Lebens-Reisen - Martin Kämpchen - E-Book

Lebens-Reisen E-Book

Martin Kämpchen

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Martin Kämpchen ist auf der ganzen Welt zu Hause. In diesem Buch versammelt der Autor einige seiner Erfahrungen von unterwegs. Teilweise sind seine Reisen für ihn zu Lebensreisen geworden. Dieses Buch enthält keine geografischen oder kulturellen Reisebeschreibungen, sondern beschäftigt sich mit der Frage, wie die Ferne beziehungsweise das Fremde auf uns wirkt und wie man bewusst und sinnvoll reisen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 296

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Kämpchen

Lebens-Reisen

9 Versuche, der Ferne näher zu kommen

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2017

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Marlene Fritsch

Umschlagfoto: Fotolia.com / Marcell Faber

Gestaltung und Kartenskizzen: Dr. Matthias E. Gahr

ISBN 978-3-7365-0059-4 (print)

ISBN 978-3-89680-987-2 (epub)

www.vier-tuerme-verlag.de

INHALT
Vorwort
Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens
Kalimpong – Refugium im Himalaja
Kailash – Reise zum heiligen Berg Tibets
Schottland – Diese befreiende Leere
Berg Athos – Pilgerschaft in unserer Zeit
Neemrana – Ein Labyrinth als Fort
Nepal – Wandern gegen die Angst
Sri Lanka – Das Lächeln des Buddha
Preia – Kinderland wiederentdeckt
Nachbemerkungen
Dank

Ich liebe die Natur,ich liebe die Landschaft,weil sie so aufrichtig ist. Sie betrügt mich nie.Sie hält mich nie zum Narren. Sie ist auf heitere, musikalische Weise ernst. Ich lege mich auf die Erde und kann mich auf sie verlassen.

Henry David Thoreau

Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Martin Buber

Vorwort

Der Autor auf dem Weg von Preia nach Campello Monti (Foto: Alice Valente Visco)

Dieses Buch ersetzt keinen Reiseführer. Es ist kein Buch für Touristen, sondern eines für Menschen, die der »Guck-mal«-Reisen überdrüssig sind. Es bemüht sich um eine geistige Vertiefung von Reiseerlebnissen. Um diese Vertiefung einzuleiten, versuche ich, unsere Lebens-Reise von Geburt bis Tod mit den Erlebnisreisen an andere Orte und in andere Länder in Beziehung zu setzen. Die Erlebnisreisen sollen – so meine Vorstellung – idealerweise Abbilder dieser großen Lebens-Reise sein, sollen Ahnungen an sie hervorrufen, sollen selbst kleine »Lebens-Reisen« werden.

Ich habe an vielen Orten gewohnt und zahlreiche Reisen unternommen. Manche Orte haben mich inspiriert und einige auch geprägt. Meine alljährliche Reise nach Schottland ist geradezu therapeutisch. Das Erlebnis, den Geburtsort meiner Großmutter mütterlicherseits, Preia in Oberitalien, zu besuchen, reicht in meine Kindheit hinein; jeder Besuch bindet mich zurück in die Unbeschwertheit der Kindertage, zurück an die Einfachheit dieses Dorfes und der tiefen heimatlichen Verwurzelung der Bewohner – wie gern möchte ich das alles weiter in mir tragen. Den Gebirgsort Kalimpong im Himalaja habe ich zu meinem zweiten Wohnort in Indien erwählt; meine rund vierzigjährige Beziehung zu ihm hat mich zum Begleiter vieler Menschen gemacht; viele ihrer Häuser und besonderen Ecken habe ich liebgewonnen. Kalimpong ist der Gegenort zu Santiniketan, an dem ich seit 1980 wohne, in dem ich vielfach gesellschaftlich – als Schriftsteller, als Übersetzer von Rabindranath Tagores Lyrik und Begleiter in der Entwicklung mehrerer Stammesdörfer – eingebunden bin. Gegenort ist Kalimpong insofern, als ich hier vor allem Sammlung zum ruhigen Arbeiten und Erholung von der Hitze und Schwüle in der Ebene suche.

Alle beschriebenen Reiseorte habe ich mindestens zweimal besucht – außer Kailash und Neemrana. Das Erlebnis der Reise zum Berg Kailash in Tibet (2001) war so einzigartig, dass eine zweite Reise ihm wenig an Wucht und Gewicht hinzugesetzt hätte. Die Wiederholung der Reise liegt in ihrer Nachwirkung. So viele Jahre später sprießen immer noch neue Triebe und Blüten von Gedanken und Gefühlen aus der Kailash-Pilgerschaft hervor. So eng das Band einer Gruppe oft ist, während sie zusammen unterwegs ist, ebenso rasch vergessen die Teilnehmer ihre Reisegefährten. Hier ist es anders: Jahrelang trafen wir uns, mit einigen bin ich bis heute in Kontakt. Sobald man zusammenkommt, beginnt wieder das Gespräch über jene Kailash-Reise.

Jeder Reiseort hat seine besondere Bestimmung, die in unserer Vergangenheit und in unseren Bedürfnissen verankert ist. In diesem Buch sind nach einem einführenden Essay über das wesentliche Reisen acht Reiseorte beschrieben, die mir viel bedeuten. Ich versuche, meine Beziehung zu ihnen exemplarisch darzustellen: Welche Beobachtungen mache ich auf den Reisen? Was wurde mir unterwegs wichtig? Auf welche Weise habe ich an all jenen Orten für meine Lebensreifung und mein Verständnis, was Leben ist, dazugewonnen?

Die Leser werden meine Neigung zum Einfachen, Ursprünglichen, Natürlichen erkennen – Eigenschaften, die ich suche und in mancherlei Gestalt auch finde. Intuitiv bin ich auf dem Weg, Orte zu entdecken, die mir neue Möglichkeiten eröffnen, kontemplativ zu leben. Immer wieder mein Bemühen, das Wesentliche zu sehen, jenes eben, das die große Lebens-Reise spiegelt und sie unterstützt. Meine Reisebeschreibungen sind persönlich, autobiografisch – wie könnten sie anders sein? Aber sie wollen das Allgemeingültige herausarbeiten.

Man spürt, dass ich die Berge liebe: Kalimpong liegt im Himalaja; die Treks zum Kailash und in Nepal haben mich wie kaum eine andere Reise aufgewühlt, zum Nachdenken und zum existenziell Äußersten gebracht; Preia liegt in den italienischen Alpen; die Allgegenwart des Bergs Athos hat mein Erlebnis der Klöster auf der Halbinsel bestimmt.

Gewisse Orte, die mir auch wichtig geworden sind, habe ich lange nicht besuchen können, und jetzt zieht es mich nicht mehr zu ihnen hin. Warum? Die Erinnerung an sie ist noch so bestimmend, dass ich sie nicht stören oder zerstören möchte. Viele dieser Orte, so höre ich, haben sich so stark verändert, dass ich sie kaum wiedererkennen könnte. Es sind meist Orte und Regionen in Indien, in denen durch den Bevölkerungszuwachs rasante topografische Veränderungen stattfinden. Etwa in Kodaikanal in Südindien (wo ich zwei Sommer verbracht habe), in Puri am Meer oder Kurisumala in Kerala. Diese Orte sind wie geschlossene Bücher – reiche, sorgfältig gehütete Erinnerungen, aber ohne Beziehung zur Gegenwart. Ich war sehr besorgt, als ich in diesem Juli nach zehn Jahren Abwesenheit meinen Kindheitsort Preia wiedersah: War er unkenntlich, für mich leblos, geworden? Nein, man lese nach!

Preia und Kalimpong reichen tief in meine Vergangenheit hinein. Die anderen Reisen haben im Jahr 2000 begonnen (Schottland), als es mir finanziell möglich wurde, zu reisen. Damals war ich schon über fünfzig Jahre alt. Viele der hier gesammelten Essays sind in früheren Fassungen veröffentlicht worden. Doch habe ich alle umgeschrieben und redigiert und auf den gegenwärtigen Stand meiner Erlebnisse und Einsichten gebracht.

Über die Geschichte und die Sehenswürdigkeiten der Orte habe ich nur soviel Auskunft gegeben, wie sie für mich, für meine »Lebens-Reisen«, wesentlich wurden. In den Nachbemerkungen am Ende informiere ich über bestimmte Begleitumstände der Reisen und Reiseorte.

Shimla (Himalaja), Oktober 2016

Martin Kämpchen

Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens

Frau in Preia (Foto: Alice Valente Visco)

Reisen als existenzielles Ereignis. — Erinnern sich die Fünfzigjährigen und Älteren unter den Lesern an die ersten Reisen als junge Menschen? An die wochenlang genährten Erwartungen vor Reisebeginn, an die Erlebnisfrische, die Begeisterung während dieser Reisen? Damals empfanden wir deutlich das Reisen als ein existenzielles Ereignis. Jede Reise war eine neue Schöpfung, die sich vom Gewesenen trennte und es zurückließ. Vor jeder neuen Reise erfasste uns dieses unsägliche, aus Wonne und Grausen gemischte Gefühl, ins Ungewisse geworfen zu werden. Wir konnten ihm nicht ausweichen, denn wir durften nicht sagen: »Ich bleibe zu Hause.« Wir mussten unseren Mut zusammenraffen und den ersten Schritt auf das unbekannte Terrain tun.

Wenn die Krücken der Gewohnheit und menschlichen Unterstützung jeder tragfähigen Infrastruktur plötzlich weggerissen sind und das Gefühl, mit sich selbst zu sein, bleibt, weckt das Angst. Sie kommt über die Menschen, wenn sie mit einem Mal des unbarmherzigen Fortlaufs der Zeit gewahr werden und die Wucht spüren, mit der sie selbst in der Zeitbewegung mit fortgeschleudert werden. Dieses existenzielle Schwindelgefühl angesichts der Zeitbewegung entsteht selten im Alltag, wenn Zeitbewegung und Eigenbewegung in einem scheinbaren Gleichtakt marschieren. Eine Disharmonie entsteht erst, wenn der Alltag endet und nicht sofort etwas Ähnliches an seinen Platz tritt. Eine neue, ganz andere Bewegung entwickelt sich: die des Reisens, zu der wir unseren Gleichtakt erst mühevoll und allmählich entdecken und einüben müssen.

Beim Reisebeginn ahnten wir oft, dass wir – von den Verkleidungen des Alltags und der Gewohnheit befreit – eigentlich, existenziell, immer nur Reisende, Wanderer sind. Ich bin ein homo viator – ein wandernder Mensch. Und warum wandern wir? Weil wir auf der Suche sind, zwar immer finden, aber nie genug und nie endgültig finden; weil wir zwar immer ankommen, aber doch nie das Ziel entdecken. Wie die Zeit an kein Ziel kommt und nie aufhört, sich weiterzubewegen, ebenso kommen wir, von einem unsichtbaren Sog angezogen, an kein Ziel. Was wir eigentlich zu finden hoffen, indem wir immer weiter suchen und weiter finden, ohne dabei an ein Ende zu kommen, können die wenigsten von uns zunächst in einen Satz fassen.

Es liegt etwas Unbefriedigendes, Unerfreuliches, vielleicht sogar tragisch Sisyphushaftes in dieser Not, immer zu suchen, immer weiter zu wandern, nie an ein Ziel zu kommen. In leeren Momenten, in denen uns die conditio humana in einem grellen Lichtschlag anstarrt, erleben wir eher schmerzlich dieses Unstillbare des menschlichen Lebensdurstes, anstatt uns dankbar des Geschenkes bewusst zu sein, suchen zu dürfen und nicht stillstehen zu müssen. Gern kämen wir an ein Ende der Reise, um dann sagen zu dürfen: »Das ist es, was ich gesucht habe!« Und: »Es hat sich gelohnt, dass ich gesucht habe!« Gern kämen wir an ein Ende – aber ungern wollen wir sterben, ungern möchten wir dieses erlösende »Das ist es!« mit dem Tod verbinden. So rätselhaft widersprüchlich ist unser Wollen.

Noch einmal: Was suchen wir auf unseren Reisen? In diesen leeren Momenten heftiger Existenzerkenntnis können wir vielleicht unterschiedliche Namen dafür erfinden: Es ist die Suche nach unserer Kindheit, nach dem Ursprünglichsten und Reinsten unserer Kindheit, das es vielleicht niemals gegeben hat, das wir uns, je älter wir werden, nur umso reiner und ursprünglicher vorstellen. Es ist, allgemeiner ausgedrückt, die Suche nach einem pränatalen Zustand, zu dem wir – immer weiterlebend, niemals sterbend – zurückkehren wollen, die Suche nach dem Paradies, nach einem Schwebezustand nämlich, in dem diese uns bekannte Welt greifbar bleibt, in dem wir nichts aufgeben, aber dennoch alles in einem idealen Zustand der Fülle und Vollkommenheit genießen dürfen: eine vollkommene Gesundheit, gute Speisen und Getränke, wunderbare, uns erfüllende, sinnliche und geistige Liebe und die Enthobenheit von diesem ärgerlichen, immerzu an uns nagenden Fluss der Zeit mit seinen Erscheinungen von Alter und Dämpfung der Vitalität.

Nein, den Tod wollen wir nicht! Dann müssten wir ja den Körper und mit ihm alles, was uns wohltut, nämlich Sinnengenuss und Geistesgenuss, zurücklassen. Mit anderen Worten: Auf unserer Lebensreise suchen wir die ideale Kindheit, das Paradies, die Erlösung vom Sog der Zeit – nicht jedoch die Transzendenz, noch nicht die Aufgabe unseres »weltlichen Lebens« zugunsten einer unbekannten überweltlichen, transzendenten Sphäre. In der Transzendenz endet alles Reisen, endet alle Unruhe, alle Bewegung. Und davor zittern wir. Uns ermüdet die Unrast, trotzdem wollen wir uns nicht in das ganz Andere transzendenter Stummheit fallen lassen ... Aber damit nehme ich schon das Ende unseres Nachdenkens voraus und halte ein.

Doppelt leben. — An dieser Stelle genügt es, festzustellen: Wenn wir zu einer Reise aufbrechen, leben wir im Grunde doppelt: Einmal setzen wir unsere Lebensreise fort, sodann reisen wir auch von einem Ort zu einem anderen Ort – nennen wir es Erlebnisreise. Es gibt also eine doppelte Bewegung, und unsere Erlebnisreise ist die beschleunigte Bewegung. Die Erlebnisreise ist eine Lebensreise im komprimierten Rahmen von Raum und Zeit und darum umso intensiver. Reisen heißt also: zweimal leben, weil es das Abbild der Lebensreise ist. Das eigene Leben von Geburt bis Tod zusammenzudrängen und aus ihm die Energie und die Erkenntnis der gesamten Lebensreise herauszukeltern, ist gewiss das unbewusste Ziel, die »Verführung« einer Erlebnisreise. Darum entstehen wohl auch so viel Energie und so viel Begeisterung am Beginn jeder Reise.

Ich beschreibe hier die Reise als konzentriertes Extrakt der Lebensreise. Im Gegensatz dazu können wir eine Reise aber ebenso als eine Flucht vor der großen Lebensreise beurteilen. Wir verdrängen die Verantwortungen und Pflichten unseres Lebens, eine Zeitlang befreien wir uns von ihnen. Darum kann eine Erlebnisreise auch spontan und ohne ernsthaftes Engagement gelingen, anders als die große Lebensreise. Wir erfreuen uns an raschen Kontakten, raschen Befriedigungen, raschen Erfolgen, erreichen geschwind unsere Ziele und wiegen uns fröhlich in der Vorstellung, das Leben gehe ebenso leicht und glatt vonstatten. Zurückgekehrt erkennen wir verblüfft unseren Irrtum.

Diese Fluchten ereignen sich oft in dem eigenartigen Zustand eines milden Dauerrausches. Im Erkenntnisblitz fordern wir: Genau so sollte das Leben auch sein! Alles erscheint neu und rein, wir fühlen uns von der Vergangenheit unbelastet. Da niemand in der neuen Umgebung unsere Vergangenheit kennt, können wir sie auf Reisen zurücklassen. Wir definieren uns neu, interpretieren unseren Charakter schmeichelhaft, unsere Erfolgschancen optimistisch. Plötzlich ist »alles« wieder möglich. Auf der Reise wird unser Leben wie in früher Jugend, als wir uns unserer Kräfte bewusst wurden, in eine reine Potenz gehoben. Mit anderen Worten: Wir leben magisch. Der Magier kann alle Umstände seines Lebens eigenhändig bestimmen. Er hängt von nichts und von niemandem ab. Der Magier bestimmt die Orte und die Menschen, denen er begegnet, er allein hat in seiner Gewalt all das Wunderbare, das er erlebt. Nur: Wie lange währt der Zauber? Was geschieht nach der Reise?

Reisen in meiner Jugendzeit. — Seit meiner Jugend bin ich gern und fasziniert gereist. Damals gab es noch keine Billigreisen und keine package tours, die schon alles enthalten – vergleichbar mit jenen Tütenmahlzeiten, in denen die Gewürze, die Tomatensoße und die Anleitung zum Umrühren getrennt verpackt sind. Das war die Zeit, in der wir zum Bahnhofsschalter gingen und nach langem Pallaver mit dem Beamten die Fahrkarte kauften; in der wir über Landkarten brüteten, Freunde ausfragten, Briefe schrieben, Kontakte zu Fremden knüpften, damit sie Briefe in ihre Heimat schrieben. Es war eine Zeit, als ein entferntes Reiseziel noch fern lag und es der Distanz entsprechend teuer war, dieses Ziel zu erreichen. Einerseits verbrachten wir Monate, die Reisen vorzubereiten, wir versuchten, an alles zu denken, was passieren könnte; anderseits aber waren wir zur Spontaneität mehr als bereit, und etwas geschah immer, was man nicht hatte vorhersehen können und nicht von einer perfekten Reiseinfrastruktur aufgefangen wurde, die uns heute jedes Abenteuer abjagt.

Ich erinnere mich an eine Nacht im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs gemeinsam mit strubbeligen Pennern, missmutigen Säufern, cleveren Strichjungen und halbseidenen Damen – eine Nacht, die unumgänglich war, weil ich aus Hamburg kommend in Köln keinen Zug nach Boppard mehr bekommen konnte. An ein Hotelzimmer in Bahnhofsnähe war damals nicht zu denken – ich war Student. Ich erinnere mich an eine Radtour, bei der mich der Bauer in einem bairischen Dorf großzügig in seinem Schuppen, und zwar im ausrangierten Schweinetrog, übernachten ließ ... Das waren Bagatellen, freundliche Abenteuer der normalen Art.

Wer heutzutage als junger Mensch Reiseabenteuer erleben will, muss sie schon suchen, sie sogar provozieren, etwa durch die Verbindung mit Extremsportarten, mit Extremzielen, mit der Ablehnung jeglicher Vorbereitung oder mit der Weigerung, Geld zu investieren. Viele glauben, Treks durch Tibet oder Ladakh oder die Mongolei gäben ihnen einen Zuwachs an Lebensintensität, eine Lebensekstase, ähnlich wie ein Drogentrip oder eine Taxifahrt über den Nürnburgring mit dreihundert Stundenkilometern. Die Gefahr ist weniger, dass solche Menschen das Risiko falsch einschätzen und Schaden an Leib und Seele nehmen. Das kommt zwar vor. Aber die verbreiteteren Gefahren sind erstens, dass sie nicht mehr in ihren Alltag zurückfinden, also den Rausch der Extremerfahrungen irgendwo in der Wüste oder im Gebirge nicht mehr mit ihrem alltäglichen Leben in Beziehung setzen können, und zweitens, dass diese Fahrten reine Egotrips werden, bei denen die Wüste oder die Berge in ihrer Großartigkeit und Schönheit und Einsamkeit nur die Folie für ihre Egomanie abgeben und die Menschen, denen sie begegnen, überhaupt nicht in ihrem Eigenleben zur Geltung kommen. Was, fragen wir uns, haben diese Reisenden für ihr Leben gewonnen?

Auch heutzutage sind in Ländern wie Indien, Nepal oder Sri Lanka wohlvorbereitete, durchaus normale Reisen möglich, die nicht reibungslos nach Plan verlaufen. Dort von heute auf morgen in Fernzügen einen Sitzplatz oder einen Liegewagenplatz zu reservieren, gelingt selten. Festtage, Urlaubszeiten, besondere Wallfahrten belegen die Züge häufig auf Wochen im Voraus. Gibt es dann einen Notfall, der eine übereilte Reise unablässig macht, haben wir nur zwei Möglichkeiten: Man gibt enorm viel Geld aus, um zu fliegen oder im Taxi lange Strecken zurückzulegen, oder man zwängt sich ohne eine Platzreservierung in die total verstopften Zugabteile und Linienbusse.

Im Kapitel über Kalimpong, einer Bergstadt unweit von Darjeeling, erzähle ich von einer solchen Situation, als ich auf die Nachricht vom Tod meiner Mutter die Stadt eilig verlassen musste, um nach Santiniketan, meinem Wohnort, zurückzukehren und dort meinen Rückflug nach Deutschland zu organisieren. Nur mithilfe mehrerer Freunde war es möglich; sie boten mir spontan die Infrastruktur, die allgemein nicht vorhanden ist.

Frühe Zugreisen in Indien. — Unvergessen sind meine ersten Zugreisen in Indien vor beinahe vierzig Jahren, bei denen ich frühen Anschauungsunterricht in indischer Lebensweise erhielt. Auf diesen Reisen dritter Klasse von Bombay (Mumbai) nach Kalkutta oder von Kalkutta nach Madras (Chennai) verwandelte sich, kaum pfiff die Dampflock zur Abreise, das Abteil in ein fröhlich-lautes, manchmal auch zänkisch-aufgeregtes Wohnzimmer der einfachen Leute. Es wurde gegessen und getrunken und großzügig geteilt, auch mit mir. Es wurden Lebensgeschichten ausgepackt, die in die zweite und dritte Generation der Vergangenheit und bis in den dritten und vierten Verwandtschaftsgrad reichten. Hatten die Familien Vertrauen in mich gefasst, bekam ich nach kurzer Zeit schon Familienaufgaben anvertraut. »Please hold my baby«, bat ein geplagter Vater, der seinen kleinen Schreihals nicht beruhigen konnte. Und tatsächlich! Kaum erblickte das Baby mein unbekanntes weißes Gesicht, blieb ihm das Gekreisch im Hals stecken und es verstummte. Oder aber es begann vor Schreck zu pinkeln und nässte meine Hose, was der Umgebung kicherndes Vergnügen bereitete.

Familienleben konnte ich auf diesen Fahrten studieren, etwa die unendlich nachsichtige, allverstehende Liebe der Mütter zu ihren Kindern, denen sie nichts verbieten. Oder die dominierende Macht der Frauen, die – entgegen landläufiger Meinung – die Familiengeschäfte fest aus dem Hintergrund regieren. Auch den Respekt gegenüber den Eltern und anderen älteren Menschen, denen man wie den Kindern nichts versagen darf. Da waren auch das Schmatzen beim gierig heruntergeschlungenen Essen, das Rülpsen und Zischen, die fremde Körpersprache, vor allem das Kopfwackeln, und die Fähigkeit, in allen Haltungen und Lebenslagen fest zu schlafen, gleichgültig, wie heftig das Getöse rundherum war ... Auf langen, überfüllten Zug­reisen bleibt dem Beobachter kaum etwas verborgen – Indien offenbart sich mir tatsächlich »in vollen Zügen«!

Allerdings nur, solange man selbst bereit zur Kommunikation ist! Auf diesen Reisen blieb mir keine, auch nicht die intimste Frage erspart. Keine Freundin und kein Freund, mein Vater nicht und auch nicht meine Mutter haben mir so überschwänglich fantasievolle und gleichzeitig genaue Fragen zu meinem tiefsten Seelen- und Körperleben gestellt, wie es jene Mitreisenden in den Zügen getan haben. In Indien ist Kommunikationsfähigkeit das A und O eines gesellschaftlich integrierten Lebens. Sozialkompetenz nennt man das heute. Wer bereit ist, über beinahe alles und jeden zu sprechen und dabei die persönlichen Grenzen der Diskretion auszuweiten, der wird als Sohn und Tochter, als Bruder und Schwester, als Onkel und Tante angenommen und in die Arme geschlossen. Dem ist am Zielbahnhof eine vorübergehende Heimat sicher mit noch mehr Familie und natürlich mit der Nachbarschaft und den Berufskollegen, den Mitschülern und Lehrern und ... und ... und. Das ist Reisen in Indien, das sind tatsächlich Erlebnisreisen, die als konzentrierter Extrakt der Lebensreise gelten dürfen.

Der Selbstbetrug der Touristen. — Touristen betrügen sich, wenn sie glauben, ein rasches Hingucken und Hinhören würde ihnen die Substanz eines Ortes offenbaren. Die leicht zugänglichen technischen Hilfsmittel und der moderate finanzielle Aufwand suggerieren ihnen, der Ort, den sie aufsuchen, sei ebenso leicht zu verstehen wie die Anreise einfach war. Hinkommen und Verstehen seien ein Vorgang, sie gehörten zur selben Ebene des Bemühens. Gewiss, wenn man nach Athen fliegt, um eine Schiffsreise in der Ägäis zu unternehmen, sind Flug und Auf-dem-Schiff-Sein auf demselben Niveau: Man erholt sich, genießt das gute Essen, das blaue Meer und den ebenso blauen Himmel ... Es sei jedem gegönnt! Wer jedoch zum Beispiel nach Rom fliegt, um die Stadt zu kennenzulernen, braucht die eine Währung, mit der sich das Reisen an nahe oder ferne Ort erst lohnt: Man braucht Zeit. Nicht die leichte Erreichbarkeit der Stadt, nicht der Billigflug und das Hotelschnäppchen sind ausschlaggebend für den Gewinn, sondern wie viel an Lebenszeit und mit ihr, wie viel an bemühter innerer Zuwendung und vorurteilsloser Aufnahmebereitschaft wir fähig sind zu investieren.

Wenn wir hastig reisen, nehmen wir nur uns selbst, unsere eigenen Kontexte mit und stülpen sie über die neuen Kontexte, in die wir eingetreten sind. Wir nehmen die neuen Orte nicht in ihrer Neuheit wahr. Es sind wieder nur Straßen und Häuser, Kirchen und Plätze, Menschen und Autos – wie zu Hause. Wer sich nicht innerlich von zu Hause frei machen kann, sollte dort bleiben. Was nutzt es, wenn nur der Körper reist? Eine Reise bietet die günstige Gelegenheit, die alltäglichen Kontexte zu verlassen und sie – aus der räumlichen und zeitlichen Entfernung – zu relativieren. Was uns vor drei Tagen zu Hause in Frankfurt noch dringend erschien oder ärgerlich war oder uns stolz machte, wirkt heute in New York doch recht banal. Es erscheint uns nicht mehr dringend, weil uns niemand und nichts mehr drängen. Der Ärger verraucht, weil keiner in ihm stochert. Mein Stolz wird grundlos, weil niemand meine Verdienste kennt. Meine gesamten vielschichtigen, bewussten und halbbewussten, versteckten und verschlüsselten Identitäten geraten ins Wanken und mischen sich neu.

Die gewachsenen Kontexte der Reiseorte. — Heute haben wir beispielsweise in New York die großartige Gelegenheit, uns so entblößt zu sehen, wie wir existenziell sind. Gewiss, dieser Zustand macht uns Angst. Lieber ziehen wir uns die unterschiedlichsten Verkleidungen an. Heute grüßt uns in New York niemand mit »Frau Professor« oder mit »Herr Doktor«, weil niemand die Verkleidungen erkennt. In dieser inneren Entblößung haben wir die günstigste Verfassung, uns auf die neuen Kontexte in New York einzulassen – falls wir den Mut dazu besitzen. Mit genügend Zeit! Unsere in der Entblößung zumindest andeutungsweise entdeckte oder erlernte Bescheidenheit sagt uns nämlich, dass diese neuen Kontexte ebenso jahrelang, lebenslang und jahrhundertelang gewachsen sind wie die unseren in der Heimat.

Auch in New York ist das Sichtbare und Hörbare nur die Spitze, die über der Wasseroberfläche herausragt. Diese Spitze wird von dem so viel umfangreicheren, bedeutenderen Gestein unter der Oberfläche ins Licht gehoben und getragen. Ebenso tragen die Menschen auf den New Yorker Straßen ihre gesamten Lebensjahre und in sich noch einmal Generationen ausgelebter, vergangener Menschenleben mit sich. Und die Gebäude und Parks, die Kronleuchter und schweren Samtvorhänge in den Restaurants tun es ebenso. Sie alle beugen sich unter den Generationen; sie alle werden aber auch von ihnen angefeuert und mit Energie versehen.

Alles das vergegenwärtigen wir uns vermutlich nicht – zumindest nicht spontan – durch die Anschauung, also nicht auf den Straßen und in den Parks von New York. Doch unsere Bildung und Lebenserfahrung und Fantasie lehren uns, dass die Gegenwart eine tiefreichende Geschichte besitzt und wir die Gegenwart als eine gewachsene Geschichte respektieren müssen – bei uns zu Hause wie auch in der Fremde. Auf einer Reise ist es unsere Aufgabe, in diese gewachsenen, organischen Kontexte ein wenig nur und zumindest probeweise hineinzureichen. Mit Bescheidenheit, wie gesagt, aber auch mit genau blickender Neugier!

Gewinne einen Freund! — Das ist, zeigt meine Erfahrung, am ehesten möglich durch die Begegnung mit den Menschen am fremden Ort. Ich bedaure immer, wenn Freunde aus fremden Ländern heimkehren, aber nichts von Gesprächen mit den dort lebenden Menschen erzählen können. Sie haben mit den Kellnern im Restaurant und den Damen an der Rezeption gesprochen. Im Übrigen haben sie nur Monumente und Landschaften erlebt. Ich versteige mich zu der Forderung: Eine nachdenkliche Reise ist erst vollkommen, wenn wir auf ihr zumindest eine Freundschaft gewonnen haben, die wir zu Hause weiterpflegen.

Wir müssen das Gespräch mit den Menschen suchen. Das ist einmal möglich durch genaue, freundlich-kritische, im Wesentlichen zustimmende Beobachtung, durch den Besuch solcher Orte, an denen Menschen einer fremden Stadt zusammenkommen. Also der Parks und der Restaurants und der Bistros, der Flussufer und Plätze, auch der Busse und Straßenbahnen und Züge. Halten wir die Augen offen, damit wir sehen, wo sich die Menschen treffen! Seien wir wach, um die Gelegenheiten zu erhaschen, in den Austausch mit den Einheimischen zu kommen. Können wir uns auf winzige Weisen einbringen und die anderen Menschen selbst auch als Individuen würdigen?

Wir sollten über die Straßen und Wege zu Fuß gehen oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein, um ansprechbar zu sein und selbst ansprechen zu können. Und damit meine ich eben nicht nur die Kellner, Rezeptionsdamen und Taxifahrer, sondern Menschen außerhalb der Fremdenverkehrsindustrie. Beträchtlich hilft uns dabei eben, wenn wir uns diese Menschen in ihren Kontexten, mit ihrer Geschichte und mit ihren Lebensgeschichten vergegenwärtigen.

Es kommt also darauf an, nicht zu rennen und zu gucken und weiterzurennen, um noch mehr zu gucken, sondern auch zu sitzen und auf sich wirken zu lassen. Es kommt darauf an, auf dem einen Platz in einer Stadt, der uns anzieht, lange gegenwärtig zu sein – ihn zu begehen, dort zu sitzen, auf ihm zu stehen, ihn zu fühlen, uns darauf auszuspannen, um seine Ausmaße innerlich zu ahnen, seine Energie, seinen Rhythmus, sogar seine Geschichte in unseren Körper und in unseren Geist aufzunehmen. Dazu gehört Muße. Eine gute Übung dafür ist, in allem, selbst im Kleinsten, eine Bedeutung, einen Sinn zu vermuten – denn in allen »Dingen« »schläft ein Lied« (wie die Romantiker dichteten) und wir hören es, treffen wir nur »das Zauberwort«. Das will sagen: finden wir nur jene Formel, mit der wir uns zumindest der Rätselhaftigkeit der Menschen und Dinge bewusst werden. An fremden Orten hat alles eine Bedeutung: die Kleidung, die Gestik, die Laute der Sprache, das Bunte und das Eintönige, die Uhrzeit und die Sommerwolken. Alles will uns etwas lehren.

Bereite dich vor! — Neben unserer Bildung, Lebenserfahrung und Fantasie wäre es so wichtig, wenn wir dem Ort oder dem Land schon durch vorbereitende Lektüre Respekt bezeugten, wenn wir ein Wissen von der Geschichte, der Religion oder den Religionen, der Sozialordnung und den kulturellen Veranlagungen mitbrächten. Wenn wir sogar die Sprache verstünden, uns zumindest darum bemüht hätten. Ich wiederhole es: Alles das bedarf dieser teuersten Währung, mit der wir auf nachdenklichen Reisen Handel treiben können: der Zeit.

Reise mehrmals an denselben Ort! — Eine nachdenkliche Reise ist am fruchtbarsten, wenn man zweimal oder immer wiederan denselben Ort fährt. Die Nachdenklichkeit einer Reise wächst, wenn man das Neue schon als gewachsen und geschichtlich erfüllt einschätzen und Bekanntschaften und Freundschaften wieder aufnehmen kann. Das Befriedigendste an einem fremden Ort weitab der Heimat ist, wenn er nicht mehr fremd ist. Wir fahren nach Rom oder Paris und verstehen schon sehr bald wieder die Kontexte der Menschen in diesen Städten – und mehr noch: Wir sind selbst in diese Kontexte mit hineinverwoben. Das Lebensgewebe in der Heimat wächst mit dem Lebensgewebe in der Fremde zusammen. Wir fahren nach Rom oder Paris und vertauschen keineswegs eine Lebensroutine mit einer anderen, sondern wir tauchen in die – schon längst erkannte und lang erwartete – Magie eines Ortes ein und schöpfen aus ihr Energie. Dem Ort ist nicht das Neue und Faszinierende genommen. Doch sind wir von den unbewussten Ängsten der Ankunft befreit, ob wir den Ort verstehen und als sympathisch empfinden und uns in ihm sorglos bewegen können. Wir erkennen ihn spontan wieder und fühlen uns erfrischt und magisch berührt.

Durch wiederholte Besuche werden unsere intuitiven Kräfte, unsere Möglichkeiten der Assoziation immer vielfältiger. Erinnerungsfäden verflechten sich mit dem Ort, bestimmte Restaurants, Museen, Plätze, eine gewisse Bank in einem Park, gewisse Statuen und Inschriften an Häusern erhalten eine Patina durch unsere persönlichen Beziehungen. Sie sprechen für uns eine Sprache, die nicht einmal die Einheimischen hören können. Solche intimen Beziehungen unterhalte ich etwa zu Wien, wo ich diesen Essay geschrieben habe, auch zu Edinburgh und den schottischen Highlands, dann zu Kalimpong im Himalaja und dessen Umgebung, von der ich eingangs erzählt habe.

Wenn wir zwei oder drei solcher Städte oder überschaubarer Landschaften haben, in die wir immer wieder gern reisen, wird auch das Leben in unserer Heimat von diesen Beziehungen beleuchtet. Die Heimat spiegelt sich im fremden Ort und gewinnt einen neuen Glanz. Wir lernen das unverwüstlich Einmalige der Heimat, in der unsere Wurzeln und die Wurzeln der Familie tief in die Erde reichen, deutlicher schätzen. Die Heimat, in der die Häuser stehen, die wir bewohnen und die unsere Vorfahren bewohnten und in der die Gräber der Familie liegen, ist durchdrungen von einer unersetzlichen kraftvollen Süße. Und sie wird kraftvoller, je mehr wir unser Leben mit anderen Ländern, Städten und Landschaften verbinden.

Eingewoben sein in die Beziehungsfelder unserer Lebensorte. — Ideal ist ein engmaschiges, großzügiges Assoziationsfeld, in das Ehepartner, Geliebte, Freunde und Bekannte, Kinder und andere Verwandte, Verstorbene und Lebende ihre je eigenen Knotenpunkte gewebt haben, ein Assoziationsfeld, in dem Erinnerungen und Ereignisse der Freude und auch der Trauer jenen Städten und Landschaften ihre persönliche und kostbare Bedeutung verleihen. Ideal ist, wenn sich in der Erinnerung wie in der aktiven Gegenwart »alles mit allem« verbindet. Nichts ist isoliert, nichts ist nur oberflächlich und übergestülpt, nichts ist undifferenziert und nebeneinandergestellt. Ist das Leben auf diese Weise in einer Vielzahl lebendiger Beziehungen verwoben, dann – meine ich – trägt ein Leben bemühter, nachdenklicher Reisen seine Früchte.

In der ersten Lebenshälfte – sagen wir, bis zum Ende unseres vierten Jahrzehnts – sollten wir reisend in der Welt suchen, welche Orte und Landschaften unseren Anlagen und unseren Bedürfnissen entsprechen, in welchen von ihnen sich unser Leben besonders erstaunlich und erfreulich widerspiegeln kann. In der zweiten Lebenshälfte können wir diese Orte und Landschaften immer wieder besuchen und sie in unser Leben hineinweben.

Am Ende steht der Reichtum der Transzendenz. — Nachdem wir auf eine solche Weise bewusst mit dem Reisen umgehen, sind wir wieder am Beginn unserer Betrachtungen angelangt: nämlich beim Reisen als existenziellem Erlebnis. Zu Beginn evozierte ich das Reisen als die Sehnsucht, dem beängstigenden Gefühl der Leere zu entkommen: Wir erschaudern vor der großen Lebensreise. Darum wollen wir sie durch überschaubare, kurze Erlebnisreisen im Kleinen abbilden und fasslich machen und dadurch die Ungeheuerlichkeit der Reise von der Geburt zum Tod bannen. Doch im letzten Abschnitt der Lebensreise ist diese Angst vielleicht gedämpfter geworden, wir sind innerlich freier und gelöster und darum wieder offen für das Erlebnis des Reisens als existenzielles Symbol. Die indische Philosophie zeigt uns, dass gerade diese Gebärde der Unbeständigkeit im letzten Lebensabschnitt Sinn ergibt.

Sie kennt die vier Lebensstufen, die jeder Mensch durchschreitet, um sein Leben erfüllt abschließen zu können: Der Mensch beginnt als Schüler, der bei einem Lehrer lernt; er heiratet und gründet eine Familie. Ist der erste Sohn erwachsen und kann die Familiengeschäfte übernehmen, ziehen sich Vater und Mutter als Einsiedler in die Wälder zurück, um ein der Gottsuche hingegebenes Leben zu führen. Auf der letzten Lebensstufe aber trennt sich der Mann von seiner Ehefrau und wandert allein von Ort zu Ort. Er ist ein Sannyāsi, ein Bettelmönch, ein »Unbehauster«, der nirgendwo mehr Heimat hat und sich nirgendwo hingezogen fühlt.

Diese Radikalität der »Unbehaustheit« werden wir nicht nachahmen wollen. Doch annehmen dürfen wir davon, dass wir die Polarität des In-der-Heimat-Seins einerseits und des Auf-Reisen-Seins anderseits, von der ich bis jetzt gesprochen habe, zuletzt überflügeln und auflösen. Trishnā – der Lebensdurst – ist vergangen. Ich habe mit angesehen, wie Menschen in ihren letzten Lebensjahren bitter wurden, weil sie nicht mehr dorthin reisen konnten, wo sie ihre Energie fanden. Früh genug möchte ich dieser Bitterkeit vorbeugen, indem ich Heimat und Reiseorte zu transzendieren lerne. Das soll geschehen, wenn die inneren Kräfte noch so stark sind, dass sie diese letzte Lebensstufe erklimmen können.

Am Ende der Lebensreise wie am Ende der Erlebnisreisen muss die Transzendenz stehen. In ihr sind beides, Heimat und Reiseorte, als »innere Orte« aufgehoben. Das ist keine gemütliche Heimat, kein magischer Reiseort, aber in der Transzendenz lebt der Reichtum, den wir durch diese doppelte Reiseerfüllung in uns gesammelt haben. Diese Fülle in uns ist das Sprungbrett zu dem Wort, das uns bisher zittern machte, nämlich: »Das ist, was ich gesucht habe.« Alles Reisen, alle Bewegungen in Raum und Zeit zurücklassend, verlegen wir das Geschehen ins Innere.

Kalimpong — Refugium im Himalaja

Blick auf Kalimpong vom Himalayan Hotel (Foto: Martin Kämpchen)

Der lange Weg nach Kalimpong. — Den ersten Schritt auf diesem Weg tat ich im April 1973. Ein Studium in Wien hatte ich drei Monate zuvor abgeschlossen. So inspiriert ich von Wien gewesen war, es hielt mich dort nicht länger. Ich flog nach Indien, um in Kalkutta Deutsch zu unterrichten und in einem Ashram südlich der Großstadt zu wohnen. Ein Jahr oder höchstens zwei wollte ich dort bleiben, damit ich von dem voll, aber wahllos eingesogenen Leben Abstand gewinnen würde, mich ordnen konnte, um mir die Frage zu stellen, zu welcher Lebensweise und welchem Lebensinhalt ich am ehesten bereit und fähig sei. Diese andrängende Fülle von studiertem Wissen und die täglich immer qualvollere Herausforderung, die neuen Erfahrungen auszuwerten und in mir zu ordnen!

Geografischer Abstand, das Leben im ganz Anderen würden erholsam sein. Ich war ein rat- und rastloser Vierundzwanzigjähriger, der sich leidenschaftlich darum bemühte, einige feste, deutlich erkennbare Linien im Universum auszumachen, um sein Leben daran wie ein Netz aufzuhängen. Viel zu früh war ich viel zu ernst – die gravitas aus metaphysischer Verzweiflung. Insofern wurde ich ein typischer Morgenlandfahrer. Doch die Leichtigkeit des Hippieseins, deren romantisches, schmetterlinghaftes Gaukeln ging mir ab. Schon damals war mir bewusst, dass kein Schritt wiederholt und keiner zurückgenommen werden kann.

Schon im April saugte Kalkuttas Hitze und Schwüle an mir – doch war ich (als Morgenlandfahrer) entschlossen, alles durchzustehen. Der Sommer wurde mit seinen täglichen Stromausfällen unbändig. Der Ventilator in meinem engen Zimmer kam ächzend zum Stillstand. Hysterisch schwirrende Moskitos in der stickigen Luft. Innerhalb von Minuten tropfte der Schweiß. Der Körper schien sich aufzulösen. Die Gedanken und Bilder im Kopf verschwammen. Nichts bewegte sich, außer tausend winziger Flügel.

Der Monsun senkte zwar die Temperaturen, doch die Luftfeuchtigkeit mergelte den Körper aus; er war zwei Stunden, nachdem er von einem bleiernen Schlaf aufgewacht war, wieder matt. Ich merkte: Eine bewusstere Beziehung zu meinem Körper war nötig, um zu überleben, eine neue Weise zu leben! Viel bedächtiger, viel entspannter. Widerstand half nicht, Willenskraft wenig. Aus diesem Klima entstand die Lebensart des Yoga.

An drei Nachmittagen in der Woche rumpelte ich in übervollen, von Schweiß stinkenden Bussen in die Großstadt zu meinem Unterricht, um zehn Uhr abends kehrte ich ausgelaugt zurück, oft zu erschöpft, um zu essen. Ich bejahte diese Anstrengungen, weil sie neu waren und ungewohnte Gefühle weckten.

Warum schreibe ich über Kalkutta? Um den Kontrast auszumessen, der mich empfing, als ich in Kalimpong ankam. Im Oktober feiern Hindus in West-Bengalen das Durga-Puja-Fest. Ihr größtes Fest im Jahr. Erwachsene haben einige freie Arbeitstage, Schüler und Studenten einen ganzen Monat. Das ist Reisezeit, und die Mönche der Ramakrishna Mission, mit denen ich zusammenwohnte, schlugen vor, dass ich zur Erholung ins Gebirge – in den Himalaja – fahre. Also machte ich mich allein auf den Weg nach Kalimpong: per Zug eine Nacht von Kalkutta nordwärts durch die Länge West-Bengalens bis nach New Jalpaiguri. Von dort früh am nächsten Morgen im Jeep hinauf in die Gegend von Darjeeling. Zunächst beinahe zwei Stunden am Fluss Teesta entlang, der uns mal sehr tief unten im breiten Bett, mal fast auf Straßenebene entgegenströmte. Dann gabelte sich die Straße und führte zu drei Gebirgsmassiven: eine zur Stadt Darjeeling im Westen, die mittlere nach Gangtok, der Hauptstadt von Sikkim im Norden, die dritte nach Kalimpong. Noch sechzehn Kilometer steil und kurvig aufwärts. Diese Aufwärtsreise – der Prototyp aller Pilgerreisen! Die Motoren, die jetzt ihre Kraft verausgaben; die Fahrer, die gesammelt wie Bogenschützen die Kurven nehmen. Wie die Passagiere, selbst die muntersten, jetzt still werden! Aus Angst? Zumindest aus Anspannung. Und durchs offene Fenster schon diese erste, mich hänselnde klare Trockenluft. Ich sitze vorgebeugt, lege mich wie Kinder auf dem Karussell mit in die Kurven, fahre jede innerlich aus und warte darauf, dass sich die ersten nackten Felsengipfel hinter den waldigen, weichen, hintereinander gestaffelten Bergrücken zeigen. Das ist der Augenblick der Ankunft!