Legalize Erdbeereis - Andreas Gaw - E-Book

Legalize Erdbeereis E-Book

Andreas Gaw

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Beschreibung

Deutschland 1986. Lars Schubert hat ein für allemal mit seinem bürgerlichen Leben gebrochen. Es gibt kein zurück. Seine Entscheidung steht fest: er wird Student. Im Grunde eine leichte Sache, wenn Lars nicht bereits auf seiner ersten "Studentenfête" die hübsche Anne getroffen hätte. Der frischgebackene Studi verliebt sich Hals über Kopf in das blonde Mädchen. Sie kommen sich näher, küssen sich … und am nächsten Tag ist Anne verschwunden. Neben studentischen Pflichten, wie Wohnungssuche, Orientierungsphase und soziale Kontakte in diversen Kneipen zu pflegen, hat Lars nur einen Gedanken: er muss Anne finden. Doch diese ist wie vom Erdboden verschluckt. Frust. Begegnungen mit perversen Vermietern und alternativen "Teesocken" machen Lars' Leben auch nicht einfacher. Nach einer gefühlten Ewigkeit findet Lars seine Angebetete schließlich doch wieder. Leider scheint diese den Abend auf der Party nur als "Ausrutscher" zu betrachten. Sie hat einen festen Freund. Eine Lusche, wie Lars findet. Denn, wenn er Anne erst mal davon überzeugt hat, dass ER, Lars, der Richtige ist, wird sie den anderen Penner schon bald in den Wind schießen. Nur: viel hat der verliebte Studi in der Tat nicht zu bieten. Seine Eroberungsversuche der kommenden Zeit enden in Enttäuschungen, trotzigem Flirten mit anderen Frauen, Knochenbrüchen und Peitschenhieben auf dem Rücken. Was tun? Vor dem Hintergrund der geplanten US-Atomraketenstationierung in der BRD, der Fahndung nach der zweiten Generation der RAF und einer kurzen, aber heftigen Affäre mit einem ausreisewilligen DDR-Mädchen, steuert Lars mehr oder weniger zielstrebig auf seine Bestimmung zu: "Anne und ich werden zusammen kommen." Doch das größte Hindernis auf seinem Weg ins vermeintliche Glück ist er selbst. Eine Erkenntnis, die sich weder mittels eines selbstgebauten Joints, noch mit guter 80er Jahre Musik, aus der Welt räumen lässt. Aber Lars gibt nicht auf. Irgendwas an ihm muss es doch geben, womit er Annes Herz gewinnen kann... Oder?

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Andreas Gaw

Legalize Erdbeereis

„Draussen ist wie drinnen – nur anders!“

(Sponti-Spruch 80er)

Vielen Dank T.C. :-)

© 2016 Andreas Gaw

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-6801-5

Hardcover:

978-3-7345-6802-2

e-Book:

978-3-7345-6803-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Erstes Kapitel – Volle Lotte wiedermal

Es war noch nicht einmal zehn Uhr abends, und die meisten Fetengäste hatten schon ziemlich einen im Tee. Zum dritten Mal hintereinander hörte Günther, wegen seines leicht gekräuselten Haares Locke genannt, Dirty deeds done dirt cheap von AC/DC und verrenkte sich zu den Takten zuckend wie ein pausbäckiger, dauergewellter Hamster auf dem elektrischen Stuhl. Ein paar Typen standen rauchend neben der Anlage und beobachteten Lockes Darbietung amüsiert. Der Plattenspieler, ein Dual mit eingebautem Verstärker - state of the art - stand auf einem umgedrehten Umzugskarton in dem geräumigen, Raufaser tapezierten Flur. Von dort aus gingen sämtliche Zimmer der Wohnung ab. Alle Türen der Dreier-WG waren offen. Daniel, sein kurzes stoppelfeldartiges Haar mit einem Gladbach-Käppi bedeckt, saß in seinem Zimmer vor dem Fernseher und versuchte verzweifelt, ein Fußballspiel zu verfolgen. Ich schnappte mir ein Bier und gesellte mich für ein paar Minuten zu dem einsamen Fußballfan, der nebenbei Physik und Chemie studierte. Außer „Scheiße! Ey – nun lauf schon!“ hatte er mit Konversation gerade nicht viel am Hut, sorry, an der Kappe. Im Nebenzimmer lagen Jürgen und seine Freundin Tanja halb auf und halb unter dem Bett, was bei einem Futon schon eine gute Leistung ist. Der drahtige, aber etwas kurz geratene Zahnmedizinstudent legte es darauf an, seinem Berufsziel gerecht zu werden und unterzog Tanjas Gebiss mit seiner Zunge einer gründlichen Untersuchung. Ein Zimmer weiter standen ein paar höhere Semester und ließen eine Flasche Apfelkorn rundgehen. Die meisten Gäste waren, wie das bei Partys üblich ist, in der Küche. Dort war das sogenannte kalte Buffet aufgebaut. Das heißt: Nudelsalat, Kartoffelsalat, ein paar Frikadellen und Baguettes vom Vortag, und dann noch Kartoffel- und Nudelsalat und Nudel-Kartoffelsalat-Mix mit Mais. In einer halbvollen Salatschüssel aalte sich eine Zigarettenkippe, was dem pickligen BWL-Studenten Ingo nicht auffiel. Gierig stopfte er sich den Mund voll und lamentierte dabei pausenlos über den DAX, und dass man in seinem Fachbereich nicht umhin käme, sich selbst ein paar Aktien zuzulegen. Schließlich müsse man ja wissen, wovon man spricht. Zwei Mädchen schienen seinen Ausführungen gebannt zu lauschen, aber ihr unmotiviertes Kichern verriet, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne irgendwo zwischen Cola und Apfelkorn lag. Vielleicht wollten sie auch nur den Moment mitbekommen, in dem Ingo sich die Kippe in den Mund stopfte. Ich fand hier alles ziemlich spannend und skurril zugleich. Es war meine erste Studentenparty. Ich war zum ersten Mal in einer echten Studenten-WG. Halb skeptisch, halb neugierig öffnete ich den Kühlschrank. Der Inhalt entsprach dem Klischee. Bier, Bier und Bier. Dazwischen irgendwo eine angegammelte Leberwurst, deren Pelle in Regenbogenfarben schillerte, und ein Stück Gouda aus dem letzten Jahrhundert. „Alter Gouda“ wäre ein Kompliment gewesen. Ich trank den Rest Flens, den ich noch in der Flasche hatte und nahm mir eine neues Bier. Wenn ich etwas in der Hand hielt, fühlte ich mich sicherer. In der einen Hand ein Bier, in der anderen am besten eine Zigarette. Das sieht cool und lässig aus. Ganz anders, als ob man durch die Räume schleicht und die Arme hängen schlaff und nutzlos rechts und links am Körper herunter. Irgendwas sollte man immer in der Hand haben. Da ich allerdings keine Kippen besaß, musste ich mich mit meinem „Flens baumelt am Bügelverschluss locker am Mittelfinger“-Auftritt begnügen. Ein rothaariger Zombie, der übrigens eher uncool eine Banane in der Hand hielt, erklärte mir für ein paar Sekunden den Unterschied zwischen BWL und VWL, der angeblich aus wesentlich mehr als einem Buchstaben bestand. Dann biss der Untote unvermittelt in seine gelbe Frucht und ließ mich stehen. Ich schlenderte wieder zurück in den Flur, der gleichzeitig als Tanzfläche diente. Locke hatte jetzt Bohemian Rhapsody aufgelegt und zelebrierte Extrem-Headbanging, sodass mir schon beim Zusehen schwindelig wurde. Durch die Musik angelockt wie Borkenkäfer durch gut platzierte Pheromon-Fallen, zog es nach und nach noch weitere, uneingeladene Studenten in die WG. Open door. Die Wohnung von Locke, Daniel und Jürgen lag in einem schlichten 70er Jahre Wohnblock. Zwar kein ausgesprochenes Studentenwohnheim, aber die allermeisten Wohneinheiten waren an Studenten vermietet. So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt. Irgendwo ist immer Party, und man kann einfach locker 'reinschneien. Kein Problem. Nächste Woche würde ich mich einschreiben, mir eine Bude suchen, und dann wäre ich auch einer von denen. Ein waschechter Studi. Meine drei Kumpels studierten bereits seit dem Sommersemester. Ich hatte mich nach meiner Bundeswehrzeit dazu entschlossen, erst noch ein paar Monate zu jobben, bevor ich dann zum Wintersemester ebenfalls ein Studium anfangen würde. Aushilfe an einer Tankstelle. Deckelauf-Dosen-Leger bei einer Obstkonservenfabrik. Lesezirkel-Zeitschriften-in-Arztpraxen-Bringer. So hatte ich mir für meine Verhältnisse ein ganz gutes finanzielles Polster angelegt und könnte gegebenenfalls immer mal wieder mein Bafög mit ein paar Mark vom Sparkonto aufstocken.

Crash!

Locke war bei einer wilden Drehung aus dem Gleichgewicht geraten und mit einem unspektakulären Stunt in der Yuccapalme gelandet.

„Nichts passiert!“

Grinsend lag er am Boden zwischen den Tonkügelchen, die aus dem Hydrokulturtopf gehopst waren. Um zu demonstrieren, dass echt alles okay wäre, setzte er, während er sich hoch rappelte, unvermittelt wieder mit ein paar spastischen Headbanging-Bewegungen ein. Locke studierte Jura und wollte später mal Anwalt werden. Otto Schily hatte ihn inspiriert, und Locke war insgeheim sogar etwas traurig darüber, dass jetzt, Mitte der 80er, die meisten Terroristen im Knast saßen. „Ich würde sie alle rausboxen“, war sein Ansatz. „Um etwas bewegen zu können, braucht man eine intellektuelle Grundlage, so wie man ein gutes Mettbrötchen als Grundlage braucht, um ein Saufgelage zu überstehen“, war seine Philosophie. „Ohne Horst Mahler wäre die RAF nur ein Haufen linker Brandstifter geblieben.“

„Hey, Lars, klasse, dass du kommen konntest.“

Ich drehte mich um. Hinter mir, an den Türrahmen seines Zimmers gelehnt, stand Jürgen, der von den Knutschenden auferstanden war. Sein Lacoste-Poloshirt, welches zerknittert aus der Hose hing, stand in gewissem Widerspruch zu seinem ansonsten eher ungepflegten Äußeren. Dreitagebart und lange, fettige Haare, mit einem Stück Geschenkband zu einem Zopf zusammen gebunden. Jürgens Freundin Tanja, die eigentlich Bettina hieß, von ihm aber Tanja genannt wurde, da er früher schon mal etwas mit einer Bettina hatte, war im Bad verschwunden, um sich nach der intensiven Behandlung den Mund auszuspülen.

„Haste schon was gefunden?“, wollte Jürgen wissen.

Ich nickte und hob zum Beweis meine Bierflasche hoch.

„Nee. Ich meine ´ne Wohnung. Oben im vierten Stock wird wohl was frei. Kannst ja morgen mal mit der Hausverwaltung sprechen.“

„Mit euch in einem Haus? Ich wollte eigentlich auch studieren, und nicht ins Guinnessbuch kommen, als der, der sich in kürzester Zeit die meisten Gehirnzellen weg geschluckt hat“, entgegnete ich wissend nickend.

„Streber! So wird aus dir nie ein richtiger Student“, zwinkerte Jürgen mir zu, als Tanja leicht benommen aus dem Bad zurück kam. Sie lächelte mich freundlich an und ließ sich dann von Jürgen widerstandslos zurück in sein Zimmer ziehen. Die Behandlung ging weiter. Ganz ohne Krankenschein. Einen Augenblick sah ich den beiden nach. Jürgen war zur Zeit der Einzige von uns, der eine feste Freundin hatte. Locke hatte sich vor Kurzem von irgend so einer Uschi getrennt. „Zu nervig, die Alte. Will immer reden und nie zuhören. Ich werde schließlich der Anwalt. Ich bin der, der reden sollte!“

Und Daniel? Nun, das wusste ich gar nicht so genau. Er war derjenige von den Dreien, zu dem ich im letzten halben Jahr am wenigsten Kontakt hatte. Aber ich war mir ziemlich sicher, da lief auch nichts mit Mädels. Schließlich verbrachte Daniel die meiste Zeit in seinem Zimmer vor dem Fernseher, wenn irgendwelche Sportübertragungen liefen. Da verirrt sich eher selten ein weibliches Wesen hin. Und ich selbst, na ja, ich hatte im Moment auch keine Freundin. Und, um ehrlich zu sein, ich hatte bislang noch nicht einmal Sex. Also, keinen richtigen. Meine kurzen Beziehungen zur Schulzeit gingen übers Küssen kaum hinaus. Bei Marion hatte ich einmal kurz die Hand unterm Pulli, während wir in meinem kackbraunen Jugendzimmer rummachten. Aber dann kam mein Vater rein und wollte, dass ich in die Küche komme und beim Abtrocknen helfe. Peinlich. Marion ist gegangen und hat direkt am nächsten Schultag mit mir Schluss gemacht. Ein bisschen mehr lief mit Ines, der Tochter eines ortsansässigen Landwirts. In sie war ich eine Zeit lang sogar ziemlich verknallt, und wir machten so was wie Petting auf dem Rücksitz des rostroten VW Passat ihres Vaters, bis wir merkten, dass Willi, der Sohn eines benachbarten Bauers, uns beobachtete. Die Hand in seiner Hose heftig auf und ab reibend. Da ging gar nichts mehr. Notgedrungen brachen wir ab. Während des letzten Sommers hatte sich Ines dann noch ein paar Mal mit mir getroffen. Aber es ist nichts draus geworden. Ständig schaute sie sich um, weil sie dauernd dachte, dass Willi wieder hinter einem Busch steht, und seinen kleinen Vorteil aus unseren ,,amourösen Tendeleien“ zieht.

Und dann gab 's da die Abi-Fete. Auf der hatte mich Sybille angebaggert. Sybille, die „graue Maus“ unserer Jahrgangsstufe. Sie trug Kleider, die ihre Mutter aus dem Otto-Katalog bestellt hatte. Nach dem offiziellen Teil der Abi-Feier in der Aula des Schulzentrums hatte sie irgendwo eine Flasche Jägermeister aufgetrieben. Der hatte ihr gesagt, dass ihr Einser-Abi nicht ausreicht, um bei Jungs zu landen. So hat sie dann später, inspiriert vom Kräuterlikör, ihr Kleid bis zum Bauchnabel aufgerissen und sich an der Hälfte der Typen aus meiner Mentorengruppe gerieben. An mir auch. Hartnäckig versuchte Sybille, meine Hand in ihre Unterwäsche zu zerren. Ehrlich gesagt, die Versuchung war groß. Aber mein erster Sex sollte nicht auf diese Weise stattfinden. Nicht auf der Holzbank in der Raucherecke. Und auch nicht mit einem Mädchen, dass auf die Frage „War ich gut?“ antworten würde „Da müssen wir mal den Jägermeister fragen.“ Kurz: ich hab ’s nicht fertig gebracht, mit Sybille an dem großen Abi-Abend meine Unschuld zu verlieren. Gegen Mitternacht hab ich sie dann mit Siegmund in den Büschen hinter der Turnhalle verschwinden sehen. Siggi war so was wie das männliche Pendant zu Sybille. Cordhosen und Karopullis, aus denen oben der Hemdkragen rausschaute. Ebenfalls ein super Abi. Beide mit den besten Karriere-Voraussetzungen. Aber: Siggi hatte Sybille in den Büschen hinter der Turnhalle direkt geschwängert. Zwillinge. Dann zogen beide in die Einliegerwohnung bei seinen Eltern. Er bekam einen Job bei Elektro-Schmidt im Lager, und sie musste sich um die Babys kümmern. Soviel zu Thema Karriere. Mann gut, dass ich nicht nachgegeben habe, als Sybillchen sich mit ihrem aufgerissenen Kleidchen an mir gerieben hat. Ich als Papa. Das hätte ich mir nicht im Leben vorstellen können. Lars, Zwillingskarre schiebend, und Mauerblümchen Sybille daneben, mit Brüsten bis zum Bauchnabel hängend. No way.

Tja, jedenfalls war ich nun quasi Student und nach wie vor unbefleckt. Keine Schande, redete ich mir ein, mein Körper ist ein Tempel, und ich werde ihn für die Richtige aufsparen. Aber natürlich wurde ich langsam nervös. Wenn auch nur 10 Prozent der Abschlepp-Geschichten meiner Kumpels aus dem Abi-Jahrgang wahr sein sollten, wäre ich tatsächlich der vorletzte Spätzünder meiner Generation. Die vorletzte, männliche Jungfrau der Oberstufe. Aber, na ja, was nich is, das is nich. Da ich mich aber in puncto Prahlerei mit Frauengeschichten immer sehr bedeckt hielt, hatte ich den Ruf des stillen Genießers. Das war okay, daran wollte ich nicht rütteln. Wie unschuldig es hinter Lars’ unausgesprochener Womanizer-Fassade aussah, ging ja schließlich nur mich etwas an.

Fußball war mittlerweile zu Ende und Daniel vor dem Fernseher eingeschlafen. Ich stieg vorsichtig über ihn hinweg und ging auf den Balkon. Von hier aus hatte man einen schönen Blick über die Stadt. Man konnte das Hauptgebäude der Uni erkennen. Etwas dahinter die St. Andreas Kirche mit ihren zwei Türmen und auf der anderen Seite die Sternwarte. Eine halbwegs überschaubare Kleinstadt. Also, Mittelgroß-Stadt eigentlich. Aber so strukturiert, dass man einigermaßen bequem alles mit dem Fahrrad erreichen konnte. Für mich als Landei, der in einem 300-Seelen-Dorf aufgewachsen war, gerade die richtige Größe. „Hier werde ich also die nächsten Jahre verbringen“, dachte ich. „New Life, here I come!“

Hinter dem Wohnblock in dem die Party stattfand lag ein kleiner Park. In einiger Entfernung, von einer Straßenlaterne erhellt, stand eine Bank und daneben ein Papierkorb. Ich trank mein Bier aus und betrachtete nachdenklich die leere Flasche. „Wenn ich in den Papierkorb treffe“, schoss es mir durch den Kopf, „dann wird alles gut!“

Mitunter hatte ich solche Anwandlungen von Aberglauben. Wenn das nächste Auto, welches um die Ecke biegt, rot ist, dann schaffe ich mein Abi. Mein Abi hatte ich geschafft. Und das Auto damals war so… eher beige. Aber es hatte einen roten Firmenaufkleber. Deshalb hatte ich auch kein richtig gutes Abi hinbekommen. Eher so mittel. Diese Art von Aberglauben blitzte ab und zu mal in mir auf. Weiß auch nicht warum. Ich holte aus und warf die leere Flasche in hohem Bogen über die Balkonbrüstung.

„Here I come!“ rief ich, als das Glas scheppernd am Rand des Mülleimers zersplitterte. Ein Großteil landete aber in der Tonne. Könnte ein gutes Zeichen sein.

„Guter Wurf! Haste mal Feuer?"

Ich erschrak und fiel fast rückwärts übers Geländer. Langsam umdrehen und - da stand sie, im Schein der verblichenen bunten Lichterkette, welche wohl noch vom vorletzten Weihnachtsfest an der Balkonbrüstung baumelte. Doch egal, ob blasse oder helle Lichter: sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Also, in Echt gesehen hatte. Nicht im Fernseher oder irgendwelchen Magazinen, oder so. Wirklich - in dieser Sekunde hatte ich das Gefühl, vor mir stünde das mit Abstand allerschönste Mädchen der Welt. „Wow!“ dachte ich und drehte mich noch einmal kurz zum Papierkorb im Park um. Was hatte ich gerade gesagt? „Wenn ich treffe, wird alles gut.“ So schnell hatte ich allerdings nicht damit gerechnet. Ich muss wohl ein paar Sekunden ziemlich geistesgestört aus der Wäsche geschaut haben, denn unvermittelt begann sie mit dem Rückzug und sagte: „Vielleicht hat ja drinnen jemand Feuer.“ Dann verschwand sie wieder in der Wohnung.

Ich schaute ihr verträumt nach und stand eine Weile mit offenem Mund da, was mir erst auffiel, als es hinein regnete. „Nochmal wow!“, dachte ich. Schulterlange, blonde Haare, die Spitzen schwarz eingefärbt. Blaue Augen, aber nicht dieses stechende Rudger-Hauer-Blau, eher so blau-braun, falls es so was überhaupt gibt. Volle, aber nicht zu üppige Lippen, genauso wie ihre Brüste. Und sie trug keinen BH, was mir angesichts der eher frostigen Temperatur auf dem Balkon sofort auffiel. Ich suchte meine Hosentaschen nach einem Feuerzeug ab. Normalerweise hatte ich immer eines dabei. Eben genau für Situationen, in denen man von einem hübschen Mädchen nach Feuer gefragt wird. Was mir, ehrlich gesagt, vorher noch nie passiert war. Aber man kannte das ja aus Filmen, und ich war der festen Überzeugung, dass sich eines Tages genau solch eine filmreife ,,Nach-Feuer-fragen-Szene“ ereignen würde. Heute war der Tag. Ich zog mein altes Marlboro-Feuerzeug hervor, lächelte und sagte: „Na klar!“. So hätte ich ungefähr fünf Minuten vorher reagieren sollen.

Drinnen hatte es sich mittlerweile ziemlich gefüllt. Locke war an der Wohnungstür platziert worden und dazu übergegangen, Eintritt zu nehmen. Denn die Biervorräte der WG gingen langsam zur Neige, und jeder neue Besucher musste ein alkoholisches Getränk beisteuern, um Einlass gewährt zu bekommen. Die Kommode, die neben der Tür stand, war vollgepackt mit billigem Aldi-Sherry oder Apfelkorn und Tetrapacks mit Rotwein. „Stoff, bei dem das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt“, hörte ich Ingo, den BWLer, dozieren. Ich schaute mich nach dem Feuer suchenden Mädchen um, konnte sie aber nirgends ausmachen. In der Küche versuchte jemand, eine Wodka-Pfütze auf dem Tisch mit der Nase einzusaugen. ,,Sicher ein Verbindungstyp“ , dachte ich. Ein anderer Studi, der ein Hawaii-Hemd trug und anscheinend auf Magnum machen wollte, entleerte gerade eine Tüte Erdnussflips in eine Salatschüssel, in welcher sich noch die letzten Reste Kartoffelsalat ausruhten. Gut vermengen, das gibt eine feine Note!

„Hey, Magnum. Wie geht’s Higgins?“, fragte ich ihn. Er sah mich verständnislos an. Sein Hawaii-Hemd war wohl doch eher eine modische Verirrung als ein TV-Zitat. „Sag mal, hast du so ein Mädchen gesehen?“, fuhr ich fort, und mir fiel im selben Moment auf, wie dämlich diese Frage war.

„Klar hab ich schon mal so ein Mädchen gesehen.“, gab er zurück und zeigte auf ein paar anwesende Studentinnen.

„Nur so zur Info: Das da sind alles so Mädchen. Hast in Bio nicht so richtig aufgepasst, was?“

Der Magnum, der keiner war, stopfte eine handvoll Flips in sich hinein und begann zu kichern. Offensichtlich amüsierte er sich köstlich über seine eigene Bemerkung. Als ich meine Frage nach dem Mädchen noch einmal konkretisieren wollte, verschluckte er sich, begann zu keuchen und zu husten und spuckte die halbverdauten Reste seiner Knabbermahlzeit unkontrolliert ins Spülbecken. Ich entschied, mit meiner Recherche an einer anderen Stelle weiter zu machen.

Zu Jürgen und Tanja hatten sich indes noch zwei weitere, knutschende Pärchen aufs Futon gesellt. Das „schönste Mädchen der Welt“ war leider - oder zum Glück - nicht dabei. Im Nebenzimmer schlief Daniel noch immer friedlich vor dem Fernseher. Inzwischen lief das aktuelle Sportstudio, und Harry Valérien moderierte gerade das Torwandschießen. Nur von der schönen Unbekannten keine Spur. Auch ein erneuter Blick auf den Balkon blieb ohne Ergebnis. Im Badezimmer überraschte ich einen Typen, der ins Waschbecken pinkelte, da sein Kumpel auf der Toilette eingeschlafen war. Das waren die einzigen Anwesenden. Kein Mädchen weit und breit. Ich verließ das Bad und weckte Daniel. Er hatte den Putzplan der WG organisiert und ich wusste, dass der Sportfan im Herzen ein geborener ,,Meister Propper“ war. Eine kurze Schilderung der Vorgänge im Bad brachte das gewünschte Resultat. Daniel war in Nullkommanix auf den Beinen und nur Sekunden später mit einer Flasche Domestos und einem Scheuerlappen auf dem Weg zum missbrauchten Urinal.

Mir fiel auf, dass ich noch immer mein Feuerzeug in der Hand hielt. Wie bescheuert war das denn. Sie würde bestimmt nicht seit einer guten halben Stunde verzweifelt mit ihrer Zigarette in der Ecke stehen und darauf warten, dass ich endlich mit Feuer angedackelt käme. Nein. Bestimmt nicht. Und ich kam ohnehin so langsam zu der Überzeugung, dass sie die Party höchstwahrscheinlich bereits verlassen hatte. Ich ließ mich vor dem Fernseher nieder und registrierte mit einem Auge Elke Kast, die Fernsehansagerin des Spätfilms. Dann fiel mein Blick auf ein paar merkwürdig neben dem Fernseher aufgetürmte Kissen. Sie waren aufrecht gestellt und bildeten ein Viereck. Oben drauf lag eine zusammengefaltete Decke. Ich klappte den Stoff ein wenig zur Seite und schaute darunter. Bingo! Ein voller Kasten Bier! Ich hatte Daniels eiserne Reserve entdeckt. In Anbetracht der Menge, die er bereits intus hatte, entschied ich, dass er sicher auf zwei bis sechs Flaschen verzichten könnte. Je nachdem, wie sich der Abend für mich noch entwickeln würde. So schnappte ich mir ein weiteres Flens, ließ es ploppen und mich in die Polster zurückfallen. „Wahrscheinlich ist das schon okay, dass das Mädchen verschwunden ist“, dachte ich bei mir. Ich war sowieso nicht besonders geschickt in Dingen wie „anbaggern“ oder „Konversation mit dem anderen Geschlecht“. Zumindest auf diejenigen bezogen, die ich attraktiv fand. Ein „Na, biste auch hier“ zählt schließlich nicht zu den erfolgversprechendsten Anmachsprüchen. Und ein „Schönes Wetter heute – und so nette Leute“ hätte meine Traumfrau sicher noch weniger dazu gebracht, sich Hals über Kopf in mich zu verlieben. Ich selbst betrachtete mich zwar nicht als verklemmt, oder über die Maßen schüchtern, aber wenn es wirklich um jemanden ging, den ich klasse fand, konnte ich mich ohne weiteres benehmen wie ein Dreijähriger auf einem Ponyhof voller Schafe. Verwirrt und albern. Am souveränsten war ich eigentlich bei Mädels, die mich gar nicht wirklich interessierten. Da konnte ich ab und zu sogar richtig witzig und eloquent sein. Auf der Mentorengruppenfahrt nach Hamburg hatte ich damals im Bus neben Frederike gesessen. Eine ganz Nette, aber überhaupt nicht mein Typ. Wir haben uns die ganze Fahrt lang prima unterhalten. Gelacht und alles kommentiert, was wir am Straßenrand gesehen hatten. Und als wir angekommen waren, hatte Rike für sich beschlossen, den Hamburg-Aufenthalt an meiner Seite zu verbringen. Na super. Während die anderen Jungs einen Reeperbahn-Streifzug machten, spazierte ich also mit meinem neuen, ständigen Begleiter durch Planten un Blomen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass zwischen uns nichts laufen wird. Am letzten Tag in Hamburg war dann die ganze Gruppe im Zoo. Rike und ich saßen in der Nähe der Warzenschweine auf einer Bank. Da gesellte sich Thomas aus dem Chemie-Leistungskurs zu uns, lehnte sich lässig zu meiner Begleiterin hinüber und flüsterte: „Rike, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wunderschöne Augen hast?“ Zong. Das war’s. In einer spontanen Übersprungshandlung begann Frederike ihn zu küssen, und ich war frei. Frei! Frei, um noch ein paar Minuten den Affen zuzuschauen, die versuchten, sich an einem Astloch zu befriedigen; und dann war der Schulausflug auch schon zu Ende. Natürlich interessierte sich Frederike auch nicht wirklich für Thomas. Doch nach einer Woche amüsanter Plaudereien mit mir wollte sie sicher endlich mal ein wenig „action“ haben. Auf der Rückfahrt saß ich dann neben Jürgen, der mir in aller Ausführlichkeit von seinem Besuch in einer Live-Peepshow in der Nähe der Herbertstraße berichtete. Mann, da wär ich gern dabei gewesen. Unglaublich, zu welchen Verrenkungen Frauen laut seiner Schilderung fähig waren.

Ich schob mein Kissen zurecht und schaute zunächst teilnahmslos auf Daniels Glotze. Im Fernsehen begann gerade die Reihe mit Grusel-Klassikern von Jack Arnold. Tarantula hatte ich letzte Woche gesehen, und heute lief Die unglaubliche Geschichte des Mr. C. Den kannte ich zwar schon, aber fand es jedes Mal wieder witzig, wie der Typ immer kleiner wird, bis er am Ende nur noch ein Staubkorn im Universum ist. Diese Vorstellung hatte mich schon immer irgendwie fasziniert, und mir wurde regelmäßig schwindelig, wenn ich versuchte, mir die Unendlichkeit des Universums vorzustellen. Da könnte selbst Mork vom Ork noch so viele „Hamsti-Bamstis“ vollführen, den allerletzten Stern des Alls würde auch er niemals zu sehen bekommen. Ich gönnte mir noch ein weiteres Flens aus Daniels Vorratskiste und verfolgte eine Weile stumm den schrumpfenden Mann in schwarz-weiss. Dann ertönte Stairway to heaven aus dem Flur. Locke war, so schien es, in die Rockballaden-Phase eingetreten. Ich beschloss, die Leute beim Tanzen zu beobachten. Irgendwie schon cool. Party machen, Spaß haben und bis auf Weiteres vom Bafög leben. Eine Perspektive, mit der ich mich anfreunden konnte. Ich lehnte mich an den Türrahmen und amüsierte mich über Locke, der nun seine Mautstelle an der Eingangstür verlassen hatte und mit ausladenden Bewegungen die lädierte Yuccapalme antanzte. Jürgen und Tanja waren ebenfalls auf der Tanzfläche. Eng aneinander geschmiegt wiegten sie sich wie dürres Schilfgras zu den Beats von Led Zeppelin. Er hatte seine und sie hatte ihre Hände jeweils in den Gesäßtaschen der Jeans ihres Tanzpartners. Ein paar weitere Tänzer standen mehr oder weniger auf einer Stelle und wippten lediglich mit dem Oberkörper, als müssten sie das Schaukeln eines kleinen Bootes auf offener See ausgleichen - oder einfach mal aufs Klo.

„Haste jetzt Feuer? Hab meine Streichhölzer irgendwo verloren,und jetzt muss ich dauernd jemanden anhauen.“

Das schönste Mädchen der Welt stand auf einmal direkt neben mir und grinste mich breit an. Ich schaute kurz an ihr herunter auf den Fußboden, weil ich dass Gefühl hatte, dass sie durch irgendeine geheime Klappe im Parkett aufgetaucht sein müsse. Fehlanzeige.

Diesmal war ich allerdings nicht ganz so lahmarschig wie vorhin auf dem Balkon. Ratzfatz hatte ich mein Feuerzeug hervorgeholt und hielt es ihr hin. Sie lächelte, schob ihre blond-schwarzen Haare etwas nach hinten und zog eine selbstgedrehte Zigarette hinter ihrem Ohr hervor. Langsam steckte sie sich das Stäbchen zwischen die Labello-glänzenden Lippen und beugte sich ein wenig vor in Richtung meines Feuerzeuges. Meine Hand zitterte leicht, als ich das kleine Rädchen hinter dem Feuerstein drehte. Mein Traum-Girl griff sanft meine Hand nebst Flamme und führte beides zur Spitze ihrer Zigarette. Als ihre Hand auf meiner landete, bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut. In dieser Sekunde hatte ich mich, denke ich, völlig verknallt. Zumindest war das meine Interpretation der Hautreaktion, denn vergleichbares hatte ich zuvor noch nie gespürt.

„Die Kippe brennt. Du kannst dein Feuerzeug wieder ausmachen.“, sagte sie freundlich. Ich stand noch immer mit erhobener Flamme vor ihr, wie ein Fan beim Pink Floyd-Konzert, wenn Wish you were here gespielt wird. Ich grinste verlegen und winkte ein paar Mal mit dem Feuer hin und her, als hätte ich die Flamme nur noch wegen des Songs an, der gerade lief.

„… and she’s buying a stairway to he-hea-ven!“, sang ich kurz mit. Dann kam mir das Ganze so albern vor, dass ich dass Feuerzeug schnellstmöglich wieder in meine Hosentasche gleiten ließ. Der Metallring am oberen Ende war glühend heiß, und ich spürte, wie sich meine Haut durch den dünnen Stoff der Jeansinnentasche leicht verbrannte. Scheiße, das tat echt weh. Das Mädchen deutete kurz auf ihre Zigarette.

„Danke fürs Feuer. Man sieht sich!“

Sie wendete sich zum Gehen. Ich musste unverzüglich handeln, das war mir klar, denn sonst würde sie sicher wieder durch irgendeinen Geheimgang verschwinden, und dann war’s das.

„Ähm, kann ich ´ne Kippe schnorren?“

Das Mädchen blieb stehen und drehte sich wieder zu mir um.

„Klar.“

Sie fummelte ein Päckchen Tabak aus ihrer Hosentasche und drückte es mir in die Hand.

„Blättchen sind drin.“

„Na super.“, dachte ich. Selber drehen. Das hatte ich noch nie gekonnt. Ich würde mich jetzt hier auf der Stelle zum Affen machen, den Tabak übers Parkett verteilen, mir die Lippe am Klebestreifen der Zigarettenblättchen aufreißen, und dann wäre ich derjenige, der im Erdboden versinkt.

„Ach nee, lass gut sein. Ich rauche ja eigentlich gar nicht, und das soll ja auch nicht so gesund sein…!“, hörte ich mich aus Selbstschutz murmeln.

„Was?“, hakte sie nach. Zum Glück hatte sie meine peinliche Ausrede nicht verstanden.

„Cool.“, sagte ich, „Danke!“.

Ich holte lässig ein Zigarettenblättchen aus dem Päckchen, faltete es auf und modellierte es irgendwie zwischen Zeigefinger und Daumen meiner rechten Hand. Sie schaute mich lächelnd an. Anscheinend sah der Anfang meines Bastelvorgangs noch halbwegs professionell aus, so dass sie noch keinen Verdacht schöpfte. Kein eindeutiger Hinweis auf: das ist ein absoluter Zigaretten-Dreh-Anfänger. Auch das Abzupfen der richtigen Menge Tabak, sowie das Verteilen desselben auf dem Papier schien ich noch ganz glaubwürdig rüber gebracht zu haben. Doch dann kam der finale Augenblick, der in der Regel jedes Mal in die Hose ging. Der Wechsel des Tabak gefüllten Papierstreifens von einer in beide Hände, sowie das Rollen, Anfeuchten und Zusammendrücken. Die wenigen Male, die ich zuvor versucht hatte, selbst eine Zigarette zu rollen, hatten durch die Bank katastrophale Ergebnisse geboren. Wellige Schläuche mit ungleichmäßigen Ausbuchtungen, die aussahen wie eine kleine Schlange, die mehrere kleine Mäuse verschluckt hatte. Oder unförmige Trichter, ein Ende so groß wie ein Ofenrohr, das andere winzig wie eine Stecknadel. Am häufigsten endeten meine bisherigen Versuche allerdings tatsächlich damit, dass ich den Fußboden mit Tabak düngte. Langsam begann ich damit, das Papier um den Tabak zu drehen. Es sah erbärmlich aus, was ich da fabrizierte. Ich traute mich gar nicht, hoch zu schauen, denn ich hatte das Gefühl, das schönste Mädchen der Welt würde mich eingehend bei meinem kläglichen Dreh-Versuch beobachten und mir dafür gerade auf einer Skala von Eins bis Zehn eine Null geben. Im besten Fall. Eigentlich eher eine minus drei.

„Na? Geht’s?“

Zonk. Meine Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Meine elende Stümperei war ihr aufgefallen.

„Wart mal…“, sagte sie freundlich und lächelte mich an. Dann nahm sie mir dieses erbärmliche Tabakwürmchen aus der Hand, verteilte die Krümel noch einmal neu und rollte mir eine kleine, aber feine Zigarette. Sie führte das Produkt zu ihrem Mund und befeuchtete leicht mit ihrer Zunge den Klebestreifen. Mit ihrer Zunge – meine Zigarette. Dann gab sie mir eine nahezu perfekt gedrehte Kippe.

„Bei mir hat es auch ewig gedauert, bis ich das mit dem Drehen raus hatte.“, sagte sie aufmunternd.

„Selbst-Dreh-Technisch bin ich eine absolute Niete!“, gab ich verlegen stotternd zurück.

„Komm, ich zeig dir, wie man’s macht.“ Sie griff nach meiner Schulter und dirigierte mich zurück in Daniels Zimmer, wo wir uns neben dem Fernseher auf den Boden setzten. Der unglaubliche Mr. C. war mittlerweile auf die Größe einer Barbie- Puppe geschrumpft. Noch irgend jemand musste Daniels geheime Biervorräte entdeckt haben, denn in dem Kasten standen nur noch sechs einsame Flaschen Flens. Mein Traumgirl nahm kurzerhand alle übrigen Biere an sich und versteckte vier davon unter einem Kissen hinter ihrem Rücken…

„Besser mal ein bisschen was bunkern…!“

… behielt selbst eine und gab mir die andere Flasche Flens. Wir ließen es ploppen.

„Ich bin übrigens Anne.“

„Cheers. Ich bin Lars.“, erwiderte ich, während wir miteinander anstießen.

Das kühle Bier tat gut, denn ich war zugegebener Maßen ziemlich aufgeregt, und eine kleine innerliche Abkühlung kam gerade recht. „Anne - schöner Name.“, dachte ich. Aber wahrscheinlich hätte sie sogar Waltraud heißen können, und ich hätte selbst diesem Vornamen ohne zu zögern die maximale Punktzahl gegeben. Aber „Anne“ fand ich wirklich irgendwie gut. Und dass sie Flens mochte und nicht nur Warsteiner, oder irgend so ein anderes Mädchenbier, beeindruckte mich ebenfalls.

Dann bekam ich die versprochene Unterrichtsstunde im Zigaretten-Drehen. Ich lernte die optimale Menge Tabak zu portionieren. Ich lernte das Verteilen der Krümel auf dem Papier. Ich lernte, dass es für Anfänger leichter ist, wenn man die Klebekante des Blättchen zu sich gewandt anleckt und nicht umgekehrt. Ich lernte, wie viel Tabak man an den Zigaretten-Enden nach dem Drehen wieder raus zupfen darf. Und ich lernte, dass ich mich im Umgang mit Mädchen, die ich gut finde, doch gar nicht so trottelig anstelle, wenn die erste Nervosität einmal verflogen ist.

Wir drehten also abwechselnd Zigaretten, tranken Bier, amüsierten uns darüber, dass Mr. C. im Puppenhaus wohnte, diskutierten über die Kernaussage von Marillions Misplaced Childhood-Album, drehten Zigaretten, tranken Bier, lachten, redeten über Woody Allen-Filme, beendeten Halbsätze mit „Tandaradei“ und… irgendwann war dann auch das gebunkerte Bier alle.

„Tja, hilft wohl nix.“, sagte Anne und schaute auf die leere Flasche in ihrer Hand. „Schätze, ich werde mal Nachschub besorgen.“

Anne stand auf und stützte sich dabei auf meiner Schulter ab. Schon als sie versuchte „Broadway Danny Rose“ zu sagen und stattdessen nur „Rodney Annie Moose“ raus kam, hatte ich den Verdacht, dass sie mehr als angeschüsselt war. Ihr wankender Abgang inklusive Kollision mit dem Schreibtischstuhl bestätigte meine Vermutung. Ich schaute Anne verliebt nach. Mir selbst war mittlerweile auch schon ziemlich schwummerig. Die Biere fingen an ihre Wirkung zu zeigen, aber vor allem das viele Rauchen begann, meine Sinne zu benebeln. Eigentlich rauchte ich ziemlich selten. Meist nur am Wochenende in der Disco oder auf Parties. Und auch dann oft nicht mehr als drei bis vier Stück am Abend. Heute hatte ich sicher schon so zwölf bis fünfzehn Kippen weg gequalmt. Weit über meinem Limit. Daniel kam ins Zimmer gewankt und stöberte unter den Kissen nach seinem Alk-Lager. Teilnahmslos beobachtete ich seine immer hektischer werdende Suchaktion. Schließlich entdeckte er den leeren Flens-Kasten unter seinem Schreibtisch. Daniel schüttelte den Kopf.

„Diese Arschlöcher!“

Dann drehte er sich zu mir um und fragte, ob ich wüsste, welcher Drecksack sein Bier getrunken hätte.

„Sicher nicht nur einer alleine!“, entgegnete ich wahrheitsgemäß.

Daniel nickte bestätigend. Sicherlich nicht nur einer alleine. Diese Erklärung schien für ihn irgendwie auszureichen.

„Kennst du diese Anne?“, fragte ich ihn neugierig. Denn außer ihren Film- und Musik-Interessen wusste ich im Grunde nicht viel Privates über sie.

„Anne – Pupanne!“, rülpste er raus und verließ mit einem breiten Grinsen das Zimmer. Davon ausgehend, dass „Pupanne“ wohl nicht ihr richtiger Nachname sein mochte, brachte mich diese Information nicht viel weiter. Ich versuchte aufzustehen und gleichzeitig Annes Tabak samt Blättchen und mein Feuerzeug vom Boden aufzuheben. Das gestaltete sich wesentlich schwieriger als angenommen. Nach kurzem Wanken in halb erhobener Position verlor ich das Gleichgewicht und landete rückwärts in einem Berg Sofakissen. Noch ehe ich mich erneut aufrappeln konnte, kam das schönste Mädchen der Welt zurück und baute sich amüsiert vor mir auf.

„Biste breit?“, fragte sie lächelnd.

„Blödsinn. Wollte nur mal testen, wie sich’s hier so liegt.“, gab ich zurück.

„Dann ist ja gut!“

Anne fläzte sich zu mir und zauberte hinter ihrem Rücken eine Flasche Rotwein hervor.

„Was hältst du davon?“, fragte sie aufmunternd.

„Okay. Dann steigen wir halt um.“

Sie gab mir den Wein. Der Korken steckte noch fest im Flaschenhals, und als ich sie fragend anblickte, gab sie zurück, dass sie keinen Korkenzieher finden konnte. Aber in solchen Fällen drückt man den Korken ja einfach in die Flasche hinein. Kinderspiel. Nur nicht für mich. Das war also meine nächste Prüfung. Erst Zigaretten drehen, dann Wein entkorken. Ich war gespannt, was als Drittes anstand. Mit verbundenen Augen auf dem Balkongeländer balancieren? Einen Goldfisch essen? Mit verbundenen Augen auf dem Balkongeländer balancieren und dabei einen Goldfisch essen? In jedem Fall entfernte ich zunächst einmal souverän die Plastikhülle vom Hals der Weinflasche. Dann versuchte ich kurz mal mit dem Zeigefinger zu testen, wie fest der Korken in der Flasche stecke. Aua! Tut verdammt weh, wenn der Finger nach hinten biegt. Anne schaute mir skeptisch bei meiner Aktion zu. Nach kurzem Überlegen griff ich mir ein paar Stifte, die auf Daniels Schreibtisch lagen und setzte einen blauen Textmarker auf der Oberseite des Korkens an. Sanfter Druck reichte nicht, um den Verschluss zu bewegen. Stärkerer Druck auch nicht. Ganz starker Druck brachte den Textmarker zum Zerbrechen. Eine weitere Erfahrung, die ich an diesem Abend gemacht hatte machen durfte. Anne kicherte. Nachdem meinen Versuchen zwei weitere von Daniels Stiften zum Opfer gefallen waren, erlöste mich meine „Trinkfreundin“ von meiner Peinlichkeit.

„Lass mich mal!“

Damit nahm sie mir die Weinflasche und einen dicken Filzstift aus der Hand und machte sich daran, den Korken zu bearbeiten. Fasziniert sah ich ihr zu. Ich hatte noch nie ein Mädchen gesehen, welches über derartige Fähigkeiten verfügte. Wahrscheinlich konnte sie auch eine Bierflasche mit einem Feuerzeug öffnen, die Nationalhymne rülpsen und die Zylinderkopfdichtung an einem Opel Manta auswechseln. Für einen Augenblick kam mir der Gedanke, dass Anne vielleicht gar kein echtes Mädchen ist. Vielleicht ein Automechaniker-Mutant in Menschengestalt. Aber ihre weiblichen Formen behaupteten das Gegenteil. Während sie sich nach vorn beugte, um den Druck auf den Weinflaschenkorken zu erhöhen, wölbte sich ihr T-Shirt und gab eine Ahnung von ihren wunderschönen Brüsten preis. Das war schon ziemlich eindeutig ein Mädchen. Mir wurde wieder etwas schwindelig. Zum einen wegen Alk und Zigaretten, zum anderen wegen des kurzen, aber unglaublichen Einblicks, der mir gerade gewährt wurde. Und dann noch der Gedanke, dass Anne wirklich meine Traumfrau war. Vergiss „10“, vergiss Bo Derek. Anne war eine „15“. Mindestens. Superhübsch, witzig, geschickt mit den Händen und anscheinend auch noch mit trinkfesten Eigenschaften ausgestattet, die man eigentlich eher einem Kumpel als seiner Freundin zuschreiben würde. Im Grunde also absolut perfekt. Plömm! Der Korken verschwand in der Flasche.

„Voilà! Cheerio, Miss Sophie!“

Anne nahm einen Schluck Wein und gab die Flasche dann an mich weiter. „Wein auf Bier – das rate ich dir!“, schoss es mir durch den Kopf. Wenn das stimmt, dann würde die Sache wohl gut gehen. Zumindest hoffte ich das, denn so langsam stellten sich bei mir diese Zeitlupe-Verzögerungs-Wahrnehmungen ein, die für mich sonst ein deutliches Zeichen dafür waren, mit dem Trinken aufzuhören. Aber auf gar keinen Fall durfte ich jetzt schlapp machen. Möglicherweise war das ja ein weiterer Test…

In den nächsten fünf Minuten bis drei Stunden unterhielten wir uns weiter ziemlich gut und angeregt. Keine Ahnung, wie viel Zeit wirklich verging, oder worüber wir gequatscht haben. Doch es machte den Eindruck, als würde Anne mich durchaus sympathisch finden. Zumindest erinnere ich mich daran, dass sie ab und zu ihre Hand auf meinen Arm legte, was ich als eindeutiges Zeichen der Zuneigung interpretierte. Irgendwann beschlossen die Mengen an Flüssigkeit, die mein Körper an diesem Abend zu sich genommen hatte, dass sie jetzt bereit wären, meine Blase schnellstmöglich zu verlassen. Wenn man meinen Zustand bedenkt, klappte das Aufstehen sogar einigermaßen reibungslos. Lediglich die Schreibtischlampe, an deren Kabel ich mich hochziehen musste, donnerte leise blinkend auf den Boden.

„Ich muss mal eben… ähm… also, ich muss mal….“, gab ich angestrengt von mir.

Anne nickte. Im Weggehen hörte ich noch so etwas wie „ich auch“, entschied aber, nicht zurück zu gehen und nochmals nachzufragen, denn: ich musste jetzt wirklich dringend. Ein paar verlorene Seelen bewegten sich im Flur zu The End von den Doors und ich schob mich an den tiefgründig sinnierenden Tänzern vorbei ins Badezimmer der WG. Zum Glück war es frei, und ich ließ mich zum Pinkeln auf die Kloschüssel sinken. Ah. Das tat gut. Das Badezimmer war L-förmig geschnitten und standardmäßig weiß gekachelt. Die Toilette stand neben einer Duschkabine mit Glastüren, gegenüber war das Waschbecken montiert. Daneben stand die Waschmaschine der WG und ein weißes Schränkchen mit Handtüchern und Shampoo-Zeug und so. Zweiunddreissig, rechnete ich spontan aus, als ich eine Dose 8 x 4 Deo auf der Ablage entdeckte. Kopfrechnen, der Situation entsprechend, immer noch ausreichend. Jemand, wahrscheinlich Locke, hatte ein Plattencover von Iron Maiden neben dem Spiegel an die Wand geheftet. Netter Anblick. Im direkten Vergleich zu der Zombiefratze auf dem Killers-Cover schneidet man beim morgendlichen Zähneputzen immer noch ganz gut ab. Als ich fertig war, blieb ich noch einen Augenblick sitzen. Ich dachte darüber nach, ob dieses Kribbeln in meiner Magengegend von der Mischung diverser Alkoholika herrührte, oder ob ich mich wirklich in Anne verliebt hatte. Während ich noch so Gedanken versunken dasaß und mit der Klopapier-Packung spielte, 300 Blatt zweilagig, ging die Badezimmertür auf. In meiner Hektik hatte ich wohl vergessen abzuschließen. Anne kam herein und sah mich frech an, wie ich da auf der Schüssel thronte.

„Jungs, die im Sitzen pinkeln sind selten.“, sagte sie.

Ich nahm das als Kompliment. Dennoch fühlte ich mich in dieser Position nicht wirklich wohl. Hose runter und eine Rolle Softie-Klopapier auf dem Schoß. Ich drehte mich etwas seitlich, stand auf und zog dabei so gut und so schnell es ging Hose und Unterhose gleichzeitig hoch, um möglichst keinen Blick auf meine nackte Rückseite oder gar Vorderseite preis zu geben. Es klappte ganz gut. Als ich den Gürtel schloss klatschte Anne anerkennend in die Hände.

„Das ging schnell. Ich hab kaum was gesehen.“, kommentierte sie meine Einlage.

Etwas errötend schaute ich zu Boden. Sie streichelte mir sanft über den Arm und schob sich an mir vorbei zur Toilette.

„Ich muss auch mal. Schließt du die Tür ab?!“

„Klar. Ähm. Eine Sekunde. Nur noch schnell Hände waschen, dann bin ich weg.“, erwiderte ich.

„Ich meine: von innen abschließen!“, sagte sie lächelnd, während sie ihre Hose aufknöpfte. „Was genau wird das jetzt hier?“, ging es mir durch den Kopf. Ich fühlte so was wie einen Fluchtinstinkt in mir aufkeimen, der mir sagte, ich solle besser auf der Stelle verschwinden und auf meinen Heimatplaneten zurück fliegen, bevor hier wissenschaftliche Experimente mit mir gemacht werden. Im selben Moment beobachtete ich mich aber dabei, wie ich tatsächlich die Badezimmertür von innen verriegelte. Anne saß mittlerweile auf der Schüssel und grinste. Mein nächster Gedanke war: jetzt sollte ich mir unbedingt erst mal die Hände waschen. „Nach dem Stuhlgang – vor dem Essen: Hände waschen nicht vergessen!“ kam mir der Leitsatz meines Vaters in den Sinn. Eine Art Lebensphilosophie? Wie ferngesteuert ging ich zum Waschbecken. Dabei fiel es mir ziemlich schwer, einerseits nicht zu Anne zu schauen, andererseits aber nicht nicht hinzuschauen, wie sie da mit runter gelassenen Hosen, den Slip auf Kniehöhe, auf dem Klobecken hockte. Ich ging zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und wusch mir zunächst einmal ausgiebig die Hände. Erst als das Wasser aus der Leitung zu heiß wurde, und ich mir beinahe die Flossen verbrannt hatte, fiel mir auf, dass im Waschbecken noch zwei volle Flaschen Bier lagen. Als wolle ich stolz einen selbst erlegten Hasen präsentieren, nahm ich die Flens-Pullen aus dem Becken und hielt sie hoch.

„Guck mal, was ich gefunden habe.“

Anne winkte mich zu sich. Vorsichtig ging ich in Richtung Toilette und reichte ihr eine der beiden Flaschen. Plöpp!

Sie saß noch immer auf der Schüssel, als wir uns zuprosteten und jeder einen großen Schluck „Bölkstoff“ tranken.

„Du bist total süß, Lars. Ich mag dich.”, sagte sie, griff meine Hand und zog mich langsam zu sich hinunter. Ich hockte nun vor ihr, sodass wir ungefähr auf Augenhöhe waren. „Komische Position“, dachte ich, und: „Ich bin gespannt, wie lange ich so knien kann.“ Normalerweise kriege ich in der Hocke oft ganz schnell Knieschmerzen. Vielleicht sollte ich jetzt irgendwas Schlaues sagen. Oder was Nettes. Oder beides. Dummerweise hatte ich nicht den Ansatz einer Idee. Was vielleicht daran lag, dass ich auch noch nie zuvor in einer solchen Situation war. Betrunken vor einem Klo gehockt hatte ich zwar schon das eine oder andere Mal, aber bislang saß währenddessen noch nie ein Mädchen darauf. Und ein so verdammt hübsches erst recht nicht.

„Ich… ähm… du…“, begann ich.

Anne spürte meine Unsicherheit. Sie strich mir leicht übers Haar und schaute mir in die Augen. „Psst! Nichts sagen.“ Dann glitt ihre Hand in meinen Nacken, und sie zog mich vorsichtig nach vorn zu sich heran. Ich war knapp davor, das Gleichgewicht zu verlieren und konnte ein peinliches, seitliches Umfallen nur dadurch verhindern, dass ich das linke Bein aus der Hockposition löste, anwinkelte und auf dem ungewöhnlich warmen Badezimmer- Fußboden abkniete. „Fußbodenheizung – so was ist praktisch“, überlegte ich kurz. Blöder Gedanke. Zu weiteren blöden Gedanken kam ich allerdings nicht mehr. Anne zog mich noch ein wenig weiter zu sich, und wir begannen, uns zu küssen. Genaugenommen begann sie, mich zu küssen. Und erst als ich das Gefühl einer sicheren Knieposition hatte, fing ich zaghaft an, darauf einzugehen. Zunächst spielten unsere Lippen recht sanft miteinander, doch schon bald kann Bewegung ins Spiel und auch die Zungen beschlossen, sich einzubringen. Anne nahm meinen Kopf in beide Hände und presst ihren Mund so kräftig auf meinen, dass ich kurzzeitig dachte, ich würde keine Luft mehr bekommen. Die Atemnot, gepaart mit dem Flens und dem Rotwein in meinem Blutkreislauf, machten mich schwindelig. Ich spürte die Erdrotation in meinen Beinen und versuchte die Schwankungen dadurch auszugleichen, dass ich mein Gewicht in die entgegen gesetzte Richtung verlagerte. Der gewünschte Effekt stellte sich nicht ein. Gezwungenermaßen lösten sich meine Lippen von Annes Küssen, und mit einem „Arrrgh-Scheiße“ landete ich unsanft neben dem Klo auf den Fliesen, wobei ich mir den Kopf an der Glastüre der Duschkabine anstieß.

„Lars – zu blöd zum Küssen!“, leuchtete für einen Sekundenbruchteil die Schlagzeile der morgigen Bild-Zeitung vor meinem geistigen Auge auf. Vorsichtig schaute ich hoch zu Anne. Aber so blöd schien sie meine pseudo-akrobatische Einlage nicht zu finden. Eher witzig, denn sie hatte Tränen in den Augen vor Lachen.

„Alles in Ordnung. Nichts passiert!“, erklärte ich und gab ihr zum Zeichen ein bestätigendes „thumbs up“.

Anne lächelte mich an, ließ sich von der Toilette gleiten und schob sich neben mich auf den kuschelig warmen Fußboden.

„Lars…Lars…“, sagte sie und ließ meinen Namen auf ihrer Zunge schmelzen wie ein Karamell-Fudge.

Ein paar Sekunden schauten wir uns an. Ich: verliebt. Und sie: hoffentlich auch. Dann begannen wir erneut, uns zu küssen. Wunderschön und unendlich lang. Unterbrochen lediglich von ein paar Schluck Bier, mit denen wir den aufkommenden Nachdurst stillten, um dann sofort weiter zu knutschen. Dass immer mal wieder jemand an die Badezimmertür hämmerte und ständig Sätze wie „Aufmachen, ich muss mal pinkeln“ oder „Aufmachen. Polizei!“ zu hören waren, registrierte lediglich mein Unterbewusstsein. Meine volle Aufmerksamkeit galt Anne. Ihre Hände krabbelten unter mein U2-T-Shirt und meinen Rücken hinauf bis zu meinen Schulterblättern. Ich überlegte, ob ich so was Ähnliches bei ihr auch machen sollte. Anne hatte es leicht, schließlich lag sie ja halb auf mir drauf und hatte beide Hände frei. Ich hingegen musste mich mit den Armen nach hinten abstützen, um nicht schon wieder irgendwie blöd auf die Kacheln zu knallen. Ich beschloss zu prüfen, ob nicht auch ein Arm als Stützpfeiler ausreichte, um mich aufrecht zu halten. Meine Position büßte zwar an Stabilität ein, aber es ging. Mein rechter Arm war frei und ich konnte jetzt mit meiner rechten Hand auch irgendetwas Nettes machen. Sanft streichelte ich über ihr linkes Bein und meine Finger schoben sich leicht hoch in Richtung Oberschenkel. Als meine Hand ihr Knie erreichte, verhakten sich meine Finger in einer kleinen Schlinge aus Stoff. Erst jetzt fiel mir auf, dass Annes Unterwäsche noch immer auf halber Höhe hing. Mit anderen Worten: so, wie sie da halb auf mir hing, hatte sie verdammt wenig, ja eigentlich gar nichts an. Dieser Gedanke machte mich leicht nervös. Ich, Lars, knutschend im Badezimmer auf einer Studentenparty mit einem halbnackten Mädchen auf dem Schoß. Was macht man eigentlich in solchen Situationen? Im „Ratgeber für Erstsemester“ hatte ich davon nichts gelesen. Während ich noch grübelte, gab mir Anne ungefragt etwas Hilfestellung. Vorsichtig umfasste sie mein Handgelenk und schob meine Hand einfach über die Unterwäsche-Schlinge hinweg und weiter hoch, bis sie schließlich meine Finger auf ihrem Hinterteil platzierte.

„Okay“, dachte ich, und mir fiel der Spruch auf meinem alten Miller-Bier T-Shirt ein: „If this is it. It’s it!”

Ohne die Knutscherei zu unterbrechen, drückte ich sie näher an mich und ließ meine Hand zärtlich über ihren Po gleiten. Wahnsinn. Hätte das Handgelenk meines Stützarmes nicht so tierisch weh getan, ich hätte geglaubt, ich würde träumen. Wow. Hammer. Anne!!

Plötzlich richtete sie sich auf, drehte sich etwas ein und setzte sich breitbeinig auf meine Oberschenkel. Eine Strähne ihres blonden Haares klebte leicht an ihrer Stirn. Sie sah absolut umwerfend aus, fand ich. Ich lächelte.

„Anne, ich… du bist so wunderschön!“

Sie lächelte zurück.

„Ich…Lars, ich...“, begann sie zaghaft, doch dann fror ihr Lächeln ein und Anne bekam einen panischen Blick. „Ich… muss kotzen!“

Hektisch drehte sie sich um und robbte auf die Toilette zu. Zum Glück war die Kloschüssel ja nicht mal einen Meter entfernt, und so landete das allermeiste im Becken. Anne kniete vor der Keramik, den Deckel mit beiden Händen fest umkrallt und würgte und röchelte tief in die Kanalisation. Ich wollte mich aufrichten, aber meine Gelenke waren völlig steif und taten weh. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich wieder Kraft gesammelt hatte, um mich vom Boden abzudrücken. In dieser Zeit konnte ich meinen Blick kaum von ihrem nackten Hinterteil lassen, welches bei jedem Würgen leicht auf und ab wippte. Schließlich riss ich mich zusammen und rappelte mich hoch.

„Anne. Alles klar?“, fragte ich, und mir war angesichts der Geräusche sofort klar, dass das eine dämliche Frage war.

Etwas unschlüssig schaute ich mich um. Ich versuchte, den Badezimmerschrank zu öffnen, auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Keine Ahnung, was. Aber irgendwas Brauchbares sollte es sein, womit man einem reihernden Mädchen helfen kann. Die Schranktür klemmte. Ich zog mit aller Kraft daran, und als sie endlich nachgab, landeten diverse Shampoo-Flaschen, Zahnbecher und Spraydosen krachend auf dem Boden. Ich entdeckte eine Dose Haarlack. Wer von den WG-Jungs benutzt denn Haarlack? Dann schaute ich wieder in den Schrank, fummelte einen Waschlappen hervor und tränkte ihn in kaltem Wasser. Ich kniete mich neben Anne. Während sie die letzten Reste ihres Abendessens heraus würgte, strich ich ihr mit dem Waschlappen über die Stirn. Ich hielt ihre Haare zurück, damit sie nicht im Klo hingen und massierte sanft ihren Rücken. Noch ein paar „Gulp“-Geräusche, dann war das Gröbste überstanden. Anne sank in sich zusammen und atmete schwer. Ich ging noch einmal zum Waschbecken, spülte den Waschlappen aus und wusch ihr danach vorsichtig übers Gesicht und den Hals. Ich hatte zuvor noch nie jemandem beim Kotzen geholfen. Das war überhaupt nicht mein Ding. Jürgen war da anders. Der hatte ein Helfersyndrom. Auf welcher Party auch immer jemand seinem Mageninhalt die große weite Welt zeigen wollte, Jürgen war zur Stelle und hätschelte, tätschelte und sprach gut zu. Der Egoismus der Selbstlosigkeit. Das Gefühl, was Gutes getan zu haben. Gleich, ob Männlein oder Weiblein. Manchmal hatte ich schon überlegt, ob er seinen Gästen etwas Verdorbenes in die Erdbeerbowle mischte, nur um ihnen nachher beim Göbeln zu helfen. Das war im Grunde wirklich nicht meine Lieblingsbeschäftigung.

Aber bei Anne hatte ich nicht die geringsten Probleme. „Ich bin echt verknallt.“, dachte ich, „das ist der Beweis.“

Anne lächelte dankbar und zog sich an der Schiebetür der Duschkabine hoch. Auf halber Höhe gaben ihre Knie kurzzeitig nach, und da sie wegen der Hose, die um ihre Knöchel baumelte, keinen Ausfallschritt machen konnte, verlor sie das Gleichgewicht. Krawumm! Die Duschtür knackte aus ihrer Führung und landete, Anne unter sich begrabend, auf der Badezimmermatte. Billiges Plastikteil. Gottseidank, sonst hätte es Schnittwunden gegeben.

„Schon okay. Ich repariere das.“, sagte ich, während ich die Tür beiseite schob, Annes Hand griff und sie wieder in die Senkrechte zog. Das Mädchen, das eben noch die Kloschüssel umarmt hatte, zog ihre Hose hoch und torkelte zum Waschbecken. Anne erschrak sich, als sie, statt in den Spiegel zu schauen, die Zombie-Fresse der Iron Maiden - LP vor Augen hatte. Dann spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht, um klarer zu werden. Ich strich ihr kurz mit der Hand übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die nackte Schulter, die unter ihrem leicht verrutschen Batik-Shirt hervor lugte. Anne drehte sich zu mir und nahm mich kurz in den Arm.

„Ich bin völlig betrunken.“, erklärte sie und klang dabei erstaunlich nüchtern. Dann wackelte sie in Zickzacklinien zur Tür und schloss das Badezimmer wieder auf.

„Nicht weglaufen. Bin gleich wieder da.“, sagte Anne und verschwand.

Kurz blickte ich ihr hinterher und dann auf das Chaos, welches wir im Bad angerichtet hatten. Daniel würde mich umbringen, wenn er das sähe. Die Beweise mussten vernichtet werden, noch bevor jemand an den Tatort kommen würde. Provisorisch hängte ich die Duschkabinentür wieder ein. Ging so. Fiel kaum auf. Dann fand ich einen Putzlappen in einem Eimer neben der Dusche und begann damit, das Klo zu putzen. ,,Was für eine abgefahrene Nacht“, dachte ich. Und: ,,Ich bin verliebt“. Für eine Sekunde fühlte ich mich, obwohl ich gerade dabei war, mit einem Wischtuch Erbrochenes wegzureiben, zufrieden und vollkommen glücklich. Dann allerdings stieg mir dieser beißende Geruch von Magensäure in die Nase und erinnerte mein Inneres daran, dass auch ich viel zu viel getrunken hatte. In dem Moment war es schon zu spät. Glücklicherweise kniete ich ja bereits vor dem Becken und musste jetzt nichts weiter tun, als mich nach vorn zu beugen und der Natur ihren Lauf zu lassen…

Keine Ahnung, wie lange mein Dialog mit dem „Örtchen“ gedauert hatte, aber als ich das Badezimmer verließ, war die Party quasi zu Ende. Anne war nicht zurück gekommen, doch in Daniels Zimmer fand ich den Rest von ihrem Tabak und ihre Jacke aus Panne-Samt. Ich ging also davon aus, dass sie sich noch irgendwo hier rumtreiben würde. Also stieg ich über Daniel hinweg, der schlafend vor dem Fernseher lag, um durch seine Balkontür einen Blick nach draußen zu werfen. Die Sonne ging allmählich auf. Sie versprach, einen schönen Herbsttag zu zaubern. Ans Geländer gelehnt stand ein langhaariger Gruftie und rauchte. Ansonsten war niemand auf dem Balkon. Ich schaute mich in Daniels Zimmer um. Dass er auf dem Boden pennte, lag wohl daran, dass sein Bett belegt war. Vorsichtig schob ich die Bettdecke im Gladbach-Design zurück. Darunter lagen, eng umschlungen, Jürgen und Tanja. Beide schliefen tief und fest und sabberten sich gegenseitig voll. Wenn die Zwei in Daniels Bett liegen mussten, dann würde sich wohl jemand anderes auf Jürgens Futon ausruhen. Ich hob Annes Jacke und Tabak vom Boden auf und schlich ins Nebenzimmer. In Jürgens Bett fand ich zwei mir unbekannte Typen in Boxershorts. Keine Spur von Anne. Locke saß am Fußende, hatte den Kopfhörer von seinem Walkman auf, und wippte geistesabwesend vor und zurück. Er erschrak nicht einmal, als ich ihm auf die Schulter tippte. Friedlich sah er mich an und machte mit den Fingern das Peace-Zeichen. Ich lüftete leicht die eine Seite seines Kopfhörers von seinem Ohr.

„Hast du Anne gesehen?“

Er sah mich unverwandt an, als hätte ich meine Frage in einer für Menschen unver-ständlichen Sprache gestellt. Dann blubberte er so was wie „Ich chille“ und versank wieder in seiner After-Party-Welt. Also suchte ich weiter. In Lockes Zimmer schließlich fand ich meine Traumfrau. Sie lag fest schlafend auf zwei zusammen geschobenen Garten-Stuhl-Polstern, die jemand vor dem Kleiderschrank auf den Fußboden gelegt hatte. In Lockes Bett lag Ingo, der allwissende BWLer, und auf dem Sofa, halb sitzend und halb liegend, döste ein pummeliger Typ mit Blues-Brothers-Hut und Brille, der krampfhaft eine halbleere Flasche Apfelkorn in den Händen hielt. Er regte sich nicht einmal, als ich ihm eine Wolldecke unter dem Hintern und ein Kissen unterm Arm weg zog. Mit meiner Beute schlurfte ich zu Anne und kniete mich neben sie. Sie atmete ruhig und sah, trotz der harten Unterlage, ziemlich entspannt aus. Eine Zeit lang betrachtete ich das hübsche Mädchen liebevoll. Dann strich ich ihr sanft übers Haar und gab ihr vorsichtig einen Kuss auf die Stirn. Anne öffnete verschlafen kurz die Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Und schon war sie wieder eingepennt. Ich deckte sie zu, schob ihr das Kissen unter den Kopf und polsterte mit ihrer Jacke ihren abgewinkelten Arm. Dann legte ich mich auf den freien Rest der Gartenstuhl-Polster und kuschelte mich an sie. Das war also mein erster Tag als Student. Zwar noch nicht offiziell, denn ich würde mich ja erst nächsten Donnerstag einschreiben, aber das war reine Formsache, und im Grunde fühlte ich mich schon wie ein frischgebackener Erstsemester. Ein neues Leben, eine neue Stadt, hoffentlich bald eine eigene Bude, und, so wie es für mich aussah, auch eine wundervolle Freundin. Und, hey, kotzen müssen wir ja alle mal. Dafür gab es heute jedenfalls keinen Punktabzug. Glücklich und zufrieden schlief ich ein.

Ich saß auf der letzten Bank in einem Greyhound-Bus. Es war drückend und schwül. Die Air-Condition schien ausgefallen zu sein und die Mitreisenden, ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Leute im Alter von neun bis neunundneunzig, schwitzten und tupften sich alle gleichzeitig die Schweißperlen mit riesigen weiß-blau karierten Taschentüchern von der Stirn. Der Bus bog vom Highway ab und steuerte auf eine kleine Raststätte mit angegliedertem McDonalds zu.

„Jetzt eine kalte Cola und ´n Big Mäc.“, sagte Anne, die neben mir im Bus saß, genüsslich.

Ja. Das war die beste Idee des Tages. Plötzlich stand einer der anderen Fahrgäste, ein ziemlich pickeliger College-Student auf, hangelte sich durch die Sitzreihen nach hinten und auf uns zu. Er grinste unverschämt, als er seinen College-Rucksack mit einem Emblem der Ohio State University öffnete.

„Hungry?“, fragte er höflich.

Ich nickte. Der Collegeboy griff in seinen Rucksack und holte eine Tüte Bahlsen Erdnuss-Flips heraus.

„Guten Appetit!“

Hämisch lachend begann er damit, mir die Flips in die Nase zu stecken. Ich wurde panisch, bekam keine Luft mehr… und wachte auf.

Breitbeinig über mir stand Ingo, der BWLer, und futterte Erdnuss-Flips. Ein paar davon waren aus der Tüte heraus und auf mein Gesicht gefallen.

„Haste Hunger?“, fragte er und versuchte einen Erdnussflip in meinen gähnenden Mund fallen zu lassen.

„Hör’ auf mit dem Scheiß!“, raunte ich ihn an und sprang auf.

Schulterzuckend verzog Ingo sich mit seinem Frühstück in die Küche. Ich war noch etwas wackelig in den Knien und hatte einen tierischen Kater. Aber was viel schlimmer war: Anne war nicht mehr da und auch ihre Samtjacke war weg. Hektisch lief ich durch die Wohnung. Beiläufig registrierte ich das völlige Chaos, welches der Tsunami einer Studentenparty in der WG hinterlassen hatte. Überall lag Müll. Leere Flaschen, zerbrochenen Gläser, zertrampelte Chips, übervolle Aschenbecher, umgeknickte Topfpflanzen. Nur von Anne keine Spur. Weder im Bad, noch auf dem Balkon, noch sonst wo. Daniel saß schon wieder vor dem Fernseher. Es lief Tennis. Bobbeles grandioser Wimbledon Sieg wurde wiederholt. Und obwohl Daniel das Match sicher schon eine Millionen Mal gesehen hatte, fieberte er mit, als wäre es live.

„Haste Anne gesehen?“, sonderte ich, hinter ihm stehend, meine Frage ab.

„Anne - Pupanne.“, gab er lapidar zurück, um danach sofort wieder ein „aaahrgh … shit!“ auszustoßen, als Boris seinen Aufschlag versemmelt hatte.

Mehr war nicht aus ihm rauszukriegen.

Locke hatte Kaffee gekocht und räumte die Küche auf. Ich gesellte mich zu ihm und genoss eine Tasse Fair-Kaffee aus Columbien.

„Man darf eigentlich nur den kaufen. Bei den anderen Scheiß-Kaffee-Monopolisten gehen die Kaffeebauern leer aus!“, dozierte er, während er eine Masse aus Kartoffelsalat, Kippen, Salzstangen und irgendetwas Grünlichem aus einer Schüssel in die Mülltonne kippte. Hin und wieder gab Locke gerne solche Öko-Statements von sich. Im Grunde hatte er zwar mit Umweltschutz und so nicht viel an der Mütze, aber er war der Meinung, dass ein zukünftiger Terroristen-Anwalt ganz klare links-alternative Standpunkte vertreten sollte. Trotzdem würde er sich von seinem ersten Gehalt den größten BMW kaufen, den es gibt. Soviel stand ebenfalls fest.

Ich ließ etwas Milch in meinen Kaffee tropfen und beobachtete die Wellen, die die Tropfen in dem schwarzen Tümpel verursachten. Meine Gedanken waren bei Anne. Was war das eigentlich letzte Nacht? Wieso war sie nicht mehr da? Wieso hatte sie mich nicht geweckt? War das Ganze für Sie nur eine Partyknutscherei, endend in einer fatalen Kombination von Bier, Wein und Kotze? Warum lief mein Kaffee über?

„Mann ey, träumst du, oder was?“ – Locke nahm mir die Milchtüte aus der Hand und wischte den übergelaufenen Fair-Kaffee von der Tischplatte.

„Sorry.“, sagte ich nachdenklich, „kennst du dieses blonde Mädchen, das auf der Party war?“

„Die mit den schwarz gefärbten Haarspitzen?“

Ich nickte.

„Die, mit der du dich im Bad eingeschlossen hast?“, fragte er weiter.

„Hm hm. Genau. Anne.“

„Anne?“, Locke schüttelte den Kopf, „nee, die kenn’ ich nicht. Die ist auch nicht hier aus dem Haus, soweit ich weiß. Hab sie jedenfalls hier noch nie gesehen.“

„Echt nicht?“

„Nope. Alter, die hat sich hier irgendwie her verirrt. Und nu isse weg, und du siehst sie nicht wieder. That’s life!“. Damit wendete er sich wieder dem Geschirrberg zu, den er kunstvoll neben dem Spülbecken aufgebaut hatte. Teilnahmslos beobachtete ich, wie sein Kunstwerk zusammenkrachte, als er versuchte, einen Bierkrug aus dem unteren Drittel des schmutzigen Geschirrs heraus zu ziehen.

Das schönste Mädchen der Welt war wieder in der Unendlichkeit des Universums verschwunden, aus der sie gestern unerwartet aufgetaucht war. Genauso wie Mister C.

Zweites Kapitel – Völlig losgelöst

In den folgenden zwei Tagen nach der Party hatte ich versucht, etwas mehr über Anne heraus zu finden. Oder wenigstens überhaupt etwas über sie heraus zu finden. Denn außer, dass sie Selbstgedrehte rauchte, Marillion und Woody Allen mochte und unsere Knutscherei mit einer Kotz-Einlage beendet hatte, wusste ich im Grunde nicht viel über das Mädchen, in das ich mich verliebt hatte. Leider konnte mir absolut niemand weiterhelfen. Detektiv Lars „in der Zirkuskuppel – ratlos“. Keiner meiner WG-Kumpels hatte sie eingeladen, niemand in dem Studentenwohnhaus schien sie vor oder nach der Party jemals gesehen zu haben, und ihre Fingerabdrücke auf dem Rand der Klobrille hatte Daniel inzwischen gezielt mit einer Überdosis Meister Propper vernichtet. Keinerlei Indizien, mit denen ich die Datenbank des BKA hätte füttern können. Anne – ein Phantom. Einen, allerdings eher klitzekleinen Strohhalm, gab es aber doch. Ein Anhaltspunkt, der mich vielleicht doch noch weiterbringen konnte. Dieser Clue hieß: Susanne. Kurz: Sanne. Sie war eine flüchtige Bekannte von Jürgen und angeblich ebenfalls auf der Party gewesen. Wenn auch nur kurz. Und der zukünftige Kassen-Zahnarzt Jürgen Helmer konnte sich dunkel daran erinnern, dass Sanne gefragt hatte, ob sie eine Bekannte zur Fete mitbringen dürfe. Und bei dieser Bekannten könnte es sich unter Umständen um Anne gehandelt haben. Alles natürlich unter Vorbehalt. Anne Angaben ohne Gewähr. Blöderweise war diese Susanne direkt am Tag nach der Party für mehrere Wochen in den Urlaub gefahren. Entweder nach Portugal oder nach Spanien. Könnte auch Italien gewesen sein, da wollte Jürgen sich nicht so festlegen. Abgesehen davon, dass sich die einzige Zeugin wohl irgendwo im mediterranen südeuropäischen Raum 'rumtrieb, waren weitere Ermittlungen in Bezug auf diese Zeugin zunächst hinfällig. Denn mein Kumpel wusste weder Sannes vollständigen Namen, noch wo sie wohnte.