ansprüchen gemäß lieben, umsorgen und beschützen sollte. Aber er hat mich niemals auch nur ansatzweise verstanden.

Statt dessen gab er mir Geld, um mein jetziges Haus zu kaufen und mit Möbeln auszustatten, während er in das große Haus einzog. Martha und Ilona zogen kurz darauf bei ihm ein. Wieder war ich mir selbst überlassen.

Hast Du jemals Ilona kennengelernt, Claire? Weißt Du, daß Ilona Marthas Tochter ist? Und wie gut kennst Du Martha? Bist Du ihr jemals begegnet? Die polnische Haushälterin meines Vaters – wie rührend, daß er sich wiederum eine Polin gesucht hat –, Witwe eines ungarischen Aristokraten (ich hatte immer meine Zweifel, ob das wohl stimmte, aber was soll’s …). Ilona war etwa 14 Jahre alt, als sie im Haus meines Vaters eintraf. Sie hat England wieder verlassen, es ist jetzt schon ein paar Jahre her, und ich habe seither nichts mehr von ihr gehört. Ich habe keine Ahnung, was genau sie in Australien macht. Martha schweigt sich über dieses Thema ungewöhnlich aus. Ilona hatte gerade ihr Studium an irgendeiner Uni hier in London beendet, als es zu Hause irgendeinen Riesenkrach gab, eine jener geheimnisvollen Familienkatastrophen, die für Außenstehende undurchdringlich sind, und sie ging fort.

Solange sie hier war, lebte sie bei Martha und meinem Vater. Vater schien für Ilona immer eine Schwäche zu besitzen. Meiner Theorie nach war das die einzige Gelegenheit für ihn, sich väterlich zu verhalten, da er nie zuvor ein Kind unter seinem Dach hatte aufwachsen sehen. Er war recht gut darin. Weit besser, als er es bei mir gewesen war.

Nein, ich bin nicht eifersüchtig, Claire. Ich war eher angenehm berührt zu sehen, wie lieb er manchmal sein konnte und welch schüchterner Mann er war. Ich bedauerte es ein wenig, daß ich damals schon zu alt war, um mit ihm in den Zoo zu gehen oder im Park Ball zu spielen. Er kaufte ihr sogar einen Hund, doch Martha wollte den nicht im Haus haben – sie haßt Tiere –, und so wurde er weggegeben. Ich war Ilona nie böse, weil sie die Aufmerksamkeit meines Vaters genoß. Schließlich hatte sie ihren eigenen Vater schon sehr früh verloren. Was mich allerdings ärgerte, war Vaters blindes Vertrauen darin, daß Ilona einfach perfekt war und so etwas wie die unbefleckte Reinheit verkörperte. Und die ungeheure Anschuldigung, ich hätte ihr ihre einzige Liebe weggenommen, aus Verachtung oder als Racheakt. Rache wofür? Als ob mir das etwas ausgemacht hätte!

In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, daß Ilona mit dem betreffenden Mann eine Affäre hatte. Und selbst wenn es ihre erste war, so war er sicherlich nicht der letzte Mann ihres Lebens. Wir machen schließlich alle mal solche Erfahrungen und überwinden sie irgendwie, ohne gleich pikiert nach Australien zu verschwinden! Alberne Ilona … Wie dem auch sei, ich habe mir oft gewünscht, wir beide könnten uns noch einmal begegnen, damit ich ihr erklären könnte, was sich wirklich abgespielt hat. Und daß es nicht mein Fehler war …

Ich habe immer behauptet, daß Ilona auf Vater einen guten Einfluß hatte. Sie hat ihm eine Menge beigebracht, zunächst über Kinder, dann über junge Frauen. Er wagte ihr gegenüber nicht, so streng zu sein, wie er es zu mir gewesen war, vermutlich, weil sie nicht seine eigene Tochter war. Er hat sie nie für etwas bestraft und allen, die es hören wollten, nur Gutes über sie erzählt. In meinem Fall war es genau umgekehrt. Wie ich seine Briefe fürchtete … Tropisches Donnerwetter aus dem fernen Malaysia in einem Luftpostumschlag. Doch bei Ilona verlor er nie die Geduld. Allerdings glaube ich nicht, daß er sie mit Geschenken überhäufte, außer an Geburtstagen, an Weihnachten und bei ähnlichen Gelegenheiten. Er wußte nie, was er ihr kaufen sollte, bei mir war es dasselbe, er zog es vor, statt dessen Geld zu geben. Doch ich bin den Verdacht nicht losgeworden: Immer wenn es um mich ging, transformierten sich seine Gefühle irgendwie in Bargeld. Als ob Geld die einzige Möglichkeit für ihn wäre, seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, vielleicht auch sein Bedauern darüber, daß er nicht in der Lage war, etwas anderes anzubieten.

*

Ja, Daddy, Du hattest absolut recht. Ich habe mein ganzes Leben lang an die falsche Tür geklopft, bin immer wieder aufs neue zu Dir zurückgekehrt, habe Dir kindisch meine verletzten Gefühle gezeigt, mein zerbröckelndes Selbstvertrauen, in der Hoffnung, Du würdest Dich meiner erbarmen, mir vergeben und mir helfen, ein neues Leben anzufangen. Jedesmal bekam ich – einen Scheck. Ich habe mir einzureden versucht, dies sei die einzige Form des Gebens, die Du kanntest. Geld war der Ausdruck Deiner Zuneigung. Ich mußte es akzeptieren, um mich Dir nicht weiter zu entfremden. Du magst sagen, das sei eine bequeme Ausrede. Deiner Erfahrung nach weigerten sich nur Dummköpfe, Geld anzunehmen. Jeder hatte seinen Preis. Du stelltest keine Bedingungen. Ich konnte es immer gut gebrauchen, besonders bei meinem Gehalt. Du hast Dir nie vorstellen können, daß man in einem kleinen Zimmer – das auch noch jemand anderem gehörte – leben konnte, nur wenig Kleidungsstücke und kein Auto besaß, nie in Urlaub fuhr, und dies dem Komfort vorziehen könnte, der sich mit Geld – Deinem Geld – kaufen ließ. Auch wenn Du keine Bedingungen stelltest, waren die Zinsen, die Du verlangtest, mehr wert als das Leben.

Um weitere Ratenzahlungen zu vermeiden, gehe ich, wohin ich gehe. Selbst wenn Du nicht mehr da bist: Meine Schuld an Dich bleibt ungetilgt.

Was wolltest Du erreichen? Meine Liebe erkaufen? Dabei hast Du doch immer alle meine Versuche, Dir meine Zuneigung zu zeigen, zurückgewiesen – mehr noch: lächerlich gemacht. Vielleicht war ich ein wenig unbeholfen und verlegen bei meinen jugendlichen Annäherungsversuchen. Wir hatten nie Zeit, zusammenzuwachsen und uns kennenzulernen. Nach Mutters Tod hast Du mich bei June Powell zurückgelassen und gingst zurück zur See. Nach dem Krieg kehrtest Du kurz zurück, nur um mir eine gute Schule zu suchen, und dann gingst Du wieder fort, nach Malaysia. Ich hatte Verständnis für Dein Bedürfnis, den Rest Deines Lebens in warmem Klima zu verbringen. Jene Verfolgungsjagd in der Arktis, von der ich erst nach dem Krieg erfuhr, muß jeden Mann davon haben träumen lassen, in ein tropisches Paradies zu entkommen. Es war einfach Pech, daß Du ausgerechnet Malaysia gewählt hast.

Es ist sinnlos, Fragen zu stellen, auf die es niemals eine Antwort geben wird. Ich weiß, warum Du nach Malaysia gingst. Es erschien damals ausgesprochen vernünftig. Niemand konnte ahnen, daß das Klima dort Deine bereits angegriffene Gesundheit ruinieren würde, niemand die politischen Entwicklungen vorhersehen, die Dich schließlich nach England zurückbrachten. Irgendwann zwischendurch, bevor Du Dich im Dschungel niederließest, hast Du auch einmal Warschau besucht, um herauszufinden, ob Mutters Familie den Krieg überlebt hatte. Sie hatte nicht überlebt.

Was mich angeht, so betrachtete ich Deine Rückkehr nach England als eine Art Wunder. Greg hatte mich gerade verlassen. Wir hatten einige Jahre zusammengelebt. Es spielt keine Rolle, wie viele Jahre und wie das alles angefangen hatte, es zählt nicht mehr. Du hast den Mann nie leiden können, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben. Warum? In jenen letzten Wochen, als ich schon wußte, daß er gehen würde, hoffte ich, daß etwas geschehen würde: daß wir heiraten und gemeinsam England verlassen würden. Er sollte für zwei Jahre nach Rußland gehen. Ich konnte ihm dorthin nicht folgen, ihn nicht einmal besuchen, wie ich es getan hatte, als er Europa bereiste. Ich wußte, unser gemeinsames Leben war vorüber.

Auch als ich noch mit ihm zusammenlebte, war ich mir seiner Gefühle für mich nie sicher. Ich hatte den Verdacht, daß er mir »untreu« war. Es gab andere Frauen. Auch wenn wir verheiratet wären, würde es immer andere geben. Ich war nicht in der Lage, das zu akzeptieren. Und wie sehr Du es mißbilligt hättest … Mißbilligung war immer Deine Stärke, Vater; sie stand Dir großartig, wie ein altmodischer Opernumhang. Vor meinem geistigen Auge sah ich Dich immer in ein wehendes schwarzes Cape gehüllt, scharlachrote Blitze Deines schrecklichen Zorns versprühend. Ich hatte immer Angst vor Gewitter, weißt Du. Ich kann nichts dafür. Wenn es blitzt, springe ich auf vor Entsetzen. Ich wäre verrückt geworden in Malaysia …

Wir haben nicht geheiratet, Greg und ich, weil er mich nie gefragt hat. Wir haben einander geschrieben, nachdem er gegangen war. Hin und wieder haben wir uns in all jenen Jahren Briefe geschrieben. Er kann so amüsant schreiben, so scharfsinnig, prägnant, witzig. Schließlich ist das sein Beruf, und er ist gut in seinem Beruf. Also obwohl wir in Verbindung blieben und uns sogar einige Male trafen – nun ja, nur zweimal, das habe ich Dir nie erzählt, nicht wahr? –, wußte ich, ich konnte nicht auf Deine Sympathie rechnen, und Deine Verachtung konnte ich nicht ertragen. Also ist – obwohl Greg und ich in den letzten Jahren unseren Kontakt wieder intensiviert haben und obwohl seine Ehe inzwischen gescheitert ist und ich weiß, daß er bald nach England zurückkehren wird – alles tot zwischen uns. Als ob da nie etwas gewesen wäre. Wohin ist all das verschwunden? Wie können sich zwei Menschen so verändern? Wie ist es nur möglich, einen Teil seines Lebens zu leugnen, so zu tun, als ob er keine Rolle mehr spielt, ihn zu ignorieren – nein, nur so zu tun, als ob, als ob das alles ohnehin nie eine besondere Rolle gespielt hätte …?

Wann waren wir echt? Wann waren wir aufrichtig? Wer von uns log? Bin ich es heute, in meiner Weisheit der mittleren Jahre, oder war ich es vor 15 Jahren, mich verbrennend, weinend, planend und hoffend, bereit, mit allem fertig zu werden, was auf mich zukommen würde, außer mit dem einen, das sich als Wahrheit herausstellen sollte: daß er niemals die Absicht hatte, sich den Rest seines Lebens mit irgendeiner Frau abzuplagen. Jedenfalls war es damals so. Und ganz sicherlich nicht mit einer, die so intensiv, beharrlich und kompromißlos war in ihrer bürgerlichen Rechtschaffenheit wie ich. Die gerade genannten Attribute stammen von ihm. So hat er mich gesehen.

Er verließ mich einen Monat vor Deiner Rückkehr aus Malaysia. Das Intervall dazwischen verbrachte ich damit, zu packen und mit meinen wenigen Habseligkeiten von dem Häuschen, das wir gemeinsam bewohnt hatten, in jenes düstere möblierte Zimmer zu ziehen, in dem Du mich vorfandest, und damit, die Überreste unseres gemeinsamen Lebens auf verschiedenen feuchten Dachböden und in Garagen von Freunden unterzubringen. Ich lehnte das Angebot von Wohnungen, gemeinsam geteilter Häuser oder Gästezimmer ab. Ich war entschlossen, mich aus jener faszinierenden, aber ewig sich wandelnden Welt der Journalisten, Künstler und Schmetterlinge des Showgeschäfts zurückzuziehen, bevor die dünne Schicht meiner äußeren Haltung zu sichtbar abbröckelte. Ich würde nicht »das Mädchen, das Greg verlassen hat«, sein. Auch dann nicht, wenn ich immerhin »das Mädchen« sein würde, also nur eine aus seinem Fanclub. Denn mehr als alles andere war mir wichtig, nicht mit »denen« in einen Topf geworfen zu werden.