Leben bis zuletzt - Sven Gottschling - E-Book

Leben bis zuletzt E-Book

Sven Gottschling

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Beschreibung

Ein Buch über die Angst vor dem Sterben, das mit jeder Seite Mut macht – für mehr Lebensqualität am Lebensende "Wir können nichts mehr für Sie tun" – diesen Satz, vor dem sich so viele fürchten, gibt es bei dem Palliativmediziner Sven Gottschling nicht. Sterbenskranken Menschen die verbleibenden Tage, Wochen und Monate und manchmal auch Jahre mit bestmöglicher Lebensqualität zu füllen und den Angehörigen eine anhaltende Erinnerung an das gute Ende eines geliebten Menschen zu bereiten, sieht er als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Wie das ganz praktisch möglich ist, welche Mythen über das Sterben es dabei aufzuklären gilt, wie wir uns selbst darauf vorbereiten und als Angehörige damit umgehen können, beschreibt der Palliativmediziner in einer für medizinische Laien verständlichen Sprache. - Was hilft wirklich gegen Beschwerden am Lebensende wie Schmerzen, Übelkeit, Luftnot und Erschöpfung? - Wo ist der richtige Ort zum Sterben: Zuhause, unterstützt durch einen ambulanten Hospizdienst, im Krankenhaus, im Hospiz, auf der Palliativstation? - Wie begegnet man der Sprachlosigkeit – als Betroffener, als Angehöriger, gegenüber Kindern? - Wo bekomme ich Hilfe und die beste Unterstützung für meine ganz individuellen Bedürfnisse? Anhand der Geschichte zweier jungen Frauen zeigt Prof. Dr. med. Sven Gottschling in einem Bonuskapitel, wie man dem Tod selbst in düsteren Augenblicken das Bedrohliche nehmen kann. Denn Gottschling ist sich sicher: Es kann immer geholfen werden. Man muss sich nur die Mühe machen, genau hinzusehen, um eine humane Sterbebegleitung und damit ein Leben bis zuletzt zu ermöglichen.

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Seitenzahl: 286

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Prof. Dr. Sven Gottschling | Lars Amend

Leben bis zuletzt

Was wir für ein gutes Sterben tun können

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]VorwortIdaErstes Kapitel »Das ist doch wahnsinnig belastend. Ich könnte das nie!«Zweites Kapitel Sterben und Tod – Mythen und FaktenMythos 1: Sterben und Tod sind leidvoll und schmerzhaftDie körperliche Dimension des SchmerzesDie soziale Dimension des SchmerzesDie psychische Dimension des SchmerzesDie spirituelle Dimension des SchmerzesMythos 2: Ärzte als gottgleiche LebenszeitvergeberDie VerdrängerDie PlanerMythos 3: Nahrung und Flüssigkeit sind LebenserhaltungMythos 4: Schmerzmittel machen süchtigVorurteil 1: Morphin macht süchtig/abhängigVorurteil 2: Morphin bekommt man zum SterbenVorurteil 3: Sobald man Morphin bekommt, dämmert man nur noch so vor sich hinVorurteil 4: Man darf Morphin nicht zu früh einsetzen, sonst verliert es seine WirkungVorurteil 5: Der Einsatz von Morphin beschleunigt den TodVorurteil 6: Morphin hat eine DosisobergrenzeVorurteil 7: Morphin führt zu AtemdepressionVorurteil 8: Morphin wird von vielen Patienten nicht gut vertragenMythos 5: Man muss sich zwischen Lebenszeit oder Lebensqualität entscheidenWas ist eigentlich Lebensqualität?Was sich sterbenskranke Kinder [...]Mythos 6: Man darf einem Menschen nicht die Hoffnung nehmenWas ist Hoffnung überhaupt und worauf dürfen wir eigentlich hoffen?Ein kurzer Exkurs zum Thema LoslassenDrittes Kapitel Beschwerden am Lebensende und was wir wirklich tun könnenWarum die Angst vor Schmerzen tatsächlich unbegründet istDie 10 Regeln der Schmerztherapie»Muss ich wirklich nicht elendig ersticken?« Wie Luftnot wirksam gelindert werden kannDer Atemnotplan»Ich fühle mich zum Kotzen!« Wege aus der ÜbelkeitWas kann man gegen Übelkeit tun?Nachts, wenn es dunkel wird. Wie man der Angst begegnen kannWovor haben Patienten Angst jenseits körperlichen Leidens?Erschöpfung: Wenn die Batterie komplett leer ist und was man dagegen tun kannWie kann man Patienten in solchen Situationen helfen?Neuropsychiatrische Symptome: »Hilfe, ich erkenne meinen eigenen Partner nicht mehr!«Was tun bei Unruhe und Verwirrtheit?Warum einfach, wenn man daraus auch ein Drama machen kann?Die letzten Stunden im Leben eines Menschen. Was ich unbedingt über das Sterben wissen sollte, damit es seinen Schrecken verliertWoran erkennt man, dass die letzten Tage oder Stunden gekommen sind? Oder anders gefragt: Wie stirbt man richtig?Was gilt es in der Sterbephase sonst noch zu beachten?Notfälle: Was zu tun istSchmerzenAtemnotEpileptische AnfälleBlutungenViertes Kapitel Kommunikation mit lebensbegrenzend erkrankten Menschen, deren Angehörigen und beteiligten KindernWahrhaftigkeit am Krankenbett – Wovor haben wir Ärzte eigentlich solche Angst?Sterbende sind Lebende!Wenn es ans Sterben geht, ist Bescheidenheit angesagtSchweigen kann etwas sehr Wertvolles seinDie Phantasie ist immer schlimmer als die WirklichkeitUnvoreingenommen seinVerdrängung ist absolut in OrdnungGespräche sind immer Gespräche gegen die AngstDer Tod ist der unwiderruflichste BeziehungsverlustWorte können Leben verlängern, aber auch verkürzenEigene Ängste und Fettnäpfchen im Umgang mit SterbenskrankenÜber das Sterben reden: Wenn Kinder dem Tod begegnenTodesverständnis – Todeskonzepte von KindernAdäquate TrauerbegleitungKinder unter drei JahrenKinder zwischen drei und sechs JahrenKinder zwischen sechs und neun JahrenKinder über zehn JahrenSituationsgerecht offen und ehrlich handelnFür ein Gespräch über den Tod gibt es keine AltersbeschränkungDigitale Zombies – Der Tod im Zeitalter von Facebook & Co.Humor am Lebensende: Lachen bis zum letzten AtemzugFünftes Kapitel Wo bekomme ich Hilfe?Sterben zu HauseAmbulante HospizdiensteDie Rolle der HausärzteWie bekomme ich professionelle Unterstützung für zu Hause?Sterben in einer EinrichtungDie Normalstation: Wecken, Waschen, Wenden – morgens um halb sechs im MehrbettzimmerDie Intensivstation: von Kabeln, Schläuchen und MaschinenDie Palliativstation: Würde, Nähe und Ruhe – Hand in Hand mit bestmöglicher medizinischer Versorgung. Geht das?Das stationäre Hospiz: Todeshaus oder das Zuhause bis zum Tod?Sechstes Kapitel Sterbeverhinderung, Lebensverlängerung oder Sterbehilfe?Sterbehilfe – eine StandortbestimmungDie Beihilfe zur SelbsttötungEin Blick zu unseren Nachbarn in EuropaSchweizNiederlandeBelgienLuxemburgÖsterreichUmsorgen oder Entsorgen?Verlauf ohne PalliativversorgungMöglicher Verlauf des Falles bei adäquater palliativmedizinischer VersorgungUmsorgen oder entsorgen?Zwei Frauen – zwei SchicksaleSophie M.AnnaDanksagungListe nützlicher Websites (alphabetisch)Wollen Sie unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen?

Für die besten Kinder auf diesem Planeten:

Leonie, Lilou, Levy, Lenyo

dieses Buch ist für Euch

Ein furchtbarer Sturm kam auf. Der Orkan tobte. Das Meer wurde aufgewühlt und meterhohe Wellen brachen sich ohrenbetäubend laut am Strand. Nachdem das Unwetter langsam nachließ, klarte der Himmel wieder auf. Am Strand lagen aber unzählige von Seesternen, die von der Strömung an den Strand geworfen waren. Ein kleiner Junge lief am Strand entlang, nahm behutsam Seestern für Seestern in die Hand und warf sie zurück ins Meer.

Da kam ein Mann vorbei. Er ging zu dem Jungen und sagte: »Was du da machst, ist vollkommen sinnlos. Siehst du nicht, dass der ganze Strand voll von Seesternen ist? Die kannst du nie alle zurück ins Meer werfen! Was du da tust, ändert nicht das Geringste!«

Der Junge schaute den Mann einen Moment lang an. Dann ging er zu dem nächsten Seestern, hob ihn behutsam vom Boden auf und warf ihn ins Meer. Zu dem Mann sagte er: »Für ihn wird es etwas ändern!«

Verfasser unbekannt

Vorwort

von Professorin Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann

Als Pfarrerin habe ich immer wieder erlebt, dass die Angehörigen im Trauergespräch sagen: »Mit dem Tod hatten wir doch gar nicht gerechnet!« Die Wahrheit war allerdings oft: Über den Tod hatten die Sterbenden und ihre Liebsten einfach nicht gesprochen. Es ist erstaunlich, dass der Tod alle angeht, aber so selten Gesprächsthema ist. Sogar in einer Situation, in der allen Beteiligten klar ist, dass es auf das Sterben zugeht, wird es ignoriert oder tabuisiert, trauen Menschen sich nicht, offen auszusprechen, was alle ahnen oder wissen. Je mehr ein Thema jedoch beiseitegedrängt wird, desto höher werden die Ängste. So kommt es sicher dazu, dass so viele Menschen sagen: Im Ernstfall will ich mir schnell und schmerzlos das Leben nehmen können. Auf keinen Fall will ich irgendjemandem zur Last fallen oder in eine für mich nicht erträgliche Situation kommen, die ich selbst nicht steuern kann.

Wer sich mit dem Tod befasst, Sterbende besucht oder gar begleitet, ein Hospiz kennenlernt, ändert den eigenen Zugang. Für mich hat der Tod etwas von seinem Schrecken verloren, seit ich erlebt habe, wie Menschen ihr Leben ausgehaucht haben, welchen Frieden das Loslassen des Lebens auch bedeuten kann. Den Tod mitzuerleben ist eine ungeheuer tiefe Erfahrung, die ich nicht missen möchte. So mache ich anderen immer wieder Mut, Sterbende zu besuchen, die Hemmung abzulegen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Es gibt in dieser Hinsicht Gott sei Dank positive Entwicklungen. Ich freue mich darüber, dass immer öfter Krankenhäuser Sterbende nicht abschieben oder ignorieren, sondern ihnen Zeit und Raum und Ruhe geben. Immer öfter haben Angehörige den Mut, Sterbende bei sich zu behalten und sie persönlich zu begleiten, oft unterstützt durch ambulante Hospizdienste. Und dank eines großen ehrenamtlichen Engagements gibt es immer mehr Hospize, die ein Sterben in Würde ermöglichen.

Ich selbst bin Christin, und das Psalmwort »Meine Zeit steht in deinen Händen« ist mir ein Wegweiser. Nicht ich bestimme über meine Lebenszeit, sondern sie ist geschenkt von Gott, das glaube ich. Und so, wie ich diese Zeit bei der Geburt aus Gottes Hand nehme, so lege ich sie nach einer Lebensphase, in der ich versucht habe, nach Gottes Weisungen zu leben, in Gottes Hand zurück. Auf diese Weise fühle ich mich gehalten und getragen im Leben, im Sterben und darüber hinaus. Der Tod ist da kein Tabu, sondern ein Teil meines Lebens.

Den Schmerz will ich nicht leugnen, den Tod und Abschied, vor allem allzu früher Abschied, mit sich bringen. Religion ist kein Betäubungsmittel, kein »Opium des Volkes«. Aber wir nehmen dem Tod einen Teil seiner Macht über uns, wenn er nicht der ist, »dessen Namen wir nicht nennen«. Deshalb ist es gut, dass dieses Buch den Tod schildert, darstellt, seine verschiedenen Facetten benennt. Und es ist auch gut und wichtig, die Fragen offen stellen zu dürfen, auch Ratschlag zu erhalten, wenn ich überlege: Wie will ich sterben? Oder: Wie begleite ich einen Menschen auf dem letzten Weg? Offen auch meine Ängste aussprechen zu dürfen, ist so hilfreich!

Nun weiß ich, dass den Kirchen immer wieder unterstellt wird, mit ihren kritischen Anfragen an »aktive Sterbehilfe« verfahre sie nach einem Verbotsmechanismus. Ich will niemandem etwas verbieten. Aber ich habe den Eindruck, wir verlieren die Geduld mit dem Sterben und damit die Geduld mit den Sterbenden. Auch der Tod soll schnell und effektiv, gewissermaßen machbar, ja ökonomisch vertretbar sein, und unter unserer persönlichen Kontrolle stehen. Aber wir können nicht über alles im Leben verfügen, und das ist gut so. Zuzulassen, dass Sterben seine Zeit braucht und dass es sich dabei nicht um verlorene Zeit handelt, sondern um tiefe menschliche und zwischenmenschliche Erfahrung, das verändert den Blick und vertieft das Leben. Natürlich ist es ökonomisch schwer darstellbar, einem Sterbenden die Hand zu halten. Aber es wäre eine arme Gesellschaft, die das nicht unterstützt.

So freue ich mich über dieses Buch. Sven Gottschling räumt als erfahrener Arzt mit Ängsten und Mythen auf. Ich habe in letzter Zeit durchgehend erlebt, dass Menschen ohne Schmerzen in den Sterbeprozess gehen konnten, wo die Palliativmedizin verfügbar war, und Gottschling bestätigt, dass das möglich ist. Vor allem die Angst, an Schläuchen ausgeliefert zu sein, kann genommen werden. Das Sterben zuzulassen, es nicht zu verzögern, sondern so zu begleiten, dass es in Würde möglich ist, darum geht es.

Oft habe ich auch erlebt, wie dankbar Angehörige zurückblicken, die diesen Prozess bewusst miterlebt und begleitet haben, in aller Offenheit mit Blick auf die Situation. Ein Abschied in Klarheit und Würde ist etwas anderes, als wenn so vieles unausgesprochen bleibt, der Tod einfach nur verdrängt wird.

Wir können viel für ein gutes Sterben tun. Und das wird auch unser Leben verbessern. So wünsche ich »Leben bis zuletzt« viele Leserinnen und Leser, die angerührt und aufgewühlt werden, ja, die sich angeregt fühlen, über das Sterben ins Gespräch zu kommen – ohne Angst.

 

Berlin im März 2016

Margot Käßmann

Ida

Ida ist über neunzig, als sie unangekündigten Besuch bekommt. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie sich und ihren ebenfalls über neunzig Jahre alten Lebensgefährten, der an einer leichten Form der Demenz erkrankt ist, weitestgehend selbständig versorgt. Abgesehen von einer Putzhilfe und etwas Unterstützung beim Einkaufen, sind die beiden auch im hohen Alter gut miteinander klargekommen. Ida hat jeden Tag gekocht und nebenher noch intensiven Kontakt zu vielen Nachbarn aus der Wohnanlage gepflegt.

Der ungebetene Gast schleicht sich recht unspektakulär in Idas Leben. Sie bemerkt eine leichte Schwäche in einem ihrer Arme und kommt sprachlich ein wenig durcheinander. Als sie zur Abklärung ins Krankenhaus gebracht wird, bestellt sie bei ihrer Tochter statt des Nachthemdes mit kurzen Armen ein Nachthemd mit kurzen Kerzen. Leider bleibt es nicht bei diesem ersten kleinen Schlaganfall, und so folgt wenige Tage später ein zweiter, ein wesentlich massiverer. Die Situation verschlimmert sich. Idas linke Körperhälfte ist nun vollständig gelähmt, und sie verliert ihr Bewusstsein. Die Familie findet am Krankenbett zusammen und wird von der jungen Stationsärztin, die man für dieses Gespräch auserkoren hat, darüber informiert, dass es ein schwerer Schlaganfall sei und man jetzt einfach abwarten müsse. Angesichts der üblichen altersbedingten Begleiterkrankungen und des hohen Alters der Patientin könne der aktuelle Zustand aber auch bedeuten, dass es kein gutes Ende nehmen würde.

Ida wird in ein Einzelzimmer ans Ende der Station verlegt, und man sichert der Familie die bestmögliche medizinische Versorgung zu. In all den Jahren war sie stets der Dreh- und Angelpunkt der Familie und hat ihre eigenen Bedürfnisse immer zurückgestellt, um für alle da zu sein. Der Familienrat beschließt ohne zu zögern, dass von jetzt an rund um die Uhr jemand bei ihr bleiben wird, um für sie da zu sein. Nachts ist dafür der Enkel zuständig. Er ist Mitte zwanzig, studiert Medizin, hat gerade Semesterferien und somit viel Zeit. Außerdem ist er eine Nachteule.

In den kommenden acht Tagen bis zu ihrem Tod lernt diese Familie sehr viel über das Sterben im Krankenhaus, Kommunikation mit Angehörigen, Schmerztherapie, Flüssigkeitsgabe und die Sinnhaftigkeit von Routineabläufen in Krankenhäusern. Ida hatte keine Patientenverfügung hinterlegt, aber jedem in der Familie ist völlig klar, dass eine so aktive, lebenslustige, in höchstem Maße selbstbestimmte Frau wie sie in einem derartigen Zustand nicht hätte weiterleben wollen. Einstimmig wird der Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen und der Verzicht auf die Verlegung auf eine Intensivstation im Falle einer weiteren Verschlechterung des Zustandes besprochen und festgelegt. Es sollen lediglich lindernde und begleitende Maßnahmen durchgeführt werden. Ida soll, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, sterben dürfen.

Sie werden mittlerweile unschwer erraten haben, dass ich dieser junge Medizinstudent war – und Ida meine geliebte Oma. Ich möchte Ihnen gerne vermitteln, wie hilflos, zum Teil auch nutzlos ich mich trotz einer gewissen medizinischen Vorbildung (zwei Jahre Rettungssanitäter im Rahmen des Zivildienstes, vier Jahre Medizinstudium bis zu diesem Zeitpunkt) während dieser Zeit gefühlt habe.

In den nächsten Tagen durften wir im Krankenhaus einige interessante Erfahrungen machen. Nachdem von unserer Seite, also der Familie, klar und deutlich ausgesprochen und sogar schriftlich dokumentiert wurde, dass Ida sterben darf, fand bei ihr plötzlich keine reguläre ärztliche Visite mehr statt. Kein einziges Mal haben wir einen der Oberärzte, geschweige denn den Chefarzt zu Gesicht bekommen. Im Laufe der kommenden Woche gab es noch zwei Gespräche zwischen der Familie und der Stationsärztin. Beide Gespräche wurden jedoch vehement von der Familie eingefordert. Wir hatten allerdings das Gefühl, dass diese junge Ärztin mit der Gesamtsituation kolossal überfordert war. Es kam uns so vor, als habe man die jüngste und unerfahrenste Ärztin vorgeschickt, um den lästigen Teil zu erledigen, sprich die nervende Familie der Patientin ruhigzustellen. Zum einen delegiert man unangenehme Tätigkeiten bekanntlich gerne an das schwächste Glied der Kette, zum anderen kann man ja bei einem sterbenden Patienten ohnehin nicht mehr viel falsch machen.

Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch. Diese Ärztin war durchaus freundlich, warmherzig und gewillt, nur war sie, glaube ich, in dieser Situation ähnlich hilflos wie wir und dadurch nur bedingt eine Stütze. Nicht einmal ist es ihr gelungen, die Worte »sterben« oder »Tod« tatsächlich auszusprechen. Es wurden Formulierungen gebraucht wie »wir wissen nicht, wie lange es noch geht«, oder »es sieht nicht gut aus«, oder »es könnte jederzeit passieren«. Ihr Blick war dabei selten auf uns gerichtet. Natürlich war uns klar, was mit diesen Umschreibungen gemeint war. Trotzdem hätten wir uns eine klare, deutliche und vor allem ehrliche Ansprache gewünscht. Auch wäre es schön gewesen, wenn nicht wir als Familie die Gespräche hätten einfordern müssen. In meinen Augen hätte es selbstverständlich sein sollen, dass vonseiten der Ärzte das Gespräch mit den Angehörigen eines sterbenden Menschen aktiv gesucht wird.

Meine Oma war zwar bis zu ihrem Tod bewusstlos, aber durch Anwesenheit, gesprochene Worte und durch Berührungen immer noch gut erreichbar. Sie hatte Schmerzen. Diese äußerten sich durch deutliche Unruhe, Wimmern oder auch leises Stöhnen. Nach der ersten Gabe niedrig dosierten Morphins entspannte sie sich zwar merklich, aber leider lief auch hier nicht alles so, wie es hätte laufen können. Sie bekam die schmerzlindernden Morphin-Spritzen tief in die Muskulatur gespritzt anstatt dorthin, wo es nicht oder kaum weh tut, also in die Vene oder in das subkutane Fettgewebe (wie beispielsweise bei einer Anti-Thrombose-Spritze). Der Effekt der Schmerztherapie hielt auch immer nur für etwa vier bis sechs Stunden an. Danach begann erneut eine zunehmende Unruhe, die bis zur nächsten Verabreichung des Schmerzmedikamentes anhielt. Leider wurde ihr damals nur alle acht Stunden eine Morphin-Spritze zugestanden. Uns wurde das mit dem Risiko einer möglichen Überdosierung begründet. Ich habe es damals selbst nicht besser gewusst und die unqualifizierte Aussage des Arztes hingenommen.

Vonseiten des Pflegepersonals verhielt man sich uns gegenüber deutlich professioneller: Oma Ida wurde regulär in die pflegerischen Abläufe der Station eingebunden und wurde, wie alle anderen Patienten auch, regelmäßig überwacht. Sie »genoss« alle pflegerischen Maßnahmen, unter anderem mehrmals nächtliche Puls- und Blutdruckkontrollen, Abführmaßnahmen und natürlich die obligatorische Versorgung mit Flüssigkeit, denn man möchte ja niemanden verdursten lassen. Für Gespräche waren oder fühlten sich die Pflegekräfte nicht autorisiert. Es herrschte Dienst nach Vorschrift, nicht mehr und nicht weniger. So blieben meine nächtlichen Fragen unbeantwortet, warum bei einem sterbenden Menschen, bei dem rund um die Uhr jemand am Bett sitzt und der eigentlich auch sterben darf, trotzdem zweistündliche Blutdruckkontrollen notwendig sind, oder warum bei offensichtlichen Schmerzen viele weitere Stunden bis zur nächsten Morphingabe gewartet werden musste.

Während der sieben Nächte, die ich am Bett meiner geliebten Oma Wache gehalten habe, sind mir nicht nur viele gemeinsame Erlebnisse und ihre unnachahmlichen Sprüche (»Sven, du kannst machen, was du willst, aber du musst auf mich hören!«) durch den Kopf gegangen, nein – ich hatte auch viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich mir für meine Oma, für uns als Familie und für mich als künftigen Chefarzt in diesem Gesundheitssystem anders gewünscht hätte. In dieser Woche im Krankenhaus haben wir mehr als deutlich gespürt, dass es hier nie um die Person Ida ging, dass es nicht darum ging, die körperlichen Beschwerden bestmöglich unter Kontrolle zu bekommen und dass es auch nicht darum ging, uns als Betroffene zu stützen und möglichst gut aufzuklären. Was da in diesem Bett lag und starb, war nicht die Person Ida, unsere geliebte Oma, ein Teil unserer Gesellschaft, sondern die personifizierte größtmögliche Niederlage des Gesundheitswesens – ein Mensch, den man nicht mehr retten konnte oder durfte (schließlich hatten wir ja eine Therapiebegrenzung beschlossen), der dann auch noch von seinen überbehütenden Angehörigen begluckt wurde.

Ich habe aus dieser Begleitung heraus unendlich viel gelernt, nicht nur für mich als Privatmensch, sondern auch für mein Leben als Arzt. Heute bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir Professionellen im Gesundheitssystem vor allem dann hilfreich für betroffene Sterbenskranke und deren Angehörige sein können, wenn wir uns um drei wesentliche Dinge bemühen: eine bestmögliche Kontrolle leidvoller Beschwerden, das Zulassen von Nähe in diesen unglaublich intimen und verletzlichen Momenten und, ganz unabdingbar, das Praktizieren von Wahrhaftigkeit. Wenn wir diese drei Punkte beherzigen, werden wir für einige Menschen das schaffen können, was ich als eines der wichtigsten Ziele guter Palliativversorgung ansehe: eine anhaltende Erinnerung an einen erträglichen Tod eines geliebten Menschen zu ermöglichen.

Erstes Kapitel»Das ist doch wahnsinnig belastend. Ich könnte das nie!«

Vom Glück und Privileg, mit sterbenskranken Menschen arbeiten zu dürfen

Die kleine Frieda ist an einer besonders aggressiven Form von Blutkrebs erkrankt. Als die Diagnose gestellt wird, ist sie noch nicht einmal ein Jahr alt. Alle Versuche, die Erkrankung in den Griff zu bekommen, scheitern. Nach über einem halben Jahr intensiver Chemotherapie, Stammzelltransplantation, Hoffen, Bangen und wieder Hoffen ist es traurige Gewissheit: Die kleine Frieda wird an ihrer Leukämie sterben. Die behandelnden Ärzte rufen uns dazu, denn die Familie hat nur noch einen letzten Wunsch: Sie möchten, dass Frieda zu Hause sterben darf.

Dazu gibt es ein paar »kleinere« Hürden zu überwinden: Die Familie wohnt eine gute Autostunde von der Klinik entfernt. Frieda hat massive Schmerzen und durch eine Ansammlung von Flüssigkeit im Bereich des Brustkorbes zusätzlich Atemnot. Sie benötigt eine Schmerzpumpe und immer wieder die Gabe stark wirksamer Medikamente in die Vene, da sie mittlerweile zu schwach ist, um selbständig schlucken zu können.

Ich lerne Frieda und ihre Eltern an einem Donnerstagnachmittag kennen. Frieda liegt in ihrem Bettchen – sie sitzt mehr, als dass sie liegt, weil sie nur in dieser Position halbwegs gut Luft bekommt. Sie atmet schnell und angestrengt, stöhnt immer wieder, macht dann kurz die Augen auf und dämmert wieder weg. Sie ist furchtbar blass und schwitzt stark. Ihre noch jungen Eltern, beide Ende zwanzig, sitzen am Bett und stützen sie. Schon nach dem ersten Gespräch wird sehr schnell klar, dass sie wissen und auch spüren, dass ihr Kind nur noch wenige Tage zu leben hat. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ihre kleine Tochter zum Sterben nach Hause zu holen. Aber sie haben Angst. Sie fürchten sich vor möglichen Schmerzen und Erstickungsanfällen, und dass sie nicht wissen, wie sie ihrem Kind in so einer Situation helfen sollen. Beide waren noch nie beim Sterben eines Menschen dabei und haben keine konkrete Vorstellung vom Sterben ihrer Tochter, aber, wie gesagt, wahnsinnige Angst davor, dass es leidvoll sein wird und dass sie als Eltern das qualvolle Sterben ihres eigenen Kindes hilflos mit anschauen müssen. Nach einem ausführlichen Gespräch vereinbaren wir, dass Frieda am nächsten Tag nach Hause entlassen wird. In der Zwischenzeit wird durch mein Team die häusliche Versorgung organisiert, Medikamente für Notfallsituationen werden bestellt, und wir sichern der Familie eine Rundum-die-Uhr-Erreichbarkeit durch qualifizierte Pflegekräfte und Kinderärzte zu.

Da seit 2007 jedem sterbenskranken Menschen in so einer Situation eine qualifizierte häusliche Palliativversorgung (SAPV) gesetzlich zusteht und dies zumindest in einigen Regionen Deutschlands auch umgesetzt wird, können wir Frieda glücklicherweise diesen Service anbieten.

In den folgenden zweiundsiebzig Stunden bis zu ihrem Tod fanden insgesamt vier pflegerische und vier ärztliche Hausbesuche bei der Familie statt, die sich jeweils über mehrere Stunden erstreckten. Zusammengenommen haben wir Ärzte und Pflegekräfte mit Fahrtzeiten und Anwesenheitsstunden rund dreißig Stunden mit Frieda und ihrer Familie verbracht. Die entzückende Vergütung der Krankenkasse für diese maximal intensive Versorgung eines sterbenden Kindes zu Hause betrug insgesamt übrigens weniger als achthundert Euro, aber dazu später mehr.

Friedas Zustand verschlechterte sich erwartungsgemäß schnell. Sie brauchte immer höhere Dosen an Schmerzmedikamenten und mühte sich auch mehr und mehr mit ihrer Atmung. Dank der eingesetzten Medikamente konnten ihre körperlichen Beschwerden aber stets ausreichend gelindert werden, und wir schafften es zudem, dass Frieda phasenweise wach und ansprechbar war und mit ihren Eltern in Kontakt treten konnte.

Als ich am Sonntagmorgen, dem dritten Tag nach ihrer Entlassung, wieder bei der Familie war und Frieda sah, hatte ich bereits den Eindruck, dass der kleine Körper das Ende seiner Kräfte erreicht hatte. Ich besprach mit den Eltern, wie der Prozess des eigentlichen Sterbens ablaufen würde und auf welche Veränderungen der Atmung, der Haut und noch einiger Dinge mehr sie sich einstellen müssten. Am Nachmittag, als ich wieder zu Hause war, erhielt ich einen Anruf. Die Eltern wünschten sich einen erneuten Besuch, da sie das Gefühl hatten, dass ihre Tochter bald sterben würde. Ich fuhr auf der Stelle los. Vier Stunden nach meinem Eintreffen ist Frieda dann friedlich und gut symptomkontrolliert in den Armen ihrer Eltern verstorben. Danach haben wir ihr die Zugänge entfernt, ihr ein schönes Kleidchen angezogen und noch sehr intensiv im kleinen Kreis mit und über Frieda gesprochen.

Was mich an dieser Begleitung unglaublich berührt hat, war die Stärke und Klarheit der Eltern. Im Vorfeld hatte ich alle Eventualitäten mit ihnen besprochen, und sie ließen sich ganz bewusst auf diesen Weg ein, nämlich ihr geliebtes Kind in seiner gewohnten Umgebung sterben zu lassen. Zu wissen, dass sie jederzeit auch zu Hause fachliche Hilfe erhalten würden, gab ihnen zusätzlich Kraft. Ich habe die beiden damals, in der Nacht von Sonntag auf Montag, mit dem sicheren Gefühl verlassen, dass sie trotz dieses unendlich schweren Schicksalsschlages daran nicht zerbrechen würden.

Drei Jahre später bin ich Friedas Eltern noch einmal begegnet. Ich war auf Vortragsreise bei einem Hospizdienst und sprach über das Thema »Versorgung sterbenskranker Kinder«. Der Saal war gut gefüllt. Nach meinem eineinhalbstündigen Vortrag standen sie plötzlich vor mir. Sie hatten in der Zeitung von der Veranstaltung gelesen und wollten die Gelegenheit nutzen, mich nochmals zu treffen. Sie bedankten sich für die Möglichkeit, dass ihr Kind zu Hause hatte sterben dürfen, und für die Sicherheit, die ich ihnen in der Situation vermitteln konnte. Der schönste Satz kam dann aber von der Mutter: »Ich bin übrigens im sechsten Monat schwanger, und wir freuen uns beide riesig.«

Sie können sich sicherlich vorstellen, dass auch ich in diesem sehr besonderen Moment mit den Tränen zu kämpfen hatte.

*

Was die Zukunft anbelangt, so haben wir nicht die Aufgabe, sie vorherzusehen, sondern sie zu ermöglichen.

*

Welch wunderbarer Satz von Antoine de Saint-Exupery, dem weltberühmten Autor von »Der kleine Prinz«, der haargenau auf meine tägliche Arbeit zutrifft. Ich betrachte mich nicht als Halbgott in Weiß mit der Fähigkeit, Lebenszeit zu vergeben, auch wenn das oft von mir erwartet wird. Ich bin Palliativmediziner. Meine Aufgabe besteht darin, die verbleibenden Tage, Wochen, Monate und manchmal auch Jahre meiner Patienten mit der bestmöglichen Lebensqualität zu füllen. Ich will körperliche und psychische Symptome wie Schmerzen, Angst und Übelkeit lindern und versuche jeden Tag aufs Neue zu vermitteln, dass der Tod etwas Natürliches ist und dass man lernen kann, ihn zu akzeptieren. Der Tod ist nichts Schreckliches. Die fürchterliche Vorstellung vom Tod macht ihn erst furchtbar.

Ich möchte meinen Patienten das sichere Gefühl geben, dass wir bis zum Ende für sie da sind. Diesen berühmten Satz »Wir können nichts mehr für Sie tun«, vor dem sich viele so sehr fürchten, gibt es bei mir nicht. Es kann immer geholfen werden. Ja, immer! Man muss sich nur die Mühe machen, genau hinzusehen. Ebendiese Eigenschaft haben wir als Gesellschaft jedoch verlernt. Wir hören nicht mehr zu und schauen auch nicht mehr hin. Alte oder sterbenskranke Menschen passen eben nicht in unser modernes, superaufgerüstetes und bis ins letzte Detail durchdesigntes Weltbild. In den Medien und in der öffentlichen Wahrnehmung finden sterbenskranke Menschen kaum statt, und entsprechend fühlen sich die Betroffenen und deren Angehörige in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit oft völlig alleingelassen. Und nicht gesehen. Ignoriert. Und schon kommt, meist aus Verzweiflung, das Thema Sterbehilfe ins Spiel.

An dieser Diskussion stört mich seit Jahren, dass wir immer wieder über Menschen reden, die man durch eine Spritze von unendlichem Leid erlösen will, das sie vermutlich gar nicht hätten, wenn wir nur die Möglichkeiten der Palliativversorgung richtig nutzen und sie vor allem flächendeckend anbieten würden. Die Palliativmedizin nicht auszubauen, dafür aber über aktive Sterbehilfe nachzudenken, ist geradezu zynisch. Das Problem ist, dass man mit Palliativversorgung leider kein Geld verdienen kann. Für die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser ist hier nichts zu holen, also wird auch nicht investiert. Keine Forschung, kein Fortschritt, keinerlei Anreize, sich auf diesem Gebiet zu engagieren! Diese Entwicklung bereitet mir große Sorgen. Ich habe die Befürchtung, dass die Palliativversorgung in der Zukunft noch schlechter wird, je mehr über Sterbehilfe diskutiert wird. Natürlich ist es im Zweifel einfacher und billiger, einen Menschen »wegzuspritzen«, als ihm beizustehen, und das passt auch besser in unsere Entsorgungsgesellschaft. Aber wollen wir wirklich in so einer Gesellschaft leben? Leider werden in der öffentlichen Debatte nur die Alternativen diskutiert: auf der einen Seite schreckliche Schmerzen, auf der anderen Seite die aktive Sterbehilfe. Die Palliativversorgung hat aber eine ganz andere Blickrichtung. Wir behandeln nicht Sterbende, sondern Lebende, die bald sterben werden. Das ist ein riesengroßer Unterschied.

Die folgenden Seiten handeln von Leid, Sterben und Tod und auch davon, wie wir uns als Gesellschaft grundsätzlich zu diesem Thema positionieren und zukünftig mit unseren Sterbenskranken umgehen möchten. Trotz aller vermeintlichen Schwere des Themas möchte ich Ihnen schon jetzt eine wundervolle Botschaft mit auf den Weg geben: Wir sitzen alle im gleichen Boot, und zwar wirklich, nicht wie Sie es vielleicht von ihrer Arbeit kennen: Alle rudern, damit der Chef Wasserski fahren kann. In diesem Kahn sitzen wir alle gleichberechtigt.

Seit Beginn der Menschheit sind auf diesem Planeten über zweihundert Milliarden Menschen gestorben, und trotz aller Fortschritte der Medizin, trotz aller berechtigter Euphorie über neue Krebsmedikamente und verbesserte Therapien für Menschen mit Schlaganfällen, wird sich an der Tatsache, dass wir alle nicht nur sterben müssen, sondern auch werden, niemals etwas ändern. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass wir endlich aufhören sollten, das Thema »Tod und Sterben« zu tabuisieren und es in die Institutionen zu verlagern, nach dem Motto: Gestorben wird im Krankenhaus oder in den Pflegeeinrichtungen, aber es trifft ja ohnehin nur die anderen. Nein, dieses existentielle Thema trifft uns alle, und die einzigen drei Fragen, die wir uns dazu wirklich stellen sollten, lauten: wann, wo und wie.

Dieses Buch soll einen Anreiz geben, über dieses große Thema in Diskussion zu treten. Dies gelingt aber nur, wenn wir endlich die Mythen über das Sterben entzaubern und die tatsächlichen Fakten so vielen Menschen wie möglich und in einer für alle verständlichen Sprache zugänglich machen.

Als Palliativmediziner hat man fast grenzenlose Möglichkeiten, körperliche Beschwerden wirkungsvoll zu lindern, aber auch seelische Unterstützung zu bieten. Ich betrachte die vielen Begegnungen mit meinen Patienten und deren Angehörigen als ein Geschenk, und so kann ich für mich sagen, dass, egal wie viel Zeit, Energie und Emotionen ich investiere, ich immer ein Vielfaches von den Patienten und Angehörigen zurückbekomme. Ich bin zutiefst dankbar, in diesem Bereich arbeiten zu dürfen. Ja, mir geht es gut und ich bin sicher, dass ich die nächsten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre gerne und mit aller mir zur Verfügung stehenden Energie diesem sehr besonderen Gebiet der Medizin treu bleiben werde.

Eigentlich bin ich Kinderarzt. In der Regel wird man Kinderarzt, um Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, im Rahmen schwerer Erkrankungen bestmöglich zu versorgen und sie eines Tages hoffentlich gesund in die Welt der Erwachsenen zu entlassen. Natürlich gibt es auch schlimme unheilbare Erkrankungen bei Kindern. Noch immer sterben fast zwanzig Prozent aller Kinder mit einem Krebsleiden. Trotzdem beschäftigt sich ein Kinderarzt mit dem Thema »Sterben und Tod« nur am Rande. Was veranlasst also jemanden nach über zehnjähriger Tätigkeit als Kinderarzt, sich ausschließlich der Versorgung von sterbenskranken Kindern und Erwachsenen zu widmen? Immer wieder höre ich Bemerkungen wie: »Wie erträgst du das? Du hast doch selbst Kinder!« Das stimmt, ich habe vier gesunde Kinder im Alter von drei, vier, neun und dreizehn Jahren. Trotzdem war die Entscheidung, sich ausschließlich um Sterbenskranke zu kümmern, die beste, die ich treffen konnte. Ja, es gibt sie, die schrecklichen Momente in meinem Beruf. Verzweifelte Eltern, die einen bis zuletzt anflehen, nach weiteren Heilungsmöglichkeiten für ihr Kind zu suchen. Angstgeweitete Kinderaugen, die einen fragend anschauen. Erwachsene, die keine Angehörigen mehr haben oder sich verkracht haben und einsam und verbittert einen oftmals schweren Tod sterben. Aber trotz all der Traurigkeit und Verzweiflung, die der Umgang mit Sterbenden und ihren Familien unweigerlich mit sich bringt, überwiegen die schönen Augenblicke und die besonderen Begegnungen, die man eben nur erfährt, wenn die Endlichkeit naht.

Die Wochen im Angesicht des Todes sind für alle Beteiligten sehr intensiv. Menschen, die wissen, dass ihre Zeit auf der Erde zu Ende geht, haben plötzlich keine Lust mehr auf all die Banalitäten, mit denen wir gesunden Menschen uns täglich abmühen, und kommunizieren das auch in aller Deutlichkeit. Gespräche werden auf einmal ganz konkret. Sie reduzieren sich auf die existentiellen Dinge: Warum sind wir hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was bedauere ich? Sterbende wollen oft noch ganz viel reden und ihre Erkenntnisse und Weisheiten weitergeben. Stichwort: »Mach nicht den gleichen Fehler wie ich, sondern …« Sie versuchen in buchstäblich letzter Sekunde zu versöhnen, zerstrittene Familienangehörige zusammenzubringen, Frieden zu schaffen und erteilen sogar noch Aufträge: »Versprich mir, dass du dich um deinen Bruder kümmerst. Er braucht dich, auch wenn er dir das nicht sagen kann …«

Man kann den Sterbenden in diesen Augenblicken direkt in ihre ungeschützte Seele blicken. Die Minuten, kurz bevor ein Mensch den finalen Atemzug nimmt, die letzten Blicke, wenn du erkennst, dass er friedlich und ohne Schmerzen sterben kann, dass sich all die Mühe gelohnt hat, sind unbeschreiblich. All das immer wieder miterleben zu dürfen, betrachte ich als großes Geschenk. Davon werde ich in diesem Buch berichten, um Mut zu machen, und um eine neue öffentliche Debatte anzustoßen: Wie möchten wir als Gesellschaft mit unseren Sterbenskranken umgehen?

Zweites KapitelSterben und Tod – Mythen und Fakten

Mythos 1: Sterben und Tod sind leidvoll und schmerzhaft

»Auch die Ärzte stehen dem Leid der Patienten oft hilflos gegenüber.«

Mein Team und ich werden von den Kollegen der Lungenklinik bezüglich einer zweiundsechzigjährigen Patientin kontaktiert. Bei Pauline W., einer starken Raucherin mit ohnehin schon ordentlich eingeschränkter Lungenfunktion, wurde zusätzlich ein bereits gestreuter Lungenkrebs diagnostiziert.

Als ich das Zimmer betrete, sitzt vor mir ein kleines, abgemagertes Häufchen Elend. Frau W. sieht mit einem hoffnungslosen Blick zu mir auf und sagt: »Herr Doktor, können Sie mir nicht einfach eine Spritze geben, damit es endlich vorbei ist? Kein Hund muss so elendig krepieren. Bitte, bitte helfen Sie mir!«

Von außen betrachtet ist Pauline W. zwar durch die Erkrankung gezeichnet, jedoch gibt sie auf gezielte Rückfragen an, dass sie momentan weder unter stärkerer Luftnot noch unter unerträglichen Schmerzen leidet. Als ich sie dann frage, was die aktuelle Situation für sie denn so schlimm mache, dass sie mir gegenüber offen ihren Sterbewunsch äußert, bricht sie in Tränen aus. Sie erzählt, wie sie als junge Frau im Alter von zwanzig Jahren ihren Vater im Sterben begleitet hat, der im Rahmen einer Krebserkrankung zum Schluss unerträgliche Schmerzen erleiden musste. Ihr Vater lag schreiend zu Hause in seinem Bett, erlitt bis zur letzten Lebenssekunde Höllenqualen. Laut ihrer Aussage hat kein Arzt ihm in seiner Not helfen können. Sie erzählt mir auch, dass sie erst vor fünf Jahren ihren Ehemann verloren habe, der ebenfalls starker Raucher war und der im Rahmen einer chronischen Lungenerkrankung bei vollem Bewusstsein erstickt sei. »Ich habe solche Angst vor dem Sterben. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe solche Angst vor dem Sterben«, wiederholt sie immer wieder. »Das Schlimmste, was mir jetzt passieren kann, ist, dass die Ärzte sagen: Wir können nichts mehr für Sie tun. Gehen Sie nach Hause und sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen.«

Ich frage die Patientin, was denn passieren müsste, damit sie sich nicht mehr den Tod wünsche, und sie antwortet: »Wissen Sie, eigentlich bin ich ein lebenslustiger Mensch. Ich habe Spaß am Leben, ich genieße die Zeit hier sehr. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie wirksame Medikamente haben, die mir meine Schmerzen nehmen, meine Luftnot lindern und wenn Sie mir Ihr Wort geben, dass man mich in meiner Not nicht alleine lässt, dann würde ich dem Leben noch eine Chance geben.«