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Stephanie Garber

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Beschreibung

»Ein zauberhaftes, vor Magie und Fantasie sprühendes Buch!« Hamburger Morgenpost zu »Caraval« - Band 2 der Trilogie Donatella Dragna hatte kaum Zeit, sich an ihr neues Leben bei den Caraval-Schauspielern zu gewöhnen, als sie erfährt, dass Caraval-Master Legend die Aufführung eines neuen Spiels plant. Inmitten der Vorbereitungen spielt Donatella jedoch ein anderes, ebenso tödliches Spiel: Sie hat Schulden und es ist an der Zeit, diese zu begleichen. Wenn Donatella die Freiheit behalten will, die sie und ihre Schwester Scarlett sich so hart erkämpft haben, muss sie den Master von Caraval hintergehen. Donatella weiß, dass Legend gefährlich ist, doch sie lässt sich auf sein Spiel ein. Und obwohl sie sich geschworen hat, dass sie sich nie verlieben wird, ist ihr Herz plötzlich genauso in Gefahr wie ihr Leben ...  »Über alle Maßen fantasievoll und verzaubernd ... pure Magie.« – Cecelia Ahern    Stephanie Garber hat mit der »Caraval«-Trilogie ein unvergleichliches Fantasy-Epos geschrieben. Ihre Erzählung über die Machenschaften von Legend, die Herzen der Schwestern Donatella und Scarlett und den Zauber des Spiels ist einzigartig in der Young-Adult-Literatur und hat der Autorin treue Fans auf der ganzen Welt eingebracht.   Es ist doch nur ein Spiel?   Bist du bereit, alles zu geben? Tauche ein in die beispiellose Fantasy-Trilogie und lasse dich von »Caraval«, »Legendary« und »Finale« verzaubern. Achtung, Lieblingsbuchgefahr!

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Diana Bürgel

© Stephanie Garber 2018Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Legendary« bei Flatiron Books, New York 2018Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net unter Verwendung eines Entwurfs von Erin Fitzsimmons ShappellCovermotiv: Erin Fitzsimmons ShappellKarte: Rhys DaviesSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

Für Matthew, für den Speckstein.Für Allison, weil du mir gesagt hast, dass Dashiell der falsche Name ist.Und für euch beide, weil ihr wunderbare Geschwister seid.

 

 

 

 

In einigen der Zimmer des Anwesens versteckten sich Monster unter dem Bett, aber Tella hätte schwören können, dass die Räume ihrer Mutter einen Zauber bargen. Darin duftete es nach Blumen aus geheimen Gärten, und selbst wenn kein Lufthauch zu spüren war, wogten die durchscheinenden Vorhänge des prachtvollen Himmelbetts. Der zitronengelbe Leuchter über ihr begrüßte sie mit dem musikalischen Klingen von sich küssendem Glas. Es war leicht, sich vorzustellen, dass diese Zimmerflucht ein verzaubertes Portal in eine andere Welt war.

Tellas kleine Füße machten kein Geräusch, als sie auf Zehenspitzen über den dicken elfenbeinweißen Teppich zur Kommode ihrer Mutter schlich. Rasch warf sie einen Blick über die Schulter, bevor sie sich das Schmuckkästchen schnappte. Glatt und schwer lag es in ihren Händen. Das Kästchen bestand aus Perlmutt, umsponnen von spinnennetzfeinem Goldfiligran. Tella tat gerne so, als wäre auch das Kästchen verzaubert, denn selbst wenn ihre Finger schmutzig waren, hinterließen sie niemals Abdrücke darauf.

Es machte Tellas Mutter nichts aus, wenn ihre Töchter mit ihren Kleidern spielten oder ihre schicken Schuhe anprobierten, aber sie hatte sie gebeten, dieses Kästchen nicht anzufassen, was es für Tella umso unwiderstehlicher machte.

Scarlett konnte ganze Nachmittage damit verbringen, von Wandervorstellungen wie Caraval zu träumen, doch Tella wollte echte Abenteuer erleben.

An diesem Tag tat sie so, also hielte eine böse Königin einen jungen Elfenprinzen gefangen, und um ihn zu retten, musste sie den Opalring ihrer Mutter stehlen. Tellas liebstes Schmuckstück. Der milchige Stein war roh und ungeschliffen, geformt wie ein Strahlenkranz mit scharfen Spitzen, die ihr manchmal in die Finger stachen. Aber wenn Tella den Opal ins Licht hielt, funkelte er und sprenkelte den Raum mit Flecken aus lumineszierendem Kirschrot, Gold und Lavendel, die Gedanken an magische Flüche und aufrührerischen Feenstaub wachriefen.

Leider war der Messingring zu groß für Tellas Finger. Trotzdem probierte sie ihn jedes Mal an, wenn sie das Kästchen öffnete, für den Fall, dass sie inzwischen gewachsen war. Dieses Mal bemerkte sie in dem Moment, in dem sie den Ring über den Finger streifte, noch etwas anderes.

Der Leuchter über ihr verstummte, so als wäre auch er überrascht.

Tella kannte jedes Stück in dem Schmuckkästchen ihrer Mutter auswendig: ein sorgsam gefaltetes Samtband mit Goldrand; blutrote Scharlachohrringe; ein angelaufenes Silberfläschchen, das ihrer Mutter zufolge Engelstränen enthielt; ein Elfenmedaillon, das sich nicht öffnen ließ; ein Jettarmreif, der so aussah, als würde er eher an den Arm einer Hexe gehören als an das elegante Handgelenk ihrer Mutter.

Das einzige Stück, das Tella niemals berührte, war das schmutzig graue Säckchen, das nach modrigem Laub und fäulnissüßem Tod roch. Das hält die Kobolde fern, hatte ihre Mutter sie einmal geneckt. Es hielt auch Tella fern.

Aber an diesem Tag flackerte das hässliche Täschchen und zog damit Tellas Aufmerksamkeit auf sich. In einem Moment sah es noch aus wie etwas Verfaultes und roch nach Verwesung und im nächsten lag an seiner Stelle ein schimmerndes Kartendeck, das von einem zarten Satinband zusammengehalten wurde. Dann, plötzlich, war es wieder das scheußliche Ding, bevor es sich erneut in die Karten verwandelte.

Ihr Spiel war vergessen, sie griff nach dem seidigen Band und hob das Deck aus dem Kästchen. Sofort hörte es auf, sich hin und her zu verwandeln.

Die Karten waren ja so hübsch. Mitternachtsblau, so dunkel, dass es beinahe schon Schwarz war. Übersät mit winzigen Goldfünkchen, die im Licht schimmerten, und durchzogen von einer wirbelnden tiefrot-violetten Prägung, die Tella an feuchte Blumen, Hexenblut und Magie erinnerte.

Dieses Deck hatte nichts mit den dünnen schwarz-weißen Dingern zu tun, mit denen die Wächter ihres Vaters ihr Wettspiele beigebracht hatten. Tella setzte sich auf den Teppich. Ihre flinken Finger kribbelten, als sie das Band löste und die erste Karte umdrehte.

Die junge Frau darauf sah für Tella aus wie eine gefangene Prinzessin. Ihr liebliches weißes Kleid war zerrissen, und ihre tränenförmigen Augen waren so hübsch wie poliertes Meerglas, aber gleichzeitig so traurig, dass es wehtat, sie anzusehen. Wahrscheinlich, weil ihr Kopf in einem runden Perlenkäfig steckte.

Am unteren Rand der Karte stand: Die Jungfer Tod.

Tella erschauerte. Der Name gefiel ihr nicht, und sie mochte keine Käfige, auch nicht, wenn sie aus Perlen waren. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter nicht wollen würde, dass sie diese Karten sah, doch das hielt sie nicht davon ab, eine weitere umzudrehen.

Dieses Mal stand Der Prinz der Herzen am unteren Rand.

Die Karte zeigte einen jungen Mann, dessen Gesicht nur aus Kanten bestand. Seine Lippen waren scharf wie Messerklingen. Die Hand, die er an sein spitzes Kinn gehoben hatte, umklammerte den Griff eines Dolchs, und aus seinen Augen liefen rote Tränen, die zu den Blutflecken in den Winkeln seines schmalen Mundes passten.

Tella zuckte zusammen, als das Bild des Prinzen flackerte, genau wie das schmutzige Säckchen vorhin.

Da hätte sie aufhören sollen. Diese Karten waren eindeutig kein Spielzeug, aber einem Teil von ihr kam es so vor, als hätte sie das Deck finden sollen. Es war wirklicher als die böse Königin oder der Elfenprinz aus ihrer Fantasie, und sie wagte zu hoffen, dass es sie vielleicht in ein echtes Abenteuer führen würde.

Die nächste Karte fühlte sich unter ihren Fingern besonders warm an, als Tella sie umdrehte.

Das Arakel.

Sie wusste nicht, was dieser merkwürdige Name bedeutete, aber anders als die vorherigen Karten schien diese hier nicht brutal zu sein. Die Kanten waren mit Schnörkeln aus zerflossenem Gold verziert, und die Mitte war silbern wie ein Spiegel – nein, es war ein Spiegel. Die glänzende Oberfläche reflektierte Tellas honigblonde Locken und ihre runden haselnussbraunen Augen. Als sie jedoch genauer hinsah, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Ihre rosa Lippen bebten, und dicke Tränen liefen ihr über die Wangen.

Tella weinte nie. Nicht einmal, wenn ihr Vater mit harschen Worten mit ihr sprach oder wenn Felipe, der Sohn eines Wachmannes, sie ignorierte, um ihrer älteren Schwester alle Aufmerksamkeit zu schenken.

»Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich hier finde, mein kleiner Schatz.« Der sanfte Sopran ihrer Mutter erfüllte den Raum, als sie hereinkam. »Was für Abenteuer erlebst du denn heute?«

Als sie sich über den Teppich beugte, auf dem Tella saß, fiel ihr Haar nach vorn, und die Locken umrahmten ihr Gesicht wie elegante Flüsse. Sie waren genauso dunkelbraun wie die von Scarlett, aber Tella hatte den schimmernden olivenfarbenen Hautton ihrer Mutter geerbt. In diesem Augenblick wurde ihre Mutter jedoch blass, als ihr Blick auf die aufgedeckten Abbildungen der Jungfer Tod und des Prinzen der Herzen fiel.

»Wo hast du die gefunden?« Ihre Stimme behielt den lieblichen Klang, aber ihre Hände griffen so rasch nach den Karten, dass Tella das Gefühl bekam, etwas furchtbar Falsches getan zu haben. Sie tat zwar oft Dinge, die ihr eigentlich verboten waren, aber normalerweise machte das ihrer Mutter nichts aus. Sie wies ihre Tochter sanft zurecht oder verriet ihr manchmal sogar, wie sie mit ihren kleinen Vergehen davonkommen konnte. Ihr Vater war es, der schnell zornig wurde. Ihre Mutter war der sanfte Lufthauch, der seine Funken ausblies, bevor sie zu Flammen werden konnten. Nun sah ihre Mutter jedoch so aus, als wollte sie selbst ein Feuer entfachen und die Karten als Zunder benutzen.

»Ich habe sie im Schmuckkästchen gefunden«, antwortete Tella. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie böse sind.«

»Ist schon gut.« Ihre Mutter strich ihr über die Locken. »Ich wollte dir keine Angst machen, aber nicht einmal ich berühre diese Karten gerne.«

»Warum hast du sie dann?«

Ihre Mutter verbarg die Karten in den Falten ihres Rocks und stellte das Kästchen dann auf ein hohes Regalbrett neben dem Bett, außerhalb von Tellas Reichweite.

Tella befürchtete schon, dass die Unterhaltung damit beendet war – was bei ihrem Vater auch zweifellos der Fall gewesen wäre. Ihre Mutter ignorierte die Fragen ihrer Töchter jedoch niemals. Sobald das Kästchen sicher verstaut war, setzte sich ihre Mutter neben sie auf den Teppich.

»Ich wünschte, du hättest die Karten nie gefunden«, flüsterte sie. »Aber wenn du schwörst, dass du dieses oder ein ähnliches Deck nie wieder berühren wirst, dann erzähle ich dir etwas darüber.«

»Ich dachte, du hast Scarlett und mir gesagt, dass wir niemals schwören sollen.«

»Das hier ist etwas anderes.« Der Anflug ihres Lächelns kehrte zurück, so als würde sie Tella in ein ganz besonderes Geheimnis einweihen. So war es immer: Wenn ihre Mutter beschloss, ihr ganz allein ihre Aufmerksamkeit zu schenken, dann gab sie ihr damit das Gefühl, ein Stern zu sein, um den sich die ganze Welt drehte. »Was habe ich dir immer über die Zukunft gesagt?«

»Jeder Mensch hat die Macht, sich seine eigene zu erschaffen«, antwortete Tella.

»Richtig. Deine Zukunft kann sein, was auch immer du dir wünschst. Wir alle haben die Kraft, unsere Bestimmung zu wählen. Aber, mein Herz, wenn du mit diesen Karten spielst, dann gibst du den Schicksalsmächten, die darauf abgebildet sind, die Möglichkeit, deinen Weg zu ändern. Menschen verwenden Schicksalskarten wie diejenigen, die du gerade berührt hast, um die Zukunft vorherzusagen. Sobald die Zukunft jedoch erst einmal geweissagt wurde, wird sie lebendig, und sie wird hart darum kämpfen, wahr zu werden. Deshalb darfst du diese Karten nie wieder anfassen. Verstehst du das?«

Tella nickte, obwohl sie es eigentlich nicht so ganz verstand. Sie war noch immer in jenem zarten Alter, in dem die Zukunft zu weit entfernt schien, um wahr zu sein. Außerdem entging ihr nicht, dass ihre Mutter ihr nicht erzählte, woher sie die Karten hatte. Und deshalb schlossen sich ihre Finger noch ein kleines bisschen fester um die Karte, die sie immer noch in der Hand hielt.

In ihrer Hast, das Deck aufzuheben, hatte ihre Mutter die dritte Karte, die Tella aufgedeckt hatte, nicht bemerkt. Das Arakel. Vorsichtig schob Tella sie unter ihre verschränkten Beine und sagte: »Ich schwöre, dass ich ein solches Kartendeck nie wieder berühren werde.«

 

 

Tella schwebte nicht länger.

Sie lag auf feuchter Erde und fühlte sich weit entfernt von dem leuchtend hellen, funkelnden Ding, das sie am Abend zuvor gewesen war. Als Legends Privatinsel in bernsteingelbem Licht erstrahlt war und Zauber und Wunder in der Luft gelegen hatten, mit einem Hauch von Lug und Trug. Eine herrliche Mischung. Und Tella hatte darin geschwelgt. Während des Fests, mit dem das Ende von Caraval gefeiert wurde, hatte sie getanzt, bis ihre Schuhe voller Grasflecken waren, und sie hatte Flöten voll schäumendem Wein getrunken, bis sie schwebte. Nun lag sie jedoch mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten, harten Waldboden.

Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, und strich sich stöhnend ein paar Grashalme und Moosreste aus dem Haar. Wenn andere Überbleibsel der Nacht doch nur ebenso leicht fortgewischt werden könnten. Es roch nach schalem Schnaps, Kiefernnadeln und Fehlern. Ihre Haut juckte und kribbelte, und das Einzige, was noch schlimmer war als das Drehen in ihrem Kopf, war die Steifheit in ihrem Rücken und Nacken. Warum hatte sie es noch mal für eine tolle Idee gehalten, unter freiem Himmel zu schlafen?

Neben ihr erklang das nicht sehr zufriedene Stöhnen von jemandem, der gerade dabei war, aufzuwachen.

Sie hob die Lider und spähte zur Seite, dann schloss sie die Augen sofort wieder. Verflixt noch mal.

Sie war nicht allein.

Zwischen den turmhohen Bäumen und dem ungezähmten Grün des Waldbodens hatte sie die Augen gerade lange genug geöffnet, um einen Blick auf einen dunklen Schopf, bronzefarbene Haut, ein vernarbtes Handgelenk und die Hand eines jungen Mannes zu erhaschen. Darauf war die Tätowierung einer schwarzen Rose zu sehen. Dante.

Eine Woge verschwommener Erinnerungen spülte über sie hinweg. Das Gefühl von Dantes erfahrenen Händen auf ihrer Hüfte. Seine Küsse auf ihrem Hals, ihrem Kinn, dann auf ihren Lippen, während ihre Münder einander innig vertraut wurden.

Was zum Teufel hatte sie sich dabei gedacht?

Natürlich wusste sie genau, was sie sich während der Feier der Caraval-Darsteller am Vorabend gedacht hatte. Die Welt hatte nach Magie und Sternenlicht geschmeckt, nach erfüllten Wünschen und wahr gewordenen Träumen, und doch hatte sie darunter noch den Geschmack des Todes auf der Zunge gehabt. Ganz gleich, wie viel Champagner sie trank oder wie warm die Luft vom Tanzen wurde, sie zitterte noch immer bei der eiskalten Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte zu sterben.

Ihr Sprung von Legends Balkon war kein Akt der Verzweiflung gewesen, sondern ein Vertrauensbeweis. Nur eine Nacht lang hatte sie nicht daran denken wollen, und auch nicht daran, warum es so wichtig war. Sie hatte ihren Erfolg feiern und alles andere vergessen wollen. Und Dante schien für beides perfekt geeignet zu sein. Er war attraktiv, er konnte charmant sein, und außerdem war es schon viel zu lange her gewesen, dass sie anständig geküsst worden war. Und, verflixt, Dante konnte küssen.

Mit einem weiteren Stöhnen streckte er sich neben ihr. Seine große Hand landete auf ihrem Rücken, warm und fest und viel verlockender, als sie hätte sein sollen.

Sie musste hier weg, bevor er aufwachte. Doch selbst im Halbschlaf war er so geschickt mit den Händen. Träge strich er ihr über das Rückgrat hinauf zum Hals und vergrub die Hand in ihrem Haar, gerade fest genug, dass sich ihr Rücken durchbog.

Seine Hand verharrte.

Plötzlich wurde sein Atem leiser, was ihr verriet, dass auch er nun wach war.

Sie verbiss sich einen Fluch und stieß sich eilig vom Boden hoch, fort von seinen erstarrten, geschickten Fingern. Es war ihr egal, ob er sie davonschleichen sah, das wäre immer noch weniger peinlich, als erzwungene Höflichkeiten auszutauschen, bevor es endlich einer von ihnen wagte, einen Grund zu erfinden, warum er oder sie dringend gehen musste. Tella hatte genug junge Männer geküsst, um zu wissen, dass man dem, was sie kurz vor oder nach einem Kuss sagten, keinerlei Glauben schenken konnte. Außerdem musste sie wirklich gehen.

Ihre Erinnerungen mochten zwar verschwommen sein, aber irgendwie war es ihr nicht gelungen, den Brief zu vergessen, den sie erhalten hatte, bevor es mit Dante interessant geworden war. Ein Fremder, dessen Gesicht vom Umhang der Nacht verborgen gewesen war, hatte ihr die Nachricht in die Tasche gesteckt und war dann verschwunden, bevor sie ihm hatte folgen können. Sie wollte die Botschaft sofort noch einmal lesen, doch angesichts dessen, was sie diesem Freund schuldete, der ihr den Brief geschickt hatte, wäre das wohl nicht sehr klug. Sie musste in ihr Zimmer zurückkehren.

Feuchte Erde und spitze Baumnadeln steckten zwischen ihren Zehen, als sie sich davonstahl. Ihre Schuhe musste sie irgendwo verloren haben, aber sie wollte keine Zeit damit vergeuden, nach ihnen zu suchen. Der Wald war in träges honigfarbenes Licht getaucht, und hier und da erklang Schnarchen oder Gemurmel, was Tella verriet, dass Dante und sie nicht als Einzige unter den Sternen eingeschlafen waren. Es kümmerte sie nicht, ob einer von ihnen sah, wie sie sich von dem hübschen Jungen fortschlich, doch sie wollte nicht, dass irgendjemand ihrer Schwester davon erzählte.

Dante war während des Verlaufs von Caraval mehr als nur ein bisschen unfreundlich zu Scarlett gewesen. Er arbeitete für Legend, und es war alles bloß Schauspielerei gewesen – aber obwohl Caraval vorüber war, fiel es ihr immer noch schwer, die Wahrheitssplitter aus dem Fantasiegebilde herauszulesen. Tella wollte ihrer Schwester nicht noch mehr wehtun, lediglich weil sie beschlossen hatte, ein bisschen Spaß mit einem Mann zu haben, der während des Spiels so grausam zu ihr gewesen war.

Glücklicherweise schlief die Welt weiter, während sie zuerst den Waldrand und dann Legends turmartiges Haus erreichte.

Selbst jetzt noch, nach dem offiziellen Ende von Caraval und nachdem die Kerzen und Laternen im Inneren gelöscht worden waren, verströmte das Haus den Hauch eines lockenden, bernsteinfarbenen Leuchtens, das sie an all die Kunststücke denken ließ, die hier noch aufgeführt werden würden.

Bis gestern hatte dieses Anwesen die ganze Welt von Caraval beherbergt. Die großen Holztüren hatten die Besucher auf in einem Kreis angeordnete Balkone mit üppig roten Vorhängen geführt, in deren Mitte sich eine Stadt erhob, mit Kanälen und Straßen, die ihren eigenen Kopf hatten, und mit unheimlichen Läden voller zauberhafter Freuden. In der kurzen Zeit seit dem Ende des Spiels war das Turmhaus geschrumpft, und das vergängliche Wunderland darin war verschwunden. Zurückgeblieben waren nur die Teile, die üblicherweise tatsächlich in ein so großes Haus gehörten.

Tella erklomm die nächstliegende Treppe. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Mit seiner runden blaugrünen Tür war es leicht zu finden. Außerdem konnte man auch Scarlett und Julian nicht übersehen, die daneben standen und sich festhielten, als hätten sie vergessen, wie man sich voneinander verabschiedete.

Tella war froh, dass ihre Schwester sich endlich in einem Anflug von Glück verloren hatte. Scarlett verdiente alle Freude im ganzen Kaiserreich, und Tella hoffte, dass es von Dauer sein würde. Sie hatte gehört, dass Julian nicht im Ruf stand, Mädchen hinzuhalten. Er führte Beziehungen nach dem Ende von Caraval nie fort, und nach den Vorgaben hätte er eigentlich gar nicht bei Scarlett bleiben sollen, nachdem er sie auf Legends Insel gebracht hatte. Aber er war ein professioneller Lügner, was es ihr schwer machte, ihm zu vertrauen. Doch wie die beiden dort beieinanderstanden – die Arme umeinander gelegt und die Köpfe eng beisammen –, sahen sie aus wie zwei Hälften eines Herzens.

Sie sahen sich unverwandt in die Augen, während Tella um sie herum- und auf ihr Zimmer zuschlich.

»Ist das ein Ja?«, murmelte Julian.

»Ich muss erst mit meiner Schwester sprechen«, sagte Scarlett.

Vor ihrer Tür blieb Tella stehen. Sie hätte schwören können, dass der Brief in ihrer Tasche plötzlich schwer wurde, als würde er ungeduldig darauf warten, endlich noch einmal gelesen zu werden. Wenn Julian ihre Schwester jedoch gerade das gefragt hatte, was Tella hoffte, dann musste sie bei dieser Unterhaltung dabei sein.

»Über was möchtest du mit mir sprechen?«, rief sie.

Scarlett löste sich von Julian, aber er ließ die Hände auf ihrer Hüfte, die Finger mit den sich rot färbenden Bändern ihres Kleides verwoben. Er wollte sie eindeutig nicht loslassen. »Ich habe deine Schwester gerade gefragt, ob ihr beide uns nach Valenda zur Feier von Kaiserin Elantines fünfundsiebzigstem Geburtstag begleitet. Es wird ein weiteres Caraval geben, und ich habe zwei Eintrittskarten.« Er zwinkerte.

Tella warf Scarlett ein Grinsen zu. Genau darauf hatte sie gehofft. Obwohl ein Teil von ihr den Gerüchten, die sie im Laufe der vergangenen Woche gehört hatte, noch immer nicht glauben konnte. Caraval wurde nur einmal im Jahr aufgeführt. Noch nie hatten zwei Spiele so dicht nacheinander stattgefunden. Für die Kaiserin machte jedoch vermutlich sogar Legend eine Ausnahme.

Hoffnungsvoll sah sie ihre Schwester an. »Ich bin überrascht, dass das überhaupt noch eine Frage ist!«

»Ich dachte, du magst den Elantine-Tag nicht, weil er immer deinen Geburtstag überschattet.«

Tella wiegte den Kopf, so als müsste sie ihre Antwort überdenken. Der wahre Grund, warum sie gehen wollte, hatte nichts mit dem Elantine-Tag zu tun, aber ihre Schwester hatte trotzdem recht. Seit Elantine die Kaiserin des Meridianreiches war, galt ihr Geburtstag als Feiertag. Üblicherweise folgte dem Elantine-Tag eine ganze Woche voller Feste und Tänze, eine Zeit der gebeugten Regeln und gebrochenen Gesetze. Auf Trisda, der Heimatinsel der Mädchen, wurde nur einen Tag lang gefeiert, nämlich am sechsunddreißigsten Tag der Wachstumsjahreszeit, aber er überschattete Tellas Geburtstag, der unglücklicherweise auf den darauffolgenden Tag fiel, trotzdem.

»Einen Besuch in Valenda ist es wert«, sagte sie. »Wann reisen wir ab?«

»In drei Tagen«, antwortete Julian.

Scarlett schürzte die Lippen. »Tella, das müssen wir erst besprechen.«

»Ich dachte, du wolltest schon immer mal in die Hauptstadt, um all die Schlösser zu sehen und die durch die Luft fliegenden Kutschen, und das wird das Fest des Jahrhunderts! Was gibt es da noch zu besprechen?«

»Der Graf.«

Julians braune Haut wurde grau.

Mit Tellas Gesicht geschah vermutlich dasselbe.

»Der Graf lebt in Valenda, und er darf dich nicht sehen«, sagte Scarlett.

Sie war schon immer die Übervorsichtige von ihnen beiden gewesen, aber in diesem Punkt konnte Tella ihr keinen Vorwurf machen.

Graf Nicolas d’Arcy war Scarletts früherer Verlobter. Ihr Vater hatte die Hochzeit arrangiert. Vor Caraval hatte Scarlett ihm nur Briefe geschrieben, aber sie hatte geglaubt, ihn zu lieben. Sie hatte auch geglaubt, dass er sie und Tella beschützen würde – bis sie ihn während des Spiels kennengelernt und erfahren hatte, was für ein abscheulicher Mensch er war.

Ihre Sorgen seinetwegen waren berechtigt. Wenn der Graf herausfand, dass Tella noch lebte, dann würde er ihren Vater darüber informieren – der glaubte, Tella wäre tot –, und das würde alles zerstören.

Wenn Tella jedoch nicht mit Legend und seinen Darstellern in die Hauptstadt des Kaiserreiches reiste, dann würde ebenfalls alles scheitern. Bisher hatte sie zwar noch keine Gelegenheit gehabt, den Brief ihres Freundes ein weiteres Mal zu lesen, aber sie wusste, was er wollte, und sie würde es ihm niemals besorgen können, wenn sie von Legend und seinen Darstellern getrennt wurde.

Während ihrer Zeit in Caraval war sich Tella nicht sicher gewesen, wer alles für Legend arbeitete. Doch auf dem Schiff nach Valenda würden sich alle seine Darsteller befinden – vielleicht sogar Legend selbst. Das würde ihr endlich die Gelegenheit geben, an das heranzukommen, was ihr Freund von ihr verlangte.

»Der Graf ist so mit sich selbst beschäftigt, dass er mich vermutlich nicht einmal dann erkennen würde, wenn ich ihm eine Ohrfeige verpassen würde«, sagte sie. »Wir haben uns nur einen Moment lang gesehen, und da war ich nicht gerade in Bestform.«

»Tella …«

»Ich weiß, ich weiß, du möchtest, dass ich ernst bleibe«, fiel sie Scarlett ins Wort. »Ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich bin mir der Gefahr vollkommen bewusst, aber ich finde nicht, dass wir Angst haben sollten. Genauso gut könnten wir bei einem Schiffsunglück sterben, doch wenn wir uns von der Furcht davor aufhalten lassen, dann können wir diese Insel nie wieder verlassen.«

Scarlett verzog den Mund und wandte sich dann an Julian. »Könntest du uns beide kurz alleine lassen?«

Er raunte ihr etwas ins Ohr, so leise, dass Tella es nicht verstehen konnte. Was auch immer er sagte, ließ Scarlett erröten. Dann ging er, und Scarletts Mund wurde schmal, während sie Tella in ihr Zimmer begleitete und die Tür hinter ihnen schloss.

Überall im Raum lagen Kleidungsstücke herum. Aus den Schubladen einer Kommode, auf der mehrere Hüte lagen, schauten Strümpfe hervor, und ein Pfad aus Capes, Kleidern und Unterröcken führte zu ihrem Bett, auf dem sich ein wackeliger Haufen Felle türmte, die sie beim Kartenspiel gewonnen hatte.

Sie wusste, dass Scarlett sie für faul hielt, aber Tella hatte eine Theorie: Ordentliche Zimmer konnte man leicht unbemerkt durchsuchen, weil es einfach war, sorgfältig arrangierte Dinge wieder genau auf ihren ursprünglichen Platz zu stellen. Ihr Chaos konnte man dagegen nur sehr schwer nachahmen. Mit einem Blick erfasste sie, dass es niemand gewagt hatte, Hand an ihre persönliche Katastrophe zu legen. Alles schien unberührt zu sein, allerdings stand nun ein zusätzliches Bett im Raum. Es musste entweder wie von Zauberhand erschienen sein, oder – was wahrscheinlicher war – man hatte es für ihre Schwester heraufgebracht.

Sie wusste nicht, wie lange sie beide auf der Insel bleiben durften, und sie war erleichtert, dass man sie nicht sofort weggejagt hatte. Allerdings wäre Scarlett vielleicht eher dazu bereit, nach Valenda zu reisen, falls man sie tatsächlich wegschickte. Tella wollte jedoch nicht, dass ihre Schwester zu irgendetwas gezwungen wurde, sie hoffte, dass sich Scarlett von sich aus dazu entscheiden würde. Obwohl sie verstand, warum ihre Schwester zögerte. Während des letzten Spiels war Tella gestorben. Das war aber ihre eigene Entscheidung gewesen, und sie hatte gute Gründe dafür gehabt. Und sie hatte nicht vor, noch einmal zu sterben. Für sie war es genauso entsetzlich gewesen wie für Scarlett. Außerdem gab es noch so viele Dinge, die sie tun wollte – und tun musste.

»Scar, ich weiß, du denkst, ich hätte es da draußen nicht ernst gemeint, aber ich glaube wirklich, dass wir damit anfangen müssen, glücklich statt ernst zu sein. Ich sage ja nicht, dass wir an Caraval teilnehmen müssen, doch ich finde, wir sollten wenigstens mit Julian und den anderen nach Valenda reisen. Was nützt uns unsere wunderbare Freiheit, wenn wir sie nicht genießen? Wenn wir weiter so leben, als wären wir noch immer unter den schweren Fäusten unseres Vaters gefangen, dann hat er gewonnen.«

»Du hast recht.«

Sie musste sich verhört haben. »Hast du gerade gesagt, dass ich recht habe?«

Scarlett nickte. »Ich habe es satt, immer nur Angst zu haben.« Sie klang nervös, aber die Art, wie sie das Kinn hob, wirkte beinahe entschlossen. »Ich möchte lieber nicht noch einmal am Spiel teilnehmen, doch ich möchte Julian nach Valenda begleiten. Ich will mich nicht selbst hier gefangen halten, so wie unser Vater uns auf Trisda gefangen gehalten hat.«

Eine Woge von Stolz erfasste Tella. Auf Trisda hatte sich Scarlett an ihre Angst geklammert, als würde sie das schützen, aber nun sah Tella, wie ihre Schwester darum kämpfte, sich von der Angst frei zu machen. Sie hatte sich während des Spiels wirklich verändert.

»Du hattest recht, als du mich gestern Abend dazu ermutigt hast, Julian noch eine Chance zu geben. Ich bin froh, dass wir zum Fest gegangen sind, und ich weiß, dass ich es bereuen werde, wenn ich nicht mit ihm gehe. Aber wenn wir nach Valenda reisen, dann musst du mir versprechen, vorsichtig zu sein. Ich kann dich nicht noch einmal verlieren.«

»Keine Sorge. Ich verspreche es.« Feierlich ergriff sie die Hände ihrer Schwester und drückte sie. »Ich genieße meine Freiheit viel zu sehr, um zuzulassen, dass ich sie wieder einbüße. Und solange wir uns in der Hauptstadt befinden, werde ich einfach unglaublich bunte Kleider tragen, damit du mich nie verlieren kannst.«

Scarletts Lippen formten ein Lächeln. Tella sah, wie sie dagegen ankämpfte, doch dann brach sie in ihr melodisches Lachen aus. Das Glück machte sie sogar noch schöner.

Tella kicherte mit ihr, bis sie beide so breit grinsten, als wären Sorgen bloß etwas für andere Leute. Doch sie konnte den Brief in ihrer Tasche nicht vergessen, der sie daran erinnerte, dass es noch eine Schuld gab, die abgezahlt, und eine Mutter, die gerettet werden musste.

 

Sieben Jahre waren vergangen, seit Tellas und Scarletts Mutter Paloma verschwunden war.

Es hatte eine Zeit gegeben – etwa eineinhalb Jahre nachdem ihre Mutter fortgegangen war –, da hatte Tella glauben wollen, ihre Mutter wäre tot. Denn wenn sie noch lebte, dann hatte sie sich entschieden, niemals zu ihren Töchtern zurückzukehren, was bedeutete, dass sie die beiden nie wirklich geliebt haben konnte. Wenn Paloma aber tot war, dann war es möglich, dass sie Scarlett und Tella doch geliebt hatte.

Also hatte sich Tella jahrelang an die Hoffnung geklammert, dass ihre Mutter gestorben war. Denn ganz gleich, wie sehr sie es auch wollte, sie konnte einfach nicht aufhören, sie zu lieben, und der Gedanke, dass diese Liebe nicht erwidert wurde, schmerzte zu sehr.

Tella zog den Brief hervor, den sie von ihrem Freund erhalten hatte. Scarlett war gegangen, um Julian zu sagen, dass sie mit ihm nach Valenda gehen würden. Da Tella nicht wusste, wie lange sie fort sein würde, las sie eilig.

Ihre Kopfschmerzen kehrten zurück, aber dieses Mal hatte es nichts mit dem Wein oder Champagner zu tun, den sie am Vorabend getrunken hatte. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas an dem Brief fehlte. Sie hätte schwören können, dass da noch mehr gewesen war, als sie ihn auf dem Fest gelesen hatte.

Sie hielt die Nachricht gegen das karamellgelbe Licht, das durch die Fenster hereinfiel. Doch es wurden keine verborgenen Zeilen sichtbar. Keine Worte formten sich vor ihren Augen. Im Gegensatz zu Legend versah ihr Freund seine Briefe nicht mit Zaubertricks, obwohl sie oft hoffte, er würde es tun. Vielleicht würde sie dann herausfinden können, wer er war.

Vor über einem Jahr hatte sie zum ersten Mal Kontakt zu ihm aufgenommen, damit er ihr und ihrer Schwester dabei half, ihrem Vater zu entkommen. Aber Tella hatte noch immer keine Ahnung, um wen es sich bei ihrem Freund handelte. Eine Weile hatte sie sich gefragt, ob ihr niemand anderer als Legend selbst schrieb. Ihr Freund und Legend konnten jedoch nicht ein und dieselbe Person sein – das machte die Bezahlung, die ihr Freund verlangte, mehr als deutlich.

Diese Schuld hatte sie noch nicht getilgt. Aber nun, da sie und Scarlett mit Legends Darstellern nach Valenda reisen würden, war sie zuversichtlicher, dass es ihr gelingen würde. Es musste ihr gelingen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Brief ihres Freundes versteckte und ihren kleinsten Koffer öffnete – denjenigen, den die Spieler im Laufe von Caraval nicht hatten durchwühlen dürfen. Er war voller Geld, das sie ihrem Vater gestohlen hatte. Doch das war nicht der einzige Schatz darin. Das Innenfutter bestand aus einem unansehnlichen Brokatstoff in Limettengrün und dunklem Orange, den sich sicher niemand genau genug ansehen würde, um den Schlitz an einer Ecke zu erkennen. Dort hatte sie den Auslöser für diese ganze Situation versteckt: Das Arakel.

Wie immer prickelten ihre Finger, als sie die unheilvolle kleine Karte hervorzog. Nachdem ihre Mutter verschwunden war, hatte ihr Vater vor Wut den Verstand verloren. Vorher war er nie ein gewalttätiger Mann gewesen, doch als seine Frau ihn verließ, änderte sich das schlagartig. Er hatte ihre Kleider in die Gosse geworfen, ihr Bett zu Feuerholz zerhackt und alles andere zu Asche verbrannt. Das Einzige, was diesem Schicksal entronnen war, waren die Scharlachohrringe, die Paloma zuvor Scarlett gegeben hatte; der Opalring, den Tella gestohlen hatte; und die unheimliche Karte in Tellas Hand. Wenn sie die Karte und den Ring nicht unmittelbar vor dem Fortgehen ihrer Mutter an sich genommen hätte, dann wäre ihr nun nichts als die bloße Erinnerung an sie geblieben.

Der Opalring hatte kurz nach Palomas Verschwinden die Farbe gewechselt, er war nun feuerrot und lila. Die Ränder der Arakelkarte bestanden noch immer aus zerflossenem Gold, aber das Bild in der schimmernden Mitte hatte sich seither zahllose Male verändert. Als sie die Karte aus dem Deck der Schicksalskarten ihrer Mutter gestohlen hatte, da hatte sie nicht gewusst, worum es sich dabei handelte. Selbst als sie ein paar Tage später in den Spiegel geblickt und dicke Tränen gesehen hatte, die ihr die Wangen hinabliefen – genau das Bild, das auf der Karte erschienen war –, hatte sie es nicht begriffen. Erst nach einiger Zeit hatte sie bemerkt, dass die Dinge, die das Arakel zeigte, immer wahr wurden.

Zuerst waren die Bilder noch unzusammenhängend gewesen: eine Magd, die Tellas Lieblingskleid anprobierte; ihr Vater, der beim Kartenspiel betrog. Dann wurden die Zukunftsvisionen immer beunruhigender, bis Tella eines Tages, kurz nach Scarletts Verlobung mit dem Grafen, das verstörendste von allen Bildern erblickte.

Scarlett trug darauf ein schneeweißes Hochzeitskleid, verziert mit Rubinen und Blütenblättern und hauchzarter Spitze. Es hätte schön sein müssen. Doch in der Vision des Arakels war es mit Schlamm und Blut und Tränen befleckt, und Scarlett schluchzte untröstlich in ihre Hände.

Das grauenhafte Bild hatte sich monatelang nicht verändert, so als ob die Karte Tella ermahnen wollte, die arrangierte Hochzeit ihrer Schwester zu verhindern und damit die Zukunft zu verändern. Nicht, dass Tella die Ermutigung gebraucht hatte. Sie war bereits dabei, sich einen Plan auszudenken, wie sie und ihre Schwester ihrem tyrannischen Vater entkommen konnten. Legend und Caraval waren Teil dieses Plans. Wenn es etwas gab, das ihre risikoscheue Schwester dazu verführen konnte, die Chance auf ein neues Leben zu ergreifen, dann war es Caraval. Doch Legend hatte auf keinen von Tellas Briefen geantwortet, genauso wenig wie auf Scarletts.

Das Bild auf dem Arakel brachte Tella dazu, weitere Informationen über Legend einzuholen. Es gab wilde Gerüchte, dass Legend während eines Spiels vor mehreren Jahren jemanden umgebracht hatte, und Tella hoffte, seine Aufmerksamkeit erregen zu können, wenn sie mehr darüber herausfand.

Um ihre Suche anzutreiben, löste sie jeden Gefallen ein, den ihr andere Menschen schuldeten, bis man ihr den Rat gab, an ein Unternehmen namens »Elatines Meistgesuchte« zu schreiben. Vermutlich handelte es sich dabei um ein Geschäft in Valenda, der Hauptstadt des Meridianreiches. Niemand konnte ihr sagen, was für Geschäfte dort genau abgewickelt wurden, aber nachdem Tella um Informationen über Legend gebeten hatte, erhielt sie ein Schreiben des Unternehmens, in dem stand:

Als Tella antwortete und um den Namen dieses Mannes bat, kam ein Brief von ihm direkt zurück.

Daraufhin nahm Tella an, dass ihr Freund ein Krimineller sein musste, doch er war ihr seither ein kluger und verlässlicher Berichterstatter gewesen.

Die Informationen, die er ihr über Legend gab, waren nicht das, was sie erwartet hatte, aber Tella verwendete sie trotzdem. Wieder schrieb sie an Legend und bat ihn um Hilfe.

Dieses Mal hatte sie Erfolg. Legend antwortete, und sobald er zugestimmt hatte, ihr und ihrer Schwester bei der Flucht vor ihrem Vater zu helfen, veränderte sich das Bild des Arakels. Es zeigte nicht mehr Scarlett in einem zerstörten Hochzeitskleid, sondern Scarlett auf einem verschwenderischen Ball, in einem Rubinkleid, mit dem sie die Blicke aller Männer auf sich zog, an denen sie vorüberging. Dies war die Zukunft, die sich Tella für ihre Schwester wünschte, voller Glanz, Feste und Wahlmöglichkeiten.

Leider war schon am nächsten Tag eine weitere Zukunftsvision erschienen, die sich seither nicht mehr verändert hatte.

Tella wusste nicht, ob die Zauberkarte ihr auch an diesem Tag dasselbe grässliche Bild zeigen würde. Nach allem, was während des Spiels geschehen war, hoffte sie, dass es sich vielleicht verändert hatte.

Doch das hatte es nicht.

Alle Luft und Hoffnung wich aus ihrer Brust.

Die Karte zeigte noch immer ihre Mutter. Sie sah aus wie eine verwahrloste Version der Gefangenen, die auf einer der Schicksalskarten gezeigt wurde. Blutbefleckt und hinter groben Eisenstangen in einer düsteren Gefängniszelle eingesperrt.

Dies war die Zukunft, die Tella dazu gebracht hatte, ihren Freund zu fragen, ob er ihr auch dabei helfen konnte, ihre Mutter zu finden. Ihre frühere Suche nach Paloma hatte nichts ergeben, doch ihr Freund saß nicht auf einer Insel im Nirgendwo fest wie Tella, und er hatte eindeutig bessere Ideen und Methoden, wenn es um eine solche Suche ging.

Seine Antwort kannte sie auswendig.

Diese Neuigkeit über Palomas Namen war das Einzige, was Tella über ihre Mutter herausgefunden hatte, seit sie vor sieben Jahren fortgegangen war. Das gab ihr echte Hoffnung. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr Freund Legends Namen wollte, ob nun zu persönlichen Zwecken oder für einen anderen Auftraggeber, aber es war ihr gleich. Sie würde tun, was nötig war, um Legends Namen aufzudecken. Falls ihr das gelang, dann würde sie ihre Mutter endlich wiedersehen, daran glaubte sie fest. Ihr Freund hatte sie auch zuvor nicht enttäuscht.

»Meine Güte!«

Als Tella aufblickte, sah sie, wie Scarlett mit aufgerissenen Augen ins Zimmer trat. »Woher hast du diese vielen Münzen?« Sie deutete auf Tellas offenen Koffer.

Bei dem Wort »Münzen« fiel es ihr plötzlich wieder ein. Ihr Freund hatte eine merkwürdige Münze in den letzten Brief eingeschlagen, den er ihr geschickt hatte. Das war es, was gefehlt hatte! Sie musste ihr aus der Tasche gerutscht sein, als sie sich mit Dante auf dem Waldboden umhergewälzt hatte.

Sie musste sofort zurück in den Wald und die Münze finden. Sie schob das Arakel in die Tasche und stürmte zur Tür.

»Wohin willst du?«, rief Scarlett ihr nach. »Sag mir nicht, dass du das Geld gestohlen hast!«

»Keine Sorge«, antwortete sie. »Ich habe es von unserem Vater genommen, und der hält mich für tot.«

Bevor Scarlett noch etwas sagen konnte, eilte Tella hinaus.

Sie lief so schnell, dass sie bereits vor dem Turmhaus auf einer Straße stand, die von Läden in Hutschachtelform gesäumt wurde, als ihr auffiel, dass sie immer noch barfuß war. Ein Fehler, wie sie schnell erkannte.

»Bei Gottes Zähnen!«, keuchte sie. Sie hatte erst die halbe Strecke zum Wald zurückgelegt und sich schon zum dritten Mal den Zeh angestoßen. Dieses Mal war sie sicher, dass der Stein urplötzlich aus der Kopfsteinpflasterstraße hochgeschossen war, um ihren nackten Fuß zu attackieren. »Ich schwöre, wenn mir noch einer von euch in den Zeh beißt, dann werfe ich euch in den Ozean, wo sich die Meerjungfrauen mit euch den Hin…«

Sie hörte ein leises, tiefes und entnervend vertrautes Lachen.

Sie befahl sich selbst, sich nicht umzudrehen. Ihrer Neugier nicht nachzugeben. Doch wenn man ihr etwas verbot – sogar wenn sie selbst es war, die es sich verbot –, dann wollte sie genau das nur umso dringender tun.

Vorsichtig warf sie einen raschen Blick über die Schulter und bereute es sofort.

Dante schlenderte auf der anderen Seite der stillen Straße entlang, den amüsierten Blick auf sie geheftet.

Sie sah weg und hoffte, wenn sie ihn ignorierte, dann würde er einfach auf seiner Straßenseite bleiben und so tun, als hätte er sie nicht gerade dabei erwischt, wie sie einen Stein beleidigte.

Stattdessen überquerte er die Straße und kam mit seinen unglaublich langen Beinen direkt auf sie zu. Dabei grinste er so breit, als hätte er ein Geheimnis.

 

Tella sagte sich, dass ihr Magen bloß deshalb rebellierte, weil sie an diesem Morgen noch nichts gegessen hatte. Dante mochte zwar auf dem Waldboden geschlafen haben, aber an seinen polierten Stiefeln klebte nicht einmal ein Grashalm. In seinen tintenschwarzen Kleidern und ohne Krawatte sah er aus wie ein dunkler Engel ohne Flügel, der vom Himmel gestürzt und auf den Füßen gelandet war.

Plötzlich sah Tella vor sich, wie er sich ihr auf dem Fest in der vergangenen Nacht genähert hatte. Wieder vollführte ihr Magen einen Salto. Als sie ihn begrüßt hatte, war er so desinteressiert gewesen, dass es schon an Ignoranz grenzte. Doch sie hatte bemerkt, dass er sie den ganzen Abend aus der Ferne beobachtete – nur einzelne Blicke hier und da –, bis er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und sie küsste, bis ihre Knie nachgaben.

»Bitte unterbrich eine so interessante Unterhaltung nicht meinetwegen«, sagte er und holte sie damit in die Gegenwart zurück. »Ich bin sicher, dass ich schon ausgefallenere Flüche gehört habe.«

»Hast du dich gerade über meine Schimpfwortwahl beschwert?«

»Ich dachte, ich hätte damit eher um noch mehr schmutzige Wörter gebeten.« Seine Stimme wurde so tief, dass sich die Bänder der Schnürung am Rücken ihres Kleids kräuseln mussten.

Aber das hier war Dante. So sprach er mit allen Mädchen. Er warf ihnen sein verheerendes Lächeln zu und sagte diese verruchten und verlockenden Dinge, bis sie sich die Bluse aufknöpften oder die Röcke rafften. Dann tat er so, als gäbe es sie gar nicht. Sie hatte diese Geschichten im Verlauf von Caraval gehört. Also hätte sie eigentlich getrost davon ausgehen können, dass er nach der letzten Nacht nie wieder mit ihr sprechen würde, und genau das war es, was sie wollte.

Sie hatte die Küsse genossen, und vielleicht hätte sie sich irgendwann zu einer anderen Zeit auch zu mehr verführen lassen, doch das Problem war, dass dieses Mehr auch immer mehr Gefühle mit sich brachte. Wie die Liebe. Mit der Liebe wollte sie nichts zu tun haben. Sie hatte schon vor Langem begriffen, dass dies nicht ihr Schicksal war. Sie hatte sich selbst die Freiheit gegeben, so viele Jungen und Männer zu küssen, wie sie wollte, aber niemals öfter als einmal.

»Was willst du?«, fragte sie.

Seine Augen weiteten sich gerade genug, um zu verraten, dass ihr scharfer Tonfall ihn überraschte, doch seine Stimme blieb freundlich, als er antwortete: »Das hier hast du gestern Nacht im Wald verloren.« Er hielt ihr eine große Handfläche hin, auf der eine dicke Messingmünze lag, mit einer unvollständigen Prägung, die an ein halbes Gesicht erinnerte.

Er hatte ihre Münze! Sie musste sich schwer beherrschen, um sich nicht sofort darauf zu stürzen, was wohl nicht sehr klug gewesen wäre.

»Danke, dass du sie aufgehoben hast«, antwortete sie kühl. »Sie ist nicht wertvoll, aber ich trage sie gerne als Glücksbringer bei mir.«

Sie streckte die Hand danach aus.

Dante zog den Arm zurück, warf die Münze in die Luft und fing sie wieder auf. »Interessante Wahl für einen Glücksbringer.« Plötzlich wirkte er ernster. Seine dunklen Brauen zogen sich über den kohlschwarzen Augen zusammen, während er die Münze zwischen den tätowierten Fingern tanzen ließ. »Ich habe während der Spiele ja schon so einige merkwürdige Dinge gesehen, doch noch nie jemanden, der so eine hier als Glücksbringer mit sich herumträgt.«

»Ich bin wohl gerne originell.«

»Oder du hast keine Ahnung, was das ist.« Nun schwang Belustigung in seiner klangvollen Stimme mit.

»Und was, glaubst du, ist es?«

Wieder warf er die Münze in die Luft. »Man sagt, die Schicksalsmächte hätten sie gemacht. Man nennt sie auch die ›unglückseligen Münzen‹.«

»Kein Wunder, dass sie als Glücksbringer nicht funktioniert hat.« Sie brachte ein Lachen zustande, aber etwas – vielleicht ihre eigene Dummheit – nagte an ihr, weil sie nicht erkannt hatte, was das für eine Münze war.

Seit sie die Schicksalskarten ihrer Mutter gefunden hatte, war sie geradezu besessen von den Schicksalsmächten gewesen. Es hatte zweiunddreißig von ihnen gegeben: sechzehn Unsterbliche, acht Orte und acht Gegenstände. Sie alle waren für jeweils eine bestimmte Macht bekannt, doch das war nicht der einzige Grund, warum sie vor Jahrhunderten beinahe die ganze Welt regiert hatten. Man sagte, sie könnten von Sterblichen nicht getötet werden und dass sie schneller und stärker waren als diese.

Vor mehreren hundert Jahren, bevor sie verschwunden waren, hatten die Schicksalsmächte, die auf den Schicksalskarten abgebildet waren, wie Götter über die Erde geherrscht – wie grausame Götter. Tella las über sie, was sie nur konnte, also hatte sie von den unglückseligen Münzen gehört, aber wenn sie das jetzt zugab, würde sie sich lächerlich vorkommen.

»Man nannte sie unglückselig, weil es immer ein schlechtes Omen war, wenn man eine davon fand«, erklärte Dante. »Angeblich sollen sie über die magische Fähigkeit verfügen, Menschen ausfindig zu machen. Die Schicksalsmächte schoben sie ihren menschlichen Dienern, ihren Liebhabern oder allen anderen, die sie verfolgen oder bei sich behalten oder kontrollieren wollten, in die Tasche. Bis heute habe ich noch nie eine davon in der Hand gehalten, aber ich habe gehört, dass man erkennen kann, welcher der Schicksalsmächte die Münze gehörte.«

Er stellte die Münze aufrecht auf die Kante einer nahe stehenden Bank.

Ein unangenehmer Schauer kroch Tella den Rücken hinauf. Dante schien zwar eine Menge über diese obskuren Geschichten zu wissen, doch sie konnte nicht sagen, ob er wirklich an die Macht der Schicksalsmächte glaubte. Sie tat es jedenfalls.

Die Jungfer Tod sagte angeblich den Verlust eines geliebten Menschen oder eines Familienmitglieds voraus, und nur wenige Tage nachdem sie diese Karte aufgedeckt und die Jungfer mit ihrem Perlenkäfig gesehen hatte, war ihre Mutter fortgegangen. Sie wusste, dass es kindisch war, daran zu glauben, dass die Karte ihr Verschwinden verursacht hatte. Nicht alle kindischen Vorstellungen waren jedoch falsch. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt, die Schicksalsmächte könnten die Zukunft verdrehen. Außerdem hatte Tella zahllose Male gesehen, dass die Dinge, die das Arakel voraussagte, tatsächlich eintrafen.

Sie hielt den Atem an, als Dante die Münze scharf andrehte.

Surr, surr, surr.

Die Münze wirbelte herum, bis die Prägungen auf beiden Seiten allmählich eine feste Form annahmen und wie von Zauberhand miteinander verschmolzen, bis sie ein erbarmungslos vertrautes Bild zeigten. Ein schöner junger Mann mit einem blutigen Lächeln. Es war verheerend, dieses Lächeln, und es rief in Tella Bilder wach: Zähne, die in ein Herz bissen, und Lippen, die gegen eine durchstochene Vene drückten.

So klein das Abbild auch war, sie konnte es deutlich erkennen. Der grausame junge Mann hatte eine Hand an sein spitzes Kinn gehoben. Er umklammerte den Griff eines Dolchs, während ihm rote Tränen aus den Augen liefen, passend zu den Blutflecken in seinen Mundwinkeln.

Der Prinz der Herzen.

Ein Symbol unerwiderter Liebe und nicht wiedergutzumachender Fehler, das Tella jedes Mal wieder mit Grauen und einer morbiden Faszination erfüllte.

Scarlett war ihre halbe Kindheit wie besessen von Legend und Caraval gewesen, Tella dagegen hatte sich vom Prinzen der Herzen wie magisch angezogen gefühlt, seit sie seine Karte aus dem Schicksalsdeck ihrer Mutter gezogen und er ihr so eine Zukunft ohne Liebe geweissagt hatte.

Den Legenden zufolge waren seine Küsse es wert, dafür zu sterben, und Tella hatte sich oft gefragt, wie sich so ein tödlicher Kuss wohl anfühlte. Als sie jedoch älter war und genug junge Männer geküsst hatte, um zu wissen, dass kein Kuss es wert sein konnte, dafür zu sterben, hatte sie allmählich vermutet, dass die Geschichten nur Gleichnisse für die Gefahren der Liebe waren.

Denn man sagte auch, dass der Prinz der Herzen nicht lieben konnte, weil sein Herz schon seit langer Zeit erstarrt war. Bloß ein Mensch konnte es wieder zum Schlagen bringen: seine einzig wahre Liebe. Man sagte, sein Kuss sei für alle tödlich, außer für sie – seine einzige Schwäche. Auf der Suche nach ihr hinterließ er eine Spur aus Leichen.

Wieder kroch ein Gänsehautschauer über ihren Nacken, und sie schlug mit der Hand auf die Münze.

»Dann magst du den Prinzen also nicht besonders?«, fragte Dante.

»Es sah so aus, als würde die Münze gleich umkippen und runterfallen, und dann hätte ich ihr nachjagen müssen.«

Dante hob einen Mundwinkel, er hätte nicht weniger überzeugt aussehen können.

Es war Tella auch nicht entgangen, dass er gerade von dem Prinzen der Herzen gesprochen hatte, als würden er und die anderen Schicksalsmächte noch immer im Kaiserreich umherspazieren und wären nicht schon seit Jahrhunderten verschwunden.

»Ich weiß nicht, warum du diese Münze wirklich mit dir herumträgst«, sagte er. »Doch sei vorsichtig. Es ist noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn die Schicksalsmächte ihre Finger im Spiel hatten.« Er hob den Blick zum Himmel, als würden die Schicksalsmächte ihnen von dort aus zusehen, sie ausspionieren, während sie miteinander redeten.

Dann, bevor Tella noch etwas sagen konnte, schlenderte er mit seinem selbstsicheren Gang davon und ließ Tella mit einer Münze in der Hand zurück, die sich in ihre Haut brannte, und mit dem verblüffenden Gefühl, dass an diesem hübschen Jungen vielleicht doch mehr dran war, als sie ursprünglich angenommen hatte.

 

Tella ertappte sich dabei, wie sie an unerwiderte Liebe dachte und an Küsse, die es wert waren, dafür zu sterben, während sie die unglückselige Münze des Prinzen der Herzen auf derselben Bank wirbeln ließ wie Dante zuvor. Warum hatte ihr Freund ihr ein Relikt aus einer so alten Legende zukommen lassen? Hoffentlich hatte er es nicht deshalb getan, weil er ihr nicht traute und ihrer Spur folgen wollte.

Vielleicht war diese seltene Münze ja auch ein Geschenk ihres Freundes, das sie daran erinnern sollte, wie gut er darin war, Dinge ausfindig zu machen, die für die meisten Menschen nur sehr schwer aufzustöbern waren – eine Erinnerung daran, dass lediglich er wusste, wie sie ihre Mutter finden konnte.

Die Türglocke eines Ladens klingelte. Es war ein zarter, feenheller Klang, aber Tella schnappte sich rasch die Münze und sah die Straße hinunter. Ein junger Mann kam aus einem der Geschäfte geschlendert. Ihr Blick wanderte über das dunkle Rot seines Cutaways hinauf zu seinen strahlend grünen Augen, grüner als die sauberen Bruchkanten eines Smaragds …

Ein purpurner Schleier überzog ihre Sicht.

Sie kannte diesen jungen Mann. Er hatte die Augenklappe abgelegt, die er während der Zeit von Caraval getragen hatte, doch das tintenschwarze Haar, die übertrieben aristokratische Kleidung und der unfassbar hochmütige Ausdruck hatten sich nicht verändert. Das dort war Graf Nicolas d’Arcy – Scarletts früherer Verlobter.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und grub die Fingernägel in die Handflächen. Sie hatte Graf Nicolas d’Arcy nur einmal offiziell getroffen, doch sie hatte ihn im Laufe von Caraval mehrere Male beobachtet. Sie hatte gesehen, wie er ihrer Schwester hinterhergejagt war, und sie hatte gehört, zu welchen unaussprechlichen Taten er fähig gewesen wäre, um sie zu halten, nachdem er sie eingefangen hatte. Scarlett war entkommen, aber Tella hätte ihn erwürgt, ihn vergiftet oder ihm sein schönes Gesicht zerfleischt, wenn Legend ihr nicht in einem seiner Briefe angekündigt hätte, dass er ihre Schwester aus dem Spiel nehmen würde, falls Tella von ihrer Rolle abwich und sich einmischte.

Also war sie zur Tatenlosigkeit verurteilt gewesen.

Aber nun war das Spiel vorbei, und Tella konnte tun, was sie wollte.

Mehrere Geschäfte lagen zwischen ihr und dem Grafen, und er war zu beschäftigt damit, sein Spiegelbild zu bewundern, um Notiz von ihr zu nehmen. Klug wäre es gewesen, wenn sie sich davongeschlichen hätte und in eine andere Straße eingebogen wäre, damit er nicht herausfand, dass sie noch lebte.

Sie hatte es jedoch ernst gemeint, als sie sagte, dass der Graf sie wohl nicht einmal dann erkennen würde, wenn sie ihn ohrfeigen würde. Für das, was er ihrer Schwester während des Spiels angetan hatte, verdiente er mehr als einen Schlag ins Gesicht, aber sie trug leider kein Gift in ihren Taschen mit sich herum.

Sie stürmte auf ihn zu. Vielleicht würde sie noch einen gut gezielten Tritt hinzufügen und …

Da legte sich eine Hand auf ihren Mund, und ein Arm schlang sich um ihre Taille. Sie trat um sich, doch das hielt ihren Angreifer nicht davon ab, sie rückwärts in eine enge Gasse zu ziehen.

»Hände weg von mir!«

Der Angreifer ließ sie los, und sie stolperte vorwärts.

»Schon gut.« Die Stimme war tief und hatte einen beschwingten Akzent. »Ich tue dir nichts, aber lauf nicht weg.«

Sie fuhr herum.

Julians dunkles Haar war noch immer zerzaust von Scarletts Fingern, doch seine Augen sahen nun nicht mehr aus wie warmer, flüssiger Bernstein wie vorhin, als er ihre Schwester angesehen hatte. Sie waren verengt, und sein Blick wirkte hart.

»Julian? Was zum Teufel soll das?«

»Ich versuche, dich vor einem Fehler zu bewahren, den du bereuen würdest.« Sein Blick huschte durch die enge Backsteingasse zu der Straße, auf der sich der abscheuliche Graf Nicolas d’Arcy befand.

»Nein«, widersprach Tella. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich sehr darüber freuen würde, wenn ich diesen Fehler mache. Es wundert mich, dass du ihn nicht auch blutig schlagen willst für das, was mein Vater dir mit seiner Erlaubnis angetan hat.« Sie ruckte mit dem Kinn in Richtung der gezackten Narbe, die von seinem Kiefer bis zum Augenwinkel verlief. Caravals Darsteller konnten wieder zum Leben erwachen, wenn sie während des Spiels starben, aber ihre Narben blieben. Tella hatte gehört, dass Scarletts Verlobter einfach dagestanden und nichts getan hatte, während ihr Vater Julian das Gesicht zerschnitt.

»Glaub mir«, stieß er gepresst hervor. »Ich wollte Armando schon mehr als einmal blutig prügeln, aber …«

»Armando?«, fiel Tella ihm ins Wort. Nicht der Graf. Nicht Nicolas. Nicht d’Arcy oder »dieses miese Stück Dreck Graf Nicolas d’Arcy«. Julian hatte ihn Armando genannt. »Warum hast du Armando zu ihm gesagt?«

»Deiner Miene nach zu urteilen, hast du es schon erraten. Armando war nie mit deiner Schwester verlobt. Er arbeitet für Legend, genau wie ich.«

Sie wankte auf ihren nackten Füßen, als ihr das vertraute Mantra von Caraval wieder einfiel: Erinnert euch daran, dass es nur ein Spiel ist. Wir wollen euch davontragen, doch gebt acht, dass ihr nicht zu weit davongetragen werdet …

Dieser Schuft.

Sie hatte sich für immun gehalten wegen des Briefwechsels, den sie während der Planungsphase von Caraval mit Legend geführt hatte, aber da hatte sie sich offenbar geirrt. Legend hatte sie hereingelegt, genau wie alle anderen. Es war Tella nie in den Sinn gekommen, dass einer der Schauspieler in die Rolle des Verlobten ihrer Schwester geschlüpft war.

Legend – Legenden und Sagen. Er hatte den Namen, den er sich selbst gegeben hatte, wirklich verdient. Sie fragte sich, ob seine Spiele überhaupt jemals endeten oder ob seine Welt ein endloses Labyrinth aus Fantasie und Wirklichkeit war und ob jene, die darin gefangen waren, für immer irgendwo dazwischen hingen.

Ihr gegenüber rieb sich Julian über den Nacken. Er wirkte eher nervös als zerknirscht. Julian war impulsiv. Tella bezweifelte, dass er über die Folgen nachgedacht hatte, die es haben konnte, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Wahrscheinlich hatte er einfach reagiert, als er gesehen hatte, wie sie Armando gefolgt war.

»Meine Schwester hat keine Ahnung davon, oder?«

»Nein. Und fürs Erste möchte ich auch, dass das so bleibt.«

»Willst du etwa, dass ich sie belüge?«

»Es ist ja nicht so, als hättest du das noch nie getan.«

Das ärgerte sie. »Das habe ich zu ihrem Besten getan.«

»Das hier ist auch zu ihrem Besten.« Julian verschränkte die schlanken Arme und lehnte sich an die Wand.

In diesem Moment wusste Tella nicht, ob sie ihn überhaupt mochte. Eine solche Behauptung war abscheulich. Wenn man behauptete, etwas wäre zu jemandes Besten, dann war das fast immer ein Weg, um etwas zu rechtfertigen, was im Grunde falsch war. Da sie es allerdings zuerst behauptet hatte, konnte sie ihm wohl keine Standpauke halten, wie sie es gerne getan hätte.

»In ein paar Tagen reisen wir nach Valenda«, fuhr er fort. »Was glaubst du, wird deine Schwester tun, wenn sie herausfindet, dass sie ihrem wahren Verlobten während des Spiels überhaupt nicht begegnet ist?«

»Sie würde ihn aufsuchen«, räumte sie ein. Das würde nicht schwer werden, da er schließlich in Valenda lebte. Tella hatte es niemals verstanden, aber Scarlett hatte diesen Mann, von dem sie nicht einmal ein Porträt gesehen hatte, wirklich heiraten wollen. Sie hatte ihn sich mit verliebtem Blick vorgestellt und immer das Beste in seine nichtssagenden, unromantischen Briefe hineingelesen.

Scarlett würde vermutlich behaupten, dass sie bloß neugierig war, doch sie kannte ihre Schwester, und sie wusste, dass Scarlett im Grunde ihres Herzens glauben würde, dass sie ihm eine Chance geben musste. Was furchtbare Folgen haben könnte. Wieder sah sie das Bild von Scarlett vor sich, die ein blutiges Hochzeitskleid trug und weinte. Das Arakel zeigte, dass Tella diese Zukunft ausgemerzt hatte, aber es konnte immer noch sein, dass sie trotzdem wahr wurde.

»Es wird Scarlett nicht gefallen, wenn sie herausfindet, dass du sie belogen hast«, sagte sie.

»Ich kämpfe um sie, so sehe ich das.« Er rieb sich über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn. Er klang und wirkte wie ein Mann, der sich ein bisschen zu eifrig in eine Straßenschlägerei stürzte, doch sie spürte, dass echte Leidenschaft hinter seinen Worten lag. Sie war sich noch immer nicht sicher, wie lange seine Liebe zu ihrer Schwester andauern würde, aber in diesem Moment konnte sie sich vorstellen, dass er buchstäblich jede moralische Grenze übertreten würde, um ihr Herz für sich zu behalten. Merkwürdigerweise brachte sie das dazu, ihm ein wenig mehr zu trauen.

Es würde ihr Leben vermutlich einfacher machen, wenn sie seine Bitte zurückwies. Dann würde sich Scarlett keine Sorgen darum machen, dass der Graf sie in Valenda sehen könnte, denn der echte Graf kannte ihr Gesicht nicht. Ganz gleich jedoch, wie viel leichter es alles machen würde, sie konnte nicht riskieren, ihrer Schwester die Wahrheit zu sagen. Eine Verbindung zwischen Scarlett und dem Grafen würde mit gebrochenen Herzen und Verzweiflung enden. Das Arakel hatte es ihr gezeigt, und die Karte hatte Tella noch nie belogen.

»Also gut«, sagte sie. »Ich sage nichts zu Scarlett über Armando.«

Ein halbes Nicken, so als wüsste Julian, dass Tella den Betrug mitspielen würde.

»Trotz allem, was ich während des Spiels getan habe, gefällt es mir nicht, meine Schwester zu belügen.«

»Aber es ist schwer, damit aufzuhören, wenn man einmal damit angefangen hat.«

»Ist es so für dich? Verbringst du so viel Zeit damit zu lügen, dass du nicht mehr die Wahrheit sagen kannst?« Es klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und man musste Julian zugutehalten, dass er nicht zurückschoss.

»Caraval mag dir wie eine Lüge vorkommen, doch es ist mein Leben – meine Wahrheit. Dieses letzte Spiel war für mich genauso wahr wie für deine Schwester. Während sie für dich gekämpft hat, habe ich es für sie getan.« Seine Stimme wurde rauer. »Ich habe sie vielleicht darüber belogen, wer ich bin, aber meine Gefühle für sie waren echt. Ich brauche mehr Zeit mit ihr, bevor sie noch etwas erfährt, weshalb sie an mir zweifeln könnte.«

»Was ist, wenn Scarlett sieht, dass Armando noch auf der Insel ist?«

»Legend schickt ihn nach Valenda voraus, zusammen mit ein paar weiteren Darstellern.«

Wie praktisch.

»Wenn ich das für dich tue, dann verlange ich dafür einen Gefallen«, fügte Tella aus einem Bauchgefühl heraus hinzu.

Julian wiegte den Kopf. »Was für einen Gefallen?«

»Ich will Legends wahren Namen wissen. Wer ist Legend wirklich?«

Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, begann Julian zu lachen. »Sag mir nicht, dass du auch in ihn verliebt bist.«

»Ich weiß es besser, als mich in Legend zu verlieben.«

»Gut – und nein«, sagte Julian, der nun nicht mehr lachte. »Das ist nicht einmal annähernd ein fairer Handel, und selbst wenn es das wäre, könnte ich dir Legends Namen nicht verraten.«