Übers Sterben reden - Sven Gottschling - E-Book

Übers Sterben reden E-Book

Sven Gottschling

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Beschreibung

Über das Unaussprechliche reden Angesichts des bevorstehenden Todes fehlen vielen Menschen die Worte. Dabei gibt es oft noch so viel zu sagen. Wie aber der Sprachlosigkeit und der eigenen Hilflosigkeit am Sterbebett eines nahen Menschen begegnen? Der Palliativmediziner Sven Gottschling gibt gemeinsam mit der Psychotherapeutin Katja Welsch praktische Hilfestellung in dieser extrem belastenden Situation. Wie bereite ich mich auf das Gespräch vor? Als Angehöriger, als Betroffener? Wie viel Wahrheit verträgt ein Mensch? Wie kann ich Trost spenden? Was kann ich machen, wenn Sprechen nicht mehr möglich ist? Wie spreche ich mit den Ärzten und dem Pflegepersonal? Welche Dinge muss ich regeln? Sven Gottschling und Katja Welsch lassen keine Frage offen, nehmen Ängste und begleiten den letzten Weg zu einem guten Ende.

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Seitenzahl: 288

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Prof. Dr. Sven Gottschling | Dr. Katja Welsch

Übers Sterben reden

Wie Kommunikation in schwierigen Situationen gelingt

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]Jedes Gespräch ist ein Gespräch gegen die AngstDas Sterben ins Leben holenWeder Tag noch StundeWas kann eine palliative Versorgung leisten?Wann sollte die Palliativversorgung einsetzen?Kriterien für die Frühintegration von PalliativversorgungWie kann Kommunikation über das Sterben gelingen?Das EisbergmodellDas Vier-Ohren-Modell der KommunikationDie TransaktionsanalyseOffenheit braucht ZeitZiele von Gesprächen über das Sterben – die Perspektive der AngehörigenZiele von Gesprächen über das Sterben – die Perspektive der BetroffenenVoraussetzungen für gute GesprächeTechniken, die im Gespräch helfenGespräche mit ÄrztenSo gelingt ein ArztgesprächWas kann ich im Gespräch von meinem Arzt erwarten?S Setting – RahmenP Perception – Kenntnisstand oder Wahrnehmung des PatientenI Invitation – Einladung durch den PatientenK Knowledge – Weitergabe der InformationE Exploration of Emotions – Erfassen der Gefühlslage des Patienten und der AngehörigenS Strategy and Summary – Planung des weiteren Vorgehens und die ZusammenfassungTipps zur Vorbereitung auf ein ArztgesprächDie Macht der GedankenWas bietet die Palliativpsychologie?Wie umgehen mit Ängsten? – Kognitive VerfahrenErzählen, wie es war – narrative InterventionenDie eigenen Stärken sehen – ressourcenaktivierende VerfahrenKleine Auszeiten – EntspannungsverfahrenWas bleibt – würdezentrierte Therapie nach ChochinovFragenkatalog nach Chochinov zur Stärkung des Würdegefühls (Auszug)Psychologische Unterstützung der AngehörigenWie kann ich mein Sterben vorbereiten?Die Angst vor Übertherapie am LebensendeWelche Therapiebegrenzungen sind sinnvoll?PatientenverfügungVorschläge für mögliche Textbausteine für Ihre persönliche PatientenverfügungFallbeispieleCheckliste: PatientenverfügungErweiterte Verfügung über die Patientenverfügung hinausBehandlung bei dauerhafter EinwilligungsunfähigkeitFür den Fall der Fälle: VollmachtenWas nützt eine Vorsorgevollmacht?Muss eine Vorsorgevollmacht eine bestimmte Form haben?Wo bewahrt man eine Vorsorgevollmacht am besten auf?Ab wann und wie lange gilt eine Vorsorgevollmacht?Was ist eine Betreuungsverfügung?Wer entscheidet über meine Behandlung, wenn ich nicht mehr einwilligungsfähig bin?Sozialrechtliche AngelegenheitenZuzahlungsbefreiung (z.B. bei Rezeptgebühr/Medikamenten)SchwerbehinderungKrankengeldRentenantragHilfsmittelNotrufsystemeTestamentWie schreibe ich mein TestamentWas kann im Testament alles geregelt werden?Vorausvermächtnis oder TeilungsanordnungGegenüberstellung eigenhändiges Testament und öffentliches TestamentSondersituation minderjährige KinderWas muss ich für andere regeln?Der digitale NachlassWie kann ich meinen digitalen Nachlass regeln?Sicher abgelegte Zugangsdaten und PasswörterWas ist mit im Netz verstecktem Geld?Wie gestalte ich meine letzte Ruhe?ErdbestattungFeuerbestattungSeebestattungFelsbestattungBaumbestattungAlmwiesenbestattungLuftbestattungWeltraumbestattungMuslimische BestattungDiamantbestattungKörperspendeKryonikBestattungsvorsorgeWie spreche ich über schwierige Themen?Gespräche bei schwankender KrankheitsverarbeitungDie Perspektive der BetroffenenDie Perspektive der AngehörigenGespräche bei AngstDie Perspektive der BetroffenenDie Perspektive der AngehörigenGespräche bei Traurigkeit und TrauerDie Perspektive der BetroffenenDie Perspektive der AngehörigenGespräche bei SchuldgefühlenDie Perspektive der BetroffenenDie Perspektive der AngehörigenGespräche bei SchamStarke Emotionen am KrankenbettGespräche bei SterbewunschDie Perspektive der BetroffenenDie Perspektive der AngehörigenLoslassenDer SterbeprozessAus der Perspektive der BetroffenenBesuchReden in problematischen SituationenVerweigerung – nicht reden wollenWas kann ich als Angehöriger tun?Was, wenn der Patient sprechen will, sich aber die Angehörigen verweigern?Wie kann ich mit einer Wesensveränderung umgehen?Vom Umgang mit DemenzSituation 1: EssenszeitSituation 2: KleingeldSituation 3: BesuchSituation 4: LieblingsgerichtSoll man einem Demenzkranken eine ernstzunehmende Diagnose mitteilen?Leben im Angesicht des TodesFragen im Angesicht des bevorstehenden TodesPerspektive des medizinischen PersonalsWas wir von den Sterbenden lernen könnenIch wünschte, ich hätte mein eigenes Leben gelebtIch wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitetIch wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrückenIch wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhaltenIch wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu seinIch wünschte, ich hätte mich aus einer schlechten Beziehung gelöstIch wünschte, ich wäre mehr gereistIch wünschte, ich hätte mir mehr schöne Momente gegönntIch wünschte, ich hätte mich körperlich fit gehaltenIch wünschte, ich hätte meinen miesen Job gekündigtIch wünschte, ich hätte mich nicht zu viel danach gerichtet, was die anderen denkenIch wünschte, ich wäre nicht so nachtragend gewesenIch wünschte, ich hätte öfter innegehalten, um besondere Momente zu genießenIch wünschte, ich hätte mir nicht so viele Sorgen gemachtMit Kindern übers Sterben redenWie spricht man mit Kindern altersgerecht?Kinder unter drei JahrenKinder zwischen drei und sechs JahrenKinder zwischen sechs und neun JahrenKinder zwischen zehn und vierzehn JahrenSterben nach Wunsch – zu Hause oder im Krankenhaus?Professionelle Begleitung am LebensendeWelche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es?Wie bekomme ich palliativmedizinische Unterstützung?Was ist eine Palliativstation?Was ist ein stationäres Hospiz?Wie kann ich auf einer Palliativstation aufgenommen werden?Wie erfolgt die Aufnahme in ein stationäres Hospiz?Welche palliativmedizinische Versorgung kann ich zu Hause erhalten?Wer kümmert sich während des Aufenthaltes auf einer Palliativstation oder in einem stationären Hospiz um die Angehörigen?Wer trägt die Kosten für die Palliativversorgung?Wer übernimmt die Kosten für die Betreuung im stationären Hospiz?Wenn Reden nicht mehr möglich istPersönliche NäheBasale StimulationWas genau passiert beim Sterben?Kommunikation mit anderen – wie gehe ich mit der Palliativsituation und dem Versterben um?Umgang mit einem Menschen in TrauerWas sollte ich als Trauernder in der Kommunikation mit anderen beachten?Inseln im SterbeprozessHumorIntimitätTiereReligionLetzte Wünsche erfüllen

Wenn wir nicht mehr heilen können, dann können wir lindern.

Und wenn wir nicht mehr lindern können,

dann können wir trösten.

Und wenn wir nicht mehr trösten können,

dann sind wir immer noch da.

Stefan Einhorn, schwedischer Arzt

Jedes Gespräch ist ein Gespräch gegen die Angst

»Findet immer den Mut zu sprechen und den Willen, Dinge zu klären. Denn Stille wiegt schwer wie ein Stein. Und Steine werden zu Mauern. Und Mauern trennen Menschen.«

Unbekannt

Ob Betroffener, Angehöriger oder medizinischer Profi – das Sprechen über das Sterben und den Tod fällt uns allen schwer. Die Verunsicherung darüber, wie, wann und ob man überhaupt darüber sprechen darf oder soll, ist groß. Es ist das letzte große Tabuthema, dem wir nach Kräften aus dem Weg gehen wollen. Betroffene möchten ihre Angehörigen schützen, Ärzte und Angehörige befürchten, dass Erkrankte ein solches Gespräch nicht verkraften könnten. Alle Beteiligten fühlen sich durch die starken emotionalen Reaktionen, die dabei ausgelöst werden können, ge- und oftmals auch überfordert. Eigentlich hat niemand das Gefühl, auf diese Gespräche tatsächlich vorbereitet zu sein, denn es ist nicht leicht, mit den eigenen Ängsten, persönlicher Betroffenheit und Unsicherheit umzugehen und sich dabei der eigenen Sterblichkeit bewusstzuwerden.

Schwerkranke Patienten verlieren im Laufe ihrer Erkrankung vieles, das es zu betrauern gilt: Gesundheit, Vitalität, die bisherigen Lebensperspektiven, aber auch die körperliche Unversehrtheit – sei es durch einen künstlichen Darmausgang, sei es durch die Amputation einer Brust oder auch »nur« durch den vorübergehenden Haarausfall aufgrund einer Chemotherapie. Darüber hinaus verändert sich oft die Rolle innerhalb der Familie, auch das ist ein Verlust: Der Ernährer der Familie fällt aus, oder die Mutter, die all die Jahre über den ganzen Laden geschmissen hat, liegt auf einmal kraft- und hilflos im Bett und muss sich nun pflegen lassen.

Und ganz zum Schluss ist der nahende Verlust des Lebens zu verkraften und zu betrauern. Aus der anfangs nur unterschwellig vorhandenen Angst zu sterben wird Gewissheit. Selbst die wenigen Menschen, die es schaffen, sich mit dem eigenen Tod wirklich zu arrangieren, quälen sich mit anderen Themen, wie mit der Frage, wie das Sterben denn tatsächlich ablaufen wird: Wird es qualvoll werden? Kann der Arzt mir zumindest die schlimmsten Beschwerden nehmen? Kann ich in Würde sterben?

 

Aus unserer Erfahrung als Palliativexperten wissen wir, dass viele Menschen leidvolles Sterben in ihrem Umfeld schon persönlich erlebt haben oder es aus Erzählungen kennen. Nichtmediziner verbinden das Sterben oft mit vielen irrigen Vorstellungen und Schreckensszenarien. Aufklärung gibt hier sowohl dem Betroffenen als auch den Angehörigen und Freunden die Möglichkeit, Informationen richtig einzuordnen und die verbleibende Lebenszeit aktiver und bewusster zu gestalten.

Die Belastung der Angehörigen ist oft viel größer als die des Patienten. Während sich alle um den Kranken bemühen, werden die Angehörigen vernachlässigt oder – und das ist noch schlimmer – durch ungeschickte Bemerkungen und empathiefreie Gespräche seitens des medizinischen Pflegepersonals noch zusätzlich belastet.

Natürlich vermeiden wir alle gerne unangenehme Themen, aber wenn wir es nicht schaffen, mit Betroffenen, mit Angehörigen oder auch als Angehörige mit den Patienten offen zu sprechen, bleiben alle mit ihren Ängsten alleine. Jedes Gespräch ist die Chance zu entlasten, jedes Gespräch ist ein Gespräch gegen die Angst.

Diese Gespräche zuzulassen bedeutet auch, die damit verbundenen Gefühle erst einmal stärker zu spüren. Wir wissen jedoch aus Untersuchungen, dass das Sprechen über Abschied, Tod und Sterben im Vorfeld, die Trauer der Angehörigen nach dem Tod reduziert.

Zudem stellt sich die Mehrzahl der Betroffenen das Ende häufig unnötig schrecklich vor und leidet dementsprechend stärker. Wie entlastend könnte hier ein offenes Gespräch sein!

 

Gespräche mit Sterbenskranken und deren Angehörigen sind ein Teil, wenn nicht der wichtigste Teil unserer täglichen Arbeit auf der altersübergreifenden Palliativstation am Universitätsklinikum Homburg. Wir wissen sehr wohl, wie hoch die Hürden sind, über das Sterben zu sprechen, und wie viele Missverständnisse es dabei gibt. Die große, oftmals lähmende Angst davor, etwas Falsches zu sagen – entweder weil man wenig Erfahrung im Umgang mit sterbenskranken Menschen hat, oder selbst schlimme Erfahrungen mit Krankheit gemacht hat –, sind dabei die größten Hindernisse.

Die wesentlichen Grundvoraussetzungen dafür, dass Gespräche übers Sterben gelingen, sind Ehrlichkeit und eine offene, warmherzige und einfühlsame Grundhaltung. Es geht nicht darum, ein Happy End wie im Hollywoodfilm herbeizureden, sondern Wichtiges und vielleicht bislang Unausgesprochenes zu äußern und, sofern möglich, letzte Dinge zu regeln. Nicht die Lösung bestehender Probleme steht dabei im Vordergrund, allein schon das Benennen von relevanten Problemen, selbst wenn sie nicht mehr lösbar sind, wirkt befreiend und ist tröstlich.

 

Tatsächlich gibt es beim Reden übers Sterben nur wenige Dinge, die man wirklich falsch machen kann. Vermeidet man bagatellisierende, vermeintlich tröstende Floskeln wie »wird schon wieder« oder »Die Zeit heilt alle Wunden« (an die Angehörigen gerichtet), und gelingt es, wirklich offene Worte zu finden, anstatt drum herumzureden, hat man schon sehr viel richtig gemacht. Das gilt sowohl für Ärzte, die sich gern hinter ihrer Fachsprache verschanzen, als auch für Sterbende, die ihre Angehörigen beruhigen wollen, oder für Angehörige, die mit aller Gewalt versuchen, ihre Verzweiflung zu verbergen. Obwohl wir alle immer wieder in unterschiedlichste Rollen schlüpfen, geht es gerade bei diesem existentiellen Thema nicht darum, die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Sowohl Sterbende als auch ihre Angehörigen haben höchst feine Antennen dafür, ob das Gegenüber aufrichtig ist. Darf jeder so sein, wie er sich wirklich fühlt, nimmt es den Druck aus dem Gespräch, und das ist eine Qualität für sich.

Das Ende eines Lebens kostet viel Kraft, versuchen Sie nicht, eine Fassade aufrechtzuerhalten, sondern investieren Sie die Kraft darin, zu den Gefühlen des anderen und damit zu den wirklich relevanten Botschaften durchzudringen.

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Diese Frage beschäftigt die Angehörigen ebenso wie den Erkrankten. Die Antwort lautet: »Immer zu wenig.« Und deshalb heißt die Antwort auf die Frage »Wann sollte man mit Gesprächen über das Sterben und den Tod beginnen?« – »Jetzt!«

Mit dieser Motivation und dem Wissen, dass sich die meisten Menschen nicht oder zumindest unzureichend für ein Gespräch über das Sterben gerüstet fühlen, haben wir dieses Buch geschrieben.

 

Katja Welsch und Sven Gottschling

Das Sterben ins Leben holen

Man lebt nur einmal,

und wenn man es richtig macht,

dann reicht das auch.

Unbekannt

Wenn man erzählt, dass man mit Palliativpatienten, das heißt lebensbegrenzt erkrankten Menschen, arbeitet, ist die Reaktion meist ein ungläubiges bis entsetztes »Echt? – Wie hältst du das denn aus?«. Warum ist die Beschäftigung mit dem Sterben so unangenehm? Nimmt einem der Tod tatsächlich die Freude am Leben, und wirft er nur Fragen auf? Und: Was bringt uns dazu, das – zugegebenermaßen – schwierige, traurige und schmerzhafte Thema Sterben wieder mehr ins Leben holen zu wollen, auch in das von jungen und gesunden Menschen?

Renate Selzer ist 64 Jahre alt, als sie mit starken Schmerzen bei uns auf der Palliativstation aufgenommen wird. Ohne Vorwarnzeichen war bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert worden, der so vehement voranschreitet, dass sie schon sehr schwach und bettlägerig ist. Sie hadert mit ihrem Schicksal, ist aber zugleich auch sehr wütend auf sich selbst. »Ich habe mein Leben mit Verschieben verbracht, auf morgen, auf in drei Jahren, auf die Zeit nach der Rente. Und jetzt erlebe ich dieses Morgen, diese drei Jahre und auch meine Rente nicht mehr.« Hört man sich ihre Lebensgeschichte an, versteht man ihre Wut noch besser. Frau Selzers Mutter starb früh, und als älteste Tochter war sie für die beiden Geschwister verantwortlich. Um sich aus dieser Situation zu lösen und sich ein eigenes Leben aufzubauen, hatte sie früh geheiratet und recht schnell drei Kinder bekommen. Weil sie es selbst nicht erlebt hatte, wollte sie ihren Kindern eine heile Familie bieten und blieb bei ihrem Ehemann, obwohl er sie immer wieder betrog. Als die Kinder älter wurden, begann Renate Selzer wieder in Vollzeit zu arbeiten. Für ein geringes Gehalt litt sie unter einem Chef, der ihren Einsatz nicht würdigte und seine schlechte Laune regelmäßig an ihr ausließ. Nebenbei pflegte Renate Selzer noch ihre Schwiegermutter und ihren Vater und hatte eigentlich nie Zeit für sich, für Hobbys und Freundschaften. Die Verwirklichung ihrer Träume – einen Tanzkurs machen, einmal das Meer sehen, töpfern lernen – verschob sie immer wieder auf später. Zum Renteneintritt sollte es endlich so weit sein, sie buchte eine Reise nach Menorca – ganz alleine. Doch dann – zwei Monate vor Rentenbeginn – erkrankte sie.

Nichts ist schlimmer, als mit dem Gefühl sterben zu müssen, das Leben nicht genutzt und genossen zu haben. Das hängt von der Lebenszeit ab, über die wir verfügen, kann aber auch unabhängig davon sein. So erleben wir in unserem Praxisalltag immer wieder hochbetagte Menschen, die trotz eines hohen Alters sehr mit dem Sterben hadern, weil sie das Gefühl haben, nie richtig mit dem Leben begonnen zu haben. Ein hohes Alter muss nicht automatisch damit verbunden sein, den Tod zu akzeptieren. Und selbst wenn man ein ausgefülltes Leben geführt hat, ist das nicht selbstverständlich. Wie ein Patient sagte: »Wissen Sie, auch als alter Mensch lebt man sehr gerne.«

Aber zurück zu der Frage, warum es auch bzw. gerade für gesunde und auch jüngere Menschen sinnvoll ist, sich die eigene Endlichkeit von Zeit zu Zeit vor Augen zu führen. Wenn man dies tut, führt es in der Regel dazu, dass man den Ist-Zustand mit dem Soll-Zustand abgleicht. Das heißt, man betrachtet sein Leben unter den Aspekten: Was ist mir wichtig? Was möchte ich erreichen? Bin ich auf dem richtigen Weg? Schaffe ich es, mich selbst zu verwirklichen? Vor dem Hintergrund der eigenen Endlichkeit wird einem bewusst, dass man seine Träume und Wünsche nicht aufschieben sollte, sondern sofort beginnen sollte, das Hier und Jetzt in seinem Sinne zu gestalten.

Verstehen Sie uns nicht falsch: Es geht nicht darum, die Angst vor dem Tod kleinzureden. Der Tod darf auch weiterhin etwas bleiben, worauf Ihnen Antworten fehlen. Eine mehr oder minder große Angst bzw. Unsicherheit diesbezüglich ist durchaus normal und angemessen. Hätten wir keinerlei Angst vor dem Tod, würde sich vielleicht der Großteil der Menschen aus dem Leben verabschieden, sobald sie sich mit Problemen konfrontiert sehen. Insofern erfüllt die Angst vor dem Tod eine wichtige Funktion.

Dennoch: Das Bewusstmachen der eigenen Endlichkeit soll nicht zu Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führen, sondern ganz im Gegenteil eher dazu, dass Sie Ihre Träume in den Blick nehmen, nichts aufschieben und sich immer mal wieder fragen, ob das Leben, das sie führen, auch dasjenige ist, das sie führen möchten.

Weder Tag noch Stunde

»Damit muss ich mich jetzt noch nicht befassen, dafür habe ich später noch Zeit.« Viele von uns, die gesund sind oder zumindest glauben, es zu sein, wiegen sich in einer Sicherheit, die es nicht gibt, und schieben den Tod weit von sich weg. Aber letztlich weiß niemand, wann es so weit sein wird. Jeden Tag kann es aus den verschiedensten Gründen dazu kommen, dass unser Leben auf den Kopf gestellt wird: Durch eine niederschmetternde Diagnose oder einen tragischen Unfall, wie uns die Plakate an der Autobahn so drastisch vor Augen führen, die ein zersplittertes Handydisplay zeigen, auf dem eine junge Frau und ihre kleine Tochter zu sehen sind – daneben ein großes Kreuz, unter dem steht: »Marie (38), abgelenkt durch eine SMS«. Natürlich sollen Sie jetzt nicht jeden Tag mit dem Gedanken aufwachen, dass es morgen sowieso schon vorbei sein kann. Aber gerade im Fall eines Unfalls oder einer plötzlich auftretenden Krankheit kann es für Ihre Angehörigen, die wahrscheinlich noch den Schock, den diese Nachricht in ihnen ausgelöst hat, verdauen müssen, sehr entlastend sein, wenn Sie Vorkehrungen getroffen und über Ihre Wünsche im Fall Ihres plötzlichen Versterbens gesprochen haben.

Giovanni Rossi erleidet mit 50 Jahren aus dem Nichts heraus einen Herzinfarkt mit Kreislaufstillstand. Eine Reanimation rettet zwar sein Leben, aber er hat massive Hirnschäden davongetragen und wird für immer ein Pflegefall bleiben. Seine Ehefrau – völlig überwältigt von dem Ereignis – hatte nie mit ihrem Mann über Krankheit, Sterben und Tod gesprochen. Weder hat er eine Patientenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht . Trotzdem müssen nun Entscheidungen getroffen werden, wie es mit Herrn Rossi weitergehen soll. Es ist für seine Frau eine massive zusätzliche Belastung, nicht zu wissen, was ihr Mann sich in einer solchen Situation gewünscht hätte. Denn bei allem, was jetzt kommt, hat sie das Gefühl, auf einmal über Wohl und Weh, Leben und Tod ihres Mannes entscheiden zu müssen.

 

Ähnlich ergeht es den Eltern der 19-jährigen Lea Kurtz, die beim Schwimmen im Freibad verunglückt ist und bei der nur noch der Hirntod festgestellt werden kann. Grundsätzlich kommt hier eine Organspende in Betracht. Der zuständige Arzt befragt die Eltern, ob Lea einen Organspendeausweis besitzt oder sich jemals zu dem Thema geäußert hat. Die Eltern haben mit ihrer Tochter nie darüber gesprochen. Für sie ist es extrem schwer, in dieser Situation eine Entscheidung zu treffen, und sie haben zudem Angst, die falsche zu treffen, die nicht im Sinne von Lea wäre. Herr und Frau Kurtz entscheiden sich gegen eine Organspende. Doch damit ist es nicht getan – anschließend stehen weitere Entscheidungen an: Feuer- oder Erdbestattung? Friedhof oder Friedwald? Auch bei diesen Fragen sind die Eltern überfordert.

 

Dierk Bläuer ist selbständiger Dachdeckermeister, und sein Betrieb ist sein Lebenswerk, auf das er sehr stolz ist. Beide Söhne sind ebenfalls Dachdeckermeister, arbeiten als Angestellte in unterschiedlichen Firmen. Dierk Bläuer war es immer wichtig, dass sein Betrieb nach seinem Tod weitergeführt wird und in Familienbesitz bleibt. Er hat sich jedoch nie Gedanken darüber gemacht, wie dies konkret umgesetzt werden soll, und sich jedem Gespräch darüber mit dem Argument, das hätte ja noch ein bisschen Zeit, verweigert. Auf einer Baustelle verunglückt Dierk Bläuer schwer und verstirbt auf der Intensivstation. Nach seinem Tod zerstreiten sich seine Söhne, weil es keine Absprachen über die Geschäftsnachfolge gibt. Der Betrieb muss verkauft werden und geht in einem Großunternehmen auf.

Die Beispiele zeigen, welche Folgen es haben kann, wenn man nicht rechtzeitig über die letzten Dinge im Leben gesprochen hat und entsprechende Vorkehrungen getroffen wurden. Das ist spätestens dann unumgänglich, wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt. Aber es sollte auch ohne aktuellen Anlass erfolgen, vor allem, wenn Sie Verantwortung für andere tragen. Stellen Sie sich nur vor, Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin haben kleine Kinder. Endlich wollen Sie sich wieder etwas Zeit zu zweit gönnen. Sie haben einen Tisch in Ihrem Lieblingsrestaurant reserviert und einen Babysitter organisiert. Sie verbringen einen wunderschönen Abend, doch auf dem Heimweg nimmt Ihnen jemand die Vorfahrt, und bei dem folgenden schweren Unfall sterben Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin. Was soll aus Ihren Kindern werden? Bei wem sollen sie aufwachsen? Deshalb:

Merke

Suchen Sie das Gespräch mit Ihren Angehörigen. Sagen Sie, dass Ihnen das Thema wichtig ist. Fragen Sie sie auch danach, was sie sich vorstellen. Halten Sie Ihre Wünsche schriftlich fest. Welche Dokumente dafür wichtig sind, erfahren Sie in diesem Buch. Wichtig ist, dass Sie in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob die von Ihnen getroffenen und kommunizierten Entscheidungen noch zutreffen.

Der Umgang mit dem Tod ist schwer genug. Wenn durch Sie nichts geregelt wurde und Ihre Angehörigen Entscheidungen treffen müssen, ohne zu wissen, was in Ihrem Sinne ist, stellt dies eine zusätzliche Belastung dar, der Sie vorbauen können.

Ein Bekannter erzählte uns vor einiger Zeit völlig entrüstet von einem Aufklärungsgespräch, das er mit einem Chirurgen anlässlich eines geplanten kleinen Eingriffs an einem Leistenbruch führte. Dieser hätte ihn doch allen Ernstes gefragt, ob er eine Patientenverfügung habe. Prinzipiell darf man sich die Frage stellen, ob das bei einem Routineeingriff bei einem kerngesunden 50-Jährigen eine vertrauensbildende Maßnahme war. Andererseits schwingt bei jeder Behandlung, auch bei jedem Routineeingriff, ein gewisses, nicht einzuschätzendes Risiko mit. Nicht nur bei einer Krebserkrankung besteht die Gefahr zu sterben, auch bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) zum Beispiel, unter der Millionen Deutsche leiden. Trotz intensivster medizinischer Behandlung führt COPD in der Regel zu einem verfrühten Tod. Dies geschieht oft im Rahmen eines plötzlich aufgetretenen Infektes der Luftwege, das heißt durch ein Bakterium in der Lunge oder durch ein Grippevirus. Aus einer leidlich stabilen Lage wird plötzlich eine lebensbedrohliche Situation.

Es ist wirklich nie zu früh, sich darüber Gedanken zu machen, was man sich am Lebensende für sich selbst wünscht. Auch die Entscheidung, sich nicht mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, ist eine Entscheidung. Denn in krankheitsbedingten Notfallsituationen wird immer das gesamte Feuerwerk an Diagnostik und Therapie abgebrannt. Dann kann es passieren, dass die Angehörigen auf der Intensivstation am Bett stehen, während man selbst über einen Luftröhrenschnitt künstlich beatmet wird, an der Dialyse hängt und durch verschiedene kreislaufunterstützende Medikamente am Sterben gehindert wird. Und in genau dieser Situation wird man diesen Menschen, die Angst haben und überfordert sind, die folgende Frage stellen: Was hätte sich der Patient für sich gewünscht?

Versuchen Sie sich einmal in die Rolle jener Angehörigen hineinzuversetzen, und Sie werden uns beipflichten, dass sich das nicht wirklich gut anfühlt. Wenn Sie es bislang als vielleicht gesunder Mensch nicht geschafft haben, sich mit dem Thema Vorausverfügungen im Krankheitsfall zu beschäftigen, dann sollten Sie das schleunigst ändern.

Eines können wir Ihnen versprechen: Wenn Sie sich Ihre Gedanken dazu gemacht und sie in mehr oder minder ausführlicher Form zu Papier gebracht haben und mit Ihren engsten Vertrauten über Ihre Wünsche und Vorstellungen in bestimmten Krankheitssituationen gesprochen haben, werden Sie merken, wie groß das Gefühl der Entlastung ist. Dann nämlich müssen Sie sich nicht mehr mit diesen Themen beschäftigen. Zum einen haben Sie für sich die Klarheit gefunden, und zum anderen haben Sie die Menschen, die Ihnen am wichtigsten sind, für den Ernstfall entlastet. Und bedenken Sie auch: Je geringer das eigene Krankheitsgefühl, je geringer die Einschränkungen, desto weniger bedrohlich ist auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Vorsorgevollmacht, denn wenn es mir gutgeht, fühle ich mich ja nicht akut von einer künstlichen Beatmung bedroht.

Wir wissen von vielen Patienten, die wir über die Jahre betreut haben und betreuen, dass es gerade bei weit vorangeschrittenen Erkrankungen, wie zum Beispiel metastasierten Krebserkrankungen, sehr schwer ist, im Angesicht eines vielleicht nicht mehr allzu weit entfernten Sterbens diese Themen anzugehen. Auch reagieren viele Angehörige unserer Patienten immer wieder überrascht, wenn wir sie in Gesprächen dazu ermutigen, diesen Zeitpunkt zu nutzen, um sich Gedanken über eigene Wünsche und Vorstellungen zu machen und diese zu Papier zu bringen. Je länger die Themen wie Vollmacht oder Patientenverfügung auf die lange Bank geschoben werden, desto mehr wächst der Druck und desto stärker wird das Unwohlsein. Es ist ein bisschen wie mit der Steuererklärung: Je näher der Abgabetermin rückt, desto unbequemer wird es. Erkrankte, die die Vorsorge für sich ignorieren, schieben diesen Schwarzen Peter ihren Angehörigen zu.

Besonders dramatisch ist es in den Fällen, bei denen die Hinterbliebenen minderjährige Kinder sind. »Ja, aber es gibt doch die Taufpaten«, mögen Sie jetzt einwerfen. Das können zwar Ihnen nahestehende Menschen sein, die Ihnen glaubhaft versprochen haben, sich im Notfall um Ihre Kinder zu kümmern, familienrechtlich relevant ist eine solche Taufpatenschaft aber keineswegs.

Bei Patienten mit schwerwiegenden, aber prinzipiell heilbaren Erkrankungen, wie bestimmten Krebserkrankungen, denen wir eine Auseinandersetzung mit diesen Themen empfehlen, geht es uns nicht darum, ihnen die Hoffnung auf eine Heilung zu nehmen. Gleichwohl möchten wir sie dafür sensibilisieren, dass es mittlerweile auch trotz verbesserter Therapien langjährige Verläufe gibt, in denen die Patienten die Hoffnung nie aufgeben. Auch beim fünften Rückfall fällt den Ärzten immer noch etwas ein, was zu dem Phänomen führt, das wir gerne das »Unsterblichkeits-Gefühl« nennen. Machen Patienten permanent die Erfahrung, dass ihre Ärzte wieder und wieder ein neues Kaninchen aus dem Hut zaubern, liegt es nahe zu glauben, es gehe immer so weiter. Gerade bei diesen Patienten mit Langzeitverläufen erleben wir, dass das Gespräch über Plan B – was, wenn es irgendwann doch nicht mehr weitergeht – besonders schwierig ist, weil es in fundamentaler Weise im Widerspruch zum bisher Erlebten steht. Auch hier gilt der Leitsatz: »Hope for the best and prepare for the worst.« Denn wenn ich mich prinzipiell mit dem Schlimmsten auseinandergesetzt und darauf vorbereitet habe, kann ich mich noch mal mit ganz viel Schwung auf die Hoffnung stürzen, dass doch noch alles gut werden kann.

Facts

Im Jahr 2018 veröffentlichte die IAHPC, die Internationale Gesellschaft für Hospiz- und Palliativversorgung, eine neue Definition von Palliativversorgung. Diese verdeutlicht noch einmal, dass Palliativmedizin eben nicht Medizin am Lebensende bedeutet, sondern wesentlich mehr. In der Definition heißt es: »Palliativversorgung ist die aktive und umfassende Versorgung von Menschen jeden Alters mit schwerem gesundheitsbezogenem Leiden infolge schwerer Erkrankung und insbesondere von Menschen nahe am Lebensende. Sie zielt auf eine Verbesserung der Lebensqualität von Patienten, deren Familien und Zugehörigen ab.«

Was kann eine palliative Versorgung leisten?

Früher vertrat man den Standpunkt, gerade bei einer Krebserkrankung lange mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Tumor zu bekämpfen und ein drohendes Scheitern möglichst gar nicht oder so spät wie möglich zu thematisieren. Man gab an, damit dem Patienten nicht die letzte Hoffnung nehmen zu wollen, aber in Wirklichkeit war es wohl auch für die Ärzte der wesentlich bequemere Weg. Denn solange man einem Patienten noch den trügerischen Strohhalm einer weiteren Chemotherapie hinhalten konnte, musste man sich nicht dem anspruchsvollen Gespräch über einen Alternativplan stellen, sollte die weitere Behandlung nicht sinnvoll sein.

Mittlerweile lässt sich wissenschaftlich belegen, dass schwerstkranke Patienten eine verbesserte Lebensqualität haben und weniger unter Depressionen leiden, wenn frühzeitig palliativmedizinische Kompetenz dazugeholt wird. Nicht nur werden weniger sinnlose Chemotherapien angeboten, sondern die frühzeitige Palliativversorgung wirkt sich auch lebensverlängernd für die Betroffenen aus. Die bahnbrechende Studie von Jennifer Temel von 2010 zeigt, dass Patienten mit einem metastasierten Lungenkarzinom im Mittel knapp ein Jahr lebten, wenn sie palliativmedizinisch mitbetreut wurden. Die Kontrollgruppe hingegen lebte nur knapp neun Monate. Die betreuten Patienten hatten im Mittel vier Kontakte zu einem Palliativmediziner. Unser Rückschluss ist jetzt natürlich unzulässig und etwas überspitzt, aber das bedeutet neben einer niedrigeren Depressionsrate und der verbesserten Lebensqualität einen Zugewinn von circa drei Wochen Lebenszeit pro persönlichem Kontakt mit dem Palliativmediziner.

Temels Studie führte dazu, dass mittlerweile in medizinischen Leitlinienempfehlungen regelmäßig zur Frühintegration von Palliativmedizin geraten wird.

Auch andere Arbeitsgruppen kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie in der Studie von Jennifer Temel. Beispielsweise zeigt eine Studie von an Lungenkrebs erkrankten Patienten und deren Angehörigen von 2015, dass sich durch wöchentliche Telefonkontakte mit einer geschulten Pflegekraft Depressionen und Angst verringern. Eine ebenfalls 2015 veröffentlichte Studie belegt eine deutliche Verbesserung der Überlebenszeit, wenn die Palliativversorgung früher einsetzte. Und auch auf die Angehörigen wirkte sich die Begleitung positiv aus, sie litten weniger unter Depressionen und Stress.

Zahlreiche Folgestudien haben gleichlautende Ergebnisse gebracht. Monatliche Gesprächsangebote für Patienten und Angehörige mit Palliativversorgern brachten sowohl eine Verbesserung der Lebensqualität als auch der psychischen Belastung bei beiden Gruppen.

Wann sollte die Palliativversorgung einsetzen?

Bei Krebserkrankungen ist es vermeintlich leichter festzulegen. Hier könnte man bei metastasierten Erkrankungen ein erstes palliativmedizinisches Gespräch initiieren. Aber wie sieht es mit neurologischen Erkrankungen oder anderen Organerkrankungen aus, bei denen Herz, Leber, Niere oder Lunge betroffen sind? Wir haben uns mit vielen anderen Palliativexperten zusammengesetzt und möglichst einfache Kriterien erarbeitet, wann man für welche Patienten mit der palliativen Versorgung einsetzen kann. Eigentlich sind diese Kriterien erstellt worden, um ärztlichen Kollegen Hemmungen bei der Anmeldung ihrer Patienten in einer Palliativstation zu nehmen, denn in den Köpfen vieler Ärzte stecken noch überholte Vorurteile, wie »Diesen Patient kann ich euch noch nicht schicken, dem geht es noch zu gut« oder »Der ist noch nichts für euch, der stirbt noch nicht«, denen man damit zum Wohle der Patienten begegnen kann.

Wir sind der Meinung, dass Ihnen diese Liste auch als Betroffene und Angehörige gute Dienste leisten kann.

Kriterien für die Frühintegration von Palliativversorgung

Bei den geschilderten Erkrankungen oder Erkrankungsstadien ist es sinnvoll, einen Palliativmediziner hinzuzuziehen.

Krebserkrankungen:

Krebserkrankungen in verschiedenen Organen oder Geweben: metastasiert und/oder inoperabel

Hirntumore, inoperabel oder verbliebene Tumorreste nach der Operation oder Rückfall der Erkrankung

Bluterkrankungen:

Akute Leukämien oder aggressiv verlaufende Lymphome, kein initiales vollständiges Verschwinden der Krebszellen durch die Therapie oder Rückfall ohne Ansprechen auf die Therapie oder Therapieabbruch

Erkrankung der inneren Organe:

Chronische Herzschwäche ab NYHA Grad III (starke Einschränkung der Belastbarkeit mit Beschwerdefreiheit in Ruhe, jedoch Auftreten von Beschwerden bereits nach leichter Belastung) und mehr als einer Notfalleinweisung in den letzten sechs Monaten unter optimaler Therapie. (Optimale Therapie bedeutet, dass der behandelnde Kardiologe nach aktuellem medizinischem Standard die medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapie maximal eingesetzt hat.)

COPDGOLD-Stadien II–IV, hierbei handelt es sich um eine Stadieneinteilung der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung. Bei GOLD-Stadium II spricht man von mittelschwerer COPD, hier ist die Lungenfunktion bereits um 20 bis 50 Prozent unter dem Sollwert. Darüber hinaus ist ein weiteres Kriterium gefordert, z.B. Luftnot in Ruhe, Schmerzen oder Depression oder mehr als ein ungeplanter Krankenhausaufenthalt wegen zusätzlichem Infekt der Luftwege in den letzten sechs Monaten unter optimaler Therapie. Auch hier gilt wieder, optimale Therapie heißt, es erfolgt die stadiengerechte medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapie durch einen Facharzt, und diese wird auch wie verordnet angewandt.

➝ Zusätzliche Kriterien sind: über 50 Prozent Ruhebedürftigkeit zur Tageszeit oder eine insgesamt stark eingeschränkte Selbstversorgung

Chronische Nierenschwäche ab Stadium IV und einem weiteren Kriterium, entweder eingeschränkte Selbstversorgung mit mehr als 50 Prozent Ruhebedürftigkeit während des Tages oder Kriterien, die eine Dialyse ausschließen oder mehr als vier weitere Begleiterkrankungen.

Lebererkrankungen, Leberzirrhose Child-C mit mindestens einem Zusatzkriterium: entweder immer wieder nachlaufendem Bauchwasser, leberfunktionsstörungsbedingter Hirnfehlfunktion, kombinierte Leber-Nieren-Problematik oder Zustand nach Speiseröhrenkrampfadern-Blutung.

Neurologische Erkrankungen:

Neurologische Erkrankungen mit Bewegungsstörungen, spätestens mit beginnenden Sprech-, Schluck- oder Atemstörungen, zum Beispiel bei Morbus Parkinson, Morbus Huntington, Multipler Sklerose, amyotropher Lateralsklerose (ALS), hier im Grunde genommen schon ab Diagnosestellung. Bei Myasthenie, Muskeldystrophien, Schlaganfallverläufen, die entweder bleibende Schluckstörungen hinterlassen oder in eine vollständige Pflegeabhängigkeit münden.

Demenz, bei gestörtem Ess-Trink-Verhalten, bei mehr als einem ungeplanten Krankenhausaufenthalt in den letzten sechs Monaten.

Haben Sie sich hier als Patient wiedergefunden oder als Angehöriger eine Erkrankung oder ein Erkrankungsstadium eines Familienangehörigen wiedererkannt, können Sie diese Vorlage nutzen, um mit Ihrem Hausarzt oder Facharzt ins Gespräch zu kommen. Ihren behandelnden Medizinern ist es leicht möglich, ein palliativmedizinisches Begleitangebot für Sie in die Wege zu leiten. Dabei ist das oberste Ziel, die palliativmedizinische Behandlung eben nicht im Anschluss an eine Therapie, die sich an der Erkrankung ausrichtet, zu initiieren, sondern sie als selbständigen Baustein der Gesamttherapie möglichst frühzeitig anzubieten.

Wie kann Kommunikation über das Sterben gelingen?

Für ein gutes Gespräch sind die Pausen

genauso wichtig wie die Worte.

Heimito von Doderer

Dieses Buch soll Mut machen, Gespräche über die Themen Sterben und Tod zu führen. Es soll Ängste reduzieren und konkrete Anregungen geben. Da es ein Buch über das Reden ist, möchten wir zuerst über einige grundlegende Dinge der Kommunikation sprechen. Denn häufig sind es nicht nur Ängste, die das Sprechen übers Sterben erschweren, sondern auch Missverständnisse, also Fehler in der Kommunikation.

Sandra Krüger ist an einem schnell fortschreitenden Lungentumor erkrankt und verbringt ihre letzten Wochen in einem Hospiz. Die 52-Jährige ist sehr unzufrieden und enttäuscht, weil ihr Mann so wenig Zeit mit ihr verbringt. Dieser wiederum sagt, er besuche seine Frau so selten, weil sie in seinem Beisein nur am Nörgeln sei und er damit nicht umgehen könne. Je seltener er zu Besuch kommt, desto unzufriedener und vorwurfsvoller wird Sandra Krüger und desto mehr zieht sich ihr Mann zurück.

 

Georg Steinmann ist schwer krank, seine Frau belastet diese Situation stark. Aber wenn er über seinen Tod sprechen möchte, verfällt sie in geschäftiges Treiben, steht auf, zieht die Vorhänge zu, stellt die Sachen auf dem Nachttisch um usw. Als ihr Mann einige Tage später nicht mehr ansprechbar ist, beklagt sie, dass es ja doch viele Dinge gegeben habe, über die sie mit ihm noch hätte sprechen wollen.

An diesen Beispielen sieht man sehr gut: Kommunikation ist mehr als die Übermittlung von Informationen, die Weitergabe von Erfahrung und Wissen. Gerade in Gesprächen mit schwersterkrankten Menschen spielen Emotionen eine große Rolle, geht es in Gesprächen oft um die Beziehung von zwei oder mehr Menschen zueinander.

Paul Watzlawick, der bekannte österreichisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler, sagt: Man kann nicht nicht kommunizieren. Das heißt, dass jede Art von Verhalten einen Akt der Kommunikation darstellt. Kommunikation ist nach Watzlawick immer Ursache und Wirkung. Auf jedes Verhalten folgt also immer eine Reaktion.

Merke

Auch wenn Sie Ihrem Gegenüber nicht direkt sagen, dass Sie nicht über das Sterben sprechen wollen – Ihr Verhalten kann etwas anderes ausdrücken und Ihre Abneigung deutlich kommunizieren. Machen Sie sich bewusst, wie Sie in einer solchen Situation reagieren und wie diese Reaktion auf andere wirkt. Wenn Sie selbst solch ein abwehrendes Verhalten als Reaktion auf Ihren Gesprächswunsch erleben – lassen Sie nicht locker und bestehen Sie darauf.