Wahrhaftig sein - Martin Kämpchen - E-Book

Wahrhaftig sein E-Book

Martin Kämpchen

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Beschreibung

Das eigene Leben zu leben ist Zielpunkt aller Wünsche und alles andere als selbstverständlich. Die Sehnsucht nach einem authentischen, wahrhaftigen Leben ist ebenso verbreitet wie die Klage, ein entfremdetes, fremdbestimmtes Leben führen zu müssen. Martin Kämpchen, Grenzgänger zwischen christlichem Glauben und indischer Philosophie, erschließt sieben Schritte der Lebenskunst. Dabei schöpft er aus dem christlichen Glauben ebenso wie aus seinen Erfahrungen des indischen Lebens. Durch das Leben in zwei Kulturen entstehen für europäische Leserinnen und Leser erfrischend neue Perspektiven.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Leseempfehlung

Martin Kämpchen

wahrhaftig sein

7 Schritte zur Lebenskunst

Patmos Verlag

INHALT

Vorwort

Einfachheit

Glück und Wahrhaftigkeit

Muße

Trauer und Versöhnung

Freundschaft

Dankbarkeit

Erinnern und Vergessen

Nachbemerkung

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Seit meiner Studienzeit in Wien treiben mich die Fragen um:

Wie soll ich leben?

Wie lebe ich richtig?

Was muss ich tun, um mein Leben zu erfüllen?

Diese Fragen haben mich nicht verlassen, sie begleiten mich durch die Höhen und Tiefen meines Lebens, ich stelle sie fast täglich. Von Anfang war mir bewusst, dass ich den Boden meines christlichen Glaubens, in dem ich eingewurzelt bin, nicht verlassen könne. Aber rundum wartete die Welt.

Ich studierte moderne deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Philosophie. Jeden Abend besuchte ich entweder ein Konzert, eine Oper oder ein Theaterstück. Stehplätze waren billig und man konnte sie als Student an der Universität abholen. Ich wollte so viel lesen, sehen, hören und erleben wie möglich, um durch Erfahrungen meinen Fragen näherzukommen. Die Unruhe trieb mich einen Sommer lang nach Indien, wozu mir ein Stipendium verhalf. In Indien entdeckte ich, dass ich dort Erfahrungen machen konnte, die in Europa unmöglich waren, und ich entschloss mich, nach dem Studium für ein, zwei Jahre nach Indien zurückzu­kehren.

In Wien ging mir in der ukrainisch-katholischen Kirche Sankt Barbara das Licht einer neuen Glaubenserfahrung auf. Ich besuchte die Liturgie des heiligen Chrysostomos jeden Morgen und fühlte mich in ihrer Mystik tief aufgehoben. Gern wäre ich Mönch geworden und besuchte die Klöster mehrerer Orden in Österreich, Deutschland und später in Indien. Doch lernte ich, dass ein von außen reglementiertes Leben meiner Entfaltung als kreativer Mensch nicht förderlich wäre. Ich brauchte die Freiheit, mir meine eigene Disziplin aufzuerlegen. Um sie habe ich ein Leben lang gekämpft und kämpfe bis heute.

In Indien wohnte ich zunächst zusammen mit Hindu-Mönchen der Ramakrishna-Mission in der Nähe von Kalkutta, dann mit indischen Jesuiten in Madras (heute Chennai). Ich konnte mich von Indien nicht lösen. Ein Grund war, dass ich hier ideale Voraussetzungen für meinen Beruf vorfand. Nie wollte ich anderes als schreiben und es in Freiheit tun. In Indien wurde ich Schriftsteller und befand mich inmitten des faszinierendsten Erlebnisfeldes, das ich mir wünschen konnte: der indischen Wirklichkeit – Indiens Leben, seine Religionen und Kulturen. Nie habe ich über etwas anderes schreiben wollen. Oft fuhr ich nach Europa, aber hauptsächlich, um durch Vorträge und Seminare Indien vorzustellen und danach zurückzukehren.

Dieses Buch ist ein Lebensbuch. Seitdem ich mir diese Fragen stellte Wie soll ich leben? – Wie lebe ich richtig? – Was muss ich tun, um mein Leben zu erfüllen? habe ich Antworten gesucht, indem ich mir Themen oder Grundworte setzte. Was ist mir am wichtigsten? Ein einfaches Leben? – Ja! Das ist immer maßgeblich für mich gewesen. Muße? – Ja, sie ist so bedeutsam als Antwort auf die Überwältigung durch das moderne Leben in Europa wie in Indien. Dankbarkeit? – Ich habe Grund zur Dankbarkeit! Über vierzig Jahre konnte ich dieses Land erleben und mit so vielen Menschen in engen Kontakt kommen. Freundschaft? – Haben sich nicht wesentliche Beziehungen in Indien angebahnt, mit jenen Menschen, die so weltoffen, so unmittelbar und begeisterungsfähig sind? Glück? – Habe ich nicht auch das Glück gesucht und suche es weiterhin? Aber nicht in Äußerlichkeiten. Wo also finde ich es?

Auch Treue, Weisheit, Mut waren mir wichtig, und sie waren ursprünglich als eigenständige Kapitel geplant. Ich las viel, machte Exzerpte und Kopien, schrieb Notizen, die ich nach Themen ordnete. Über Jahrzehnte begleitete mich dieses Projekt. Lange fühlte ich mich nicht bereit, über philosophisch-religiöse Lebensthemen aus der eigenen Erfahrungsperspektive zu schreiben. Das verlangt eben genügend Erfahrung und Reife, und nie ist man sicher, ob beides ausreicht. Mut braucht es, sein Inneres zu entblößen und von Gott und den wesentlichen Dingen des eigenen Lebens zu sprechen. Jahrzehnte hatte ich über den Hinduismus geschrieben und das Wort »Gott« und »Seele« benutzt. Jetzt aber hieß es: Wer ist mein Gott? Was glaube ich? Wie kann ich meine Erfahrungen mitteilen, sodass sie bei anderen Menschen weiterwirken?

Im Jahr 2008 hielt ich in Wien einen Vortrag über Trauer und Versöhnung. Das Thema hatte das Kardinal-König-Haus gewünscht. Danach wagte ich, ein Thema nach dem anderen als Vortrag anzubieten. Das gesammelte Zuhören und anschließend die langen Diskussionen bekräftigten mich in dem Eindruck, dass ich etwas sagte, das viele hören und bedenken wollten.

Mein letztes Thema, Erinnern und Vergessen, schließt die Reihe jener Grundworte ab, nach denen ich mein Leben zu gestalten versuche. Es fällt scheinbar aus dem Rahmen. Erinnern und Vergessen sind keine Tugend, keine Fähigkeit, keine Haltung, die ich beachten soll und einüben kann. Warum dieser Abschluss? In ihm denke ich über die vorherigen Themen noch einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive nach: Ein bestimmtes Erlebnis hatte mir mit Erschrecken deutlich gemacht, wie schwankend unsere Wirklichkeit ist, mit wie vielen Wirklichkeiten wir umgehen, wenn wir bewusst die normalen Prozesse von Erinnerung und Vergessen einbeziehen. Es zeigte mir, wie sehr wir uns unserer soliden existenziellen und geistigen Grundlagen vergewissern müssen, bevor wie daran denken können, Tugenden, Fähigkeiten und Haltungen zu untersuchen und einzuüben.

Warum lautet der Buchtitel wahrhaftig sein? Als ich darüber nachdachte, welche Grundhaltung alle meine Lebensthemen durchflutet und färbt, war mir nur die Anwort möglich: Wahrhaftigkeit. Im Zusammenhang mit dem Glück schreibe ich ausdrücklich über sie, doch auch in den übrigen Kapiteln bemühe ich mich darum, die Themen nie oberflächlich und konventionell zu betrachten, sondern tiefer zu schauen, bis auf den Grund zu kommen. Was ich auch darstellen mag, die Freundschaft, die Dankbarkeit oder die Einfach­heit, es soll wahrhaftig und mit Leidenschaft geschehen.

In keinem der sieben Kapitel fehlt Indien. Die dort gesammelten Erfahrungen flechte ich hinein. Bestimmte philosophische Grundbegriffe wie karma, māyā und pūjā erscheinen in mehreren Kapiteln; sie haben mein christliches Verständnis bereichert. Schließlich komme ich immer, beinahe jedem Grundwort zugeordnet, auf die Triade Gnade, Intuition und Meditation zu sprechen.

Die meisten Kapitel enden mit der Frage, was Bestand hat, worauf wir inmitten schwankender Wirklichkeiten bauen können. Darauf versuche ich Antworten zu finden, die uns helfen.

Santiniketan, im März 2016

1

Einfachheit

Einfachheit beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Zuerst schuf Gott Licht, das er vom Dunkeln schied; dann schied er das Wasser von der Erde. Danach schuf er das Himmelsgewölbe, das heißt den Raum, in dem die Schöpfung enthalten ist, und die Sterne. Er schuf die Pflanzen auf der Erde und die Tiere im Wasser und der Luft und auf der Erde. So ist die Schöpfung Tag für Tag herangewachsen und hat sich organisch von Schöpfungstat zu Schöpfungstat entfaltet. Danach heißt es: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Genesis 1,31).

Der stärkste Eindruck, den diese Geschichte hinterlässt, ist der einer übergreifenden Ordnung. Sie ist nicht arithme­trisch oder geometrisch, sie baut also nicht mit Zahlen und geraden Linien oder Winkeln auf. Diese Ordnung entsteht, indem wie aus einem Samenkorn zuerst die Elemente entstehen, also Feuer (Licht) und Wasser und Erde. Luft ist nicht eigens erwähnt, sie erhält aber eine sakramentale Bedeutung, wenn es im zweiten Kapitel der Genesis heißt, dass Gott dem Menschen seinen »Odem« einhaucht.

Aus diesen Elementen entstehen als Nächstes die Pflanzen, die von dem Licht und der Erde ihre Nahrung empfangen, und die Tiere, die sich von den Pflanzen ernähren. Ebenso werden die Tiere geschaffen, die im Wasser und vom Wasser leben. Zuletzt entsteht der Mensch, der inmitten der Elemente, der Pflanzen und Tiere seinen Lebensraum findet. Diese Ordnung ist eine organische – eines entwickelt sich aus dem anderen; es ist keine additive Ordnung, bei der eines zum anderen gehäuft wird, ohne dass sich die Teile zu einem Ganzen verbinden. Diese organische Ordnung hat zur Folge, dass die einzelnen Teile der Schöpfung aufeinander angewiesen sind, dass also die Basis die darauf aufbauende Schöpfung am Leben erhält und dass umgekehrt die lebendige Schöpfung zur Basis – den Elemen­ten – zurückkehrt. Dieser Kreislauf von Geben und Empfangen, dieses Sich-Auseinanderfalten und Wieder-Zurückkehren der Schöpfung beschreibt das einfachste Ordnungsprinzip – es ist die Ordnung der Einfachheit.

Der indische Schöpfungsmythos erzählt von einer ähnlichen Einfachheit des Gebens und Empfangens, allerdings ist sie noch eindeutiger. Aus dem Nabel des Schöpfergottes Brahma wächst die Welt hervor, wie ein Lotos, der seine zahllosen Blütenblätter nacheinander entfaltet. Am Ende eines Zeitalters, nachdem die Energie des kreativen Impulses aufgebraucht ist, löst Gott Shiva die Welt wieder auf. Shiva nennt man den Zerstörergott, doch eigentlich zerstört er nicht, sondern er faltet die kraftlose Schöpfungsmaterie wieder zusammen, sie wird zum Ungestalteten oder – in der Sprache der Genesis – zu den »Urwassern«. Als ungestaltet-undifferenzierte Potenz regeneriert sich die Schöpfung, bis sie sich zum Beginn eines neuen Zeitalters wieder aus der Potenz in die Manifestation entfaltet.

Schöpfungsmythen und Wiederherstellung der Einfachheit

Was haben die Schöpfungsmythen mit dem Thema der Einfachheit zu tun? Die alttestamentarische wie die Hindu-Schöpfungsmythe schildern anschaulich, wie eine einfache Lebensweise in unserem Alltag aussehen kann. Wir entwickeln aus uns selbst heraus, was wir zum Leben notwendig haben: Wir haben einen Körper, den wir gegen Hitze und Kälte schützen müssen – also brauchen wir Kleider. Wir haben ein angeborenes Schamgefühl – also bedecken wir unsere Blößen. Wir brauchen Nahrung, um unseren Hunger, Wasser, um unseren Durst zu stillen. Wir brauchen Häuser, um uns gegen das Wetter zu schützen. Wir brauchen auch Bilder an der Wand und Schönheit in unserem Lebensumkreis, weil wir ein angeborenes ästhetisches Empfinden besitzen. Ähnlich haben unsere emotionalen, intellektuellen und seelischen Kräfte natürliche Bedürfnisse, die wir befriedigen sollen.

So kann sich der Mensch aus seinen echten, natürlichen Bedürfnissen heraus eine einfache Lebensweise schaffen. Eines baut organisch und notwendig auf dem anderen auf. Wer diese Art, Einfachheit zu verstehen, verinnerlicht hat, kann entscheiden, was nicht notwendig ist und darum auch nicht zum einfachen Leben gehört. Nicht zur Einfachheit gehören Dinge, die von außen hinzukommen, die sich zum Leben addieren, ohne zu ihm zu gehören und ins wesentliche Leben integriert werden können.

Als Gott der Schöpfer um sich blickte und sah, dass alles gut war, hatten Natur und Menschen gerade so viel, wie sie zum würdigen und erfüllten Leben brauchten. Als sich nach dem Hindu-Mythos die Schöpfung aus dem Nabel Brahmas vollständig entfaltet hatte, befand sich die Schöpfung im Gleichgewicht: Jedes Geschöpf besaß so viel zum Leben wie notwendig und nahm keinen anderen Geschöpfen deren Lebenskraft weg. Das sehe ich als den vollkommenen Zustand der Einfachheit an.

Wie können wir im praktischen Leben eine solche Einfachheit herstellen – oder wieder herstellen? Die von außen hinzugekommenen Dinge, die uns immer mehr beschweren und uns zu erdrücken drohen, können abgebaut werden, sodass nur bestehen bleibt, was aus einem deutlichen Bedürfnis heraus notwendig ist. Diesen Unterschied zwischen echten, das Wesen der Menschen betreffenden Bedürfnissen und dem äußerlichen Ballast zu erkennen, das ist die eigentliche Herausforderung.

Uns ist mit den Schöpfungsmythen als Archetyp des einfachen Lebens deutlich geworden, dass Einfachheit durch einen Willen zur Ordnung entsteht. Wer Einfachheit sucht, glaubt an eine Rangordnung der Werte, das heißt, an eine Rangordnung innerhalb der Schöpfung und entsprechend an eine Rangordnung in dem, was gut und wichtig im eigenen Leben ist und was weniger oder nicht wichtig ist. Einfachheit ist niemals apodiktisch im Sinne, dass sie etwas radikal ablehnt und ein anderes unbesehen zulässt, sondern das einfache Leben folgt der Intuition, die entscheidet, was auf den verschiedenen Ebenen des Lebens notwendig ist und was in einer gegebenen Situation wichtiger ist als etwas anderes. Menschen, die das einfache Leben verwirklichen wollen, entscheiden von Tag zu Tag und von Situation zu Situation neu, was ein solches Leben von ihnen verlangt.

Maßgebend ist hier das Wort Intuition. Sie ist ein innerer Kompass, mit dem die jeweils angemessene Weise der Einfachheit bestimmt werden kann. Intuition ist jene Instanz, die unser rationales Denken und unsere Gefühlswelt überragt und über sie wacht und bemüht ist, sie kreativ zu den richtigen Entscheidungen zu führen. Wir müssen nur bereit sein, die Signale der Intuition zu empfangen, und den Mut besitzen, ihnen zu folgen, auch gegen unser rationales und vom Gefühl kontrolliertes »besseres Wissen«. Mahatma Gandhi (1869–1948) hat diese Instanz der Intution the still small voice in unserem Innern genannt.1

Die Einfachheit der Lebensweise, die wir anstreben, ist einerseits so natürlich und folgerichtig, weil sie einzig der Gesetzmäßigkeit des schöpferischen Prozesses folgt; anderseits ist diese Einfachheit so schwierig zu finden und zu behaupten, weil es in unserer modernen Welt mächtige Gegenströmungen gibt, die diese Einfachheit als primitiv, unpraktisch, antimodern, unklug, »uncool« und dergleichen erscheinen lässt. Einfachheit genießt geringes Prestige. Darum ist die Klarheit und Strenge der Intuition als Begleit­instanz so wesentlich.

Voraussetzungen der Einfachheit

Hier einige Voraussetzungen für eine praktisch erfüllte Einfachheit.

Einfachheit ist nur möglich, wenn kein Mangel herrscht. Unsere Grundbedürfnisse müssen gestillt sein. Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheitsfürsorge, Arbeit, das Leben der Familie müssen gesichert sein. Nur wenn dieses soziale und materielle Gleichgewicht herrscht, kann sich unser Wollen mit Idealen beschäftigen. Dieser Grundsatz, dass Einfachheit nur möglich ist, wenn kein Mangel besteht, geht schon aus dem Vergleich mit der Schöpfungsgeschichte hervor. In der Schöpfung herrscht – als Idealbild von Gottes Schöpfung – kein Mangel.

Diese Vorstellung hat zur Folge, dass Einfachheit als Lebensweise auch wesentlich das wirtschaftliche Ziel der Verteilungsgerechtigkeit der Güter verfolgt und ebenso den bedachtsamen Umgang mit der Umwelt.

Ebenso soll auch im Innern des Menschen ein Gleichgewicht bestehen. Die Entscheidung zur Einfachheit soll nicht einer Not, einem Ärger oder Trotz, einer hohlen, aufgeblasenen Begeisterung gehorchen, sondern in mentaler Ruhe und emotionaler Nüchternheit getroffen werden. Die äußere, materielle Sphäre und die innere Befindlichkeit gehören zusammen und bilden ein Ganzes.

Nur aus einer Ruhe und Nüchternheit können wir die Einfachheit als einen positivenSchritt zu einem veränderten Leben auffassen. Einfachheit kann nur gelingen, wenn wir die Dämonen der Besitzgier, des gesellschaftlichen Prestiges, der Präsentation im Äußeren und der narzisstischen Selbst­überhöhung als solche erkannt haben und wissen, dass wir sie in Schach halten müssen. Sind wir uns dieser Dämonen nicht bewusst, wird unser Leben in den breiten Bahnen des additiven Lebens weiterlaufen: Man häuft eins aufs andere.

Es gibt »sekundäre Dämonen«, nämlich den Dämon der Zerstreuung; den der Gleichzeitigkeit, wenn man glaubt, die unterschiedlichen Tätigkeiten in einem und ohne Differenzierung voneinander tun zu können (»multi-tasking«), weil der Alltag es so zu verlangt; den der Hast und des unentwegten, maschinenartigen Tätigseins; den Dämon des Pflichtgefühls, der alles an sich reißt und glaubt, alles selbst tun zu müssen. Und andere, ähnliche Dämonen, die gegen die Einfachheit in der Lebensweise arbeiten, weil sie gegen die natürlichen Ordnungen im Leben verstoßen.

Allerdings ist Einfachheit keine negative Askese, nicht Unterdrückung, nicht generelle Ablehnung und Abwehr. Solche negativen Gesten laufen nicht auf Einfachheit hinaus (simplex), sondern auf das Gegenteil, auf eine komplexe Lebensweise, bei der die einzelnen Elemente des Lebens nicht aufeinander abgestimmt sind, nicht in Harmonie miteinander existieren, sondern sich gegenseitig stören und infrage stellen. Askese kann für uns nur bedeuten, auf etwas zu verzichten, um ein größeres Positives im Rahmen der natürlichen Einfachheit zu erreichen.

Unmittelbarkeit im Zusammenleben

Haben wir diese Denk- und Verwirklichungsschritte getan, können wir die Einfachheit als ein Mittel zum bewussten Zusammenleben mit den Menschen und den Dingen auffassen. Dies ist die eigentliche Übung der einfachen Lebensweise, die ihren Wert und Gewinn in sich selbst trägt: die unmittelbare Beziehung zur Natur, zum Kosmos, zum Mitmenschen und zu den großen und kleinen, wichtigen und geringen Dingen des Alltags verstehen und pflegen. Unmittelbarkeit ist hier ein Merkmal der Einfachheit. Die unmittelbare, also sinnenhafte Beziehung zur Welt ist wesentlich. Fromme Hindus treten, sobald sie am Morgen aufgestanden sind, vor ihre Hütte oder ihr Haus, um in sinnenhafte Berührung mit der Natur und dem Kosmos zu kommen. Sie blicken zur aufgehenden Sonne, verneigen sich vor ihr als ein Symbol Gottes. Sie feiern das Leben mit der Natur, indem sie ein Bad im Fluss oder im Teich nehmen, indem sie ein Feueropfer an ihrem Hausaltar ausführen und prānāyama, Atemübungen, machen. Wasser, Feuer (oder Sonne) und Luft stellen den Kontakt zum kosmischen Leben her, in das sie nun ihr persönliches Leben bewusst durch Gebet und Ritus stellen.

Obwohl wir im Abendland diese Tradition des Sich-in-Beziehung-Setzens wenig kennen und auch, bedingt durch Klima und zivilisatorische Lebensgewohnheiten, nicht in einem engen Kontakt zu Natur und Kosmos leben, wäre es möglich, dies nachzuvollziehen. Wir kennen die großen kosmischen Psalmen und die davon abgeleiteten kosmischen Liturgien im Christentum; wir kennen die Visionen des Johannesevangeliums und der Apokalypse. Uns sind sie bewusst, wir nehmen sie dankbar zur Kenntnis, doch wir wandeln sie leider selten in Lebenspraxis um.

Unmittelbarkeit bedeutet, dass wir uns an alles als einemDuzuwenden. Geläufig ist uns aus der Praxis der Nächstenliebe, dass wir uns den Menschen zuwenden, und zwar zu jedem einzelnen Nächsten, wo immer er existiert, ohne Auswahl und Vorurteil. Wir denken nicht daran, dass wir auch der unbelebten und belebten Natur; den menschengemachten Dingen und dem Kosmos mit ähnlicher Du-Zuwendung begegnen können. In der Hindu-Philosophie ist dies eine wohlbekannte geistige Figur. Denn ihre Annahme ist, dass auch die Dinge beseelt sind und darum fähig, angesprochen zu werden und zu antworten. In der europäischen Romantik wurde diese Du-Fähigkeit der Dinge wahrgenommen, erinnern wir uns etwa an den berühmten Vers Joseph von Eichendorffs (1788–1857):

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.2