Lebenskrisen und ihre Botschaften - Georg Lauscher - E-Book

Lebenskrisen und ihre Botschaften E-Book

Georg Lauscher

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Beschreibung

In Lebenskrisen geht etwas "in die Brüche". Aber Brucherfahrungen sind nie von vornherein gut oder schlecht. Je nachdem, wie ich mit ihnen umgehe, können sie zur Katastrophe oder zu einem Aufbruch führen. Auch eine lebendige Spiritualität ist nicht ohne Brüche zu haben, weil Brüche zum Leben gehören - zum Wachsen in seelische Tiefen hinein wie in soziale, ja universale Weite hinaus. Ein krisengereifter Glaube birgt ungeahnte kreative Kräfte zur Lebensgestaltung im Persönlichen wie im Politischen, wirkt sich aus im Kontakt mit den Schwächen anderer und mit den Schwachen in der Gesellschaft. Georg Lauscher geht den Bruchstellen des Lebens entlang, spürt die verborgenen, nicht leicht zu entschlüsselnden Botschaften der Erfahrung von Verlust oder Scheitern auf und deutet sie aus der franziskanischen Spiritualität, um sie für ein lebendiges Leben fruchtbar zu machen.

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Georg Lauscher

Lebenskrisen und ihre Botschaften

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sfund Helmut Schlegel ofm

Band 28

GEORG LAUSCHER

Lebenskrisen und ihre Botschaften

Von Anfängen und Übergängen

echter

Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen und den Sponsorinnen dieses Bandes, die nicht genannt werden wollen. Mirjam Schambeck sf und Helmut Schlegel OFM danke ich für die Einladung und Aufnahme in die Reihe „Franziskanische Akzente“.

Ich gebe nur weiter, was ich empfangen und auf meine Weise verarbeitet habe. Was das Umgehen mit Lebenskrisen betrifft, habe ich viel gelernt von meinen Nachbarn in sozialen Brennpunkten und von Arbeitskolleg*innen in der Fabrik, von Menschen, mit denen ich mich verstehe – über die Grenzen von Nation, Kultur und Religion hinaus. Und ich lerne weiter von den Menschen, die ich geistlich begleite.

Wilhelm Bruners bin ich dankbar für sein aufrichtiges Zutrauen und die kräftige Ermutigung zu diesem Buch.

Den Aachener Franziskanerinnen bin ich dankbar für ihre Gastfreundschaft. Sie haben, ohne es zu wissen, mir die Arbeit an diesem Buch ermöglicht.

Inhalt

Vorwort

1. Brüche

Geboren

Aufgebrochen

Einbruch

Lebensmitte

Bruch und Berufung

Seelische und spirituelle Ermüdungsbrüche

2. Anfänge

„Das Licht leuchtet in der Finsternis"

Resonanzraum und Korridor in dunkler Nacht

Neu und nackt

Anfängergeist

Neu sehen lernen

Das Nichts des Lichts

Ein Riss – da kommt Licht herein!

Anfänger*innen beten gründlich

3. Übergänge

„Werdet Vorübergehende!“

Keine Entwicklung ohne Scheitern

Vom Erscheitern der neuen Lebensgestalt

Doch durch Trauer hindurch

Im Vorübergehen mit Gott

Ein gründender und bewegender Bruch

4. Die Botschaft(en)?

„Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muss Feuer fangen, wenn Du weiterwillst“

Zum Weiterlesen

Abkürzungen

Anmerkungen

Vorwort

„Jimmy“ riefen ihn alle, diesen jungen Mann, wenn er zwischen den Hochhäusern des sozialen Brennpunktes freundlich winkte. Oft wurde er ausgenutzt. Auch von seinen Landsleuten, die wie er aus Albanien hier Zuflucht und Zukunft suchten. Eines Tages nun klopft er verzweifelt an meine Wohnungstür im 13. Stock: „Ich war telefonieren, in der Telefonzelle an der Hauptstraße. Es war ein so schlimmes Gespräch, dass ich danach schnell raus bin. Ich habe alles liegen lassen … all meine Papiere, mein ganzes Geld … Als ich es merkte und zurückliefin die Telefonzelle, war alles weg … Ich stehe vor dem Nichts…“ Lange sitzen wir uns gegenüber, bedrückt und schweigend. Nur einzelne Worte gehen hin und her. Doch plötzlich – nach einem besonders langen Schweigen – richtet Jimmy sich auf: „… und ich liebe mich mit meinen Problemen!“

Er war in einer verzweifelten Lage – äußerlich hatte sie sich nicht im Geringsten verändert –, und doch war plötzlich alles anders. Was war mit ihm geschehen? Ich weiß es nicht. Eine Wandlung. Ja. Aber ich konnte weder einen bestimmten neuen Gedanken seinerseits erkennen noch eine besonders gelungene Antwort meinerseits. Inmitten dieser verfahrenen Situation brach aus dem Nichts heraus etwas Neues auf. Oder genauer: Es kam aus der Resonanz zwischen uns. Alles lag nun da in einem neuen Licht, das sich plötzlich Bahn gebrochen hatte. In diesem Licht konnte sich Jimmy mit seinen Problemen lieben. Doch wie kam er – der staatlich indoktrinierte Atheist – dazu, sich an diesem Nullpunkt liebenswert zu finden? Ich weiß es nicht. Er wusste es vermutlich selbst nicht. Aber es war wahr. Der radikale Neuansatz am Tiefpunkt der Verzweiflung war wahr. Eindeutig und unumkehrbar. Doch welche Botschaft erfuhr Jimmy hier für seinen Lebensweg?

Die Krise ist der Ursprungsort jüdischen und christlichen Glaubens. In und durch Krisen hindurch kam und kommt der Glaube zur Welt. Konventionen und religiöse Konstruktionen mögen vorübergehend helfen. Früher oder später werden sie zerbrechen. Die Ursprungsorte des Glaubens sind oft markiert durch ein Überwältigtsein von etwas außergewöhnlich Schönem oder etwas außergewöhnlich Schlimmem, in dessen Folge sich Verwunderung oder Desorientierung einstellen, selige oder leidvolle Fassungslosigkeit. Zumindest bewährt und klärt, läutert und häutet sich hier Glaube in einer Entwicklung, die erst mit dem letzten Atemzug endet.

Von „Lebenskrisen und ihren Botschaften“ handelt dieses Buch. Es widerspricht der persönlich und politisch tiefsitzenden Illusion eines Lebens ohne Krisen und Konflikte, ohne Leiden und Anstrengung. Dieser moderne Mythos entspricht nicht der Realität. Er begegnet uns in den verschwiegenen Wahrheiten politischer Verhältnisse und auch im seichten Gottesbild innerhalb wie außerhalb der Kirchen, die ein gelingendes Leben ohne Reibungsflächen vorgaukeln. Ich misstraue solchen Ver-Sprechen aufgrund eigener und fremder Lebenserfahrungen. Mag sein, dass in einem oberflächlichen und entfremdeten Leben Krisen, schmerzliche Entscheidungen und riskante Anfänge weitgehend vermeidbar sind. Doch um welchen Preis? Um den Preis der Wahrheit und des Weiterwachsens? Lebensfremde Illusionen und Konstruktionen sind ohne schmerzhafte Brüche, Anfänge und Übergänge nicht zu entlarven. „Du wirst heute zum Christen getauft“, schreibt Dietrich Bonhoeffer zum Tauftag eines Neugeborenen aus dem Gefängnis. „… auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen.“1

Ich lade ein, dem brüchigen Menschenleben treu zu bleiben und genau hinzuschauen, was durch seine Bruchstellen hindurch aufleuchten könnte. Es geht hier weniger um Information und Analyse. Es geht vielmehr um ein Verstehen von innen und von einer bejahenden Beziehung her. Die seelische Bewegung, in der die Seele Lebenskrisen durchleidet und überwindet, gleicht der Struktur einer Spirale. Die Seele umkreist den schwer verständlichen Kern einer Krise, indem sie ihn aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nimmt. Auch wenn wir oft meinen, im Kreisen auf der Stelle zu treten und wieder am alten Punkt angelangt zu sein, findet die Seele intuitiv auf diese Weise ihren Weg zur Heilung. Dabei muss unser Geist die Seele oft schützen vor übernommenen und tief eingeprägten kontrollierenden und bewertenden Denkmustern. Eine sanfte geistige Selbstdisziplin ist hier zu üben, die den augenblicklichen Zustand verständnisvoll annimmt. „Was nicht angenommen ist, kann nicht verwandelt, nicht erlöst werden“, lautet eine Grunderfahrung der spirituellen Theolog*innen der frühen Kirche. Dieser Satz wurde zur Kurzformel für das Geheimnis der göttlichen Menschwerdung.

Im verstehenden Umkreisen und Annehmen werden zurückliegende schmerzliche Erfahrungen auf eine neue Ebene gehoben, in einem doppelten Sinn aufgehoben. Sie werden nicht achtlos übergangen, sondern in die Hand genommen, emporgehoben und aufmerksam angesehen. Und sie werden in den Zusammenhang der eigenen Lebensgeschichte geborgen, eingefügt und integriert. So werden auch wir uns im Folgenden dem unverfügbaren Geheimnis bzw. dem unlösbaren Rätsel unserer Lebenskrisen in einer Spiralbewegung kreisend annähern.

Weil dieser Weg hier sehr persönlich beleuchtet wird, wähle ich häufig die Ich-Form. In diese Ich-Form können Sie – falls es Ihnen hilfreich erscheint – hineinschlüpfen wie in einen angebotenen Mantel. Dann wären Sie selbst beteiligt und das Lesen könnte Ihnen noch spürbarer Früchte bringen. Den persönlichen Prozess sollen auch die häufig verwendeten Bilder erleichtern. Sie geben – anders als Begriffe – der Seele und ihren Erfahrungen Raum, sich in Freiheit wahrzunehmen und zu wachsen. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund sprach Jesus oft in Bildern und Gleichnissen. Um den Erfahrungen von Transzendenz, also vom Überschreiten der sichtbaren zur unsichtbaren Wirklichkeit hin, Ausdruck zu geben, bedürfen wir der Bildersprache.

Ich schreibe in der Hoffnung, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, beim Lesen ihrem eigenen Leben oder dem verwundeten Leben vertrauter Menschen auf die Spur kommen. Es wird kein unterhaltsamer Weg sein, doch einer in wachsendem Vertrauen. Denn Brüche können Anfänge und Übergänge zu einem lebendigeren Leben werden. Wenn auch wider den eigenen Willen und anders als gedacht. An Bruchstellen können wir Durchbrüche erfahren zu bislang unbekannter Lebenstiefe und Lebensweite. Eine krisengeschüttelte Teilnehmerin an einem Einführungskurs zum Schweigegebet (dem kontemplativen Beten) brachte ihre innere Erfahrung im Gespräch so auf den Punkt: „Jetzt verstehe ich, wie der Weg geht: Je tiefer – desto weiter!“

Solch leise und zugleich lebenskräftige Spiritualität hört mit dem Wachsen nie auf: in seelische Tiefen hinein wie in soziale, ja universale Weite hinaus. Ein krisengereifter Glaube ist zutiefst persönlich und politisch. Er birgt ungeahnte kreative Kräfte zur Lebensgestaltung im Persönlichen wie im Politischen. Wie ich in Lebenskrisen mit den eigenen Schwächen umgehen lerne, trägt Früchte im Kontakt mit den Schwächen anderer und mit den Schwachen in der Gesellschaft.

1. Brüche

„Ein zerbrochenes

und zerschlagenes Herz –

wirst du, Gott,

nicht verschmähen

(nicht verachten).“

(Ps 51,19)

Woche für Woche, jeden Freitag betete ich in den Laudes diesen Vers aus Psalm 51. Ich betete ihn widerspenstig, mit innerer Ablehnung: Nein, ein Sadist kann Gott nicht sein, und zum Masochisten will ich nicht werden!

Bis mir eines Tages aufging: Ein lebendiges, weiches, pulsierendes Herz kann nicht brechen. Brechen kann nur ein kalt gewordenes, verhärtetes Herz. Wenn aber ein verhärtetes Herz aufbricht, ja zerbricht, könnte dies ungeahnte Lebenskräfte und Lebensmöglichkeiten freilegen.

Geboren

Menschen sind Überlebende. Alle. Der erste Aufbruch, den wir überlebten, war unsere Geburt. Nicht ohne unseren Einsatz riss die bis dahin schützende, aber auf Dauer tödliche Hülle. Irgendwie wurden wir gedrängt und zugleich drängte es uns durch eine dunkle Enge voran. Warum? Wozu das? Wir wussten nichts. Es geschah, ohne dass wir es bewusst steuern oder verhindern konnten. Und doch „wussten“ wir. Wir ließen geschehen und wirkten zu einem bescheidenen Teil mit bei diesem Geschehen. Und dann der Schock. Und dann der Schrei. Mitten in der überwältigenden Atemnot der erste Atemzug. In der Bildsprache der Bibel ist unser erstes Einatmen das Ausatmen Gottes: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem“ (Gen 2,7). Diesem Bild folgend wäre jedes Einatmen unsererseits ein Ausatmen Gottes – bis schließlich unser letztes Ausatmen im Sterben uns ins Einatmen Gottes zurücksinken lässt. „Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub“ (Ps 104,29). Und zwischen unserem ersten Einatmen und unserem letzten Ausatmen ein ganzes Leben in dieser Atemwiege, in dieser „Atemschaukel“ (Herta Müller). Ein Leben in sehr unterschiedlich bekömmlichem Atemgemisch: unser Einatem geprägt von der Qualität des Ausatems anderer – und ihr Einatem geprägt von der Qualität auch unseres Ausatems! Was für eine große wechselseitige Verantwortung!

Wir kamen also durch eine große Bedrängnis hindurch zur Welt. Das Erste, womit wir fertig werden mussten, war offensichtlich ein Schock, ein Trauma. Es war wie der Hinauswurf aus dem Paradies, mit dem wir fertig werden mussten. Das plötzliche, schmerzliche Ende einer Symbiose. Die bislang passende und förderliche Form des Mit-Lebens war an ein Ende gekommen. Wir wurden nicht gefragt. Es geschah an uns gegen unser Beharren und gegen unseren „Willen“ – und dennoch unserer menschlichen Natur gemäß! Die räumliche und gefühlsmäßige Trennung wurde noch besiegelt durch den scharfen Schnitt der Abnabelung. Auch gegen unseren „Willen“ – doch unserer menschlichen Natur gemäß. So sind wir von Geburt an traumatisierte und verletzte Menschen. All dies, was uns hier überwältigte, war offensichtlich eine notwendige Voraussetzung. Doch wofür? Für einen Entwicklungssprung, für eine erschreckende, doch später beglückende Überwältigung mit Lebendigkeit.

Aufgebrochen

Und nach unserer Geburt – wie viele Gefährdungen haben wir bis heute überlebt? Sonst schrieb ich diese Zeilen nicht und Sie würden sie nicht lesen! Wir sind Überlebende. Alle. Ein gläubiger Mensch würde sagen: Wir sind mit göttlichem und menschlichem Lebensatem Begabte, Begnadete. So oder so sind wir Aufgebrochene in einem doppelten Sinn: Wir sind bei unserer Geburt aufgebrochen worden in unserer wohligen Blase und sind aufgebrochen in ein fremdes, farbiges, furchterregendes und faszinierendes Leben. Und dies endet nicht, solange wir wach und lebendig bleiben: Wir leben von Geburt zu Geburt. Wir erleben immer wieder neu, aufgebrochen zu werden und aufbrechen zu müssen aus der Blase unseres Egos, unseres Milieus, unserer alten Lebensmuster. Der Echoraum, der uns mit der Zeit vertraut wurde, wird wieder neu aufgeknackt. Zu unserem Glück. Die Botschaft des Bruchs: Es gibt mehr! Du kannst weiter gehen! Schließ dich nicht selber ein in dem dir Vertrauten. Die Welt ist größer. Dein Leben auch!

Darin sind wir einander verwandt. Unsere erste und entscheidende Geburt scheint sich mitten im Leben auf eine andere Weise wiederholen zu müssen. Die Höhle unseres liebgewonnenen, kleinen Universums wird wieder aufgebrochen, die erweiterte Blase des erwachsenen Lebens bekommt einen Riss. Einmal. Viele Male. Wir kennen die beseligende Überwältigung in der Liebe und Selbsttranszendenz. Auch hier entgleitet uns die Regie in unserer Lebensführung. Solch beseligender Autonomie- und Machtverlust kann uns auch in der Natur, in der Musik oder im Gebet ereilen. Im Folgenden beschränken wir uns auf die traumatische Verlusterfahrung in Lebenskrisen.