Once Upon a Broken Heart - Stephanie Garber - E-Book

Once Upon a Broken Heart E-Book

Stephanie Garber

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Beschreibung

Es war einmal ... ein Mädchen mit einem gebrochenen Herzen

Evangeline Fox hat immer an Happy Ends geglaubt. Bis sie erfährt, dass die Liebe ihres Lebens kurz davor steht, eine andere zu heiraten, und ihre Träume von jetzt auf gleich zerplatzen. Um die Hochzeit noch rechtzeitig zu verhindern – und ihr eigenes verletztes Herz zu retten –, sieht Evangeline nur einen Ausweg: Sie muss einen Deal mit Jacks, dem charismatischen, aber niederträchtigen Prinz der Herzen eingehen. Als Gegenleistung für seine Hilfe fordert Jacks drei magische Küsse, deren Empfänger und Zeitpunkt er bestimmt. Doch bereits nach ihrem ersten versprochenen Kuss muss Evangeline erkennen, dass der Handel mit einem Unsterblichen ein gefährliches Spiel sein kann – und dass der Prinz der Herzen mehr von ihr will, als sie zu versprechen bereit war. Jacks hat Pläne für Evangeline, die entweder das größte Happy End aller Zeiten nach sich ziehen … oder die vorzüglichste Tragödie.

Von der #1-New-York-Times-Bestsellerautorin der »Caraval«-Reihe: der Auftakt der neuen großen Fantasy-Trilogie über Liebe, Flüche und den Kampf um das eigene Happy End. Die BookTok-Sensation erscheint erstmals auf Deutsch!

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Seitenzahl: 478

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STEPHANIE GARBER

ONCE UPON A BROKEN HEART

Aus dem Englischenvon Diana Bürgel

Wir reduzieren und vermeiden die Emissionen, die an unseren Produkten entstehen, fortlaufend und gleichen die verbliebenen Emissionen über ein Klimaschutzprojekt aus. Weitere Informationen zu dem Projekt: www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001

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© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 by Stephanie Garber

Published by Arrangement with Stephanie Garber

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Once Upon a Broken Heart« bei Flatiron Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Lektorat: Kerstin Fricke

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typographie,

unter Verwendung eines Designs von Donna Sinisgalli Noetzel und mehrerer Bilder von © Shutterstock.com (4 Girls 1 Boy, seksan wangkeeree, AcantStudio, JaySi, pukao)

sh · Herstellung: AW

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-31047-9V002

Printed in the EU

www.cbj-verlag.de

Für jeden, der je aus einem gebrochenen Herzen heraus eine schlechte Entscheidung getroffen hat

Warnungen und Zeichen

An der Art, wie der junge Mann den Kuriositätenladen betrat, erkannte die Türglocke, dass er nichts Gutes mit sich bringen würde. Glocken können hervorragend hören, in diesem Fall brauchte man jedoch keine außergewöhnlichen Fähigkeiten, um das vulgäre Rasseln der Uhrenkette an der Hüfte des jungen Mannes wahrzunehmen oder das grobe Scharren der Stiefel, während er sich an einem prahlerischen Gang versuchte, es dabei jedoch nur fertigbrachte, mit seinem Schlurfen den Boden von »Maximilians Kuriositäten, Extravaganzen & andere Besonderheiten« zu zerkratzen.

Dieser junge Mann bedeutete nichts als Unglück für die junge Frau, die im Laden arbeitete.

Die Glocke hatte versucht, sie zu warnen. Sie klingelte los, volle zwei Sekunden, bevor der junge Mann die Tür öffnete. Im Gegensatz zu den meisten Menschen war diese junge Frau von Besonderheiten umgeben aufgewachsen – und die Glocke vermutete schon lange, dass auch die junge Frau selbst eine Kuriosität war, auch wenn die Glocke nicht wusste, was für eine genau.

Die junge Frau ahnte, dass viele Dinge mehr waren, als sie zu sein schienen, und sie wusste, dass Glocken einen sechsten Sinn besaßen, der den Menschen fehlte. Leider missverstand die junge Frau, die an Hoffnung und Märchen und Liebe auf den ersten Blick glaubte, oft, was die Glocke klingelnd verkündete. An diesem Tag war sich die Glocke ziemlich sicher, dass die junge Frau ihr Warngeläut gehört hatte, doch aus der etwas atemlosen Art, wie sie mit dem jungen Mann sprach, schloss die Glocke, dass ihr verfrühtes Klingeln nicht als Warnung, sondern als verheißungsvolles Zeichen missverstanden worden war.

ERSTER TEIL

Die Sage von Evangeline Fox

1

Die Wispergazette

WOSOLLMANJETZTNOCHFÜRSEINGEBROCHENESHERZBETEN?

Von Kutlass Knightlinger

Die Kirchentür des Prinzen der Herzen ist weg. Die in dem tiefen Blutrot gebrochener Herzen gestrichene Kulttür verschwand im Laufe der Nacht einfach von der Wand einer der meistbesuchten Kirchen des Tempeldistrikts und hinterließ nur undurchdringlichen Marmor. Niemandem ist es noch möglich, die Kirche zu betreten …

Evangeline schob den zwei Wochen alten Zeitungsartikel in die Tasche ihres geblümten Rocks. Die Tür am Ende dieser verkommenen Gasse war kaum größer als Evangeline selbst, und sie war weder wunderschön noch blutrot. Stattdessen verbarg sie sich hinter einem rostigen Metallgitter. Trotzdem hätte Evangeline den Kuriositätenladen ihres Vaters darauf verwettet, dass dies die vermisste Tür war.

Im ganzen Tempeldistrikt gab es nichts, was so unschön aussah. Hier fand man nur geschnitzte Holzvertäfelungen, schmückende Unterbalken, gläserne Sonnensegel und vergoldete Schlüssellöcher. Ihr Vater war ein gläubiger Mann gewesen, aber die Kirchen hier waren seinen Worten zufolge wie Vampire – man hatte sie nicht für Gebete erbaut, sondern um zu verführen und in die Falle zu locken. Diese Tür war jedoch anders. Diese Tür war nur ein grober Holzklotz ohne Klinke und mit abblätternder weißer Farbe.

Diese Tür wollte nicht gefunden werden.

Trotzdem konnte sie vor Evangeline nicht verbergen, was sie wirklich war.

Die Form war unverkennbar. Auf der einen Seite bildete sie einen auslaufenden Bogen, auf der anderen einen zerklüfteten Riss – die eine Hälfte eines gebrochenen Herzens. Das Symbol des Prinzen der Herzen.

Endlich.

Wäre die Hoffnung wie ein Paar Flügel gewesen, dann hätte sie sich jetzt hinter Evangeline entfaltet und ungeduldig darauf gewartet, sich wieder in die Lüfte zu schwingen. Nach zwei Wochen, in denen sie ganz Valenda, jeden Winkel der Stadt, abgesucht hatte, war sie endlich fündig geworden.

Als das Klatschblatt in ihrer Tasche zum ersten Mal über das Verschwinden der Kirchentür des Prinzen der Herzen berichtet hatte, waren nur wenige überzeugt gewesen, dass Zauberei dahintersteckte. Es war der erste Artikel des Skandalblatts gewesen, und man hatte gemunkelt, es sei nur ein Schwindel, um Abonnements zu verkaufen. Türen verschwanden nicht einfach.

Evangeline glaubte jedoch, dass sie das durchaus konnten. Die Geschichte hatte sich nicht nach einem Trick angefühlt, sondern nach einem Zeichen, das ihr verriet, wo sie suchen sollte, wenn sie ihr Herz und denjenigen, dem es gehörte, retten wollte.

Außerhalb des Kuriositätenladens ihres Vaters mochte sie vielleicht noch nicht sonderlich viele Beweise für Magie gesehen haben, doch sie glaubte fest daran, dass sie existierte. Ihr Vater Maximilian hatte immer über Magie gesprochen, als wäre sie echt. Und ihre Mutter stammte aus dem Fantastischen Norden, wo es zwischen Historie und Märchen keinen Unterschied gab. In allen Geschichten stecken Wahrheit und Lüge, hatte sie immer gesagt. Was zählt, ist die Art, wie wir an sie glauben.

Und Evangeline besaß eine Gabe, wenn es darum ging, an Dinge zu glauben, die andere als Mythen betrachteten – wie die unsterblichen Schicksalsmächte.

Sie öffnete das Metallgitter. Die Tür selbst hatte keine Klinke, weshalb Evangeline die Finger in den winzigen Spalt zwischen der gezackten Kante und der schmutzigen Steinmauer zwängen musste.

Die Tür stach sie in den Finger, raubte ihr einen Tropfen Blut, und Evangeline hätte schwören können, dass eine splittrige Stimme flüsterte: Weißt du, in was du dich da vorwagst? Es wird dir nur das Herz brechen.

Doch Evangelines Herz war bereits gebrochen, und sie wusste, welches Risiko sie einging. Sie kannte die Regeln, wenn man eine der Kirchen der Schicksalsmächte besuchte:

Versprich stets weniger, als du geben kannst, denn die Schicksalsmächte nehmen dir immer mehr.

Lass dich auf keinen Handel mit mehr als einer Schicksalsmacht ein.

Und, vor allem, verliebe dich niemals in eine Schicksalsmacht.

Es gab sechzehn unsterbliche Schicksalsmächte, und sie waren eifersüchtige und besitzergreifende Geschöpfe. Bevor sie vor Jahrhunderten verschwunden waren, hatten sie den Sagen zufolge über die Welt geherrscht und ihre Magie war ebenso grausam wie wunderbar. Sie brachen niemals eine Vereinbarung, doch sie schadeten oft jenen, denen sie halfen. Trotzdem kamen die meisten – selbst jene, die Schicksalsmächte für nichts als Mythen hielten – irgendwann an einen Punkt, an dem sie verzweifelt genug waren, um zu ihnen zu beten.

Evangeline war schon immer neugierig gewesen, was ihre Kirchen betraf, doch sie wusste genug über die Launenhaftigkeit der Schicksalsmächte und die schicksalhaften Pakte mit ihnen, um diese Kultstätten zu meiden. Bis vor zwei Wochen, als sie zu einer jener Verzweifelten geworden war, die in Geschichten als warnende Beispiele auftauchten.

»Bitte«, flüsterte sie der herzförmigen Tür zu und ließ jene wilde, zerbrechliche Hoffnung in ihre Stimme fließen, die sie hierhergeführt hatte. »Ich weiß, was für ein kluges kleines Ding du bist. Aber du hast mir erlaubt, dich zu finden. Lass mich rein.«

Mit einem letzten Ruck zog sie am Holz.

Dieses Mal schwang die Tür auf.

Evangelines Herz hämmerte, als sie den ersten Schritt tat. Während ihrer Suche nach der verschwundenen Tür hatte sie gelesen, dass die Kirche des Prinzen der Herzen für jeden Besucher anders roch. Immer nach dessen schlimmstem Herzschmerz.

Als Evangeline jedoch die kühle Kathedrale betrat, erinnerte sie nichts darin an Luc – nicht einmal ein Hauch von Wildleder oder Vetiver. In dem düsteren Eingang der Kirche roch es leicht süßlich und metallisch: Äpfel und Blut.

Eine Gänsehaut überlief ihre Arme. Dies hier hatte nichts von dem jungen Mann, den sie liebte. Der Bericht, den sie gelesen hatte, stimmte nicht. Trotzdem drehte sie sich nicht um. Sie wusste, dass Schicksalsmächte weder Heilige noch Retter waren, dennoch hoffte sie, der Prinz der Herzen wäre vielleicht etwas empfindsamer als die anderen.

Ihre Schritte führten sie weiter in die Kathedrale hinein. Alles hier war entsetzlich weiß. Weiße Teppiche, weiße Kerzen, weiße Gebetsbänke aus weißer Eiche, weißer Espe und blättriger weißer Birke.

Evangeline passierte Reihe um Reihe nicht zusammenpassender Bänke. Irgendwann mussten sie einmal hübsch gewesen sein, doch nun fehlten einige der Stützbeine, und die Polster waren aufgerissen. Ein paar der Bänke waren in der Mitte zerbrochen.

Zerbrochen.

Zerbrochen.

Zerbrochen.

Kein Wunder, dass die Tür sie nicht hatte eintreten lassen wollen. Vielleicht war diese Kirche gar nicht unheilvoll, sondern traurig …

Ein schroffes Geräusch zerriss die Stille.

Evangeline fuhr herum und schluckte ein erschrockenes Keuchen hinunter.

Mehrere Reihen hinter ihr schien ein junger Mann in einer verschatteten Ecke zu trauern oder eine Art Selbstkasteiung durchzuführen. Wilde Goldlocken hingen ihm in die Stirn, er hielt den Kopf gesenkt und zerrte an den Ärmeln seines burgunderroten Mantels.

Ihr Herz zog sich zusammen, während sie ihn musterte. Sie wollte ihn schon fragen, ob er vielleicht Hilfe brauchte, aber wahrscheinlich hatte er sich diese Ecke ausgesucht, weil er nicht gestört werden wollte.

Außerdem blieb ihr nicht mehr viel Zeit.

Es gab keine Uhren in der Kirche, doch Evangeline glaubte, das Ticken eines Sekundenzeigers zu hören, der nach und nach die kostbaren Minuten auslöschte, die ihr bis zu Lucs Heirat noch blieben.

Sie eilte das Kirchenschiff entlang bis zur Altarnische, wo die kaputten Bankreihen endeten und sich vor ihr ein schimmerndes Marmorpodest erhob. Die Plattform war unberührt, erleuchtet von einer Riege Bienenwachskerzen und eingefasst von vier gerillten Säulen, die eine überlebensgroße Statue des Prinzen der Herzen bewachten.

Evangeline spürte ein Prickeln im Nacken.

Sie wusste, wie er angeblich aussah. Spielkarten mit Abbildungen der Schicksalsmächte waren in letzter Zeit im Kuriositätenladen ihres Vaters ziemlich beliebt geworden, und viele nutzten sie, um mit ihnen die Zukunft vorherzusagen. Die Karte des Prinzen der Herzen stand für unerwiderte Liebe, und sie zeigte einen tragisch schönen Mann mit leuchtend blauen Augen. Seine blutigen Tränen passten zu dem Blut, das stets einen Winkel seines trotzig verzogenen Mundes zierte.

An dieser weiß schimmernden Statue gab es keine blutigen Tränen, doch das Gesicht strahlte jene unbarmherzige Schönheit aus, die Evangeline von einem Halbgott erwartete, dessen Kuss tödlich war. Die Marmorlippen des Prinzen waren zu einem perfekten schiefen Lächeln verzogen, das eigentlich kalt und hart und scharf hätte wirken müssen, doch da war auch ein Hauch von Weichheit in seiner etwas volleren Unterlippe – ein Schmollmund wie eine tödliche Einladung.

Wenn man den Mythen glaubte, dann war der Prinz der Herzen nicht fähig, zu lieben, weil sein Herz schon vor langer Zeit aufgehört hatte zu schlagen. Nur eine Person konnte es wiederbeleben: seine einzig wahre Liebe.

Sein Kuss war für alle tödlich außer für sie – seine einzige Schwäche – , und auf der Suche nach ihr hinterließ er eine Spur aus Leichen.

Evangeline konnte sich keine tragischere Existenz vorstellen. Wenn irgendeine Schicksalsmacht Mitgefühl mit ihr haben würde, dann der Prinz der Herzen.

Sie erkannte, dass seine eleganten Marmorfinger einen Dolch, so lang wie ihr Unterarm, umklammerten. Die Spitze deutete nach unten auf ein steinernes Opferbecken, das tief über einem Kreis aus tanzenden weißen Flammen hing. Die Worte »Blut für ein Gebet« waren an der Seite eingraviert.

Evangeline holte tief Luft.

Genau dafür war sie schließlich hergekommen.

Sie drückte den Finger auf die Dolchspitze. Scharfer Marmor, der ihre Haut durchstach. Ein Tropfen nach dem anderen fiel zischelnd und fauchend in das Becken und erfüllte die Luft mit noch mehr metallischer Süße.

Irgendwie hoffte sie, diese Opfergabe würde einen Hauch von Magie hervorrufen. Die Statue würde zum Leben erwachen und die Stimme des Prinzen der Herzen würde die Kathedrale erfüllen. Doch nichts regte sich, abgesehen von den tanzenden Flammen der Kerzenreihe. Sie konnte nicht einmal den gequälten jungen Mann ganz hinten in der Kirche hören. Es gab nur sie und die Statue.

»Lieber … Prinz«, begann sie zögerlich. Sie hatte noch nie zu einer Schicksalsmacht gebetet und wollte es nicht falsch angehen. »Ich bin hier, weil meine Eltern tot sind.«

Sie verzog das Gesicht. So hatte sie eigentlich nicht anfangen wollen.

»Was ich sagen will, ist, dass meine Eltern beide gestorben sind. Meine Mutter habe ich vor ein paar Jahren verloren. Dann auch meinen Vater, vor dem letzten Wechsel der Jahreszeiten. Und jetzt werde ich auch noch den Mann verlieren, den ich liebe. Luc Navarro …« Ihre Kehle zog sich zusammen, als sie seinen Namen aussprach und sein schiefes Lächeln vor sich sah. Wenn er vielleicht nicht ganz so gut aussehen würde, wenn er ärmer oder grausam wäre, dann wäre das alles nicht passiert. »Wir haben uns heimlich getroffen. Eigentlich war ich noch in Trauer um meinen Vater. Dann, vor etwas mehr als zwei Wochen, an dem Tag, an dem Luc und ich unseren Familien sagen wollten, dass wir ineinander verliebt sind, hat meine Stiefschwester Marisol verkündet, Luc und sie würden heiraten.«

Evangeline verstummte und schloss die Augen. Bei diesem Teil wurde ihr immer noch schwindlig. Kurze Verlobungszeiten waren nicht unüblich. Marisol war hübsch, vielleicht ein wenig reserviert, aber freundlich – so viel freundlicher als Evangelines Stiefmutter Agnes. Allerdings hatte Evangeline sie nie auch nur im selben Raum mit Luc gesehen.

»Ich weiß, wie das klingt, aber Luc liebt mich. Ich glaube, dass er verflucht wurde. Seit die Verlobung verkündet wurde, hat er nicht mehr mit mir gesprochen – er will mich nicht einmal sehen. Ich weiß nicht, wie sie es getan hat, aber ich bin sicher, dass meine Stiefmutter dahintersteckt.« Evangeline hatte im Grunde keinen Beweis dafür, dass Agnes eine Hexe war und dass sie Luc verflucht hatte, trotzdem war sie überzeugt davon, dass ihre Stiefmutter von Evangelines Beziehung zu Luc erfahren hatte und dass sie Luc und den Titel, den er eines Tages erben würde, stattdessen für ihre Tochter wollte.

»Seit mein Vater gestorben ist, verhält sie sich mir gegenüber feindselig. Ich habe versucht, mit Marisol über Luc zu sprechen. Ich glaube nicht, dass sie mir jemals absichtlich wehtun würde – im Gegensatz zu ihrer Mutter. Aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, kommen die Worte einfach nicht heraus, so als wären auch sie verflucht oder als wäre ich es. Deshalb bin ich hier und flehe dich um Hilfe an. Die Hochzeit ist heute, und du musst sie aufhalten.«

Evangeline öffnete die Augen.

Die leblose Statue hatte sich nicht geregt. Natürlich bewegten sich Statuen eigentlich nie. Trotzdem konnte Evangeline den Gedanken nicht abschütteln, dass die Statue irgendetwas hätte tun sollen – sprechen oder sich bewegen oder mit den Marmoraugen rollen. »Bitte, du weißt, was ein gebrochenes Herz ist. Lass nicht zu, dass er Marisol heiratet. Bewahre mein Herz davor, ein weiteres Mal zu brechen.«

»Na, das nenne ich mal eine jämmerliche Ansprache«, sagte eine schleppende Stimme ganz in ihrer Nähe, dann klatschte jemand zweimal träge in die Hände.

Evangeline fuhr herum und alles Blut wich ihr aus den Wangen. Ihn hatte sie nicht erwartet – den jungen Mann, der sich im hinteren Teil der Kirche die Kleider zerrissen hatte. Obwohl schwer zu glauben war, dass es sich hier um dieselbe Person handelte. Sie hatte gedacht, der junge Mann würde leiden, doch er musste seinen Schmerz mitsamt den Ärmeln seines Mantels abgerissen haben, der nun in Fetzen über seinem schwarz-weiß gestreiften Hemd hing, das nur auf einer Seite in seiner Hose steckte.

Er setzte sich auf die Stufen des Podests, lehnte sich gemächlich an eine der Säulen und streckte seine langen, schlanken Beine vor sich aus. Sein Haar war golden und zerzaust, seine zu blauen Augen waren blutunterlaufen, und sein Mundwinkel zuckte, so als gäbe es zwar nicht viel, was ihm Freude bereitete, als hätte er es aber immerhin genossen, ihr diesen kurzen Schmerz beschert zu haben. Er wirkte gelangweilt, reich und grausam.

»Soll ich wieder aufstehen und mich umdrehen, damit du mich auch von hinten bewundern kannst?«, höhnte er.

Was ihr die Farbe unvermittelt zurück in die Wangen trieb. »Wir sind hier in einer Kirche.«

»Was hat das denn damit zu tun?« Mit einer eleganten Bewegung griff der junge Mann in die Innentasche seines burgunderroten Mantels, zog einen reinweißen Apfel heraus und biss hinein. Dunkelroter Saft troff von der Frucht auf seine langen weißen Finger und die makellosen Marmorstufen.

»Was soll das?!« Eigentlich hatte sie nicht so laut werden wollen. Sie war zwar nicht schüchtern im Umgang mit Fremden, aber normalerweise vermied sie es doch, sich mit ihnen anzulegen. Bei diesem unverschämten jungen Mann schien sie jedoch einfach nicht anders zu können. »Das ist respektlos.«

»Du betest da gerade zu einem Unsterblichen, der jedes Mädchen tötet, das er küsst. Glaubst du denn wirklich, dass er Respekt verdient hat?« Der grässliche Kerl unterstrich seine Worte mit einem weiteren großen Bissen von seinem Apfel.

Sie versuchte, ihn zu ignorieren, gab sich wirklich Mühe. Doch es war, als hätte eine furchtbare Magie von ihr Besitz ergriffen. Anstatt sich einfach abzuwenden, stellte sich Evangeline vor, der Fremde würde seinen Apfel vergessen und sie mit seinem fruchtsüßen Mund küssen, bis sie in seinen Armen starb.

Nein. Das konnte nicht sein …

»Du starrst schon wieder«, schnurrte er.

Sofort sah Evangeline weg und wandte sich erneut der Marmorstatue zu. Vor wenigen Augenblicken hatte der Mund dieses Abbilds ihr Herz schneller schlagen lassen, doch jetzt schien es nur irgendeine gewöhnliche Statue zu sein, leblos im Vergleich zu diesem scheußlichen jungen Mann.

»Ich persönlich finde ja, dass ich in Wirklichkeit viel hübscher bin.« Auf einmal stand er direkt neben ihr.

Schmetterlinge flatterten in Evangelines Bauch auf. Erschrockene Schmetterlinge. Ihr panisches, zu schnelles Flügelschlagen warnte sie, drängte sie dazu, loszurennen, zu fliehen. Doch sie konnte den Blick nicht abwenden.

Aus dieser Nähe war er unbestreitbar anziehend und größer, als sie gedacht hatte. Er schenkte ihr ein echtes Lächeln, das ein Paar Grübchen zum Vorschein brachte und ganz kurz eher einen Engel als einen Teufel aus ihm machte. Vermutlich mussten sich jedoch sogar Engel vor ihm in Acht nehmen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er diese trügerischen Grübchen einsetzte, um einem Engel die Flügel zu stehlen, damit er mit den Federn spielen konnte.

»Du bist es«, flüsterte sie. »Du bist der Prinz der Herzen.«

2

Der Prinz der Herzen nahm einen letzten Bissen von seinem Apfel, bevor er ihn auf den Boden fallen ließ und alles mit rotem Fruchtsaft bespritzte. »Diejenigen, die mich nicht leiden können, nennen mich Jacks.«

Evangeline wollte erwidern, dass sie nicht zu denen gehörte, die ihn nicht leiden konnten. Dass er immer ihre liebste Schicksalsmacht gewesen war. Doch dies war nicht der liebeskranke Prinz der Herzen, den sie sich vorgestellt hatte. Jacks sah nicht aus wie die Verkörperung eines gebrochenen Herzens.

War das alles ein gemeiner Scherz? Die Schicksalsmächte waren angeblich vor Jahrhunderten aus der Welt verschwunden. Trotzdem entsprach alles, was Jacks trug – angefangen bei der ungebundenen Krawatte bis hin zu den hohen Lederstiefeln – , der allerneuesten Mode.

Ihr Blick huschte in der weißen Kirche umher, als könnten Lucs Freunde jeden Moment irgendwo hervorspringen und sie auslachen. Luc war der einzige Sohn eines Gentlemans, und obwohl er sich Evangeline gegenüber nie so verhalten hatte, hielten die jungen Männer, mit denen er verkehrte, sie doch für unter seiner Würde. Evangelines Vater hatten mehrere Geschäfte in Valenda gehört, weshalb sie nie arm gewesen war, aber sie entstammte nicht wie Luc der gesellschaftlichen Oberschicht.

»Wenn du nach einem Ausweg suchst, weil du doch noch zu Verstand gekommen bist, dann werde ich dich nicht aufhalten.« Jacks verschränkte die Hände hinter seinem Goldschopf und lehnte sich grinsend an die Statue.

Ihr Magen schlingerte warnend, riet ihr, sich nicht von seinem Grübchenlächeln oder den zerrissenen Kleidern täuschen zu lassen. Dies war das gefährlichste Wesen, dem sie je begegnet war.

Evangeline konnte sich nicht vorstellen, dass er sie töten würde – sie wäre niemals so dumm, zuzulassen, dass der Prinz der Herzen sie küsste. Dennoch wusste sie, wenn sie blieb und einen Pakt mit Jacks schloss, dann würde er einen Teil von ihr für immer zerstören. Wenn sie aber jetzt ging, würde es für Luc keine Rettung geben.

»Was wird mich deine Hilfe kosten?«

»Habe ich denn gesagt, dass ich dir helfe?« Sein Blick wanderte zu den cremefarbenen Bändern, die sich von ihren Schuhen ihre Knöchel hinaufwanden, um schließlich unter dem Saum ihres Lochspitzenkleids zu verschwinden. Es war eines der alten Kleider ihrer Mutter und über und über mit Stickereien blassvioletter Disteln, winziger gelber Blumen und kleiner Füchse verziert.

Jacks verzog angewidert den Mund, und seine Miene veränderte sich auch nicht, als sein Blick zu ihren Ringellocken emporwanderte, die sie an diesem Morgen sorgfältig mit einem heißen Lockenstab aufgedreht hatte.

Evangeline versuchte, sich nicht beleidigt zu fühlen. Aus ihrer kurzen Bekanntschaft mit dieser Schicksalsmacht schloss sie, dass es vermutlich nicht viel gab, was ihre Anerkennung fand.

»Welche Farbe soll das sein?« Er winkte vage in Richtung ihrer Locken.

»Das ist Roségold«, antwortete sie fröhlich. Evangeline ließ sich von niemandem einreden, sie müsste sich für ihr ungewöhnliches Haar schämen. Ihre Stiefmutter versuchte immer, sie dazu zu überreden, es braun zu färben, doch das sanfte, von hellgoldenen Strähnen durchzogene Rosa war das, was ihr an ihrem Aussehen am besten gefiel.

Jacks legte den Kopf schief und musterte sie immer noch mit finsterer Miene. »Wurdest du im Meridianreich oder im Norden geboren?«

»Warum ist das wichtig?«

»Ich bin einfach neugierig.«

Evangeline widerstand dem Drang, ihn ebenfalls finster anzusehen. Normalerweise beantwortete sie diese Frage nur zu bereitwillig. Ihr Vater, der ihr gern das Gefühl gegeben hatte, ihr ganzes Leben wäre ein Märchen, hatte sie immer damit aufgezogen, dass er sie mit anderen Kuriositäten zusammen in einer der Kisten gefunden hatte, die in sein Geschäft geliefert wurden – was auch der Grund für ihr elfenrosa Haar war, wie er immer sagte. Und ihre Mutter hatte ihr immer zugezwinkert und genickt.

Sie vermisste das Zwinkern ihrer Mutter und das Necken ihres Vaters. Sie vermisste alles an ihnen, aber sie wollte die beiden nicht mit Jacks teilen.

Es gelang ihr, mit den Schultern zu zucken, anstatt zu antworten.

Jacks zog die Brauen zusammen. »Du weißt nicht, wo du geboren wurdest?«

»Ist das eine Grundvoraussetzung, wenn man deine Hilfe will?«

Er musterte sie ein weiteres Mal, dieses Mal blieb sein Blick an ihren Lippen hängen. Er sah sie allerdings nicht an, als wollte er sie küssen. Seine Beurteilung war zu kalt. Er betrachtete ihren Mund wie jemand, der die Waren in einem der Geschäfte ihres Vaters musterte. Als könnte er ihre Lippen kaufen – als wären sie etwas, das ihm gehören könnte.

»Wie viele Leute hast du schon geküsst?«, wollte er wissen.

Ein winziger Hitzefunken pikte sie in den Nacken. Schon mit zwölf hatte sie angefangen, im Kuriositätenladen ihres Vaters zu arbeiten. Sie war nicht gerade wie eine anständige junge Dame erzogen worden und glich nicht ihrer Stiefschwester, der man eingebläut hatte, immer drei Fuß Abstand von einem Gentleman einzuhalten und niemals über etwas Verfänglicheres als das Wetter zu sprechen. Evangelines Eltern hatten sie dazu ermutigt, neugierig und abenteuerlustig und freundlich zu sein, aber sie war nicht in jeder Hinsicht so verwegen. Gewisse Dinge machten sie nervös, und die Art, wie der Prinz der Herzen ihren Mund ansah, gehörte zu diesen Dingen. »Ich habe nur Luc geküsst.«

»Wie erbärmlich.«

»Luc ist der Einzige, den ich küssen will.«

Jacks kratzte sich zweifelnd an seinem scharfkantigen Kinn. »Ich bin fast geneigt, dir zu glauben.«

»Warum sollte ich lügen?«

»Jeder lügt – die Leute glauben, ich würde ihnen eher helfen, wenn sie hinter etwas so Noblem her sind wie der wahren Liebe.« Eine Spur Spott schlich sich in seine Stimme und schlug einen weiteren Splitter von dem Prinzen der Herzen ab, den sie sich vorgestellt hatte. »Aber selbst, wenn du diesen Jungen wirklich liebst, bist du ohne ihn besser dran. Wenn er dich auch lieben würde, dann würde er keine andere heiraten. Ende der Geschichte.«

»Du irrst dich.« In ihrer Stimme lag dieselbe Überzeugung wie in ihrem Herzen. Nach seiner plötzlichen Verlobung mit Marisol hatte Evangeline an ihrer Beziehung zu Luc gezweifelt, doch auf jeden Zweifel folgten so viele bedeutungsvolle Erinnerungen an die vergangenen Monate. In der Nacht, in der Evangelines Vater gestorben war – der Nacht, in der ihr Herz einfach nicht hatte aufhören wollen, zu hämmern und zu schmerzen – , war Luc zu ihr in den Kuriositätenladen gekommen, wo sie auf der Suche nach einem Heilmittel für ein gebrochenes Herz zwischen den Auslagen umhergewandert war. Ihre Wangen waren tränenüberströmt gewesen und ihre Augen rot. Sie hatte befürchtet, dass ihr Weinen ihn vertreiben würde, doch stattdessen hatte er sie in die Arme genommen und gesagt: Ich weiß nicht, ob ich dein gebrochenes Herz heilen kann, aber du kannst meines haben, weil es dir ohnehin schon gehört.

Sie hatte damals schon seit einer Weile gewusst, dass sie Luc liebte, doch in diesem Moment hatte sie begriffen, dass er dasselbe empfand. Seine Worte mochte er einer berühmten Geschichte entliehen haben, aber er bekräftigte sie durch seine aufrichtigen Taten. Er hatte ihr in jener Nacht – und in so vielen Nächten danach – geholfen, ihr Herz zusammenzuhalten, und nun war sie fest entschlossen, ihm zu helfen. Heiratsanträge und Verlobungen bedeuteten nicht immer Liebe, Momente wie jene, die sie mit Luc geteilt hatte, dagegen schon.

Er musste verflucht sein. Das war die einzige Erklärung, an die sie glauben konnte, wie übertrieben oder dumm es sich für andere auch anhören mochte. Es ergab sonst einfach keinen Sinn, dass er nicht einmal mit ihr sprechen wollte oder dass ihr selbst jedes Mal die Worte in der Kehle feststeckten, wenn sie den Mund öffnete, um Marisol die Wahrheit zu sagen.

»Bitte.« Sie war sich nicht zu schade dafür, zu betteln. »Hilf mir.«

»Ich glaube nicht, dass dir das, was du willst, helfen wird, aber ich weiß eine gute verlorene Sache zu schätzen. Ich halte die Hochzeit auf, im Austausch gegen drei Küsse.« Jacks’ Blick bekam einen belustigten Schimmer, als er ihn wieder auf ihren Mund richtete.

Eine weitere Hitzewoge stieg ihr in die Wangen. Sie hatte sich geirrt, er wollte sie doch küssen, aber wenn die Geschichten stimmten, dann wäre ein einziger Kuss von ihm ihr Tod.

Jacks lachte harsch und knapp. »Beruhig dich, Herzblatt, ich will dich nicht küssen. Das würde dich umbringen und dann würdest du mir nichts mehr nützen. Ich will, dass du drei andere Menschen küsst, die ich aussuche. Wann immer ich es sage.«

»Was für Küsse? Ein Küsschen auf die Wange … oder mehr?«

»Wenn du glaubst, so etwas würde zählen, dann bist du vielleicht noch nie geküsst worden.« Jacks stieß sich von der Statue ab und pirschte immer näher an sie heran, bis er schließlich über ihr aufragte. »Es ist kein richtiger Kuss, wenn die Zunge nicht beteiligt ist.«

Die Röte, gegen die sie unentwegt ankämpfte, brannte noch heißer, bis es sich anfühlte, als würden ihr Hals, ihre Wangen und ihre Lippen in Flammen stehen.

»Warum zögerst du, Herzblatt? Es sind doch nur Küsse.« Jacks klang, als würde er sich ein Lachen verbeißen. »Entweder kann dieser Luc wirklich nicht mit seinem Mund umgehen, oder du hast Angst davor, zu schnell Ja zu sagen, weil dir die Vorstellung insgeheim gefällt.«

»Die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht …«

»Dann küsst dein Luc also schrecklich?«

»Luc küsst fantastisch!«

»Woher willst du das denn wissen, wenn du keine Vergleichsmöglichkeiten hast? Falls du letztendlich tatsächlich bei Luc landest, dann wirst du dir vielleicht sogar wünschen, ich hätte von dir verlangt, mehr als drei andere zu küssen.«

»Ich will keine Fremden küssen – der Einzige, den ich küssen will, ist Luc.«

»Dann sollte dies hier wirklich ein kleiner Preis sein«, gab Jacks nüchtern zurück. Er hatte recht, trotzdem konnte Evangeline nicht einfach einwilligen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass Schicksalsmächte nicht die Zukunft bestimmten, obwohl es ihr Name vermuten ließ. Stattdessen öffneten sie Türen in eine neue Zukunft. Allerdings führten diese von den Schicksalsmächten geöffneten Türen nicht immer dorthin, wo man es erwartete, sondern oft genug zu neuen, verzweifelten Abmachungen, um den Schaden des ersten Handels wieder auszugleichen. So war es in zahllosen Geschichten, und Evangeline wollte nicht, dass es auch in ihrer Geschichte so endete.

»Ich möchte nicht, dass irgendjemand stirbt«, sagte sie. »Du darfst die Hochzeit nicht aufhalten, indem du jemanden küsst.«

Jacks wirkte enttäuscht. »Nicht einmal deine Stiefschwester?«

»Nein!«

Er hob die Hand an den Mund und knetete seine Unterlippe, wodurch er seine Miene, die genauso gut Ärger wie auch Amüsiertheit ausdrücken konnte, zum Teil vor ihr verbarg. »Du bist nicht in der Position, zu verhandeln.«

»Ich dachte, Schicksalsmächte handeln gern«, forderte sie ihn heraus.

»Nur wenn wir die Regeln bestimmen. Wie auch immer, ich habe gute Laune, also werde ich dir diese Bitte gestatten. Nur eines möchte ich noch wissen. Wie hast du die Tür dazu bekommen, dich reinzulassen?«

»Ich habe sie höflich darum gebeten.«

Jacks rieb sich den Kiefer. »Das ist alles? Einen Schlüssel hast du nicht gefunden?«

»Ich konnte nicht einmal ein Schlüsselloch sehen«, antwortete sie ehrlich.

Etwas wie Triumph glomm in Jacks’ Augen auf, dann umfasste er ihr Handgelenk und hob es an seinen kalten Mund.

»Was machst du da?«, keuchte sie.

»Keine Sorge, ich werde dich immer noch nicht küssen.« Seine Lippen streiften über die zarte Haut an der Innenseite ihres Handgelenks. Einmal. Zweimal. Dreimal. Es war kaum eine Berührung, trotzdem hatte es etwas unbegreiflich Intimes an sich. Es erinnerte sie an die Sagen darüber, dass seine Küsse zwar tödlich sein mochten, dass sie den Tod jedoch durchaus wert waren. Jacks’ kühler Mund strich nachdrücklich über ihren rasenden Puls, vor und zurück, samtig und sanft und – dann gruben sich seine scharfen Zähne in ihre Haut.

Sie schrie auf. »Du hast mich gebissen!«

»Keine Sorge, Herzblatt, es blutet nicht.« Seine Augen schimmerten noch heller, als er ihren Arm sinken ließ.

Sie strich über die zarte Haut, in die er gerade seine Zähne versenkt hatte. Drei weiße Narben, geformt wie winzige gebrochene Herzen, reihten sich an der Unterseite ihres Handgelenks aneinander. Eine für jeden Kuss.

»Wann soll ich …« Evangeline sah auf.

Doch der Prinz der Herzen war verschwunden. Sie hatte nicht bemerkt, dass er gegangen war, doch nun hörte sie, wie die Kirchentür ins Schloss fiel.

Sie hatte bekommen, was sie wollte.

Warum fühlte sie sich dann nicht besser?

Sie hatte das Richtige getan. Luc liebte sie. Sie konnte nicht glauben, dass er Marisol aus freiem Willen heiratete. Es war nicht so, dass sie Marisol nicht mochte. Ehrlich gesagt kannte sie ihre Stiefschwester kaum. Etwa ein Jahr nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte es sich Evangelines Vater in den Kopf gesetzt, dass er wieder heiraten musste, dass er eine Frau brauchte, die sich um Evangeline kümmerte, falls ihm irgendetwas zustoßen sollte. Sie erinnerte sich immer noch daran, wie die Sorge das Licht aus seinen Augen vertrieben hatte, als hätte er geahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

Ihr Vater hatte Agnes sechs Monate vor seinem Tod geheiratet. Während dieser Zeit war Marisol kein einziges Mal in den Kuriositätenladen gekommen, wohingegen Evangeline den Großteil ihrer Zeit dort verbrachte. Marisol behauptete, allergisch gegen den Staub zu sein. Allerdings begegnete sie allem Fremdartigen mit solchem Misstrauen, dass Evangeline immer geargwöhnt hatte, ihre Stiefschwester würde sich in Wahrheit vor dem Unerklärlichen fürchten. Wohingegen Evangeline und Luc immer nur scherzten, wenn jemand sie verfluchen würde, dann wäre damit immerhin bewiesen, dass Magie wirklich existierte.

Es war lächerlich traurig, dass Evangeline nun zwar diesen Beweis, dafür aber keinen Luc mehr hatte.

Selbst wenn Jacks zurückkehrte und Evangeline gestattete, ihre Entscheidung rückgängig zu machen, würde sie es nicht tun. Jacks hatte versprochen, die Hochzeit aufzuhalten und dabei niemanden zu töten.

Und doch … Evangeline konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war bestimmt nicht zu vorschnell gewesen, trotzdem sah sie nur das Funkeln in Jacks’ Augen vor sich, als er nach ihrem Handgelenk gegriffen hatte.

Evangeline rannte los.

Sie wusste selbst nicht, was sie da tat oder warum sich auf einmal ein so schlechtes Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete. Sie wusste nur, dass sie noch einmal mit Jacks sprechen musste, bevor er die Hochzeit stoppte.

Wäre dies hier eine gewöhnliche Kirche gewesen, dann hätte sie ihn vielleicht noch eingeholt, doch dies hier war eine Schicksalskirche, bewacht von einer magischen Tür, die ihren eigenen Kopf zu haben schien. Als Evangeline die Tür aufstieß, führte diese nicht mehr ins Tempelviertel. Die Tür spuckte sie in einen muffigen alten Apothekenraum voller Staubflocken, leerer Flaschen und tickender Uhren aus.

Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack.

Noch nie waren die Sekunden so schnell verstrichen. Zwischen einem Tick und einem Tack verschwand die magische Tür, durch die Evangeline gerade getreten war, und wurde durch ein vergittertes Fenster ersetzt, durch das man auf einen Wirrwarr von Straßen hinabblicken konnte, die schief wie Zähne waren. Sie befand sich im Gewürzviertel – auf der anderen Seite der Stadt. Weit weg von dem Ort, an dem Luc und Marisol heiraten sollten.

Evangeline rannte fluchend wieder los.

Als sie die Stadt endlich durchquert hatte und ihr Haus erreichte, fürchtete sie, es könnte schon zu spät sein.

Marisol und Luc wollten ihre Gelübde im Garten ihrer Mutter ablegen, in dem Pavillon, den ihr Vater gebaut hatte. Nachts erfüllten ihn die Grillen mit ihrer Musik und tagsüber sangen die Vögel. Evangeline konnte all die kleinen Vogellieder hören, als sie den Garten nun betrat, aber da waren keine Stimmen. Nur die zierlichen Vögel, die fröhlich durch den Pavillon schwirrten, bevor sie auf einer Gruppe Granitstatuen landeten.

Evangelines Knie wurden weich.

In diesem Garten hatte es noch nie zuvor Statuen gegeben. Nun aber standen hier gleich neun davon, und sie alle hielten Kelche in der Hand, als hätte es soeben einen Trinkspruch gegeben. Jedes Gesicht war verstörend lebensecht und entsetzlich vertraut.

Angewidert sah Evangeline, wie sich eine surrende Fliege auf dem Gesicht einer Statue niederließ, die genau wie Agnes aussah, bevor sie wieder aufflog, um auf einem von Marisols Granitaugen zu landen.

Jacks hatte die Hochzeit verhindert, indem er alle in Stein verwandelte.

3

Entsetzen jagte durch Evangelines Adern.

Die Fliege surrte davon, und ein grauer Vogel, dessen Farbe ebenso trist war wie die der Statuen, fand das Blumengebinde auf Marisols Haar und begann, daran herumzuhack-hack-hacken.

Evangeline und Marisol hatten einander zwar nicht nahegestanden – und vielleicht war Evangeline doch eifersüchtiger auf ihre Stiefschwester, als sie zugeben wollte – , aber sie hatte nur die Hochzeit verhindern wollen. Sie hatte nicht gewollt, dass Marisol zu Stein wurde.

Das Atmen tat ihr weh, als sie sich Lucs Statue zuwandte. Normalerweise wirkte er so unbekümmert, doch sein Gesicht war mit einem Ausdruck des Schreckens zu Stein erstarrt, sein glatter Kiefer war angespannt, seine Augen waren zusammengekniffen, und – eine Falte formte sich zwischen den Granitbrauen.

Er bewegte sich.

Dann teilten sich seine Steinlippen, als würde er versuchen, etwas zu sagen, ihr etwas mitzuteilen …

»In ein, zwei Minuten hört er auf zu zucken.«

Evangelines Blick schoss zur Rückseite des Pavillons.

Jacks lehnte lässig an dem Spalier, das über und über mit sturmwolkenblauen Blumen berankt war, und biss in einen weiteren strahlend weißen Apfel. Er wirkte halb wie ein gelangweilter junger Adliger, halb wie ein böser Halbgott.

»Was hast du getan?«

»Genau das, worum du mich gebeten hast.« Ein weiterer Biss von seinem Apfel. »Ich habe dafür gesorgt, dass die Hochzeit nicht stattfindet.«

»Du musst das wieder in Ordnung bringen.«

»Kann ich nicht.« Sein Tonfall war lakonisch, als wäre er dieser Unterhaltung jetzt schon überdrüssig. »Ein Freund von mir hat mir einen Gefallen geschuldet und das hier erledigt. Man kann es nur dadurch rückgängig machen, dass man ihren Platz einnimmt.« Jacks’ Blick huschte zu einem Grasfleck neben dem Pavillon, wo ein Messingkelch auf einem alten Baumstumpf stand.

Evangeline ging darauf zu.

»Was machst du da?« Jacks stieß sich von dem Spalier ab, als sie zu dem Kelch trat, und seine Gleichgültigkeit war verflogen.

Wenn sie davon trank, würde dann alles wieder in Ordnung kommen?

»Denk nicht mal dran.« Seine Stimme wurde schärfer. »Wenn du das trinkst und ihren Platz einnimmst, dann wird dich niemand retten. Du wirst für immer versteinert bleiben.«

»Aber ich kann sie nicht so lassen.« Auch wenn ein Teil in ihr Jacks zustimmte. Sie wollte keine Gartenstatue werden. Sie konnte sich nicht einmal dazu überwinden, den Kelch hochzuheben. Da sah sie die Schrift, die auf seiner Seite eingraviert war.

Gift

Trink mich nicht

Schwefelgeruch wehte zu ihr herüber, und sie wusste nicht, ob sie dieses stinkende Gebräu überhaupt hinunterbringen würde. Doch wie konnte sie mit sich selbst leben, wenn sie zuließ, dass alle hier Steinstatuen blieben?

Evangelines Blick schoss von dem Vogel, der immer noch an Marisols Hochzeitskranz herumpickte, zu Luc und seiner erstarrten Bitte um Hilfe. Lucs Eltern standen links und rechts neben ihm. Dann war da noch der unglückliche Eheschließer, der sich einfach nur die falsche Vermählung ausgesucht hatte. Wegen Lucs drei Freunden oder Agnes wollte sich Evangeline nicht schlecht fühlen. Doch obwohl ihr Vater Agnes nicht aus Liebe geheiratet hatte, würde er dies hier entsetzlich finden. Ihre Eltern wären beide so enttäuscht, weil Evangelines Glaube an Magie ihre Tochter hierhergeführt hatte.

»Das wollte ich nicht«, flüsterte sie.

»Du siehst die Sache ganz falsch, Herzblatt.« Jacks ließ seinen halb gegessenen Apfel fallen, der durch den Pavillon rollte, bis er gegen Lucs steinernen Stiefel stieß. »Sobald sich diese Geschichte verbreitet, wird dir jeder im ganzen Meridianreich helfen wollen. Du wirst das Mädchen sein, das seine Familie an die schrecklichen Schicksalsmächte verloren hat. Luc bekommst du zwar nicht zurück, aber du wirst ihn schon bald vergessen. Und da deine Stiefmutter und deine Stiefschwester jetzt Statuen sind, schätze ich, dass du einiges an Geld erben wirst. Morgen früh bist du berühmt und nicht gerade arm.«

Er schenkte ihr sein Grübchenlächeln, als hätte er ihr tatsächlich einen Gefallen getan.

Evangeline fühlte sich krank.

In den Geschichten waren die Schicksalsmächte boshafte Götter, die nichts als Chaos und Verwüstung anrichteten. Doch das hier war es, wovor sich die Leute wirklich fürchten sollten. Wenn Evangeline diese menschlichen Statuen anblickte, dann sah sie nur Grauen, Jacks dagegen war der Meinung, hilfreich gewesen zu sein. Die Schicksalsmächte waren nicht gefährlich, weil sie böse waren; die Schicksalsmächte waren gefährlich, weil sie den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kannten.

Evangeline jedoch kannte den Unterschied. Sie wusste auch, dass es manchmal einen nicht klar umrissenen Ort dazwischen gab, den sie an diesem Morgen betreten hatte. Als sie in Jacks’ Kirche gegangen war, um dort zu beten. Sie hatte einen Fehler gemacht, und nun war es Zeit, ihn wieder in Ordnung zu bringen.

Evangeline griff nach dem Kelch.

»Stell den wieder ab«, warnte Jacks. »Du willst das nicht tun. Du willst nicht die Heldin sein, du willst ein glückliches Ende. Deshalb bist du zu mir gekommen. Wenn du das tust, dann wird daraus nichts. Helden bekommen kein glückliches Ende. Sie bringen es anderen. Willst du das wirklich?«

»Ich will den Mann retten, den ich liebe. Ich muss einfach hoffen, dass er beschließt, auch mich zu retten.« Bevor Jacks sie aufhalten konnte, trank sie.

Das Gift schmeckte noch schlimmer, als es roch – nach verbrannten Knochen und verlorener Hoffnung. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie erst um Atem rang und dann vergeblich versuchte, sich zu bewegen.

Sie glaubte, zu sehen, wie Jacks den Kopf schüttelte, doch es war schwer, es mit Sicherheit zu sagen. Ihre Sicht verschwamm. Schwarze Adern krochen in den Garten, breiteten sich aus wie verschüttete Tinte. Dunkelheit, Dunkelheit überall. Es war Nacht, ohne Mond und Sterne.

Evangeline versuchte, sich einzureden, sie hätte das Richtige getan. Sie hatte neun Menschen gerettet. Einer von ihnen würde auch sie retten.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte Jacks. Sie hörte, wie er frustriert den Atem ausstieß, hörte, wie er »Schade« murmelte. Und dann …

Hörte sie nichts mehr.

4

Wenigstens konnte Evangeline noch denken. Auch wenn es manchmal sehr schmerzlich war. Normalerweise geschah es nach Tagen voll endlosem Nichts, dass Evangeline glaubte, endlich etwas zu fühlen. Es war jedoch nie das, was sie wirklich wollte. Es war nie Wärme auf ihrer Haut, Prickeln in ihren Zehen oder die Berührung eines anderen, der sie wissen ließ, dass sie nicht vollkommen allein auf der Welt war. Üblicherweise war es nur ein Pfeil des Kummers oder ein Stich der Reue.

Am schlimmsten war die Reue.

Reue war sauer und bitter, und sie schmeckte so sehr nach Wahrheit, dass sie dagegen ankämpfen musste, sich einfach hineinsinken zu lassen. Sie musste gegen den Glauben ankämpfen, dass Jacks recht gehabt hatte – dass sie den Kelch hätte stehen, die Hochzeitsgesellschaft Stein bleiben lassen und die Rolle des Opfers hätte spielen sollen.

Jacks irrte sich.

Sie hatte das Richtige getan.

Jemand würde sie retten.

Manchmal, wenn sie sich besonders hoffnungsvoll fühlte, glaubte Evangeline sogar, dass Jacks sie vielleicht retten würde. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass der Prinz der Herzen kein Retter war. Er war derjenige, vor dem andere gerettet werden mussten.

5

Und dann … fühlte Evangeline etwas, das weder Kummer noch Reue war.

6

Etwas wie Licht, das ihre Haut kitzelte.

Ihre Haut.

Evangeline konnte ihre Haut fühlen.

Sie hatte nichts mehr gefühlt seit … Sie wusste nicht einmal, wie viel Zeit verstrichen war. So lange war da so viel Nichts gewesen, doch nun konnte sie alles fühlen: Augenlider. Knöchel. Ellbogen. Lippen. Beine. Knochen. Haut. Lungenflügel. Herz. Haar. Adern. Kniekehlen. Ohrläppchen. Hals. Brust.

Ein Zittern durchlief sie von Kopf bis Fuß. Ihre Haut war schweißüberströmt, und es fühlte sich unglaublich an – kühl und feucht und lebendig.

Sie war wieder lebendig!

»Willkommen zurück.« Ein fester Arm schlang sich um ihre Taille, während sich ihre wackligen Beine daran gewöhnten, dass sie wieder aus Muskeln und Knochen bestanden.

Als Nächstes kehrte ihre Sicht zurück.

Vielleicht lag es nur daran, dass sie seit einer ganzen Weile kein Gesicht mehr gesehen hatte, aber der junge Mann, der den Arm um sie geschlungen hatte, war außerordentlich schön – dunkelbraune Haut, von dichten Wimpern umkränzte Augen, ein Lächeln, das ein ganzes Arsenal an Charme verriet. Seine Schultern waren in ein dramatisch grünes Cape gehüllt, dessen Saum Kupferblätter zierten, so atemberaubend wie sein Gesicht. »Kannst du sprechen?«, fragte er.

»Warum …« Evangeline hustete, und es fühlte sich an, als wäre ihre Kehle voller Kies. »Warum siehst du aus wie ein Waldzauberer?«

Sobald die Worte heraus waren, verzog sie das Gesicht. Einige ihrer Sinne, wie der Filter vor ihrem Mund – funktionierten offenbar noch nicht richtig. Dieser Fremde hatte sie gerettet. Hoffentlich hatte sie ihn im Gegenzug nicht beleidigt.

Glücklicherweise wurde sein strahlendes Lächeln noch breiter. »Wunderbar. Manchmal kehrt die Stimme nicht gleich wieder zurück. Und jetzt verrate mir deinen vollen Namen, Liebes. Ich muss sicherstellen, dass du auch deine Erinnerungen zurückhast, bevor ich dich gehen lasse.«

»Wohin denn?« Evangeline versuchte, ihre Umgebung in sich aufzunehmen. Sie schien sich in einem Labor zu befinden. Auf jeder Arbeitsfläche und jeder Oberseite der Apothekerschränke standen blubbernde Kelche und schäumende Kessel und ein harziger Geruch hing in der Luft. Dies hier war nicht der Garten ihrer Mutter. Das einzig Vertraute hier war das königliche Wappen des Meridianreichs an einer der Steinwände. »Wo sind wir? Und wie lange war ich eine Statue?«

»Nur etwa sechs Wochen. Ich bin der kaiserliche Meister der Tränke, und du befindest dich in meinem ausgezeichneten Laboratorium. Sobald du mir deinen Namen verraten hast, kannst du jederzeit gehen.«

Evangeline nahm sich einen Moment Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln. Sechs Wochen bedeutete, dass sie sich mitten in der Heißen Jahreszeit befanden. Kein allzu schrecklicher Verlust. Es hätten auch sechs Jahre sein können. Oder sechzig.

Wenn es jedoch nur sechs Wochen gewesen waren, warum war dann niemand hier, um sie zu begrüßen? Sie wusste, dass sie ihrer Stiefmutter gleichgültig war, und ihrer Stiefschwester hatte sie auch nie sonderlich nahegestanden, aber sie hatte ihnen das Leben gerettet.

Und Luc … Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, warum Luc nicht hier war. Konnte es sein, dass keiner von ihnen von ihrer Wiederbelebung wusste? »Ich bin Evangeline Fox.«

»Du kannst mich Gift nennen.« Der Meister der Tränke löste den Arm von ihrer Taille, um eine großmütige Geste zu vollführen.

Und sofort begriff Evangeline, wer dieser junge Mann war. Sie hätte es gleich erkennen sollen. Er sah seiner Wahrsagekarte im Schicksalsdeck erstaunlich ähnlich. Er trug ein langes, fließendes Cape, juwelenbesetzte Ringe an jedem Finger, und er arbeitete eindeutig mit Tränken. Gift war der Giftmischer. Eine Schicksalsmacht, genau wie Jacks.

»Ich dachte, alle Schicksalsmächte wären verschwunden«, platzte Evangeline heraus.

»Wir haben kürzlich unsere grandiose Rückkehr gefeiert, aber darum geht es in dieser Geschichte nicht.« Gifts Miene wurde unheimlich still, eine Warnung, die besagte, dass er über dieses Thema nicht sprechen wollte.

Evangeline mochte zwar noch etwas mitgenommen sein, aber sie wusste es besser, als ihn zu drängen, trotz aller Fragen, die seine Enthüllung in ihr wachrief. Gift genoss keinen so tödlichen Ruf wie Jacks. Den Mythen zufolge fügte er niemandem direkten Schaden zu, doch er erschuf toxische Tonika, trickreiche Tränke und seltsame Seren für seine Auftraggeber, die diese manchmal zu schrecklichen Zwecken einsetzten.

Evangeline blickte auf den Kelch hinab, den sie immer noch in der Hand hielt.

»Darf ich dir das abnehmen?« Mit seinen juwelenbesetzten Fingern griff er nach dem Kelch.

Vorsichtshalber wich Evangeline einen Schritt zurück. »Wo bin ich? Hat Jacks dich gebeten, mir zu helfen?«

Gift lachte, was sein Gesicht wieder freundlich wirken ließ. »Tut mir leid, Liebes, aber Jacks hat dich wahrscheinlich schon ganz vergessen. Er hat sich in den Wochen, die du als Stein verbracht hast, einige Probleme eingehandelt. Ich kann dir versichern, dass er nicht nach Valenda zurückkehrt.«

Evangeline wusste, dass sie nicht neugierig sein sollte. Nach ihrer letzten Begegnung mit Jacks wollte sie ihn nie wiedersehen und ihm ebenso wenig die Gelegenheit geben, ihre Schulden bei ihm einzutreiben. Allerdings war ihr Jacks nicht wie jemand vorgekommen, der davonlief. Er konnte nicht getötet werden – es sei denn, dieser Teil seiner Geschichte stimmte nicht und die Schicksalsmächte waren doch nicht völlig unsterblich?

»Was für Probleme hat sich Jacks eingehandelt?«, fragte sie.

Gift drückte ihre Schulter auf eine Art, die Evangeline auf den Gedanken brachte, »Probleme« könnte ein sehr milder Ausdruck für das sein, womit Jacks es gerade zu tun hatte. »Wenn du auch nur den leisesten Wunsch hast, dich selbst zu schützen, dann vergiss ihn lieber.«

»Keine Sorge«, gab Evangeline zurück. »Ich habe kein Verlangen danach, Jacks je wiederzusehen.«

Skeptisch hob Gift eine Braue. »Das sagst du jetzt vielleicht, aber sobald du durch die Tür in unser Reich getreten bist, ist es fast unmöglich, wieder in dein normales Leben zurückzukehren. Die meisten von uns sind aus der Stadt geflohen, also wirst du wahrscheinlich keinen anderen Schicksalsmächten mehr zufällig über den Weg laufen. Sobald du jedoch einmal von unserer Welt gekostet hast, wird dir dein eigenes Leben trist und langweilig vorkommen. Du wirst dich zu unseresgleichen hingezogen fühlen. Selbst wenn du Jacks nie wiedersehen willst, bleibst du mit ihm verbunden, bis du deinen mit ihm geschlossenen Pakt erfüllt hast. Wenn du dich jedoch nach einer Chance auf Glück sehnst, dann kämpfe gegen diesen Sog an – Jacks bedeutet für dich nichts als Zerstörung.«

Evangelines Miene wurde finster. Sie wollte dem nicht widersprechen, aber sie konnte sich auch nicht erklären, warum ausgerechnet eine Schicksalsmacht sie derart warnen sollte.

»Ich werde euch Menschen nie verstehen.« Gift seufzte. »Ihr alle scheint unsere Lügen nur allzu gern zu hören, aber es gefällt euch nie, wenn man euch die Wahrheit sagt.«

»Vielleicht ist es nur einfach schwer, zu glauben, dass eine Schicksalsmacht einem Menschen aus reiner Herzensgüte helfen will?«

»Was, wenn ich dir sage, dass reiner Selbstzweck dahintersteckt?« Gift nippte an seinem Kelch. »Valenda ist mein Zuhause. Mir wäre es lieber, wenn ich nicht so wie die anderen in den Norden fliehen müsste – es gefällt mir nicht, was die Magie dort mit meinen Fähigkeiten anstellt, und außerdem ist es zu kalt. Also versuche ich, mich der Krone als hilfreich zu erweisen. Und jetzt geh schon, im großen Saal erwarten dich so einige.«

Gift drehte sie in Richtung einer Wendeltreppe, und Evangeline fing den Hauch eines unfassbar köstlichen Dufts auf: rosa Zuckerwolkenkuchen.

Ihr Magen knurrte. Bis jetzt hatte sie nicht einmal bemerkt, wie hungrig sie war.

Nachdem sie sich bei Gift bedankt hatte, erklomm sie die Treppe.

Mit jeder Stufe wurde die Luft sogar noch süßer, und die Welt wurde heller, so als wäre das Leben zuvor fade und trüb gewesen. Der große Saal schien nur aus Glitzer und Licht gemacht zu sein: Goldene kronenförmige Lüster regierten über vergoldete Tische, Harfen und gewaltige Klaviere mit goldenen Tasten. Doch es war der Anblick der vielen Leute, der ihr den Atem verschlug.

So viele. Sie alle klatschten und lächelten und strahlten sie an.

Evangeline stand in freundschaftlichem Verhältnis zu vielen Kunden des Kuriositätenladens, und es schien, als wären sie alle hier, um sie willkommen zu heißen. Es war rührend und herzerwärmend, aber gleichzeitig war es auch etwas merkwürdig, dass so viele gekommen waren.

»Hallo, Schätzchen!«, rief Ms Mallory, die Karten von Fantasieorten sammelte. »Ich muss dir ja so viel über meinen Enkel erzählen.«

»Ich kann es gar nicht erwarten«, antwortete Evangeline, bevor sie sich von einem Gentleman die Hand schütteln ließ, der immer obskure fremdländische Kochbücher bestellte.

»Ich bin ja so stolz auf dich!«, rief Lady Vane, die gern Fässchen mit unsichtbarer Tinte kaufte.

Nach wochenlangem Nichts wurde Evangeline eingehüllt von Umarmungen und Wangenküssen. Trotzdem sank ihr das Herz, als sie Luc nicht unter den Anwesenden entdeckte.

Ihre Stiefschwester stand ein wenig abseits, doch Luc war nicht bei ihr. Trotzdem verspürte Evangeline keine Erleichterung darüber. Wusste er nichts von dieser Versammlung? Oder gab es einen anderen Grund dafür, dass Luc beschlossen hatte, ihr fernzubleiben?

Marisols Miene war schwer zu lesen. Sie wippte auf den Fußballen und versuchte, eine Fliege davon abzuhalten, auf dem leuchtend rosa Zuckerwolkenkuchen in ihren Händen zu landen. Sobald sie jedoch Evangelines Blick auffing, wurde ihr Lächeln breiter, bis es ebenso strahlte wie der wunderschöne Kuchen.

Agnes gefiel es nicht, dass ihre Tochter das Backen so sehr liebte – sie hatte große Pläne für Marisol und hielt Backen für einen zu gewöhnlichen Zeitvertreib – , doch Evangeline fragte sich, ob sie vielleicht trotzdem erlaubt hatte, dass Marisol diese Köstlichkeit für den heutigen Tag zubereitete. Es gab vier fluffige rosa Kuchenschichten mit unterschiedlichen Sorten von Zuckerwolkencremefüllung dazwischen, obendrauf eine Schleife aus Glasur und ein übergroßes Keksschild, auf dem stand: Willkommen zurück, Schwester!

Schuld, dick und schwer, mischte sich unter Evangelines ungute Gefühle. Niemals hätte sie eine solche Geste von ihrer Stiefschwester erwartet und sie hatte sie fraglos nicht verdient.

»Oh, da ist ja mein kostbares, liebes Mädchen!« Agnes kam auf sie zu und schlang beide Arme um sie. »Wir waren alle so verzweifelt und haben uns schreckliche Sorgen gemacht. Es war eine solche Erleichterung, als wir gehört haben, dass es jemanden gibt, der dich heilen kann.« Agnes drückte Evangeline noch fester an sich und flüsterte: »So viele Verehrer fragen nach dir. Nun, da du wieder bei uns bist, sorge ich dafür, dass uns die reichsten von ihnen besuchen kommen.«

Evangeline wusste nicht, was sie sagen sollte – ebenso wenig zu dem, was ihr Agnes gerade mitgeteilt hatte, wie zu dieser Version ihrer Stiefmutter, die sie plötzlich umarmte. Nicht einmal bei ihrer Hochzeit mit Evangelines Vater hatte sie das getan. Agnes hatte Maximilian aus denselben Gründen geheiratet, aus denen Maximilian sie geheiratet hatte: um sicherzustellen, dass ihre Tochter versorgt war. Maximilian Fox war nie wirklich reich gewesen – seine geschäftlichen Unternehmungen schlugen fast so oft fehl, wie sie gelangen – , aber für eine Witwe mit einer Tochter war er eine respektable Partie.

Agnes entließ Evangeline aus der Umarmung, um sie in Richtung eines Gentlemans zu drehen, von dem Evangeline nur hoffen konnte, dass er kein Verehrer war.

Er trug ein weißes Seidenhemd mit einem Spitzenjabot, das ihm bis hinab auf seine schwarze Lederhose fiel, die so eng saß, dass es verwunderlich war, dass er sich darin überhaupt bewegen konnte.

»Evangeline«, sagte Agnes, »das hier ist Mr Kutlass Knightlinger von der Wispergazette.«

»Ihr schreibt für dieses Skandalblatt?«

»Es ist kein Skandalblatt, sondern eine Zeitschrift«, korrigierte Agnes sie leicht verschnupft. Offenbar war die Leserschaft der frischgebackenen Zeitung gewachsen, und das Blatt hatte an Glaubwürdigkeit gewonnen seit dem Artikel, der Evangeline dazu veranlasst hatte, nach der Kirchentür des Prinzen der Herzen zu suchen.

»Im Grunde kümmert es mich nicht, wie Ihr die Zeitschrift nennt, Miss Fox, solange ich einen Artikel über Euch darin veröffentlichen darf.« Kutlass Knightlinger strich sich mit einem schwarzen Federkiel über den Mund. »Ich habe über alles berichtet, was im Zusammenhang mit der plötzlichen Rückkehr der Schicksalsmächte steht, und ich habe einige Fragen an Euch.«

Auf einmal fühlte sich Evangeline wackelig auf den Beinen. Das Letzte, was sie wollte, war, mit jemandem darüber zu sprechen, was mit Jacks passiert war. Niemand durfte wissen, dass sie einen Pakt mit einer Schicksalsmacht geschlossen hatte.

Wäre Evangeline schon wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte, dann hätte sie sich einfach mit einer geschickten Ausrede entzogen, doch stattdessen war es dieser Kutlass Knightlinger mit seinem Spitzenjabot und seiner schwarzen Lederhose, der das Entziehen übernahm.

Rasch mogelte er sie fort von der Festgesellschaft und durch einen dicken Goldvorhang, hinter dem sich ein Alkoven mit einer Bank verbarg. Es roch nach Geheimnissen und Moschus und Täuschungszaubern. Oder war das Kutlass Knightlingers Rasierwasser?

»Mr Knightlinger …« Evangeline stand wieder von der Bank auf, und die ganze Welt drehte sich. Sie musste wirklich etwas essen. »Ich glaube nicht, dass heute der beste Tag für ein solches Gespräch ist.«

»Keine Sorge, es spielt eigentlich keine Rolle, was Ihr sagt. Ich sorge dafür, dass die Leute in meinen Artikeln gut dastehen. Und die Leser lieben Euch. Nach dem Opfer, das Ihr gebracht habt, gehört Ihr zu Valendas Lieblingsheldinnen.«

»Aber ich bin wirklich keine Heldin.«

»Ihr seid zu bescheiden.« Kutlass Knightlinger beugte sich weiter vor. Der schwere Geruch kam eindeutig von seinem Rasierwasser. »Während der Woche des Schreckens …«

»Was ist die Woche des Schreckens?«

»Es war ja so aufregend! Es hat begonnen, direkt nachdem Ihr zu Stein geworden seid. Die Schicksalsmächte sind zurückgekehrt – könnt Ihr Euch vorstellen, dass sie in einem Kartendeck gefangen waren? So viel Unheil und Chaos, als sie entkommen sind und versucht haben, die Macht im Reich zu übernehmen. Die Geschichte, wie Ihr den Platz dieser Hochzeitsgesellschaft eingenommen und Euch selbst in Stein verwandelt habt, hat die Leute während dieser schweren Zeit inspiriert. Ihr seid eine Heldin.«

Auf einmal war Evangelines Kehle ganz trocken. Kein Wunder, dass so viele gekommen waren. »Ich hoffe, ich habe nur das getan, was auch jeder andere in meiner Lage getan hätte.«

»Das ist perfekt.« Kutlass zog ein unfassbar kleines Notizbuch aus seiner Lederweste und begann, hineinzukritzeln. »Das werden meine Leser lieben. Wie …«

Das laute Knurren ihres Magens unterbrach ihn.

Kutlass lachte so geübt und prägnant, wie er schrieb. »Ein bisschen hungrig?«

»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Ich sollte wohl lieber …«

»Ich habe nur noch ein paar Fragen. Den Gerüchten zufolge soll Eure Adoptivmutter begonnen haben, an Eurer Stelle Heiratsanträge entgegenzunehmen, während Ihr noch Stein wart …«

»Oh, Agnes ist meine Stiefmutter«, unterbrach Evangeline ihn rasch, »sie hat mich nicht adoptiert.«

»Wir können uns wohl sicher sein, dass sie dies nun tun wird.« Kutlass zwinkerte ihr zu. »Euer Stern wird immer weiter steigen, Miss Fox. Darf ich Euch jetzt vielleicht um ein Abschiedswort für all Eure Bewunderer bitten?«

Der Begriff »Bewunderer« hinterließ einen schlechten Geschmack auf Evangelines Zunge. Sie hatte wirklich keine Bewunderung verdient. Sicher würden alle ganz anders über sie denken, wenn sie wüssten, was sie in Wahrheit getan hatte.

»Wenn Euch gerade die Worte fehlen, dann werde ich mir etwas Brillantes einfallen lassen.« Seine Feder sauste über die Seiten seines Notizbuchs.

»Wartet …« Evangeline wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte, aber allein bei der Vorstellung, was er ansonsten schreiben könnte, erschauderte sie. »Ich weiß, dass Geschichten oft ein Eigenleben entwickeln. Es kommt mir jetzt schon vor, als würde sich der Albtraum, den ich erlebt habe, in ein Märchen verwandeln, aber ich bin nichts Besonderes, und das hier ist kein Märchen.«

»Trotzdem ist es für Euch doch wirklich märchenhaft ausgegangen«, unterbrach Kutlass sie.

»Sie war sechs Wochen lang ein Stein«, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm. »Das würde ich nicht als märchenhaft bezeichnen.«

Evangeline spähte über Kutlass’ Schulter und erkannte ihre Stiefschwester.

Marisol stand zwischen den Goldvorhängen, den Zuckerwolkenkuchen wie einen Schild in den Händen.

In einem Wirbel aus Spitze und Leder fuhr Kutlass zu ihr herum. »Die Verfluchte Braut!«

Marisols Wangen nahmen einen gequälten Rotton an.

»Das ist fantastisch!« Kutlass’ Federkiel setzte sich wieder in Bewegung. »Ich würde mich zu gern mit Euch unterhalten.«

»Genau genommen«, mischte sich Evangeline ein, die spürte, dass es nun Marisol war, die gerettet werden musste, »hatten meine Stiefschwester und ich noch gar keine Zeit zusammen, also werde ich sie Euch nun entführen und ein Stück Kuchen genießen.«

Evangeline schob sich an ihm vorbei, hakte sich bei ihrer Stiefschwester unter und führte sie durch den Vorhang davon.

»Danke.« Marisol klammerte sich an Evangeline, und obwohl sie sich zuvor nie beieinander untergehakt hatten, glaubte Evangeline, zu spüren, dass Marisol dünner geworden war. Sie war schon immer schlank gewesen, wie ihre Mutter, doch heute wirkte sie fast zerbrechlich. Außerdem war ihre Haut blass, fast wächsern, was natürlich von ihrer Begegnung mit Kutlass kommen konnte, doch da waren auch dunkle Ringe unter ihren hellbraunen Augen, die schon seit Tagen, vielleicht sogar Wochen dort zu sein schienen.