Leben, ins Feuer geworfen - Michail Ryklin - E-Book

Leben, ins Feuer geworfen E-Book

Michail Ryklin

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Himmelsstürmer« hießen die jungen Leute, die 1917 für die Oktoberrevolution brannten und sich dem radikalen Umbau der Gesellschaft verschrieben. Viele endeten tragisch: im Lager an der Kolyma oder in den Kellern der Lubjanka, des berüchtigten Moskauer Geheimdienstgefängnisses. Es waren die Schüler und Gefährten Lenins, die den Gewaltexzessen seines Nachfolgers Stalin zum Opfer fielen.

Für Michail Ryklin ist dieses Drama persönliche Geschichte. Die Söhne des Urgroßvaters, eines Geistlichen in Smolensk, gehörten zur bolschewistischen Elite. Nikolaj Tschaplin stieg in der Jugendorganisation Komsomol bis zur Führungsebene auf, Sergej, ein paar Jahre jünger, arbeitete schon mit fünfzehn als Kurier und war später für den Auslandsgeheimdienst in Finnland und Estland tätig. Der eine wirkte von innen für die Revolution, der andere wollte sie in die Welt tragen – bis beide in die Mühlen des Terrors gerieten.

Gestützt auf Archivmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert Ryklin das Leben und den gewaltsamen Tod seiner Verwandten, die Teil des sowjetischen Herrschaftssystems waren. Sein erschütternder Bericht konfrontiert uns mit dem Innersten der totalitären Macht und dem Versuch Einzelner, ihre menschliche Integrität zu behaupten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 419

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michail Ryklin

Leben, ins Feuer geworfen

Die Generation des Großen Oktobers

Aus dem Russischen von Sabine Grebing und Volker Weichsel

Suhrkamp

In Erinnerung an meine MutterStalina Sergejewna Tschaplina (1927-2002)

Inhalt

Einleitung

Kairos

Erster Teil. Die Erstürmung des Himmels. Nikolai Tschaplin

Die Revolution – ein Fest

Das »Gewissen Russlands« entlarvt die Bolschewiki

Das Russland, das wir verloren haben

Begegnung mit Lenin

Von der Verblendung zur Ernüchterung

Todgeweihter Ikarus

»Auf leninsche Art leben«. Nikolai Tschaplin an der Spitze des Komsomol

Stalins Günstling Besso Lominadse

Beim Geheimdienst

Der Fall der gefälschten Tscherwonzen

Die Jahre 1931-1937

»Stalins Schüler, Genosse Kossarew«

Die Apokalypse des Jahres 1937

Zweiter Teil. Die Revolution endet an der Kolyma. Sergej Tschaplin

Die Leningrader Akte Nr. 20278-38. Verhaftung, Ermittlung, Urteil

»Ein anderes Leben brauche ich nicht«

»Politisches Vertrauen«

Zum »Spion« erklärt. Der Fall Georgi Shshonow

Deportation 1 – Transsib

Deportation 2 – Auf der »Dshurma«. Die Fahrten des Jahres 1939

Wie man ein Kolyma-Häftling wird

Im Außenlager »Kilometer 47«

Im Metallurgiekombinat »Wakchanka«. Lagerverfahren Nr. 5677

»Schicksalswende«

Im Bergwerk Werchni

Protest

»Der Schlitten« – Das Woron-Paradox

Schluss

Tauwetter

Der Name Stalin

Anhang

Bildteil

Abkürzungen

Einleitung

Kairos

Bei der Arbeit an diesem Buch stellte ich mir unwillkürlich die Frage: Warum schreibe ich es mit solcher Verspätung? Warum erst jetzt? Vor zwanzig Jahren waren meine Verwandten noch am Leben, und ich hätte sie nach den Menschen fragen können, von denen es handelt.

Doch damals kam es mir nicht in den Sinn.

Das Buch handelt vom Onkel meiner Mutter, Nikolai Pawlowitsch Tschaplin, von seinem Bruder, meinem Großvater Sergej Pawlowitsch Tschaplin, von ihren Freunden und vor allem von der Zeit, in die ihr kurzes Leben fiel, das so tragisch endete. Es handelt von der Zeit jenes Ereignisses, das in der Sowjetunion Große Sozialistische Oktoberrevolution genannt wurde und das in Russland heute geringschätzig als bolschewistischer Umsturz bezeichnet wird. Dieses Ereignis hat dem Leben einer ganzen Generation Sinn verliehen; in seinem Namen wurden die meisten von ihnen umgebracht.

In meiner frühen Kindheit wurde über sie und ihr Schicksal nur geflüstert; lange wussten wir nicht einmal genau, ob sie noch am Leben sind. Unter Stalin wurde auf Anfragen von Verwandten »nach Vorschrift« geantwortet: War jemand erschossen worden, hieß es, er habe »zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr« erhalten; wer im Lager an Hunger und Kälte zugrunde gegangen, an Zwangsarbeit zerbrochen oder erschossen worden war, von dem hieß es, er sei an dieser oder jener Krankheit gestorben. Nachzufragen wagte niemand, jeder konnte schnell selbst zum »Volksfeind« werden.

Als nach Stalins Tod die Rehabilitation begann, wurde den Menschen, um die es in diesem Buch geht, wie hunderttausenden anderen Opfern des »Personenkults« das »Fehlen eines Straftatbestands« bescheinigt, einigen sogar noch vor Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Nikolai Tschaplin wurde sogar posthum wieder in die Partei aufgenommen.

Einige paar Jahre später, am 12. April 1961, ermahnte der Direktor meiner Leningrader Schule mich feierlich, stolz auf meine Verwandten zu sein. Sie hätten zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen. Dieses Datum ist mir aus einem anderen Grund in Erinnerung geblieben. Es war der Tag, an dem Juri Gagarin ins All flog.

Kinder spüren oft intuitiv, ob jemand lügt, ohne sagen zu können, worin genau die Lüge besteht. Es gelang mir nicht, auf Menschen stolz zu sein, die man vor kurzem noch wie Aussätzige behandelt hatte. Menschen, über deren Existenz man besser schwieg. Dies galt umso mehr, als während des »Tauwetters«, als man die früheren Volksfeinde zu rehabilitieren begann, nur ihr Leben heiliggesprochen wurde. Wie und warum sie gestorben waren, darüber durfte weiterhin nicht geredet werden.

Weder als Schüler noch während meines Studiums an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität bin ich Mitglied des Komsomol gewesen, jener Organisation, zu deren Gründern mein Großonkel gehört hatte.

Generell galt es unter Geisteswissenschaftlern meiner Generation als Bankrott, wenn man sich mit der Geschichte der KPdSU, mit dem historischen Materialismus oder dem wissenschaftlichen Kommunismus befasste; das versprach allenfalls eine gut bezahlte, aber in intellektueller Hinsicht drittklassige Arbeit als Soldat der Partei oder des Staates. Der von der Partei kontrollierten ideologischen Sphäre blieb man fern, wie eine unausgesprochene Regel lautete. Alles, was von Ideologie berührt war, rief bei jenen, die Wissenschaft betreiben wollten, das Bedürfnis nach Abgrenzung hervor. Angezogen fühlten sie sich von Logik, Philosophiegeschichte, Ästhetik, moderner westlicher Philosophie. Viele suchten ihr Heil in der Entpolitisierung, und ich war keine Ausnahme: Ich beschäftigte mich mit dem Einfluss der Philosophie Rousseaus auf die strukturelle Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, danach schrieb ich über Michel Foucault, Gilles Deleuze, Roland Barthes, Jacques Derrida, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Martin Heidegger und Karl Jaspers.

Die seltenen Versuche, jene meiner Verwandten, die mit dem Leben davongekommen waren, über die Ursachen des Großen Terrors zu befragen, endeten erfolglos. Ich stieß an eine Mauer des Schweigens.

Die globale Bedeutung der Oktoberrevolution ist mir erst Anfang der 1990er Jahre in Paris, in Gesprächen mit französischen Philosophen, vor allem mit Jacques Derrida, Jean Baudrillard und Félix Guattari bewusst geworden. Sie interessierten sich nicht sonderlich für die russische Geschichte (das Tatarenjoch, die Opritschnina, die Reformen Peters I. und Alexanders II.), sehr wohl jedoch für die Oktoberrevolution. Sie betrachteten sie als ein Ereignis der Weltgeschichte, als Erbin der Großen Französischen Revolution und damit als Teil ihrer eigenen Geschichte. Stalinist war keiner von ihnen, aber einige hatten sich in ihrer Jugend für Lenin und Trotzki begeistert. Es stellte sich heraus, dass die Revolution, die einst mit dem Ziel antrat, den Kapitalismus zu vernichten, eine andere Seite hatte, die den Beteiligten verborgen blieb, für meine Gesprächspartner aber wesentlich war. Die Bolschewiki hatten ihre Revolution als Teil einer Weltrevolution begriffen, die sich nach Westen ausbreiten würde. In Europa sollten ähnliche Revolutionen ausbrechen. Doch keine entwickelte bürgerliche Gesellschaft ließ sich in ähnlicher Weise ausbeuten wie die russische. Meine Freunde irrten.

Für Generationen westlicher Intellektueller lag die Bedeutung der Oktoberrevolution darin, dass sie eine mögliche Alternative zum Kapitalismus aufzeigte, dass sie seiner globalen Ausbreitung Grenzen setzte und ihn zwang, die Interessen der Arbeiter, der Frauen, der kolonisierten Völker zu berücksichtigen. Wie soll man hier nicht an die Hegelsche Dialektik denken, auf die in der Sowjetunion so gerne verwiesen wurde. Die Geschichte verläuft nicht so, wie es die Beteiligten beabsichtigten, sondern gemäß der Vorsehung, in der sich der Weltgeist realisiert. Der Rote Oktober ist ein Fragment der Weltgeschichte, das aus einer Laune heraus in die Geschichte Russlands implantiert wurde. Indem er die bürgerliche Gesellschaft radikal herausforderte, trug er zur Entwicklung und Stabilisierung dessen bei, was er vernichten wollte (ebenso wie der Nationalsozialismus den »jüdischen Kommunismus« zerstören wollte und so zur Stabilisierung des Stalin-Regimes beitrug).

»Die Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts«, schreibt Eric Hobsbawm, »kann ohne die Russische Revolution und ihre direkten wie indirekten Folgen nicht erklärt werden. Und das nicht zuletzt, weil sie sich als Retter des liberalen Kapitalismus erweisen sollte: Sie sollte es dem Westen ermöglichen, den Zweiten Weltkrieg gegen Hitlers Deutschland zu gewinnen, sie sollte dem Kapitalismus den Anstoß, sich selbst zu reformieren; und weil sich die Sowjetunion paradoxerweise gegen die Große Depression immun zeigte, sollte sie auch den Anstoß dazu geben, den orthodoxen Glauben an die freie Marktwirtschaft zu revidieren.«1

Das Laboratorium Russland war auf die Verhältnisse im Westen nicht übertragbar. Doch die Bolschewiki begannen, mit Hilfe der Komintern ihr Modell der Revolution zu exportieren. Man verstand nicht, dass in den Augen der westlichen Intellektuellen die Revolution gerade als russische Revolution eine Weltrevolution war. Gerade weil der Kapitalismus in Russland erst im Entstehen war, konnte dort einen Alternative zu ihm errichtet werden. Die Bolschewiki wollten die alte Welt zerschlagen, tatsächlich hielten sie ihr einen Spiegel vor, in dem diese ihre abstoßendsten Seiten erblickte. Dies war ein Stimulus für Veränderungen.

Ein Führer der »himmelsstürmenden« Jugend, die in den zwanziger Jahren, der verhältnismäßig glücklichen Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) von der Weltrevolution träumte, war mein Großonkel Nikolai Tschaplin. Er und seine Freunde, unter ihnen Alexander Kossarew, Lasar Schatzkin und Besso Lominadse, schworen sich gegenseitig, ihr Leben der Sache der Partei zu widmen. Als 1921 auf Anordnung Lenins innerparteiliche Fraktionen in der WKP(B)2 verboten wurden, stimmten sie begeistert zu. Die Ermordung jener, die zu den »ausbeuterischen Klassen« gezählt wurden, rechtfertigten sie mit den Interessen der Weltrevolution. Ihre Mitgliedschaft in der Partei verstanden sie als freiwilligen Verzicht auf das Recht zu selbständigem Denken, auf eine von der Partei unabhängige Meinung. Als Nikolai bei seinen älteren Kameraden (Krupskaja, Ordshonikidse, Kirow) um Rat suchte, wie richtig, d. ‌h. nach dem Vorbild Lenins zu leben sei, riefen sie ihn dazu auf, der Partei zu glauben und diesen Glauben auch in anderen anzufachen. Die Möglichkeit, dass er eine andere Meinung haben könnte als die Mehrheit, wurde erst gar nicht erörtert. Es wäre als Häresie verstanden worden.

Liest man die hagiographischen Lebensbeschreibungen Tschaplins, Kossarews oder Schatzkins, so könnte man daher denken, dass ihre Meinung niemals von der der Partei abwich und dass ihr Tod die Folge einer unerklärlichen Willkür war, die dem Personenkult um Stalin zuzuschreiben ist. Nikolai Tschaplin aber hatte Stalin tatsächlich kritisiert und mit Freunden darüber diskutiert, wie er abgesetzt werden könnte. Das ist dem Protokoll des Verhörs zu entnehmen, dem sein Bruder Sergej Tschaplin im Februar 1939 unterzogen wurde. (Nikolai war bereits 1931 vom Posten des Sekretärs des Parteikomitees für Transkaukasien entfernt worden.) Sergej und sein jüngerer Bruder Viktor hatten Nikolai unterstützt. Man beschuldigte sie, einen Anschlag auf den Volkskommissar für Verkehrswesen Lasar Kaganowitsch vorbereitet zu haben. An dergleichen überhaupt zu denken wäre ihnen gewiss nie in den Sinn gekommen. Aber über Kaganowitschs Willkür hatten sie sich empört; sie wollten einen anderen auf seinem Posten sehen. Ihre Empörung hatten sie nicht öffentlich gemacht, Fraktionen in der Partei waren ja längst verboten, sondern konspirativ, im Verborgenen vorgetragen, im engsten Kreis, unter strengster Geheimhaltung. Die Ironie der Situation bestand darin, dass jener über die Verschwörung am besten Bescheid wusste, gegen den sie sich richtete: Josef Stalin.

Die schwierigste Frage beim Verfassen dieses Buches lautete: Wie sich zu den Personen stellen, von denen es handelt? Auf der einen Seite ist ihnen, die ihr Leben dem Sieg der Weltrevolution gewidmet haben, persönliche Integrität nicht abzusprechen. Auf der anderen Seite handelt es sich um Menschen, die im Namen dieses Ziels zu allem bereit waren. Sie handelten nach den Regeln ihres Glaubens, wiesen den kategorischen Imperativ als ein Überbleibsel der alten Welt zurück, der sie den Krieg erklärt hatten. Die Entscheidung fällt umso schwerer, als unter ihnen Verwandte sind, die in der Blüte ihrer Jahre starben, im Feuer ihres Glaubens verbrannten.

Das Material, das ich zum Schreiben dieses Buches benötigte, hat sich über einen langen Zeitraum angesammelt. Am Anfang standen die mündlichen Berichte von Georgi Stepanowitsch Shshonow, der meinen Großvater im Untersuchungsgefängnis in Leningrad kennengelernt hatte. Die beiden wurden gemeinsam an die Kolyma deportiert, und Shshonow war Zeuge seines gewaltsamen Todes. Nach seiner Entlassung aus dem Lager besuchte er meine Mutter in Leningrad. Von ihm erfuhr sie, was mit ihrem Vater geschehen war. In jenen Jahren erhielten die Familien lediglich eine Nachricht mit dem Standardsatz, das Verfahren sei »in Ermangelung eines Straftatbestands« geschlossen worden.

Während der Perestroika konnte ich mehr über die Prozesse gegen Sergej Tschaplin in Leningrad und an der Kolyma herausfinden. 1989 erschien Georgi Shshonows Buch Vom »Auerhahn« zum »Feuervogel« mit der Erzählung »Der Schlitten«, in der eine Version vom Tod meines Großvaters im Bergwerk Werchni im Herbst 1941 dargelegt wird. Im August 1989 brachte die Leningradskaja Prawda unter dem Titel »Ein anderes Leben brauche ich nicht« drei umfangreiche Artikel über das Schicksal Sergej Tschaplins.

Auf die Veröffentlichung von Shshonows Erzählungen »Deportation«, »Wende des Schicksals« und vor allem »Der Mord« musste ich bis zum Jahr 2002 warten. Sie sind in der vollständigen Fassung seiner Memoiren erschienen. Die Interviews, in denen er von seiner wundersamen Rettung und vom Tod seines Freundes erzählt, kamen 2005, kurz vor seinem Tod heraus.

Ohne die Zeugenschaft Georgi Shshonows hätte dieses Buch nicht entstehen können. Der Schauspieler, zukünftiges Idol der sowjetischen Fernsehzuschauer, war der letzte Mensch, der meinen Großvater lebend gesehen hat. Er wurde Zeuge, wie Sergej Tschaplin gegen die willkürliche Ermordung eines Kriminellen protestiert hatte, und zweifelte nicht daran, dass sein Freund diesen Protest nicht lange überleben würde. Ein Mann, der »Woron« (Rabe) gerufen wurde, jagte Tschaplin in den Karzer und erschoss ihn. Ein halbes Jahr später rettete derselbe »Woron« Shshonow das Leben.

Shshonow, zehn Jahre jünger als mein Großvater, war bereits unter der Sowjetmacht aufgewachsen. In einem seiner späten Interviews nannte er Sergej Tschaplin seinen besten Freund. Die »Heldentat des Aufklärers« im Außenlager Werchni wurde vor dem Hintergrund seiner eigenen wundersamen Rettung zum Kern seiner Lebensphilosophie. Er führte sie immer wieder als Beispiel für die unergründliche Komplexität des Lebens an: Der Mörder seines besten Freundes rettete ihm das Leben – da finde einer heraus, wer gut ist und wer schlecht.

Während der Arbeit an diesem Buch gelang es mir, mehr über den Leningrader Prozess gegen meinen Großvater zu erfahren. Einiges ist jedoch bis heute Verschlusssache: Die Denunziationen, die unter Folter erzwungenen »Geständnisse« der anderen Angeklagten, die Unterlagen zur Rehabilitation.

In die Akten des Prozesses gegen Nikolai Tschaplin erhielt ich keine Einsicht. Auf die Anfrage meiner Tochter Xenia Leonowa antwortete der russische Geheimdienst FSB am 27. Dezember 2016:

»Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass die Akten zu dem Prozess gegen Tschaplin, Nikolai Pawlowitsch, im Zentralarchiv des FSB unter der Nummer R-2200 aufbewahrt werden. Die Unterlagen des genannten Prozesses durchlaufen gegenwärtig das Aktenöffnungsverfahren bei der Militärstaatsanwaltschaft und beim Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation. Nach Abschluss des Verfahrens erhalten Sie einen endgültigen Bescheid.«3

Doch der Zugang zu den Quellen ist das eine; das andere ist der eigene Umgang mit den Texten: mit Büchern, die vom Standpunkt der Partei aus geschrieben wurden; mit Untersuchungsakten, die Denunziationen enthalten, mit Zeitungsartikeln, mit Dokumenten aus dem Familienarchiv. Die in den siebziger Jahren erschienenen Bücher und Broschüren über das Leben Nikolai Tschaplins sind Teil einer ideologischen Erzählung mit hagiographischen Elementen. Sie enthalten zwangsläufig Verzerrungen, die es im Lichte heutiger historischer Erkenntnisse zu korrigieren gilt. Die Verhörprotokolle, deren Lektüre kaum erträglich ist, wurden von Untersuchungsrichtern verfasst, die den Angeklagten soeben gefoltert hatten und die nun so tun, als gestehe dieser reinen Herzens und freiwillig. Einiges haben sie vielleicht später hinzugefügt, anderes wurde vermutlich falsch abgetippt. Das Verfahren an der Kolyma wurde von A bis Z auf Denunziationen von Lagerspitzeln aufgebaut, so dass man die Fakten wie Goldstaub aussieben muss.

Daher habe ich meiner Erzählung an vielen Stellen nach Möglichkeit knapp gehaltene Kommentare zur Seite gestellt.

Kairos nannten die Griechen den günstigen Moment, den rechten Zeitpunkt, um eine Sache in Angriff zu nehmen. Der Kairos für das Verfassen dieses Buchs kam spät. Die Protagonisten leben längst nicht mehr, die Ideologie, die sie in den 1960-1980er Jahren auf den Schild gehoben hatte, ist lange tot und ebenso der Staat, der diese Ideologie predigte. Andererseits ist auch die Illusion verschwunden, in deren Bann wir bis Ende der 1990er Jahre lebten, die Illusion, die Sowjetzeit sei für immer vergangen, so dass man erleichtert aufatmen und sie dem Vergessen anheimfallen lassen könne.

Mit dem Anbruch des neuen Jahrtausends erwachte das, was auf den Schrottplatz der Geschichte verfrachtet schien, zu neuem Leben. Mit Unterstützung von Millionen Menschen wurde auf den Trümmern der UdSSR ein Regime errichtet, das seine Verwandtschaft mit dem Roten Oktober heftig bestreitet, tatsächlich aber dessen zynische Vollendung darstellt. Seine Vertreter liebäugeln mit der orthodoxen Kirche und dem Nationalismus, sie predigen nebulöse »geistige Bande« und preisen gelegentlich die Zaren. Doch sie leben, handeln und denken nach den Gesetzen des Geheimdiensts, der unter Lenin entstand und unter Stalin alle Poren der Gesellschaft durchdrang. Diente der Geheimdienst früher der kommunistischen Ideologie, so hat er sich nun gleichsam von ihr emanzipiert und sein eigenes Leben begonnen. Kurzum, was wir vor einem Vierteljahrhundert erleichtert zu Grabe getragen hatten, ist wieder auferstanden. Der heutigen politischen Realität Russlands fehlt obendrein all das, was die Oktoberrevolution in den Augen von vielen Millionen Menschen einst so faszinierend erscheinen ließ. Die Atlanten, die die bürgerliche Welt auf ihren Schultern trugen, sind verschwunden, der proletarische Internationalismus, die Befreiung der Frau, der Glaube an das Kollektiv und an die lichte Zukunft – all das hat sich ins Gegenteil verkehrt. In Wahrheit hatte der Stalinismus bereits all diese Hoffnungen zerstört; doch die Sowjetunion hatte die Außenwelt weiterhin glauben machen wollen, dass der Geist des Roten Oktobers in ihr weiterlebt.

Das heutige Regime, das in vielerlei Hinsicht das stalinsche fortsetzt, liebäugelt hingegen mit dem alten Russland. Wie der revolutionäre Tschekismus sich zu dem heutigen verhält, worin sich die Verbrechen, die der Geheimdienst der zwanziger Jahre im Namen einer Idee beging – erinnert sei nur an die legendären Operationen »Trust« und »Syndikat-2« –, von den heutigen hybriden Kriegen unterscheiden, die ebenfalls als umfassende Spezialoperationen geplant wurden – dies wäre Thema einer eigenen Untersuchung. Festzuhalten bleibt, dass der Geheimdienst Tscheka, heute FSB, als einzige Institution den Systemwechsel nach dem Zerfall der Sowjetunion bruchlos überstanden hat und in Russland heute mächtiger ist als je zuvor.

Auf dem Friedhof des Donskoi-Klosters im Zentrum Moskaus kommt man gleich links vom Eingang an einem Denkmal aus Marmor vorbei.

Es erinnert an Wassili Blochin, den Tscheka-Offizier, der von 1924 bis 1953 persönlich die Todesurteile sogenannter Staatsfeinde vollstreckte. Auf dem Bild trägt er eine Generalsuniform und seine sämtlichen Orden.

»Wie kann das sein«, dachte ich, Chruschtschow hat ihm doch 1954 seine Orden und Schulterklappen entzogen, da er sich »bei seiner Arbeit in den Organen diskreditiert hat«. Es stellte sich heraus, dass er Ende der sechziger Jahre unter KGB-Chef Andropow ohne öffentliche Erklärung seine Insignien posthum zurückerhalten hatte. Im Jahr 2003, Russlands Präsident hieß bereits Wladimir Putin, wurde das alte Denkmal durch ein neues, weniger bescheidenes ersetzt.

Es gehörte zu seinen Dienstpflichten als Chef der Kommandantur der OGPU-NKWD-MWD4, Hinrichtungen durchzuführen: Er leitete ein »Erschießungskommando« – die Unterschrift Blochins steht auf zahllosen Erschießungsprotokollen sowie auf den bei der Übergabe des Leichnams und der Einäscherung ausgestellten Dokumenten. In den drei Jahrzehnten der »tadellosen Verrichtung seines Dienstes« ermordete Blochin zwischen 10 ‌000 und 15 ‌000 Menschen – mit den eigenen Händen. Seine letzte Erschießung leitete er drei Tage vor Stalins Tod.

Dank der skrupulösen Arbeit, die die Historiker der Menschenrechtsgesellschaft Memorial seit einem Vierteljahrhundert leisten, wissen wir, wer am 23. September 1938 Nikolai Tschaplin und am 23. Februar 1939 Alexander Kossarew erschoss.

»Bekannte Mitglieder der Nomenklatura erschoss gewöhnlich der langjährige OGPU-MGB-Kommandant W. ‌M. Blochin.«5 Die Erschießung fand gewöhnlich im Keller des NKWD-Gebäudes in der Warsanofjew-Gasse neben der Lubjanka statt.

Den Beweis dafür, dass das »Blochin-Kommando« Nikolai erschossen hat, liefert das Kenotaph, das sich – ebenso wie das Kenotaph Kossarews – auf dem Donskoi-Friedhof befindet. Dort wurden die Opfer des Lubjanka-Kommandanten und seines »Sonderkommandos« eingeäschert.

Stalin verfolgte aufmerksam, wie die bekanntesten seiner zahllosen Feinde starben. Sein Günstling Jeshow bewahrte die »persönlichen« Kugeln auf, mit denen Sinowjew und Kamenjew getötet worden waren. Sie wurden bei Jeshows Verhaftung konfisziert.

»Natürlich konnte allein Stalin die alptraumhafte Szene bei der Hinrichtung der im Prozess gegen den ›rechtstrozkistischen Block‹ Verurteilten anordnen, also Bucharin und Jagoda vor ihrer Hinrichtung dazu zwingen, der Erschießung von 16 ebenfalls verurteilten Mitverschwörern beizuwohnen, bevor sie am Ende des ›Spektakels‹ selbst die Kugel erhielten.«6

Der Diktator, über dessen Gnadenlosigkeit zahllose Erzählungen kursieren, schätzte den obersten Todesschützen der Lubjanka. 1939 bereitete Berija einen Erlass zur Verhaftung Blochins vor. Zu seinem Erstaunen lehnte der Chef ab: »Nicht einverstanden war I. ‌W. Stalin, der erklärte, dass man solche Leute nicht ins Gefängnis stecken darf, da sie Kärrnerarbeit leisten.«7 Blochin wurde am Leben gelassen. Mehr noch, er diente sich unter Berija bis zum Generalsrang hoch. Am 6. Februar 1940 wurde ihm die Geheimaufgabe anvertraut, den ehemaligen Volkskommissar für Inneres Nikolai Jeshow zu erschießen, der das Schicksal von Millionen sowjetischer Familien auf dem Gewissen hat. Im gleichen Jahr fand die Erschießung der polnischen Offiziere statt, bei der die »Blochin-Gruppe« eine wichtige Rolle spielte.

Die Kärrnerarbeit war wahrhaftig schwer. Die Mitglieder des Erschießungskommandos tranken sich zu Tode, erschossen sich, wurden krank, verloren den Verstand. Einige wurden zu Volksfeinden erklärt und starben an einer Kugel aus dem Lauf ihres ehemaligen Vorgesetzten. Unter den Henkern waren Männer aus der Leibwache Stalins. Wie war es möglich, diese Frage stellt sich den Historikern immer wieder, dass der pathologisch misstrauische Generalsekretär »keine Angst hatte, wenn hinter seinem Rücken Leute herumliefen, die es gewohnt waren, Menschen in den Hinterkopf zu schießen«.8

Lenin, Trotzki und ihre Parteigenossen waren bekanntermaßen »kämpferische Atheisten«. Als sie die Macht ergriffen hatten, erklärten sie daher die Feuerbestattung zur bevorzugten Form der Beisetzung – unter heftigen Protesten der orthodoxen Kirche, die wirkungslos blieben. Kirchen wurden zu Krematorien umgebaut. Auch der Kathedrale des Heiligen Seraphim von Sarow auf dem Donskoi-Friedhof blieb dies nicht erspart. Unter der Leitung der Architekten Ossipow und Tamonkin wurden die Ikonostasen und die Ikonenkästen entfernt, die Kuppel abgerissen und durch einen zwanzig Meter hohen Betonturm ersetzt. Auf der Solea und dem Altar wurden die Öfen errichtet. (Sie wurden übrigens von der Erfurter Firma J. ‌A. Topf & Söhne geliefert, die später die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Mauthausen mit ihrer Technologie ausstattete.)9

Das Krematorium nahm 1927 den Betrieb auf. Geleitet wurde es von Pjotr Nesterenko, einem einstigen Adligen, der als Oberst in der zaristischen Armee gedient hatte, von der OGPU in Paris angeworben worden war und mit der Aufgabe in die Sowjetunion zurückkehrte, der Kathedrale der Feuerbestattung vorzustehen. In den Jahren 1937/1938 brachten Blochin und seine Leute nachts und unter strengster Geheimhaltung die Leichen aus der Lubjanka in dieses Krematorium und übergaben sie dem ehemaligen Oberst persönlich, der für die Einäscherung und die anschließende Bestattung verantwortlich war. Als Nesterenko 1941 von den »Organen« verhaftet wurde, sagte er beim Verhör aus: »Nach der Einäscherung vergrub ich die Asche persönlich an einer speziell dafür ausgewiesenen Stelle auf dem Hof des Krematoriums.« Doch wo sich diese Stelle befindet, wird niemand mehr erfahren, denn die Tschekisten erschossen auch den Krematoriumsleiter.

Im zentralen Bereich des Donskoi-Friedhofs stößt man auf eine Parzelle, einige Quadratmeter groß, mit der Aufschrift »Sammelgrab Nr. 1. Beisetzungsstätte für nicht abgeholte Urnen in den Jahren 1930-1942«. Als ob man sie hätte abholen können! Als wäre nicht alles Erdenkliche getan worden, um den Ort der Bestattung geheim zu halten.

Es handelt sich um ein Kenotaph. Die Nachkommen einiger vermutlich hier Bestatteter haben Tafeln mit den Namen ihrer Verwandten aufgestellt. Aber wie soll man auf dieser Parzelle die Namen von mehr als 5000 Menschen unterbringen? Auf dem Donskoi-Friedhof ist die Führung der Roten Armee begraben, also auch Marschall Tuchatschewski und Marschall Blücher, ebenso der Regisseur Wsewolod Meyerhold, der Schriftsteller Isaak Babel, die Mitglieder des Antifaschistischen Jüdischen Komitees, Erzbischöfe … und ihre Mörder, die später selbst erschossen wurden.

Im »Sammelgrab Nr. 1« ist symbolisch auch die Asche Grigori Syrojeschkins begraben, der beim Geheimdienst der Lehrer meines Großvaters war und Ende Februar 1939 in der Lubjanka erschossen wurde. Nikolai Tschaplin wurde im Kolumbarium Nr. 14 (Sektion 58) des Donskoi-Friedhofs von seinen Verwandten symbolisch bestattet; sie errichteten einen Grabstein. Daneben liegt die Urne seiner Witwe Rosalija Isaakowna Lipskaja, die im Jahr 1974 starb.

Neben dem Sammelgrab steht ein Denkmal, das Kossarews Witwe hat errichten lassen. Auf ihm steht: »Kossarew, Alexander Wassiljewitsch, geb. 14. ‌11. ‌1903, erschossen am 23. ‌2. ‌1939. Seine Asche befindet sich im Sammelgrab nebenan. Naneischwili, Maria Wiktorowna. 22. ‌9. ‌1907-25. ‌8. ‌1993.«

Die Opfer haben keine Namen. Dieses Privileg genießen ausschließlich Henker, die überlebt haben. Neben Blochin hat man seinen Stellvertreter Pjotr Jakowlew beigesetzt. Die Inschrift lautet: »Unserem geliebten Vater und Mann.«

In Moskau gibt es Dutzende Friedhöfe. Warum musste Wassili Blochin ausgerechnet hier beerdigt werden, neben den Überresten seiner zahllosen Opfer? Deren Asche hier verstreut wurde, ohne dass jemand es dokumentiert hätte? Sollte es sich um ein Versehen gehandelt haben, dann wäre das Denkmal längst entfernt und an anderer Stelle wieder errichtet worden. Warum muss es ausgerechnet hier stehen?

Es scheint, dass jemand der Gesellschaft ein Zeichen geben wollte. Die Wahrheit steht noch immer, wie zu Stalins Zeiten, auf der Seite der Henker. Die Opfer befinden sich weiterhin unter ihrer Aufsicht.

Anders als im Falle Nikolai Tschaplins weiß man von seinem Bruder Sergej weder, wo und wann er erschossen wurde, noch, von wem. Bekannt ist nur, dass es an der Kolyma war, im Kreis Orotukan, wahrscheinlich Ende Sommer oder Anfang Herbst 1941.

Sein Kenotaph befindet sich neben dem Grab seiner Frau und seiner Tochter auf dem Moskauer Wostrjakow-Friedhof. Es ist nicht mehr als eine Erinnerung daran, dass er gelebt hat. Auch das Todesdatum auf der Gedenktafel, der 14. Februar 1942, wurde in keiner Weise bestätigt. Jemand könnte es nachträglich in das Todesurteil eingetragen haben. Warum soll man jenen glauben, die zuvor ständig gelogen haben? Sie behaupteten, er sei an Lungenentzündung gestorben. Dann nannten sie andere Daten, um zuletzt ohne Erklärung dieses Todesdatum anzugeben. Sergej Tschaplins Körper liegt mit hunderttausend weiteren irgendwo im ewigen Eis. Die Geschichte hat ihn dem Antlitz jener zugeordnet, denen Warlam Schalamow sein Werk gewidmet hat. Er ist irgendwo dort. Keinerlei Konkretisierung dieses »irgendwo dort« ist möglich und wird auch niemals möglich sein. Dies ist das Schicksal der Märtyrer von der Kolyma.

Die Asche von Stanislaw Messing, bei dem Sergej Tschaplin sich 1927 zum Geheimdienst meldete, liegt in einem Massengrab auf dem Erschießungsplatz Kommunarka in Butowo bei Moskau.

Nicht weniger tragisch ist das Schicksal des Leichnams von Besso Lominadse. Um der Schande zu entgehen, im Namen der Sowjetmacht verhaftet zu werden, hatte sich Lominadse 1935 erschossen. Er war als Parteisekretär von Magnitogorsk geschätzt, man errichtete ihm ein Ehrenmal. »Lominadse wurde hinter dem Berg Magnit auf einem allgemeinen Friedhof beerdigt. Ein eisernes Denkmal hat er bekommen. Sie haben es in einer Nacht im Walzwerk gepresst. Auch eine Einfassung aus Eisen haben sie geschmiedet. Wie es sich gehört. Für einen Menschen. Zur Beerdigung kamen seine Frau Nina Alexandrowna und sein Sohn Sergej. Aber das Grab stand nicht lange. Eines Nachts wurde die Einfassung auf Befehl von irgendjemandem [kursiv M. ‌R.] zerstört, das Kreuz auf einen Laster geladen und abtransportiert. Das Grab haben sie dem Erdboden gleichgemacht und mit Schnee bedeckt.«10

Herausfinden zu wollen, auf wessen Anordnung das Grab zerstört und anschließend mit glühendem Eisen die Erinnerung an Lominadse ausgebrannt wurde, lohnt die Mühe nicht. Der »Vater der Völker« rächte sich auch an Toten, indem er den Lebenden verbot, ihrer zu gedenken.

In Magnitogorsk wurde es gefährlich, den Namen Lominadses auch nur zu erwähnen. Margarita Jakowlewna Dalinter, Leiterin einer Parteizelle bei der Stahlgewinnung im Magnitogorsker Kombinat, schlug auf einer Parteiversammlung vor, Bessos mit einer Schweigeminute zu gedenken. Danach wurde sie beschuldigt, sie sei Handlangerin der Volksfeinde und betreibe ein doppeltes Spiel.

»Zehn Jahre bezahlte sie ihre Tat im Lager, weitere zehn musste sie in Verbannung leben.«11 Zwanzig Jahre für eine Schweigeminute zum Gedenken an einen Menschen, der auf Befehl Stalins für immer vergessen werden sollte.

Keine einzige der Personen, die in meiner Erzählung vorkommen, hat ein eigenes Grab erhalten. Die Asche einiger von ihnen ist mit der Asche ihrer Henker vermischt. Es sollte keine Spur von ihnen bleiben. Die Tatsache der Erschießung wurde zynisch als »zehn Jahre Haft ohne Recht auf Korrespondenz« ausgegeben.

Die Toten können in der Tat keine Briefe schreiben. Die Angehörigen indes haben jahrelang gewartet, gehofft und sich gequält.

Eine Festsitzung im Bolschoi-Theater. Der vierzigste Jahrestag der Oktoberrevolution wird feierlich begangen. Ich bin neun Jahre alt und sitze vor dem winzigen Schwarz-Weiß-Bildschirm. Plötzlich erfasst mich ein unglaubliches Glücksgefühl. Was habe ich doch für ein Glück! Ich werde das neue Jahrtausend erleben und vor allem das 100-jährige Jubiläum des Roten Oktobers!

Eine Vorstellung, wie die Sowjetunion im Jahr 2017 hätte aussehen sollen, gibt der 1960 entstandene Standbildfilm Im Jahr 2017. Auf »interstellaren Schiffen« werden Menschen zum Sternsystem Alpha Centauri geschickt. Die Sowjetunion hat einen Damm über die Bering-Straße errichtet, über den »Atomzüge« rasen. Das Klima ist wesentlich milder geworden. Die Enkel Lenins haben den Lauf des Jenissej und des Ob umgekehrt und das Kaspische Meer vor dem Austrocknen gerettet. Sie beherrschen die »ewige Quelle der Energie«.

Igor, der Held des Films, wird von der Wanduhr geweckt. In der Küche wartet eine Überraschung auf den Jungen. Mama hat einen Zettel für die Kochmaschine hinterlassen. Er steckt ihn in das Aggregat, unsichtbare Strahlen erfassen die Umrisse der Buchstaben, automatisierte Schöpfkellen messen ab, wie viel Nahrung benötigt wird, Messer schneiden das Gemüse, und schon ist das geliebte Frühstück fertig. Die Mutter schaut vom Bildschirm des »Televideophons« auf ihren Sohn. Sie ist an Bord eines Schiffs, inspiziert »schwimmende Schwarzmeer-Kindergärten«. Eine halbe Stunde später ist Igor bereits in der Arktis, gemeinsam mit »örtlichen Arbeitern« fährt er in der Schaufel eines Baggers in die unterirdische Stadt Kohlegrad ein. Dort sonnen sich die Menschen unter dem »Quarzlicht«, während oben der Schneesturm tobt. »Bei uns hier unter der Erde herrscht ewiger Frühling«, erklärt der Chefingenieur den Kindern. Das Klima an der Erdoberfläche nehmen die Menschen der Sowjetunion ebenfalls unter ihre Kontrolle. Sie bauen eine fliegende Station mit »Mesonen-Energie«, die in der Lage ist, die Launen des arktischen Wetters in den Griff zu bekommen. »Die fliegende Wetterregulierungsstation wird eine große Zukunft haben. Der Mensch wird in seinem Arbeitszimmer auf einen Fernsteuerungsknopf drücken, und die Maschine wird herbeifliegen und den Orkan zum Erliegen bringen, den Sturm verschwinden lassen.«

Doch der in den letzten Zügen liegende Kapitalismus fügt dem Land der Sowjets auch weiterhin Schaden zu. »Gerade wurde mitgeteilt, dass die letzten Imperialisten auf einer fernen Insel eine verbotene Mesonen-Waffe getestet haben. Eine Explosion nie dagewesenen Ausmaßes zerstörte die gesamte Insel und rief Perturbationen in der gesamten Atmosphäre hervor«. Die kluge sowjetische Maschine sah einen Sturm der Stärke 12 über dem Schwarzen Meer voraus. Der Orkan bedroht die »schwimmenden Kindergärten«, die Igors Mutter inspiziert. Igors Vater, der Chefmeteorologe des Landes, der Herr des Wetters, eilt auf der fliegenden Station herbei. Er schaltet die Mesonen-Blitze ab, und der Tornado legt sich. Hunderte Menschen sind gerettet. Moskau, das sich auf das Fest vorbereitet, wird dagegen noch von einem Orkan bedroht. Aber die Station lässt auch ihn zur Ruhe kommen. »Die jubelnde Stadt bereitete sich auf das hundertjährige Jubiläum des Großen Oktobers vor. Die Feier fiel zusammen mit dem Sieg der sowjetischen Wissenschaft über die Natur.«

Die Natur ist besiegt, die Imperialisten sind von der Erdoberfläche verschwunden. Der Planet gehört uneingeschränkt der Sowjetunion.

Inzwischen befinden wir uns längst im Jahr 2017. Von den vielen Wundern, die der Film schildert, verfügen wir nur über die »Televideophone« und die Küchenautomaten, und auch die kommen aus dem Ausland. Die Imperialisten haben sich nicht einfach, wie es die Produzenten des Standbildfilms Im Jahr 2017 erträumt hatten, auf der letzten Insel in die Luft gesprengt, sondern ihre Besitzungen erheblich erweitert und sind an die Grenzen Russlands herangerückt. Russland versteht sich sogar selbst als aufstrebendes kapitalistisches Land. Die Natur zu beherrschen ist nicht gelungen, die Abhängigkeit ist sogar gewachsen. Russland lebt ganz wesentlich vom Export von Öl und Gas. In der Erderwärmung, die in der Sowjetunion als Segen präsentiert wurde, sehen Ökologen und Politiker ein riesiges Problem.

An der Spitze des Organisationskomitees für die Feiern des 100. Jahrestags der Revolution steht kein Historiker, sondern der Chef des Auslandsgeheimdiensts. Auf die Frage, wie sie den Roten Oktober bewerten, antworten drei Viertel der Leser der oppositionellen Internetseite kasparov.ru: »Dieses Ereignis hat das Land in eine Sackgasse geführt.«12 Eine Einschätzung, die umso aktueller ist, als unser Land sich, wie es scheint, erneut in einer Sackgasse befindet. Russlands Sicherheitsrat sorgt sich, dass das Jubiläum den heutigen Machthabern schaden könnte, dass ihre zahlreichen Feinde es nutzen könnten, um das Gedächtnis an den Roten Oktober in der Gesellschaft zu neuem Leben zu erwecken. Kurzum, es ist zu früh, die Revolution in die Archive zu verfrachten, sie zu einer Angelegenheit für Historiker zu erklären. Sie ist ein wesentliches Moment der politischen Kämpfe unserer Gegenwart.

Das gilt auch für ihre Folgen, für die Millionen Opfer und Henker. »Wir alle, die wir in Russland aufgewachsen sind, sind Enkel von Opfern und Henkern. Absolut alle, ohne Ausnahme. In ihrer Familie gab es keine Opfer? Dann gab es also Henker. Es gab keine Henker? Dann gab es Opfer. Es gab weder Opfer noch Henker? Dann gibt es Geheimnisse.«13

Die Lehre dieses Buches besteht darin, dass die Opfer und die Henker mehrfach den Platz getauscht haben. Sie klar voneinander zu trennen gelingt nur in wenigen Ausnahmefällen. Ersetzt man das wertende Wort »Henker« durch das neutralere »Agent des Terrors«, dann ist klar, dass die meisten dieser »Agenten« im Laufe ihres Lebens selbst zu Opfern wurden. Wer zu den Bolschewiki der ersten Stunde gehörte, war per definitionem ein »Agent des Terrors«, und während des Großen Terrors entkam kaum einer von ihnen der Erschießung.

Jedes Jahr am 29. Oktober findet gegenüber der Moskauer Geheimdienstzentrale Lubjanka, an dem Stein von den Solowezker Inseln14, eine Gedenkveranstaltung statt. Russische Bürger verlesen die Namen der Opfer, unter denen sich unvermeidlich auch viele »Agenten des Terrors« befinden. Es handelt sich nicht nur um Mitglieder der Partei der Bolschewiki, Mitarbeiter des NKWD, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, sondern auch um das Millionenheer der Denunzianten, ohne die der Terror niemals solche epischen Ausmaße hätte annehmen können. In einem Land, in dem viele Archive nie geöffnet und andere bereits wieder geschlossen wurden, ist es zu früh, die Aufarbeitung für beendet zu erklären, sosehr sich das manche auch wünschen.

Der Kairos zum Schreiben dieses Buches war da, als ich spürte, ich würde den Kontext, in dem die Personen handelten, ausführlich genug beschreiben können, ohne moralisch zu urteilen. Wer jene Zeit überlebte, dem stand, wenn er selbst einen anderen Weg gegangen ist, im gleichen Kontext eine andere Wahl getroffen hat, das Recht zu, ein moralisches Urteil zu fällen. Ich verstehe Oleg Wolkow, der im Angesicht der Schrecken des GULag die Würde eines russischen Adligen behielt, als er seiner Zeitgenossin Jewgenija Ginsburg gegenüber die »Diener des Regimes« brandmarkte, die hinter Gitter gekommen waren: »Die Übel und die Schrecken, die ihr für eine gerechte Sache hieltet, als ihr sie auf alle herabkommen ließet, außer auf eure ›Elite‹, sie haben euch selbst eingeholt. Der Kampf um die Macht endete mit eurer Niederlage. Hättet ihr gesiegt, hättet auch ihr euch eurer echten oder eingebildeten Konkurrenten entledigt. Ihr empört euch, verdammt die Verhältnisse, doch keineswegs, weil ihr gereift seid, weil ihr ihre Unmenschlichkeit erkannt habt, sondern weil es jetzt um euer eigenes Schicksal geht.«15

Aber ich verstehe auch Warlam Schalamow, der alle Opfer der Kolyma (außer die Kriminellen) als »Märtyrer« bezeichnet hat, ganz gleich, welche Ansichten sie vertraten.

Solche Urteile sind ein Recht der Zeitgenossen, uns stehen sie nicht zu. Unsere Aufgabe ist es, was geschehen ist, so gut wie möglich zu verstehen.

Wenn mein Buch nur ein wenig zu dieser Aufgabe beiträgt, hat es seinen Zweck erfüllt.

Ich danke meiner Kusine Natalija Tscherkessowa (sie ist die Tochter meines Onkels Sergej Sergejewitsch Tschaplin) und meiner Tochter Xenia Leonowa, die mir Dokumente aus dem Familienarchiv und andere Materialien, die zum Schreiben dieses Buches unerlässlich waren, zur Verfügung gestellt haben.

Ich danke auch der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und dem internationalen Kolleg Morphomata an der Universität Köln für die langjährige Unterstützung meiner Arbeit.

Ich widme dieses Buch meiner Mutter Stalina Sergejewna Tschaplina, in der Hoffnung, dass ihr von Stalin abgeleiteter Name, den der Vater ihr zu Zeiten des Kampfes gegen den »Trotzkismus« gegeben hatte und den er auf der Kolyma verfluchte, ein Name, der bis heute das Schicksal Russlands bestimmt, dass dieser Name endlich der Geschichte und den Historikern überlassen werden kann.

Erster Teil

Die Erstürmung des Himmels. Nikolai Tschaplin

Die Revolution – ein Fest

Mein Urgroßvater mütterlicherseits, Pawel Pawlowitsch Tschaplin, ein orthodoxer Priester, Sohn eines Priesters und mit der Tochter eines Priesters verheiratet, war ein für seinen Stand ungewöhnlicher Mann. »Hochgewachsen, kräftig, mit dichtem Haar und einem klugen Gesicht«, hielt er sich mit Lobpreisungen von Zar und Vaterland zurück, pflegte einfachen Umgang mit seiner Gemeinde und war kaum mit anderen Angehörigen seines geistlichen Standes befreundet. Eine biographische Erzählung aus den sechziger Jahren schildert ihn als Freigeist: »›So geht das nicht, Vater Pawel‹, tadelten ihn die Popen aus den benachbarten Kirchen, wenn sie ihn trafen. ›Du untergräbst den Glauben. Das Volk soll Gott und sein Gericht fürchten. Aber du …?‹ – ›Der Bauer wird doch von allen geschunden‹, beharrte er. Die Popen bekreuzigten sich und beeilten sich, von dem aufrührerischen Priester wegzukommen …«16

Freund war er mit jenen, in denen er »eine ehrliche Seele und das heiße Herz der Verteidiger des Volkes« sah. Das alles gefiel der Obrigkeit nicht.

Am 9. Januar 1906, ein Jahr nach dem Petersburger Blutsonntag17, hielt Vater Pawel in der Kirche des Dorfes Mignowitschi unter großem Zulauf eine Predigt, in der er von der Kanzel herab die Erschießung der Arbeiter in Petersburg scharf verurteilte.

So etwas wurde nicht verziehen. Die Gendarmen des Zaren verlangten, »den wildgewordenen Popen zu zügeln«, worauf die Smolensker Eparchie einen Eilboten mit strenger schriftlicher Anweisung schickte: Vater Pawel habe »zur Annahme der Buße unverzüglich beim Archimandriten des Klosters Smolensk zu erscheinen«.18

Nach einem Jahr kam er aus dem Kloster zurück, holte seine Kinder und zog in ein anderes Dorf.

Er wurde vorsichtiger, galt aber innerhalb der Priesterschaft weiterhin als Aufrührer. Wie sein ältester Sohn Alexander, der in Moskau Medizin studierte, versammelte Vater Pawel Freunde zu Hause, man stritt über Politik, sang »aufrührerische« Lieder. Im Herbst 1916 wurde Alexander wegen der Beteiligung an einer illegalen studentischen Versammlung verhaftet, von der Universität ausgeschlossen und unter Polizeiaufsicht nach Rjasan verbannt.

Die Mutter der Familie, Wera Iwanowna, war Dorfschullehrerin. Bei Tschaplins fanden bunte Abende statt, Vater Pawel spielte auf dem Harmonium. Dazu wurden im Chor russische und ukrainische Volkslieder gesungen, die Gastgeberin trug mit Hingabe Nikolai Nekrassows Gedichte vor, die Jugend tanzte.

Es gab in Vater Pawels Haus mehr weltliche Bücher als geistliche; Letztere bewahrte er hauptsächlich in der Kirche auf. Zu den Osterpredigten reisten viele Leute von auswärts an, unter anderem auch deshalb, weil mein Urgroßvater einen schönen Bariton besaß. In seiner Jugend hatte er sogar mit einer Laufbahn als Opernsänger geliebäugelt. Der Traum hatte sich nicht erfüllt, aber »allen seinen fünf Kindern (vier Söhnen und einer Tochter) wollte er eine weltliche Bildung mitgeben, sie zu wahrhaft kultivierten Menschen erziehen«.19

Vater Pawel war unangepasst, schwierig im Umgang mit Vorgesetzten, dafür schickte man ihn immer wieder in die ärmsten Gemeinden des Smolensker Gouvernements. Auch seine Frau hatte als Dorfschullehrerin ein mehr als bescheidenes Gehalt. Die Familie lebte in Armut.

Wie alle Bauern in seiner Gemeinde, bearbeitete auch Vater Pawel sein Stück Land, pflügte und säte, machte Heu und Brennholz. Seine Kinder trieben mit den Bauernkindern die Pferde auf die Nachtweide, buken Kartoffeln in der Asche, fingen in Weidenkörben Fische. »Als sie größer wurden, lernten die Kinder hinter dem Pflug gehen, eggen, Garben binden«.20

Pawel Pawlowitschs Sohn Nikolai Tschaplin schrieb später im sowjetischen Fragebogen zu dem Beruf seiner Eltern: »Angehörige der Intelligenz«. »Und das stimmte. Maria Pawlowna [Vater Pawels einzige Tochter – M. ‌R.] hat immer erzählt, dass nach jedem Umzug im neuen Heim als Erstes ein Porträt von Lew Nikolajewitsch Tolstoi aufgehängt wurde. Den großen Schriftsteller von der Kanzel herab zu verdammen weigerte Vater Pawel sich kategorisch«.21

An die aufgeladene Atmosphäre jener Jahre erinnerte Alexander Tschaplin sich später, zu Sowjetzeiten, in einem Artikel »Die Bewegung der studentischen Jugend in Smolensk (1912-1913). Aus den Erinnerungen eines Teilnehmers«.

In den Jahren 1912/13 bildeten sich in Smolensk illegale Zirkel, in denen Schüler und Studenten Belinski, Nekrassow, Gorki lasen – Autoren, die in den Lehrplänen nicht zugelassen waren; sie studierten marxistische Literatur und knüpften Verbindungen zu verbotenen Arbeiterorganisationen. Zur Radikalisierung der Schüler und Studenten trug auch die Politik des Bildungsministers des Zaren, Lew Kasso, bei: Er schränkte den Freiraum der Lehrer, besonders im Fach Geschichte, durch minutiöse Lehrpläne ein, ließ Schüler außerhalb der Schule verstärkt überwachen und unterstellte die Volksbüchereien der Kontrolle durch seine Beamten. Als Antwort auf die repressiven Maßnahmen des Ministers gründeten die Smolensker Studenten eine illegale Bibliothek, in der es Bücher von Marx, Engels, Lenin, Plechanow, Bebel, Liebknecht, Lafargue, Jaurès, die drei Bände des Kapital, Das Kommunistische Manifest, Ausgaben der verbotenen sozialdemokratischen Zeitung Iskra (Funke) und der Zeitschrift der Bolschewiki, Prosweschtschenije (Aufklärung) zu lesen gab. Die Bibliothek wurde von Hand zu Hand gereicht; trotz aller Bemühungen von Universitätsdirektion und Polizei gelang es nicht, sie aufzudecken.

Studentische Zirkel vervielfältigten illegal auf dem Hektographen Ausgaben der Iskra und die Zeitschrift Swobodnaja mysl (Freier Gedanke).

1912 traten die Schüler der höheren Klassen des Realgymnasiums Nr. 1 gegen die Willkür der monarchistischen Verwaltung und die Bespitzelung durch die Polizei in den Streik. Ein Streik sämtlicher Smolensker Schulen war in Vorbereitung, in Unterricht und Pausen krachten Knallkörper. Der große Streik der Schüler und Studenten kam nur deshalb nicht zustande, weil eine Abteilung der Polizei unverhofft auf einer der Versammlungen erschien und einen Teil der Anwesenden verhaftete.

»Im Herbst 1913 fand eine organisierte Aktion von Smolensker Schülern und Studenten statt«, schrieb Alexander Tschaplin. »Sie wuchs sich zu Protestdemonstrationen gegen die zaristischen Dunkelmänner aus, die damals die Affäre Bejlis angezettelt hatten …«22

1914 trat Russland in den Krieg ein, der drei Jahre später in zwei Revolutionen, die Februar- und die Oktoberrevolution mündete.

»Im Jahr 17 wurde alles anders. Familie Tschaplin begrüßte die [Oktober- M. ‌R.]Revolution als einen Frühling, als ein großes Freudenfest.«23

Wera Iwanowna und ihre Schwester Maria traten der Vereinigung der Lehrer-Internationalisten bei, beteiligten sich an der Umgestaltung der Schule, engagierten sich in Kultur- und Bildungsarbeit unter den Bauern.

Pawel Pawlowitsch legte das Priestergewand ab und verließ seine Kirche. Er zog mit der Familie nach Smolensk und begann in neuen sowjetischen Einrichtungen zu arbeiten, eine Zeitlang war er in der außerschulischen Bildungsarbeit tätig, später im Haus der Volksaufklärung der Roten Armee.

Alexander Tschaplin wurde im Februar 1918 Bildungskommissar des Smolensker Gouvernements. Am 10. März 1918 erscheint in der Zeitung Swesda (Stern) unter seiner Mitwirkung ein Aufruf: »Ans Werk, Genossen!«: »Zu allen Zeiten waren junge Menschen die aktivsten, die flammendsten Revolutionäre. Junge Männer waren in der Oktoberrevolution die Ersten auf den Barrikaden. Jetzt überzieht ganz Russland sich mit Jugendorganisationen. In Petrograd, Moskau … in den Städten der Provinz, in Dörfern, überall wachsen Jugendorganisationen wie Pilze aus dem Boden. Es ist ihr Ziel, mit allen Kräften der internationalen Revolution zu dienen. Auf Barrikaden, auf Kundgebungen, mit der Waffe und dem Wort die abscheuliche ›legale Sklaverei‹ zu bekämpfen, mit der die Bourgeoisie die Völker gefesselt hat.

Jedes Mitglied der ›Vereinigung der arbeitenden Jugend der III. Internationale‹ trägt alles in seine Organisation, was an Vortrefflichem in ihm ist: seine Jugend, seine Kenntnisse, seinen Hass auf die Unterdrücker …

Ihr jungen Männer und Frauen! Bei uns in Smolensk gibt es diese Organisation nicht. Wir sind zersplittert, jeder ist sich selbst überlassen. Das darf nicht sein! Ihr arbeitenden Jungen und Mädchen! Kommt schnell unter unsere roten Fahnen.«24

Aber längst nicht für alle Angehörigen der Geistlichkeit entwickelten sich die Beziehungen zur Revolution so glücklich, längst nicht alle waren bereit, das Priestergewand abzulegen und sich der Revolution anzuschließen.

Auf die russische Priesterschaft schlug die Revolution mit besonderer Härte ein. Bei Adligen, die man kannte, wurden nicht selten Verwandte ausfindig gemacht, die sich Verdienste um die Revolution erworben hatten: Solche Nachweise bewahrten vor dem Status des »Lischenez« (dem Verlust der Bürgerrechte) und verliehen gewisse Rechte. Die große Mehrheit der Geistlichen hatte, anders als die Tschaplins, keine Beweise ihrer Feindschaft gegenüber dem Zarenregime vorzuweisen, wie sie die neue Macht verlangte. Auch Vater Tichon Schalamow, Priester in Wologda und ein Anhänger der Erneuererbewegung des Metropoliten Alexander Wwedenski, hatte sie nicht. Obwohl Wwedenskis Anhänger eine säkulare, weltliche Auslegung der Orthodoxie predigten (der Metropolit sah in Christus einen »irdischen Revolutionär von unerhörter Bedeutung«, er fügte seine Mutter der Schar der Heiligen hinzu und Ähnliches), gefiel das der neuen, radikal atheistischen Macht nicht: Sie kannte in ihrem eigenen Kampf gegen Gott keine Grenzen und sah in jedem Priester, der seiner Religion nicht abschwor, einen Feind. »Am Vater«, schreibt Warlam Schalamow, der Autor der Erzählungen von Kolyma, »rächten sich alle – und für alles. Für seine Kompetenz, für seine Intelligenz. Alle historischen Leidenschaften des russischen Volkes schwappten über die Schwelle unseres Hauses.«25 Im Jahr 1918 war der Besitz der Familie Schalamow zerstört, es drohte »ganz gewöhnlicher Hunger«. Die Piroggen der Mutter, die der elfjährige Warlam auf dem Markt verkaufte, retteten sie nicht. Die Mutter stand in der Küche, kochte und buk und versuchte, aus fauligen Kartoffeln irgendetwas zuzubereiten.

Der Vater des künftigen Schriftstellers liebte schöne Gegenstände (im Haus gab es einen Mahagonischrank, Schränke aus karelischer Birke, Biberpelze). Schalamow erinnerte sich sein Leben lang daran, wie im Jahr 1918 die Möbel aus der Wohnung verschwanden – Bauern des Dorfes trugen sie im Tausch gegen Lebensmittel davon. Mit den Gegenständen verschwanden für Schalamow auch die Illusionen über die gütige Natur des einfachen Volkes, die die russische Intelligenz jahrzehntelang gehegt hatte: Brutal hatte sich seine »habsüchtige Seele« gezeigt. »Der Kontakt zur Revolution bestand nicht nur in den Durchsuchungen, sondern auch den schrecklichen Figuren echter Räuber – die unsere Sachen hinausschleppten zum erniedrigten Lächeln meiner Mutter.«26

Eine andere »Freude« der Revolution war das erzwungene Zusammenrücken auf engstem Raum – vormalige Eigentümer mussten ihre Wohnungen mit Einquartierten, in der Regel Parteimitgliedern, teilen. Mitbewohner der Schalamows war eine Zeitlang ein Schmied und Musterarbeiter: Nach der Arbeit betrank sich dieser Herkules an Selbstgebranntem und prügelte erbarmungslos seine Frau.

Alexander Tschaplin, der nach der Revolution der Partei beigetreten war, wurde zunächst Leiter der Smolensker Abteilung für Volksbildung, zog jedoch bald darauf, 1922 nach Moskau und arbeitete als Leiter erst der Organisations- und Inspektionsabteilung und dann der administrativ-organisatorischen Verwaltung des Volkskommissariats für Bildung der RSFSR unter Volkskommissar Anatoli Lunatscharski.

Nicht ausgeschlossen, dass Alexander im Volkskommissariat jenen jungen Mann sah, der mit der Bitte um einen Platz in einem Wohnheim der Moskauer Universität gekommen war. »Ich wurde in die Universität aufgenommen, aber ohne Wohnheim, als Moskauer, und das Wohnen, das Dach über dem Kopf wurde sofort zu einem schweren, dringlichen Problem … Auf dem Sretenski-Boulevard fanden wir schnell das Büro Lunatscharskis und wandten uns an die Sekretärin«.27

Den Wohnheimplatz bewilligte ihm schließlich ein Stellvertreter Lunatscharskis; der junge Mann war Warlam Schalamow.

Schalamow verehrte Lunatscharski und äußerte sich noch in den sechziger Jahren mit Wärme über dessen Auseinandersetzungen mit dem Oberhaupt der »Erneuerer«, Metropolit Wwedenski, über die Frage »Ist Christus Gott?«. Das enzyklopädische Wissen des Volkskommissars und besonders seine Gabe, es der Jugend zu vermitteln, begeisterten ihn. Dem jungen Mann aus Wologda und seinen Kameraden gefiel die Eigenart des Volkskommissars, die Wörter »Revolution«, »Sozialismus«, »Internationale« »auf westliche Weise« auszusprechen.

Und nicht nur das: »Uns gefiel, dass das Schnupftuch des Volkskommissars immer schneeweiß und parfümiert und sein Anzug makellos war. In den zwanziger Jahren trugen alle Militärmäntel, Lederjacken und Uniformröcke. Meine Nachbarin im Auditorium lief in einer Männerfeldbluse und einem Browning am Gürtel herum … [Lunatscharskis Äußeres; M. ‌R.] war kein Protest gegen die Lederjacke, sondern der Hinweis darauf, dass die Zeit dieser Jacken vorübergeht, dass es auch ein Ausland gibt, eine ganze Welt, in der Lederjacken nicht ganz der passende Anzug sind …

Er sprach gern, und wir hörten ihm gern zu.«28

Die »Zeit der Jacken«, vor allem der schwarzen Lederjacken, die seit Dsershinski die Tschekisten trugen, begann gerade erst; beim Lesen dieser Zeilen begreift man: Ein junger Mann mit einem solchen Geschmack wird in der anbrechenden Stalinzeit – ganz unabhängig von politischen Überzeugungen – Probleme bekommen.

Das »Gewissen Russlands« entlarvt die Bolschewiki

Es ist bekannt, was Lenin in Wahrheit von der unerschütterlichen Menschlichkeit hielt, mit der der Schriftsteller und Narodnik Wladimir Galaktionowitsch Korolenko – vor dem Oktober-Umsturz wie danach – allen Opfern von Ungerechtigkeit begegnete.

Lenin schrieb am 15. September 1919 an Maxim Gorki: »Korolenko ist der Beste aus dem Umfeld der bürgerlichen Demokraten, fast ein Menschewik. Aber was für eine widerliche, schändliche, abscheuliche Verteidigung des imperialistischen Krieges! Ein armseliger Kleinbürger, gefangen in bourgeoisen Vorurteilen! Für solche Herren sind 10 ‌000 ‌000 Tote im imperialistischen Krieg etwas, das Unterstützung verdient (durch Taten, bei gleichzeitigen honigsüßen Phrasen gegen den Krieg), aber der Tod hunderttausender in einem gerechten Bürgerkrieg gegen Gutsbesitzer und Kapitalisten ruft Ahs und Ohs, Seufzer, Hysterien hervor. Nein. Solchen ›Talenten‹ schadet es nicht, eine Zeitlang … im Gefängnis zu sitzen, wenn es nötig wird, um Verschwörungen vorzubeugen …«29

Aber ein so berechnender Politiker wie Lenin musste Korolenkos enorme Popularität einfach in seine Pläne einbeziehen.

Er riet dem Volkskommissar für das Bildungswesen Anatoli Lunatscharski, in Briefwechsel mit dem verdienstvollen Narodnik zu treten – in der Hoffnung, ihn auf die Seite der Bolschewiki zu ziehen: »Man muss A. ‌W. Lunatscharski bitten … für ihn ist es am leichtesten, als Volkskommissar für das Bildungswesen und zudem Schriftsteller.«30

Gesagt (genauer: befohlen – es herrscht Parteidisziplin, zudem Bürgerkrieg), getan. Am 7. Juni 1920 traf der Volkskommissar in Poltawa ein, um sich mit dem Schriftsteller zu treffen. Korolenko bat ihn, fünf Einwohner der Stadt zu retten, die von den örtlichen Tschekisten zum Tod durch Erschießen verurteilt worden waren. Am nächsten Morgen erhielt er von dem schon wieder nach Moskau abgereisten Volkskommissar folgende Nachricht: »Lieber, unendlich verehrter Wladimir Galaktionowitsch! Es tut mir sehr leid, dass Sie mit Ihrem Gesuch zu spät kommen. Ich hätte natürlich alles getan, um diese Menschen zu retten, und zwar schon Ihretwegen, aber für sie kommt jede Hilfe zu spät. Das Urteil ist bereits vor meiner Ankunft vollstreckt worden. Ihr ergebener Lunatscharski.«31

Damit wäre die Angelegenheit erledigt gewesen, hätte es nicht Lenins Bitte gegeben, die Lunatscharski dem Schriftsteller natürlich übermittelt hatte.

Als Antwort schickte Korolenko aus Poltawa sechs ausführliche Briefe nach Moskau.

Sein erster Brief hatte den Roten Terror zum Thema.

Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, beginnt der Schriftsteller, kamen selbst zur Zarenzeit äußerst selten vor. »Auch nach diesem Vorfall ist es damals noch zu vielen Ungeheuerlichkeiten gekommen, jedoch eine direkte Genehmigung, die Untersuchungsführung und den Strafvollzug (d. ‌h. auch von Todesurteilen) in die Hände einer Behörde zu geben, hat es selbst in jenen Zeiten nicht gegeben. Die Tätigkeit der bolschewistischen Außerordentlichen Untersuchungskommissionen (Tscheka) bietet ein Beispiel, das möglicherweise in der Geschichte der Kulturvölker nicht seinesgleichen hat.«32

Früher waren dies einzelne Exzesse, das blinde Wüten der Menge oder übereifriger Satrapen; jetzt aber haben sie erstmals eine ideologische Begründung und Rechtfertigung erhalten.

»Die Vorstellung verbittert mich, daß auch Sie, Anatoli Wassiljewitsch, anstatt an die Vernunft und an die Gerechtigkeit sowie den sorgsamen Umgang mit Menschenleben, welches heute so wenig wert ist, zu appellieren, in Ihrer Rede gleichsam die ›Erschießungen per administrativer Entscheidung‹ verteidigt haben könnten.«33

Der Schriftsteller ruft in Erinnerung, worin er und Lunatscharski sich vor der Revolution einig gewesen waren: Der Weg zum Sozialismus muss sich auf die besten Seiten der menschlichen Natur stützen, auf »Zivilcourage in der direkten Auseinandersetzung und Menschlichkeit sogar dem Gegner gegenüber«.34

Er schreibt von seinem Besuch der Weltausstellung in Chicago 1893 und dem dortigen Gespräch mit einem amerikanischen Sozialisten, einem gewissen »Mister Stone«.