Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit - Thomas de Padova - E-Book
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Thomas de Padova

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Beschreibung

Der Streit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz weitet sich zu einer Staatsaffäre aus. Ihre maßgebende Diskussion über das Wesen der Zeit markiert die radikale Umwälzung des Zeitverständnisses in einer Epoche, in der die Genauigkeit mechanischer Uhren sprunghaft gestiegen ist: Erst jetzt können die Ziffernblätter Minuten und Sekunden differenzieren und der private Besitz von Uhren wird für das großstädtische Bürgertum zur Selbstverständlichkeit. Anhand der Lebensläufe von Leibniz und Newton rollt Thomas de Padova die Geschichte unseres Verständnisses von Zeit auf. Er zeigt, warum die Zeit an der Schwelle zum 18. Jahrhundert so allgegenwärtig und zugleich zu einem zentralen Thema der Wissenschaft wird. Kurz: warum die Neuzeit ihren Namen zu Recht trägt. Eine fesselnde Entdeckungsreise in die beschleunigte Welt der Moderne.

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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96388-6

© 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotive: akg-images (Isaac Newton, links oben; Instrumente von Newton, rechts und links unten);

Andreas Cellarius/Getty Images (»The Celestial Atlas« von Joannes Janssonius, oben Mitte); Don Bayley/Getty Images (Uhr, unten); Historisches Museum Hannover (Wilhelm Leibniz, rechts oben); Joan Blaeu/Getty Images (Hintergrundbild)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.

ALBERT EINSTEIN

[1] Der Physiker und Parlamentsabgeordnete Isaac Newton ließ sich im Alter von 47 Jahren von dem Londoner Hofmaler Godfrey Kneller porträtieren (1690).

»Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.« Isaac Newton

[2] Der Universalgelehrte und Höfling Gottfried Wilhelm Leibniz mit 65 Jahren nach einem Porträt von unbekannter Hand (1711).

»Ich habe mehrfach betont, dass ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte … Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen.« Gottfried Wilhelm Leibniz

VORWORT

Als kleiner Junge besuchte ich meinen Vater manchmal auf der Baustelle. Er war Maurer, hatte schon im Alter von zwölf Jahren angefangen, das Handwerk seines Vaters zu erlernen und 40 mal 20 mal 25 Zentimeter große Tuffsteine, in Süditalien »tufi« genannt, die Leiter hinaufzuschleppen. Mit 18 war er nach Deutschland gekommen.

Während ich mit der Maurerkelle im Sandhaufen spielte, schaute ich ihm aus sicherem Abstand zu, wie er Stein um Stein aufeinanderlegte und gerade Mauern hochzog. Obschon seine Hilfsmittel bescheiden wirkten, baute mein Vater Häuser mit vollkommen senkrechten Wänden. Am wichtigsten war das Lot: eine Schnur, an der ein Metallzylinder baumelte, manchmal auch ein schlichter Stein. Das herabhängende Gewicht zeigte eine besondere Richtung an. Mochte der Boden im Rheintal mit seinen schroff abfallenden Hängen noch so uneben sein, das Senklot machte die Vertikale im Raum sichtbar.

Um zur Ruhe zu kommen, brauchte der kleine Metallzylinder immer eine Weile. Er war nicht so schwer wie jene trägen Gewichte, die man im Brücken- oder Bergbau benutzte. Mal übte ich mich in dem Geduldsspiel, ihn auszutarieren, dann wiederum stieß ich ihn absichtlich an, um zu verfolgen, wie lange er pendelte.

Erst sehr viel später erfuhr ich, dass Wissenschaftler das Gleiche getan hatten. Gebannt vom gleichmäßigen Hin und Her pendelnder Gewichte, zählten sie deren Schwingungen und bauten die akkuratesten Zeitmesser, die Menschen bis dato entwickelt hatten. Mit der Pendeluhr differenzierte sich die Uhrzeit im 17.Jahrhundert erstmals in Minuten und Sekunden aus. Ihr regelmäßiges Ticktack bedeutete einen Fortschritt in der Ganggenauigkeit mechanischer Uhren, durch den wissenschaftliche Präzisionsmessungen überhaupt erst möglich wurden. Die Erfindung und rasche Verbreitung der Pendeluhren war die Voraussetzung für eine neue Physik, die von Beschleunigungen und Kräften handelte.

Aber was messen solche Uhren? Was ist das, was wir »Zeit« nennen und woran wir uns im Wandel der Ereignisse orientieren?

Dieses Buch dreht die Uhr noch einmal zurück, um das Phänomen Zeit aus Perspektive zweier grundverschiedener Forscherpersönlichkeiten zu betrachten: aus der Sicht von Isaac Newton, dem Sohn eines Schafzüchters aus dem ostenglischen Woolsthorpe, der von klein auf den Gang der Gestirne beobachtet und Sonnenuhren baut, und von Gottfried Wilhelm Leibniz, einem Professorenkind aus Leipzig, das hinter den dicken Mauern der Universität mit Lehr- und Stundenplänen aufwächst.

Als Newton und Leibniz in den 1640er-Jahren geboren werden, zieren weder Sekunden- noch Minutenzeiger die Ziffernblätter von Uhren. Die am weitesten verbreiteten Instrumente zur Zeitbestimmung sind Sonnen- und Sanduhren. Sie zeigen eine von den Lichtverhältnissen abhängige lokale Zeit an oder sind, wie beim Stundenglas, auf eine feste Zeitspanne geeicht. Zwar gibt es längst auch mechanische Uhren, Räderuhren auf Kirchtürmen zum Beispiel oder reich verzierte Tischuhren, doch handelt es sich dabei um teure Einzelstücke, die nach individuellen Kundenwünschen angefertigt werden. Die viel bewunderten Automaten sind beim Stundenschlag zu allerlei Bewegungen fähig: Hier rollt ein Löwe mit den Augen, dort holen Jesu Peiniger zu Schlägen mit der Geißel aus. Die Genauigkeit der Zeitangabe ist oft zweitrangig.

Anders die neuen Uhren: Beim Bau der Pendeluhr arbeiten mathematisch versierte Naturforscher mit Uhrmachern zusammen, den Pionieren der Feinmechanik. In Paris und London erlebt Leibniz in den 1670er-Jahren hautnah mit, wie die Uhrenentwicklung und eine an Experimenten orientierte Forschung Hand in Hand gehen. Fast zwei Jahrzehnte nach der Erfindung der Pendeluhr erregt 1675 eine weitere Entdeckung viel Aufsehen, die im Deutschen den wunderbaren Namen »Unruh« trägt. Das von einer gewundenen Feder angetriebene oszillierende Rädchen, ein Ticktack im Kleinformat, ist bis heute das Herzstück mechanischer Taschenuhren.

Mit der Unruhfeder wird die Zeit mobil. Vor allem in London verbreiten sich die neuen Uhren im Nu. In der größten europäischen Metropole und Welthandelsstadt ist der Tag schon so stark auf Planung ausgerichtet, dass der Uhrenbesitz bereits an der Schwelle zum 18.Jahrhundert zum bürgerlichen Selbstverständnis gehört. Automatische Weckvorrichtungen erfreuen sich großer Beliebtheit, man spricht neuerdings von »Pünktlichkeit«, erstmals rennen Sportler gegen die Zeit an, arbeiten Tagelöhner wie nach einer Stechuhr. England ist dabei, den Weg zu einer kapitalistischen Zeitökonomie einzuschlagen.

Ohne die neuen Uhren wären auch Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica kaum vorstellbar, seine revolutionäre Bewegungslehre und Theorie der Schwerkraft, in der Beschleunigung alles ist und die zu ihrer experimentellen Bestätigung einer genauen Zeitmessung bedarf. Schon vor ihm hat der Chefexperimentator der Royal Society, Robert Hooke, mit einem kreisenden Pendel den Lauf der Planeten simuliert und deren Kreis- oder Ellipsenbahnen erstmals physikalisch richtig gedeutet. Ihm verdankt Newton den entscheidenden gedanklichen Anstoß zur Schwerkrafttheorie.

Kein Forscher hat das Denken über Zeit derart geprägt wie Newton. Ihm zufolge bewegen sich alle Planeten, Monde und anderen Körper vor dem Hintergrund einer universellen Zeit. »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.«

Für Leibniz dagegen ist Zeit nicht einfach da. Sie ist nichts Wirkliches, worin sich alles Geschehen abspielt, sondern zuallererst ein Bewusstseinsphänomen. Unser subjektives Zeiterleben schließe aber nicht nur innere Vorgänge ein. Zeit sei eine »Idee des reinen Verstandes«, die sich auch auf die Außendinge beziehe und derer wir vermöge unserer Sinne gewahr würden.

Leibniz fasziniert die Vielfalt und Komplexität der Welt. Seine Metaphysik verfolgt die Vielfarbigkeit des Daseins bis in die kleinsten individuellen Erscheinungsformen hinein. Der Philosoph schlägt einen Bogen vom subjektiven Zeitempfinden zu einer sozialen und messbaren Zeit.

Durch den Blick auf die Uhr können wir das Geschehen deshalb zuverlässig in Früheres und Späteres einteilen, weil sich im Inneren der Automaten ein kausaler Mechanismus auf immer gleiche Weise abspult. Aber auch ohne Uhren können wir uns mit anderen darüber einig werden, ob sich etwas früher oder später ereignet hat. Leibniz zufolge erkennen wir fortwährend kausale Beziehungen zwischen den Dingen und ihren wechselnden Zuständen und konstruieren erst aufgrund dieser eine zeitliche Ordnung.

Leibniz, nicht nur abstrakter Denker, entwirft selbst Uhrenmodelle und erfindet einen Automaten, der keine Zeiteinheiten zählt, sondern alle vier Grundrechenarten beherrscht. Im Zusammenspiel mit Uhrmachern heckt er neuartige mechanische Bauteile aus, die die natürlichen Zahlen repräsentieren, konzipiert Eingabe- und Resultatwerke und investiert ein Vermögen in seine »lebendige Rechenbank«. Quasi nebenbei blitzt dabei 1679 auch die Idee eines binären Rechners auf. Sie ahnen nicht, wie viel Leibniz in Ihrem Computer steckt!

Der Deutsche, dessen Gelehrtenkorrespondenz, etwa 15000 Briefe, heute Teil des Weltkulturerbes ist, sucht mehrfach den Kontakt zum führenden englischen Mathematiker. Newton ist es dank seines Infinitesimalkalküls gelungen, die Bewegung der Planeten und anderer Körper Zeitpunkt für Zeitpunkt kontinuierlich zu erfassen. Allerdings hat der eigenbrötlerische Forscher aus Cambridge seinen Calculus nicht veröffentlicht, sondern geheim gehalten.

Den Ruhm heimst Leibniz ein, der nach ihm auf die gleiche Rechenmethode gestoßen ist. Leibniz kleidet die Differenzial- und Integralrechnung in ihre bis heute verwendete Symbolsprache und macht sie von 1684 an auf dem Kontinent bekannt. Mit den wenigen Briefen, die sich die beiden herausragenden Mathematiker ihrer Zeit schreiben, setzt ein raffiniertes Versteckspiel ein. Ihre anfängliche Wertschätzung füreinander wird bald vom Konkurrenzdenken überschattet. Schließlich entfesseln sie den heftigsten Prioritätsstreit in der Geschichte der Mathematik. Er weitet sich zu einer Staatsaffäre aus, als der hannoversche Kurfürst Georg Ludwig, in dessen Diensten Leibniz steht, 1714 zum britischen König George gekrönt wird. Erst kurz vor Leibniz’ Tod mündet die Auseinandersetzung durch das Eingreifen der Prinzessin von Wales in eine maßgebende Debatte über Raum und Zeit.

Unser Zeitbewusstsein und die vielfach empfundene Zeitknappheit in westlichen Gesellschaften sind Ausdruck eines Zivilisationsprozesses, in dem immer mehr Tätigkeiten vor dem Hintergrund eines engmaschigen Zeitrasters erlebt werden. Dieses Buch rollt die Zeit-Geschichte noch einmal auf. Es schaut zurück auf eine Epoche, in der sich in Europa eine neue Zeitrechnung anbahnt, in der das Verständnis von Zeit aber noch nicht von omnipräsenten Uhren überblendet ist und in der sich die Philosophie noch nicht in ihre späteren Disziplinen aufgefächert hat.

Die Kapitel pendeln zwischen England und dem Kontinent hin und her. Sie erzählen, wie europäische Adelshöfe und Metropolen den Kutschenverkehr und die nächtliche Straßenbeleuchtung einführen, wie das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen Verbreitung findet, wie in den Großstädten das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Zeitbestimmung wächst und in welchem gesellschaftlichen Kontext Uhren mit Minuten- und Sekundenzeiger aufkommen.

Parallel dazu wird Zeit zum Gegenstand der Naturwissenschaften. Newton entwickelt den für die Physik maßgeblichen Zeitbegriff. Seine »absolute Zeit« ist ein fester Bezugsrahmen, in dem sich alle Körper bewegen. Analog zur standardisierten Uhrzeit, die ein koordiniertes Miteinander der Menschen in einer Großstadt ermöglicht, reduziert die »absolute Zeit« die Komplexität im Zusammenspiel physikalischer Objekte.

Dadurch wird zwar verständlich, warum wir von »der Zeit« sprechen. Aber gerade gegen eine solche Verdinglichung von Zeit wehrt sich Leibniz energisch. Für ihn gibt es keine »Zeit an sich«, sondern nur zeitliche Beziehungen zwischen Ereignissen. Der Philosoph stellt eine relationale Theorie der Zeit auf, die jedoch im Schatten der newtonschen Physik steht und bald in Vergessenheit gerät.

Erst im 20. und 21.Jahrhundert findet sie eine wachsende Anhängerschaft, nachdem in der Wissenschaftstheorie Ernst Mach, in der Physik Albert Einstein und in der Soziologie Nobert Elias einen Relationalismus im leibnizschen Sinn vertreten haben. Insbesondere die Schwierigkeit, die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik miteinander zu verbinden, lässt das Interesse an der leibnizschen Zeitauffassung heute aufleben. Dabei wird deutlich, dass die großen modernen physikalischen Theorien in Bezug auf das dahinterstehende Zeitverständnis ebenso weit auseinanderliegen wie die leibnizsche von der newtonschen Position. Ihre Kontroverse über Raum und Zeit ist bis heute nicht gründlich genug aufgearbeitet worden.

Die Gegenüberstellung der beiden faszinierenden Figuren steht im Mittelpunkt dieses Buches. Es schildert, wie im ausgehenden 17.Jahrhundert erstmals minutengenaue Uhren in bürgerliche Haushalte einziehen und dem Menschen auf den Leib rücken, wie das Tempo in die Welt kommt und eine präzise Uhrzeit die lokale Sonnenzeit in Verruf bringt. Und schließlich, wie sich der Zeitstandard vom erfahrbaren Himmelsgeschehen ablöst, kurz: warum die Neuzeit ihren Namen zu Recht trägt. Die biografische Konstellation ist Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise auf den Spuren der Zeitbestimmung und der menschlichen Zeiterfahrung in die beschleunigte Welt der Moderne. In eine Welt der Unruhe.

Teil IZEIT DER SCHATTEN

DER KLEINE LORD

Während Isaac Newton in der Grafschaft Lincolnshire unter Schäfern aufwächst, fällt in London der Kopf des englischen Königs

London, 30.Januar 1649. Der Zustrom zum Whitehall Palace reißt nicht ab. Tausende schieben sich durch die Straßen und drängen zum Banqueting House, wo das Gerüst bereits aufgebaut ist. Soldaten kontrollieren alle Zugänge zur City und riegeln das Schafott weiträumig ab.

Charles I. hat sich an diesem Wintertag doppelt eingehüllt, um nicht zu frieren und zitternd vor der Menge zu erscheinen.1 Der drei Tage zuvor zum Tode verurteilte König wirkt gefasst. Noch einmal erklärt er, ihm sei immer an der Freiheit seines Volkes gelegen gewesen. Diese Freiheit aber könne nur unter einer rechtmäßigen Regierung erlangt werden: unter der von Gott gegebenen königlichen Macht. Er werde als Märtyrer sterben und gehe von einem vergänglichen Königreich über in ein unvergängliches. Die Mahnung erreicht die Menschen nicht. Nur Bischof Robert Jaxon und die eifrigen Protokollführer vernehmen die letzten Worte des Königs, der sich wiederholt darüber beklagt, der Block sei für seine Hinrichtung zu niedrig.2 Schließlich signalisiert er dem maskierten Henker, er sei bereit.

»Als sie das abgeschlagene Haupt erblickten, brachen sie in einen Schrei aus, allgemein, unwillkürlich, in dem sich das Gefühl der Schuld und der Ohnmacht mit dem Schrecken durchdrang«, so der Historiker Leopold von Ranke.3 Souvenirjäger versuchen, ihre Taschentücher mit dem königlichen Blut zu tränken.

Die Nachricht von der Enthauptung des Königs verbreitet sich wie ein Lauffeuer auf der Insel und in ganz Europa. Erst durch die öffentliche Hinrichtung rückt der politische Umsturz in England ins Blickfeld, der sich im Windschatten des Dreißigjährigen Krieges ereignet hat. Eine Republik von Königsmördern mitten in Europa!

Unter Charles I. war England ins außenpolitische Abseits geraten. Das Land gilt längst nicht mehr als verlässlicher Bündnispartner, sondern als schwache, von Parlamentsbeschlüssen abhängige und von Verfassungskrisen geplagte Monarchie.4 Unvorstellbar, dass sich hier innerhalb der kommenden Jahrzehnte die meist-beachtete politische Alternative zum Absolutismus französischen Zuschnitts entwickeln wird. Beinahe genauso unvorstellbar, dass dieser bevölkerungsarme britische Inselstaat einmal zur Weltmacht aufsteigen könnte.

In der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts lebt England von Landwirtschaft und Wollindustrie. Schafherden prägen das Landschaftsbild, Tuchwaren sind die wichtigsten Exportartikel. Zuerst waren es schwere Stoffe aus Wolle, neuerdings sind die leichteren und billigeren »new draperies« gefragt, die Abnehmer in den Mittelmeerländern, teilweise auch schon in Übersee finden.5

Der Handel mit Tuchen kommt den Großfarmern und freien Bauern, den »Yeomen«, zugute, die für den Markt produzieren. Ihre Ländereien dehnen sich hier und da bereits weiter aus als die der alteingesessenen Feudalherren. Ganz so groß sind die newtonschen Besitztümer in der Grafschaft Lincolnshire nicht. Aber der Lebensstandard der Familie ist sichtlich gestiegen. Sie bewohnt neuerdings ein zweigeschossiges Herrenhaus mit dreibogigen Fenstern. Robert Newton hatte es im Jahr 1623 erworben und mit ihm den Titel des »Lord of the Manor« an seinen Sohn Isaac weitergegeben.

Isaac Newton stirbt nur wenige Monate nach seiner Hochzeit, noch vor der Geburt seines einzigen Kindes, das wie er Isaac heißen wird. Dem Sohn hinterlässt er ein Erbe, das diesem ein Leben lang eine gewisse finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit garantieren wird. Zum Familienbesitz gehören das Herrenhaus, Ackerland, volle Kornspeicher und 42 Rinder.6 Die Währung aber, in der der Reichtum einer Familie in England seit jeher bemessen wird, sind Schafe. Und mit 234 Schafen ist man wer in Lincolnshire!

Wenn Bauern etwas vererben, wird der Besitz in der Regel unter vielen Söhnen aufgeteilt. Isaac Newtons Vorfahren hatten es durch eine geschickte Heiratspolitik geschafft, die durch Erbteilung entstandenen Verluste auszugleichen und neue Ländereien hinzuzugewinnen. Die Ehe seiner Eltern, die im Frühjahr 1642 geschlossen wurde, steht beispielhaft für den sozialen Aufstieg vieler »Yeomen«.

Als Mitgift brachte die Braut nicht bloß eine weitere Parzelle Land mit in die Ehe ein. Über Hannah Ayscough, die Tochter des Gentleman James Ayscough, hat die Familie erstmals Tuchfühlung zur gesellschaftlichen Oberschicht aufgenommen, der »upper class«. Während Isaacs Vater und Großvater ihren Namen nicht schreiben konnten, hat Hannahs Bruder William in Cambridge studiert. Sie selbst wird ihrem Sohn, den es ebenfalls nach Cambridge ziehen wird, ab und an ein paar Briefzeilen senden.

Alte und neue Zeitrechnung

Isaac Newton wird am 25.Dezember 1642 geboren, am Morgen des ersten Weihnachtstages. Da hat in Italien oder Frankreich schon längst das neue Jahr begonnen. Legt man die in den katholischen Ländern gültige und heute allgemein anerkannte Gregorianische Zeitrechnung zugrunde, so ist es nämlich bereits der 4.Januar 1643. Doch auf der Insel richtet man sich immer noch nach dem alten Julianischen Kalender. Diese Kalenderspaltung, die den Diskurs über Zeitrechnung und Zeitbestimmung auf eine politisch-religiöse Ebene hebt, hält das ganze 17.Jahrhundert hindurch an. Auch für die Geschichtsschreibung ergeben sich Probleme aus dem Zeitloch von zehn Tagen. Es lässt sich nicht einfach stopfen.

Unsere Schlaf- und Wachrhythmen, die Gezeiten, Wetterzyklen und Ernteperioden sind an kosmische Zyklen gebunden: an die steten Wechsel von Tag und Nacht, die Mondphasen und Jahreszeiten. Auf diesen Perioden basiert die Kalenderrechnung. Indem wir Tage, Monate und Jahre aneinanderreihen, bringen wir zum Ausdruck, dass die Veränderungen, die wir erleben, kein bloßes Nacheinander sind. Vielmehr betrachten wir alles Geschehen vor dem Hintergrund einer wiederkehrenden Abfolge von Helligkeitsverhältnissen, Mond- und Wetterphasen. Für eine durchgängige Zeitrechnung müssen die verschiedenen Perioden jedoch auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Genau darin besteht das jahrtausendealte Kalenderproblem.

Unser heutiger Kalender hat eine lange Vorgeschichte. Schon jungsteinzeitliche Kreisgrabenanlagen, die in Europa ab etwa 4900 v.Chr. in großer Zahl entstanden, zeugen von der großen Bedeutung, die dem Jahreslauf der Sonne beigemessen wurde. Die Sonne geht nicht immer an derselben Stelle über dem Horizont auf. Beobachtet man den Sonnenaufgang im Wechsel der Tage, stellt man fest, dass sich der Ort ihres Erscheinens kontinuierlich in derselben Richtung verschiebt – bis zur Sonnenwende. Dann kehrt sich die Bewegungsrichtung um. Der Ort des Sonnenaufgangs pendelt in schöner Regelmäßigkeit zwischen zwei festen Wendepunkten hin und her, Jahr für Jahr.

Landmarken am Horizont oder eigens dafür errichtete große Bauwerke können daher als Zeitmarken dienen. In der Jungsteinzeit erleichterten sie den Übergang zu einer bäuerlichen Lebensweise. Für frühe Kulturen sei ein durchgängiger Kalender noch gar nicht so wichtig gewesen, erläutert der Wissenschaftshistoriker Gerd Graßhoff. Aber zu wissen, wann der Frühling beginnen und eine konstant wärmere Temperatur einsetzen würde, konnte über den Ernteertrag und das Schicksal einer Gemeinschaft entscheiden.

Erst im Lauf der Jahrtausende füllte sich der Pendelbogen der Sonne mit immer präziseren Zeitmarken. Währenddessen büßte der Mond in unseren Breiten seine Rolle als Taktgeber mehr und mehr ein. Etliche frühe Kulturen verwendeten noch Mondkalender, da von Neumond zu Neumond nur etwa 29 Nächte verstreichen und sich der Wechsel der Mondphasen leicht verfolgen lässt. In unserem heutigen Kalender haben Monate nur noch ungefähr die Länge eines Mondzyklus und nichts mehr mit konkreten Himmelserscheinungen zu tun. Lediglich der Termin des Osterfests ist noch an den Zeitpunkt des Vollmonds geknüpft und damit auch die Daten von Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Wie Irrlichter verweisen diese vagabundierenden Feiertage darauf, dass die Perioden des Mondes, der Sonne und der Erde schwer in Einklang zu bringen sind.

Newtons Epoche wird eine bedeutende Übergangsphase zu allgemein verbindlichen Zeitstandards sein. In London und Paris werden Sternwarten errichtet, um den gleichmäßigen Gang ausgeklügelter Uhrwerke immer besser an die Himmelsuhr anzugleichen. Trotz gleichartiger Forschungsprojekte auf der britischen Insel und dem Kontinent bleibt Europa jedoch in eine protestantische und eine katholische Zeitrechnung geteilt.

Der Julianische Kalender umfasst 365 Tage. Das Sonnenjahr ist einen Vierteltag länger. Folglich würde der Kalender bereits nach 100 Jahren um fast einen Monat aus dem Takt geraten, hätte man nicht schon zu Julius Cäsars Zeiten alle vier Jahre einen Schalttag eingefügt: den 29.Februar. Die Schwierigkeiten waren damit aber noch nicht aus der Welt. Mit 365,25 Tagen war die Länge des Sonnenjahres zwar schon recht gut getroffen, jedoch blieb eine Differenz von elf Minuten, die sich im Lauf der Jahrhunderte bemerkbar machte. Auch englische Astronomen kamen zu dem Schluss, der Kalender müsse entsprechend angepasst werden. Eine Kalenderreform, wie sie die katholischen Länder auf Anweisung von Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 beschlossen hatten, schien vielen von ihnen unumgänglich. Immerhin hatte sich der Kalender seit Christi Geburt um elf Tage verschoben. Die Bischöfe der anglikanischen Staatskirche widersetzten sich dem Vorschlag jedoch genauso wie deutsche Protestanten. Lieber wollte man der Sonne hinterherhinken, als dem Papst zu folgen.7

Kindheit im Bürgerkrieg

Den Puritanern, der »heißeren Sorte von Protestanten« auf der Insel, sind die weihnachtlichen Feiertage ein Dorn im Auge. Männer und Frauen beschmutzten ihre Ehre an diesen zwölf Tagen und Nächten mehr als im ganzen Rest des Jahres, schimpfen die Prediger. Besonders ausgelassen feiern die Menschen am Dreikönigstag. Bei gesüßtem Bier, auf dem gedörrte Apfelschalen schwimmen, wird bis in die Nacht hinein gesungen und getanzt.

Im Hause Newton dagegen herrscht Sorge: Gleich nach der Geburt ihres Kindes Isaac schickt die Mutter zwei Frauen nach North Witham. Sie sollen bei Lady Packenham Rat und Medikamente einholen. Das Leben des untergewichtigen Jungen hängt offenbar am seidenen Faden.8 Er ist so klein, dass er in einen Literkrug, einen »quart-pot«, passen würde.9

[3] Isaac Newtons Geburtshaus Woolsthorpe Manor bei Grantham in Lincolnshire, Holzstich um 1890.

Zu den wenigen verlässlichen Dokumenten aus seiner frühen Kindheit zählt ein zerfledderter Taufschein. Demnach lässt ihn seine früh verwitwete Mutter Hannah erst eine Woche nach der Geburt taufen. Sie selbst trägt Trauer, mitten in der fröhlichsten Jahreszeit, in der auch die ärmsten Bauern, die sonst an jeder Talgkerze und jedem Binsenlicht sparen, die Nacht zum Tag machen.

Der englische König hat im Winter 1642 wenig Grund zu feiern. Mehrfach hat Charles I. das Parlament aufgelöst und dann doch wieder einberufen, um höhere Steuern bewilligen zu lassen – ohne den gewünschten Erfolg. Als er schließlich die Verhaftung einiger widerständiger Parlamentarier anordnet, schlägt ihm eine ungeahnte Welle der Empörung entgegen.

Der Verfassungskonflikt eskaliert. In London, der mit Abstand größten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt auf der Insel, entladen sich die Spannungen in Protesten und Ausschreitungen, sodass sich der König gezwungen sieht, die Metropole zu verlassen. Da die Pressezensur außer Kraft gesetzt ist, können Parlamentarier nun offen für ihre Programme werben. Schätzungen zufolge kann mehr als die Hälfte der männlichen Stadtbevölkerung lesen.10 Allein in Newtons Geburtsjahr erscheinen Dutzende neue politische Zeitungen. Man lastet Charles I. die unrechtmäßige Einführung von Steuern an, die Förderung von Monopolen und den fehlenden Schutz für die englische Handelsflotte.

Innerhalb kurzer Zeit stellen Parlamentarier unter der Führung des Puritaners Oliver Cromwell eine Nationalarmee auf die Beine. Ihre Soldaten werden »Rundköpfe« genannt, im Unterschied zu den »Kavalieren« der königlichen Truppen. Während der Hof das Haar in Locken trägt, die bis zu den Schultern herabfallen, scheren die Puritaner, die sich von der anglikanischen Hochkirche abgespalten haben, ihr Haar kurz. 1645 gewinnt ihre Armee die entscheidende Schlacht in Mittelengland und nimmt kurz darauf das königliche Hauptquartier in Oxford ein. Charles I. flieht nach Schottland.11

Im Verlauf des Bürgerkriegs ziehen immer wieder Soldaten an Woolsthorpe vorbei. Der Ort liegt nahe der wichtigen Marsch- und Postroute, die von London aus über Grantham nach Schottland führt. Obwohl die Grafschaft Lincolnshire durch die Parlamentstruppen weitgehend gesichert ist, kommt es gelegentlich auch hier zu Plünderungen. Aber die englischen Armeen sind klein, jedenfalls nicht mit den riesigen Streitkräften zu vergleichen, die Mitteleuropa zur selben Zeit im Dreißigjährigen Krieg verheeren. Das Gut, auf dem Isaac Newton aufwächst, bleibt unbeschadet.

In den ersten Lebensjahren hat der Junge seine Mutter Hannah ganz für sich. Das ändert sich plötzlich nach seinem dritten Geburtstag, als sie einen Heiratsantrag des wohlhabenden Geistlichen Barnabas Smith annimmt.12 Im Jahr zuvor hat der 63-Jährige seine Frau verloren. Nun zieht die mehr als 30 Jahre jüngere Witwe zu ihm ins Pfarrhaus im Nachbarort North Witham – ohne den Jungen. Isaac bleibt in Obhut der Großmutter zurück. Und das nicht bloß vorübergehend. Barnabas Smith nimmt den Stiefsohn bis zu seinem Tod sieben Jahre später nicht zu sich ins Haus.

An seiner Verlassenheit wird Isaac Newton ein Leben lang leiden. Als Student wird er eine Liste seiner Jugendsünden aufstellen und bekennen, seiner Mutter und seinem Stiefvater damit gedroht zu haben, sie mit dem ganzen Haus in Flammen aufgehen zu lassen. Seine Zurückgezogenheit, sein Trübsinn und Misstrauen gegenüber Menschen, vielleicht auch die späteren schweren Depressionen können im Zusammenhang mit dieser frühen Verlusterfahrung und den damit verbundenen Ängsten gesehen werden.

Isaac ist sechs Jahre alt, als der Bürgerkrieg endet. Charles I. hat ein neues Heer zusammengetrommelt, und wieder wird seine Armee von Cromwells Truppen geschlagen, er selbst gefangen genommen. Allerdings ist auch das parlamentarische Lager inzwischen bis aufs Messer zerstritten. Die Levellers zum Beispiel treten für die Rechte der Kleinbauern ein, fordern ein allgemeines Wahlrecht und eine dritte Kammer im Parlament: neben dem Oberhaus, in dem sich Hochadel und Klerus versammeln, und dem Unterhaus, das die Interessen des Landadels und der sonstigen Vermögenden im Lande vertritt. Noch radikalere Gruppen als die Levellers lehnen das Privateigentum ganz ab.

Einige dieser Ideen werden im Zeitalter der Aufklärung neu aufleben. Cromwell aber, im Bemühen, irgendwie Herr der Lage zu werden, kämpft von nun an sowohl gegen die Royalisten als auch gegen die Levellers. Er lässt London besetzen, das Oberhaus wird abgeschafft, die Tür zu einer dritten Kammer für immer zugeschlagen. Den König bringt Cromwell kurzerhand vors Gericht. In einem Schauprozess wird Charles I. verurteilt und am 30.Januar 1649 an der Schwelle seines Palastes geköpft.

Ein Schlag, der Könige zittern lässt

Ein Aufschrei geht durch Europa. Auf dem Kontinent hat man eine solche Ungeheuerlichkeit noch nicht erlebt. Die Zahl der zeitgenössischen Schriften, die sich zu der Enthauptung des englischen Königs äußern, geht in die Tausende. Über kaum ein Thema berichten deutsche Zeitungen so ausführlich und kontinuierlich wie über die Revolution.13 Könige können Intrigen zum Opfer fallen oder Attentaten wie Heinrich IV. von Frankreich im Jahr 1610. Sie können auf Schlachtfeldern sterben wie der Schwedenkönig Gustav Adolf 1632 im Dreißigjährigen Krieg. Dass ein Herrscher »von Gottes Gnaden« von Revolutionären öffentlich hingerichtet wird, ist in Europa ohne Beispiel.

Frankreichs Regentin erschaudert, als sie die Nachricht aus London erhält. Auch in ihrem Land haben sich Adlige und Parlament erhoben. Gemeinsam mit ihrem erst zehnjährigen Sohn Ludwig ist die Königinmutter bei Nacht und Nebel aus Paris geflohen. Nun lässt sie die Hauptstadt von Soldaten belagern.14 Anders als in England geht die Monarchie in Frankreich jedoch gestärkt aus dem Bürgerkrieg hervor. Als »Sonnenkönig« wird Ludwig XIV. eine fast unumschränkte Macht erringen. Weitere 140 Jahre werden vergehen, ehe sich im Paris der Französischen Revolution ein ähnliches Schauspiel wiederholen wird wie soeben in London.

Der deutsche Dichter Andreas Gryphius widmet den letzten Stunden des englischen Königs ein Trauerspiel. Wenige Tage nachdem er von der Hinrichtung erfahren hat, bringt er einen ersten Entwurf zu Papier. In dem mehrfach umgeschriebenen Stück »Carolus Stuardus« erwartet der König die Enthauptung würdevoll, während sich die Anführer der Revolution, Oliver Cromwell und Lord Fairfax, unversöhnlich gegenüberstehen:

Fairfax: »Die Faust siht schrecklich aus die Fürsten Blutt befleckt.«

Cromwell: »Tyrannen Blutt steht frisch. Wie Feldherr, so erschreckt?«

Fairfax: »Der Völcker Recht verbeut Erb-Könige zu tödten.«

Cromwell: »Man hört die Rechte nicht bey Drommeln und Trompeten.«

Fairfax: »Man schwur: auffs minste nicht sein Heil und Haubt zu letzen.«

Cromwell: »So pflegt man was man wil den Kindern einzuschwetzen.«15

Der Dramatiker stellt der Radikalität und Unerschrockenheit Cromwells den gemäßigten Fairfax gegenüber, der sein Handeln später bereuen und die Seiten wechseln wird. Die Mehrheit des englischen Volkes hat eine solche Exekution nie gewollt. Insbesondere für die gottesfürchtige Landbevölkerung ist Cromwell von nun an der Königsmörder. Zwar rechtfertigen einige zeitgenössische Dichter die Tat als Tyrannenmord und versuchen, die neue Regierung zu entlasten. Zum Bestseller aber wird ein Tagebuch des Königs, von einem unbekannten Autor verfasst, das Charles I. zum Märtyrer stilisiert. Gryphius greift darauf zurück, und auch Isaac Newton liest es in jungen Jahren.16 Den Schüler erschüttert die blutige Tat. Er malt ein Bild Charles’ I. und schreibt ein Gedicht zur Hinrichtung des Königs.17

DER FRIEDEN ALLER FRIEDEN

Die europäischen Mächte besiegeln das Ende des Dreißigjährigen Krieges, und Gottfried Wilhelm Leibniz kommt in der besetzten Stadt Leipzig zur Welt

[4] Die Stadt Leipzig, hier in einem Kupferstich aus Merians Theatrum Europaeum während der Belagerung durch kaiserliche Truppen 1632, war immer wieder Kriegsschauplatz im Dreißigjährigen Krieg.

Andreas Gryphius gilt als der deutsche Dichter des Dreißigjährigen Krieges. Zwei Jahre ist er alt, als der Krieg beginnt, mit vier verliert er den Vater, mit elf die Mutter. Erst rollt die Gegenreformation über seine schlesische Heimatstadt Glogau hinweg, danach die Pest. Mit 20 schreibt er das Gedicht »Tränen des Vaterlands«:

»Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!

Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,

das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun,

hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.

Das Rathaus liegt im Graus. Die Starken sind zerhaun.

Die Jungfern sind geschändt. Und wo wir hin nur schaun,

ist Feuer, Pest und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.

Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.

Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,

von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen.

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,

was grimmer denn die Pest, und Glut, und Hungersnot:

dass auch der Seelen-Schatz so vielen abgezwungen.18

Es ist ein verheerender Krieg. In Sachsen sinkt die Bevölkerung nahezu um die Hälfte. Bauern sehen ihre Höfe in Flammen aufgehen, Dörfer und Städte werden zuerst von kaiserlichen Truppen niedergebrannt und dann von schwedischen Soldaten geplündert. Eine ganze Generation wächst mit dem Kriegshandwerk und in Ruinen auf.19 Der Dreißigjährige Krieg eskaliert auf andere Weise als der englische Bürgerkrieg. Charles I. hatte die öffentliche Empörung über sein aggressives politisches Vorgehen unterschätzt. Aus ihr resultierte die Stärke jenes Bündnisses, das sich von der Hauptstadt aus gegen ihn bildete und an dessen Spitze sich Cromwell setzte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, von vielen Seiten bedroht, in Klein- und Kleinststaaten zersplittert, ist nicht der rechte Ort für Revolutionen und Königsmorde. Hier fehlt ein politisches Zentrum wie London, das imstande wäre, auf die Kräfte im Rest des Landes derart Einfluss zu nehmen. Erst eine unheilvolle Verkettung internationaler Konflikte hat den europaweiten Religionskrieg heraufbeschworen.20

Je länger dieser Krieg andauert, umso tiefer wird der Graben zwischen den Konfessionen. Während hungrige Söldnerheere bald hier, bald dort ihre Schneisen schlagen, wächst die Angst der Bevölkerung vor Barbarei und Gewalt, vor Hunger und Seuchen. Einem bis dahin beispiellosen Gemetzel fällt im Mai 1631 mehr als die Hälfte der Einwohner des protestantischen Magdeburgs zum Opfer. Binnen weniger Stunden habe seine Soldateska die Stadt mit all ihren Reichtümern in Asche gelegt, triumphiert der kaiserliche General Gottfried Heinrich Graf Pappenheim. »Waß sich nun an Menschen in die Keller und auf die Boden versteckht, das ist alles verbronnen. Ich halt, es seyen uber 20000 Seellen darüber gegangen, und es ist gewiß seit der Zerstorung Jerusalem khein greilicher Werckh und Straff Gottes gesehn worden. Alle unßere Soldaten seindt reich worden.«21

Der Ruf nach Ordnung

Als Gottfried Wilhelm Leibniz im Sommer 1646 geboren wird, schaut alle Welt nach Münster und Osnabrück. Dort tagen 150 Gesandtschaften, um ein gesamteuropäisches Vertragswerk auszuarbeiten und das Geflecht aus territorialen Machtansprüchen und religiösen Fehden zu entwirren. Lediglich England, mit seiner innenpolitischen Krise beschäftigt, fehlt bei den Verhandlungen.

Über vier Jahre ziehen sich die Konferenzen und Bankette hin. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen von Diplomaten und Rechtsgelehrten, von Adligen, die ihre Dienerschaften und ihren Hausrat mit nach Westfalen bringen, und Juristen, die weniger anspruchsvoll sind als die hohen Herrschaften, eifrig Briefe schreiben, von Hof zu Hof reisen und das internationale Geschehen verfolgen.22 »Alle Deutschen sind Herr Doktor«, stellt der französische Gesandte Claude de Mesmes fest, der während der Friedensverhandlungen mit 200 Bediensteten am Münsteraner Domplatz residiert.23

Endlich werden am 24.Oktober 1648 die Verträge zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Frankreich und Schweden geschlossen: Das Reich tritt mit Vorpommern einen wichtigen Zugang zur Ostsee an die Schweden ab und verliert das Elsass langfristig an die Franzosen. Die Macht des Kaisers ist geschwächt, denn von nun an haben Fürstentümer, Grafschaften und Reichsstädte das Recht, auf eigene Faust Allianzen zu schließen, vorausgesetzt, »dass dergleichen Bündnisse nicht gegen Kaiser und Reich und dessen Landfrieden« gerichtet sind.24

Aber kann ein solches Konglomerat aus 300 Kleinstaaten Bestand haben? Zeitgenössische Gelehrte zweifeln daran. Zu tief sitzen die traumatischen Erfahrungen derjenigen, die über ein halbes Menschenalter Gewalt und Zerstörung ausgesetzt waren. Wie Gryphius sehen sie die vordringliche Aufgabe eines jeden Herrschers fortan darin, den Krieg zu verhindern. Ruhe, die erste Bürgerpflicht, ist daher auch die höchste Pflicht der Obrigkeit.

In ganz Europa ist der Hunger nach politischen Nachrichten gewachsen. Nicht von ungefähr fällt die erste große Welle von Zeitungsgründungen in die Zeit des gesamteuropäischen Krieges. Die periodische Presse soll den Kontinent überschaubarer machen. Sie entsteht auf Basis einer neuen Infrastruktur: eines öffentlichen Postwesens, im Reich also der Kaiserlichen Reichspost und der ihr nachfolgenden jeweiligen Landespost.25

»Wirtschaft, Politik, Wissenschaft hingen von diesem neuen Blutkreislauf der frühmodernen Gesellschaft ab«, erläutert Wolfgang Behringer in seiner maßgeblichen Studie zur Kommunikationsrevolution der frühen Neuzeit. »Der Posttag verlieh der Korrespondenz der Liebespaare, der Diplomaten und der Kaufleute seinen Rhythmus. Er strukturierte den Zeittakt der fürstlichen Kanzleien und der Börsen, determinierte die Erscheinungsdaten des neuen Mediums der periodischen Presse und prägte die Briefwechsel der Wissenschaftler des 17. und 18.Jahrhunderts.«26

Die Nachrichten zirkulieren umso schneller, je öfter die Städte »Posttag« haben. Bald nach Kriegsende erteilt der sächsische Kurfürst die Genehmigung für die »erste Tageszeitung der Welt«. Die Einkommenden Zeitungen, die sechsmal in der Woche erscheinen und von einem Leipziger Professor zensiert werden, gehen zwar rasch wieder ein, aber Ende des 17.Jahrhunderts werden drei Viertel aller Zeitungen zwei- bis dreimal pro Woche oder noch häufiger herausgegeben.27

Leibniz liest

Gottfried Wilhelm Leibniz wächst hinter den dicken Mauern der Leipziger Universität im Halbdunkel von Hörsälen und Bibliotheken auf. »21.Junii am Sontag 1646 Ist mein Sohn Gottfried Wilhelm, post sextam verspertinam 1/4 uff 7 uhr abents zur welt gebohren, im Wassermann«, heißt es in der Familienchronik.28 Die astrologisch relevante Angabe der Uhrzeit darf seinerzeit nicht fehlen. Den Schlägen der Kirchturmuhr entsprechend, ist sie bis auf eine Viertelstunde genau. Minuteneinteilungen sind in jenen Jahren noch unbekannt.

Die Eltern lassen ihren Jungen in der Leipziger Nikolaikirche taufen, die in jüngerer Geschichte durch die Montagsdemonstrationen zum Ende der DDR bekannt geworden ist. Taufpaten sind der kursächsische Hofprediger Martin Geier und der Rechtsgelehrte Johann Frisch. Die Einheit von Glauben und Wissen wird Gottfried Wilhelms Lebensmaxime. Es ist auch die Losung der Hochschule, die ihn in ihrem Schoß aufnimmt.

Zum Zeitpunkt seiner Geburt wohnt die Familie vermutlich in einem der Universitätsgebäude an der späteren Ritterstraße. Der spätgotische Bau mit imposanten Giebeln, der heute nicht mehr existiert, beherbergt zusammen mit dem Neuen Kolleg und dem Großen Kolleg ein Gutteil der Leipziger Professoren- und Studentenschaft. In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich das Frauenkolleg und weitere Einrichtungen, in denen Dozenten und Studenten nach strengen Regeln zusammenleben.

Der Vater, Friedrich Leibniz, ist Jurist und Professor für Moralphilosophie. Zwei Jahre zuvor hat er die Tochter eines anderen angesehenen Leipziger Juristen und Professors geheiratet, die 24 Jahre jüngere Catharina Schmuck. Dass ihr gemeinsamer Sohn einmal eine juristische Laufbahn einschlagen wird, passt ins Bild der Familie und in eine Zeit, die beherrscht wird vom Wunsch nach Frieden und Schlichtung zwischen fast hoffnungslos zerstrittenen Parteien.

Friedrich Leibniz verschlug es noch vor Kriegsbeginn in die damals etwa 18000 Einwohner zählende Messestadt, an deren Universität sich Jahr für Jahr 750 Studenten einschrieben. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits beide Elternteile verloren. Unter der Obhut eines Onkels konnte er jedoch ein Studium aufnehmen, und 1624 fand er eine Anstellung als Notar.29 Seine erste Frau Anna schenkte ihm einen Sohn, Johann Friedrich, starb allerdings bald darauf. Die nächste Ehe ging er mit der Tochter eines Leipziger Buchhändlers ein, die ihn ebenfalls als Witwer zurückließ. Der Tod blieb ein ständiger Begleiter seines Lebens, zumal Leipzig mehrfach zum Kriegsschauplatz, von der Pest heimgesucht und schließlich besetzt wurde.

Ihren Abzug lassen sich die schwedischen Besatzer teuer bezahlen. Am 22.Juli 1650 – Gottfried Wilhelm ist gerade vier Jahre alt geworden, seine Schwester Anna Catharina feiert in wenigen Tagen ihren zweiten Geburtstag – kann man endlich auch in Leipzig die Friedensverträge bejubeln. Der Tag beginnt mit Glockengeläut, an das sich Gottesdienste und Andachten anschließen. Es ist keine prächtige Feier wie in Nürnberg, schon gar kein Volksfest. Stattdessen werden die Bürger von ihrem Fürsten ermahnt, niemand solle nach dem öffentlichen Gottesdienst »bey Vermeidung ernster Straffe sich unterstehen, die übrige Zeit des Tages mit Schlemmen, Temmen oder anderer Üppigkeit zuzubringen, sondern zu Hause mit den Seinigen Gott ferner loben, rühmen, ehren, preisen«.30 Universitätsangehörige wie der von seinem Sohn als »zierlich« und »cholerisch« charakterisierte Friedrich Leibniz und seine als fromm geltende Frau Catharina begehen den Tag zweifellos in diesem Sinn.

Der Vater habe hohe Erwartungen in ihn gesetzt und sich dadurch oft den Spott seiner Freunde zugezogen, wird Gottfried Wilhelm Leibniz später schreiben. Noch vor dem Einschulungsalter habe er ihn in die Welt der Bücher eingeführt, sodass er schon als Junge am Lesen von Geschichten mehr Vergnügen gefunden habe als am Spiel.31

Aber kaum hat er das sechste Lebensjahr vollendet, stirbt der Vater. Dem Sohn bleiben nach eigener Aussage nur »schwache Erinnerungen« an ihn, die sich mehr und mehr mit fremden Erzählungen vermischen. Die vom Vater hinterlassene Bibliothek wird bald zu Gottfried Wilhelms Refugium. Schon als Achtjähriger verbringt er hier ganze Tage mit der Lektüre, liest historische Texte und die Schriften der Kirchenväter.

Der Religionskrieg ist vorbei, die Theologen streiten weiter

Die Leipziger Universität ist ein Zentrum der lutherischen Orthodoxie. Hier predigen konservative Theologen wie Johann Hülsemann die Vergeblichkeit alles irdischen Tuns.32 Der Mensch bekomme auf der Höhe seines Lebens von Gott einen Schlag, »dass er wie ein Krautstengel oder eine Sonnenkrone umfällt, weggenommen und im Huy abgehauen wird; da liegt es dann alles, darauff 20, 30 Jahren großer Fleiß und Mühe ist gewendet worden«.33

Mit diesem tief sitzenden Pessimismus ist Leibniz von Kindheit an konfrontiert. Hülsemann, mehrfach Rektor der Hochschule, und andere Theologen bauen ihre Orthodoxie mithilfe der scholastischen Begriffswelt bis ins Kleinste aus und stehen anderen Konfessionen unversöhnlich gegenüber. Dagegen zieht Leibniz neben den Büchern Luthers auch Streitschriften der Calvinisten, der Jesuiten und Arminianer, der Thomisten und Jansenisten zurate. Später wird er an überkonfessionelle Reformideen anknüpfen und Hülsemanns düsterem Gottesbild mit der Auffassung begegnen, die wahre Frömmigkeit bestehe darin, Gott zu lieben, statt ihn zu fürchten.

Derweil setzt sich die Spaltung der Kirchen im 17.Jahrhundert weiter fort. Vor allem Protestanten suchen religiöse Erfahrungen abseits der Institutionen und deren spitzfindiger Schriftauslegung. In den deutschen Staaten wird der Pietismus mit seiner neuen Innerlichkeit nach und nach zur wichtigsten Reformbewegung, in England vertieft sich die Kluft zwischen der anglikanischen Kirche und neuen Glaubensgemeinschaften.

Es klingt wie eine Ironie der Geschichte: Newton, der bald am Trinity College in Cambridge lehrt – am »Dreifaltigkeits-College« –, wird sich den Antitrinitariern anschließen, die die Dreifaltigkeit und Menschwerdung Gottes leugnen. In seinen Auseinandersetzungen mit Leibniz wird auch beider verschiedenartiges Gottesbild eine Rolle spielen. Während beide darum ringen, ihre naturphilosophischen Erkenntnisse mit der Theologie zu verbinden, wird der eine den anderen der Religionsfeindlichkeit und des Materialismus bezichtigen.

ISAACS ZIFFERNBLATT

Newton liest die Zeit an der Wanderung der Schatten ab und wird schon als Schüler für seine selbst gebauten Sonnenuhren bekannt

Isaac Newton wächst in Woolsthorpe ganz in der bäuerlichen Tradition seiner Vorfahren auf. Das Jahr ist bestimmt durch die Rhythmen der Natur: den Wechsel von Aussaat und Ernte, die Geburt der Lämmer und das Scheren der Schafe, die Ruhe des Winters und das Frühlingserwachen.

Im Sommer 1653 kehrt seine Mutter auf den väterlichen Gutshof zurück. Sieben Jahre hat sie den Pfarrhaushalt ihres zweiten Gatten geführt, die Gemeinde aber nach dessen Tod verlassen. Endlich hat der Junge sie wieder! Von ungeteilter Freude kann jedoch keine Rede sein, denn die Mutter bringt drei jüngere Halbgeschwister mit nach Woolsthorpe: Hannah, Mary und Benjamin buhlen nun mit Isaac um ihre Aufmerksamkeit. Isaac, schon als Kind leicht reizbar, macht ihnen das Leben nach eigenen Angaben manchmal schwer. Und wenn er als Ältester die Schafe hüten soll, die in der Nähe der Häuser weiden, schnitzt er, verliert sich in Gedanken und die Tiere mitunter völlig aus dem Blick. Der Junge eignet sich kaum zum Hirten, die mit großen Herden weite Wege zurücklegen.

Um den Überblick über die Tiere zu behalten, haben die Schafhirten in Lincolnshire eine eigene Zählmethode entwickelt. Sie benutzen kein Dezimalsystem, sondern bilden Untergruppen aus jeweils 20 Schafen. Die entsprechenden Zahlenreihen beginnen mit Yan, Tan, Thetera, Pethera für eins, zwei, drei, vier und gehen bis Figgit für 20. Abzählreime erleichtern es, sich die Zahlen zu merken. Damit die Herde vollzählig bleibt und die Hirten auch die neugeborenen Lämmer durchbringen, erhalten sie vielerorts eine Pro-Kopf-Prämie anstelle eines festen Lohns.34

Nach vielen Stunden in der Abgeschiedenheit der Natur ist der rechte Zeitpunkt für die Rückkehr der Schafherde vor Sonnenuntergang nicht leicht abzupassen. Zwar kann der Mensch kurze Zeitspannen von wenigen Sekunden recht gut einschätzen. Aber wenn es um längere Intervalle wie Stunden geht, liegen wir oft ziemlich daneben. Forscher haben in vielen Experimenten nachgewiesen, dass Stunden schneller vergehen, als die meisten Menschen glauben.35

Schafhirten haben ein besonderes Zeiterleben. Sie achten auf Pflanzen, die ihre Blüten zu bestimmten Tageszeiten öffnen, um Bienen oder anderen Insekten ihren Nektar anzubieten, und lesen die Zeit am Verhalten von Tieren ab. Alle Lebewesen haben ihre eigenen Zyklen, die mit denen anderer Organismen verknüpft und am Tages- und Jahresgang der Sonne ausgerichtet sind.

Isaac schaut auf die Farben der Wolken, verfolgt die Lichtstimmungen und das Spiel der Schatten. Die Geschichten, die seine frühen Biografen erzählen, ranken sich zwar auch um selbst gebastelte Laternen und hölzerne Mühlen. Was aber vor allem Erwähnung findet, sind seine fortwährenden Beobachtungen des Sonnenstandes. Sowohl in Woolsthorpe als auch in Grantham, wo er eine weiterführende Schule besucht, sei er für seine verlässlichen Sonnenuhren bekannt gewesen.36

Eine kurze Geschichte der Stunde

Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, den Tag in 24 Stunden stets gleicher Länge zu untergliedern. Wir machen uns keine Gedanken darüber, dass dies ein willkürliches Ordnungsschema und eine ziemlich junge kulturelle Errungenschaft ist. Beim Vergleich mit der Sonnenuhr wird man unweigerlich damit konfrontiert, denn ihre Funktion ist auf die Spanne zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang beschränkt, die mit den Jahreszeiten variiert. Im Sommer steigt die Sonne hoch über den Horizont auf und beschreibt einen weiten Bogen am Himmel, im Winter ist die Tageslichtdauer kürzer. Dementsprechend unterteilen die Ziffernblätter einfacher Sonnenuhren den lichten Tag nicht in gleich lange Stunden, sondern jeweils jahreszeitabhängig in Zeitspannen von unterschiedlicher Länge, genauso wie der Tagesablauf an der natürlichen Helligkeit ausgerichtet ist: Im Sommer arbeiten Menschen auf dem Land länger und bleiben länger auf.

In Lincolnshire ritzte man die Ziffernblätter der Sonnenuhren schon im Mittelalter in die Südwände von Klöstern und Kirchen, um Mönche zu regelmäßigen Gebetsstunden und die Gemeinde zur Messe zusammenzubringen. Erst mit dem Aufkommen mechanischer Uhren gewann die Idee gleich langer Zeitstunden an Bedeutung, bis dahin war sie lediglich Sternenguckern geläufig. Astronomen unterteilten den vollen Tag schon lange in 24 gleiche Stunden. Dabei orientierten sie sich aber nicht an der Sonne, sondern an den Fixsternen, die sich während ihrer nächtlichen Wanderung scheinbar völlig gleichmäßig um die Erde bewegen. In der Sternenkunde war die gleichbleibende Stunde als fixe Rechengröße unerlässlich, um Himmelsbeobachtungen über sämtliche Jahreszeiten hinweg miteinander vergleichen zu können.

Dieses feste Zeitmaß einer Stunde als vierundzwanzigster Teil des vollen Tages ging von der Astronomie über auf eine neue Uhrentechnik. Mittelalterliche Uhren erzeugten Zeiteinheiten, indem das Fallen eines Gewichts stets auf dieselbe Weise unterbrochen wurde. Ihr wichtigster Mechanismus, die Hemmung, stoppte die Abwärtsbewegung des Gewichts in möglichst gleichbleibendem Rhythmus, Zahn um Zahn. Die kurzen Spannen wurden dann zu Stunden zusammengesetzt. Ein Vorteil dieser Methode: Die Uhrzeit ließ sich unabhängig von Witterung und Sonnenschein ablesen.

Die ersten Räderuhren, raumhohe Eisengestelle, wurden von Grobschmieden und Schlossern gebaut und auf Stadt- und Kirchtürmen installiert. Sie brachten Glocken zum Schlagen, jene bronzenen Stimmen der Zeit, die weder eines Ziffernblatts noch eines Zeigers bedürfen. Als öffentliche Schlaguhren läuteten sie zum Öffnen der Stadttore, zu Beginn des Arbeitstages, der Messe, des Marktes oder der Sitzungen des Rats und strukturierten so die Abläufe des wirtschaftlichen, religiösen und politischen Lebens. Über die Schläge öffentlicher Uhren gliederte sich jeder Einzelne in die arbeitsteilige Organisation des Gemeinwesens ein. Vom ausgehenden Mittelalter an leiteten sie in ganz Europa die Etablierung einer regulären Zeitordnung ein.37 Doch verstrichen Jahrhunderte, ehe sich die Schlaguhren in feinmechanische Instrumente verwandelten und Spezialisten erlernten, Hausuhren oder noch kleinere, transportable Uhren mit Federantrieb herzustellen. Schließlich entstanden in Dresden, Nürnberg und Augsburg, in Paris und Genf erste Uhrmachervereinigungen.

Schattenspiele

In England blüht das Handwerk vergleichsweise spät auf. Erst 1631 erhält die Clockmakers’ Company in London ihre Satzung. Ob Isaac Newton in seiner Kindheit jemals eine typisch britische Hausuhr in Form einer Laterne zu Gesicht bekommt, ist mehr als fraglich. Statt die Nacht in gleich lange Stunden zu unterteilen, wie es uns heute geläufig ist, sprechen die Bauern in Woolsthorpe von Phasen wie Dämmerung, Einbruch der Nacht, Kerzenanzünden, dunkle Nacht, Spätnacht, Morgengrauen und Hahnenschrei – ein Kaleidoskop der Dunkelheit.

Aus der ganzen Grafschaft Lincolnshire ist lediglich ein einziger Uhrmacher bekannt, der schon in den 1650er-Jahren Hausuhren baut.38 Aber es gibt viele Hinweise auf Uhrmacher, die nur eine Generation später in der Region eigene Werkstätten betreiben. Die älteste, heute noch erhaltene Hausuhr aus Lincolnshire stammt aus den 1680er-Jahren, als die Erfindung der Pendeluhr bereits einen Uhrenboom auf der Insel ausgelöst hat.39

Isaacs ausgeprägte Vorliebe für die Zeitbestimmung entzündet sich nicht an der Mechanik des Uhrwerks. Vielmehr verfolgt er, wie die Schatten der Zeit über große Steine und die Wände des Herrenhauses wandern und wie sich Richtung und Länge dieser Schatten verändern. Um Stunden und halbe Stunden zu messen habe er, so sein erster Biograf William Stukeley, Holzstifte in die Wände geschlagen und die entsprechenden Stellen markiert. Was ihm nach Graden so exakt gelungen sei, dass die ganze Familie und die Nachbarschaft »Isaacs Ziffernblatt« benutzt hätten, wie es allgemein genannt worden sei.40

»Isaacs Ziffernblatt« – die Geschichte klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Sie reiht sich nahtlos in die ebenfalls von Stukeley kolportierten Wunderknaben-, Apfel- und sonstigen Newton-Anekdoten ein. Dennoch ist sie vermutlich nicht weit hergeholt. Mit Sicherheit lässt sich nämlich sagen, dass einige Jahre später aus dem vermeintlichen Spiel mit dem Schatten ein ernsthaftes Studium geworden ist.

Als Isaac zwölf Jahre alt ist, schickt ihn die Mutter auf die weiterführende Schule nach Grantham und quartiert ihn bei dem Apotheker William Clark ein. Wieder ist Isaac von der Familie getrennt. In dem Haus an der High Street muss er mit einer dunklen Dachkammer vorliebnehmen. Viele seiner Biografen zeichnen das Bild eines einsamen, verzweifelten Jungen, der kaum Freunde hat.41 Sein Tagesablauf ist nun wesentlich stärker reglementiert als zuvor. Der Besuch der Grammar School dürfte sein erster Kontakt mit einer strengen Zeitordnung sein. In den großen Schulklassen ist Disziplin das oberste Gebot, die Einteilung des Unterrichts mithilfe von Sanduhren gang und gäbe.

Nach dem Unterricht schaut Isaac dem Apotheker über die Schulter, wenn dieser Heilmittel in Mörsern und Tiegeln anrührt. In der Arzneistube erwacht sein Interesse an der Chemie, das er durch die Lektüre von Büchern aus Clarks bescheidener Hausbibliothek vertieft. Darüber hinaus hat Isaac in Grantham erstmals Zugang zu einer öffentlichen Bibliothek. Sie ist in der Nähe der Schule in einem kleinen Raum über dem Südportal der Kirche St. Wulfram untergebracht, ein abgelegener, stiller und vermutlich willkommener Zufluchtsort für den Jungen.42

Seine wachsende Neugier hinterlässt Spuren in dem ersten Notizbuch, das er im Alter von 16 Jahren anlegt. Der Schüler sammelt Erkenntnisse jeglicher Art: was man gegen Zahnschmerzen tun soll, dass man Vögel fangen kann, indem man sie betrunken macht, und auf welche Weise sich Metall schmelzen lässt. Auffällig sind seine vielen Eintragungen zu Licht und Farben. Unter der Überschrift »Wie man Farben anmischt« kopiert er Rezepturen für verschiedene Rot-, Blau- und Grüntöne, für das Kolorit des Himmels, der Wolken und des Meeres. Darauf folgt ein prägnanter Abschnitt, aus dem man schließen darf, dass Stukeleys Erzählung über »Isaacs Ziffernblatt« einen wahren Kern besitzt.

Zunächst trägt Isaac die Positionen etlicher Fixsterne in einer Übersichtstafel zusammen. Nicht weniger sorgsam ausgearbeitet ist die nächste Tabelle, die über ein ganzes Jahr hinweg den Stand der Sonne mit der Länge des Schattens eines Stabes vergleicht. Auch eine maßstabsgetreue Beschreibung des kopernikanischen Weltsystems fehlt nicht. Schließlich skizziert der Schüler, wie man eine Sonnenuhr für jeden beliebigen Breitengrad entwirft.

Erstmals benutzt Newton hier die Sprache der Geometrie, und zwar im Kontext der Zeitbestimmung. Nachdem er bereits ziemlich präzise Vorstellungen von den Bewegungen der Himmelskörper gewonnen hat, nimmt er sich unter Zuhilfenahme eines Buches eine anspruchsvolle Aufgabe vor: Der Lauf der Sonne ändert sich von Breitengrad zu Breitengrad. In London steigt sie mittags höher über dem Horizont auf als im nördlicheren Woolsthorpe. Gleichwohl soll das dargestellte Verfahren zur Konstruktion des Ziffernblatts nicht nur die Zeitangabe an einem der beiden Standorte, sondern an x-beliebigen Orten ermöglichen. Man kann nur darüber spekulieren, was den Jugendlichen antreibt, sich auf einer derartigen Abstraktionsebene mit der Zeitbestimmung auseinanderzusetzen. Seine Notizen legen nahe, dass er sich schon lange mit Sonnenuhren befasst und sich eingehend über ihre Funktionsweise informiert hat.

Klapp- und Reisesonnenuhren

Im 16. und 17.Jahrhundert haben sich Sonnenuhren von Klostermauern und Hauswänden abgelöst und sind mobil geworden. Klapp- und Reisesonnenuhren gibt es in allen Preislagen. Edle Modelle werden aus Elfenbein gefertigt oder versilbert, Priester und Gelehrte können sie sogar in Form eines Kreuzes oder Buches bestellen. Die billigsten Uhren bestehen aus einem rechteckigen oder ovalen Holztäfelchen, auf dem ein schlichtes Ziffernblatt aus Papier klebt.43 Während mechanische Kleinuhren immer noch kostbare Einzelstücke sind – wohlhabende Damen zum Beispiel favorisieren Halsuhren im Stil einer Parfumdose mit Gravur –, markieren tragbare Sonnenuhren eine bedeutende Etappe auf dem Weg zur persönlichen Eingliederung in eine allgemeine Zeitordnung. Sie sind freilich nur bei Sonnenschein zu gebrauchen und zeigen die Zeit nicht von sich aus an.

[5] Elfenbein-Klappsonnenuhren für unterwegs. Links: Nürnberg um 1650. Mitte: Nürnberg um 1620. Rechts: Dieppe um 1650.

Sara Schechner, Kuratorin der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente der Harvard University, hat mehr als 2000 historische Sonnenuhren aus Museumsbeständen begutachtet und verschiedene Moden und Kundenkreise festgestellt. Demnach wurden Reisesonnenuhren für Kaufleute oder Pilger mit Angaben darüber versehen, wie der Benutzer sie an einem neuen Ort einstellen musste. »Viele Sonnenuhren waren nicht nur tragbar, sondern auch für eine Verwendung an verschiedenen Breitengraden ausgelegt.«44

Besonders raffiniert sind mobile Sonnenuhren mit integriertem Kompass. Ihre Funktionsweise lässt sich am besten vor dem Hintergrund des kopernikanischen Weltbilds verstehen, das sich im Verlauf des 17.Jahrhunderts durchsetzt: Nicht die Sonne bewegt sich um die Erde, sondern wir, die Betrachter, bewegen uns. Wir sehen die Sonne morgens im Osten auf- und abends im Westen untergehen, weil sich der Globus in entgegengesetzter Richtung gleichmäßig um seine Achse dreht.

Die Drehachse der Erde liegt in Nord-Süd-Richtung. Wenn ein Schattenstab also in dieselbe Richtung weist, dreht sich die Sonne im Lauf des Tages gleichförmig um ihn herum. Diesen zur Erdachse parallel stehenden Schattenzeiger nennt man einen Polzeiger oder Polstab. Astronomen verwendeten ihn vermutlich schon in der Antike. In Europa wurde er erst wiederentdeckt, als man versuchte, die Zeit der Sonnenuhr an die Stundeneinteilung der mechanischen Uhr anzupassen.45 Schließlich ergänzten findige Handwerker die Klappsonnenuhr um einen Kompass, nicht viel größer als eine Zwei-Euro-Münze. Damit war es möglich, auch den persönlichen Zeitmesser überall einzunorden und parallel zur Erdachse auszurichten.

Bei Sonnenuhren mit einem erdachsenparallelen Polzeiger, der senkrecht auf einem entsprechenden Ziffernblatt steht, ist die Einteilung der Stunden völlig symmetrisch. An diesen äquatorialen Sonnenuhren lassen sich die Stunden so einfach ablesen wie an den uns heute vertrauten Uhren. Die Stundenlinien unterteilen den Kreis in gleich große Segmente, gleiche Winkelabstände auf dem Ziffernblatt bedeuten gleich lange Zeitabschnitte.

Relikte aus einer fremden Zeitkultur

Auf uns wirken die handygroßen Klappsonnenuhren wie Relikte aus einer fremden Zeitkultur. Wer heute auf eine Bahnhofs- oder Armbanduhr schaut, denkt nicht daran, dass die Bewegungsrichtung des Stundenzeigers oder die Zwölf-Uhr-Markierung auf der Vertikalen von der Sonnenuhr herrühren.46 Mit den Displays unserer Digitaluhren haben wir uns von der Bewegung der Sonne als Zeitmaßstab weiter entfernt denn je. Kinder haben es inzwischen besonders schwer. Viele von ihnen lernen die Uhrzeit nur noch als Folge von Zahlenangaben kennen, wodurch ihnen die Zeit und die Zeitbestimmung viel rätselhafter erscheinen müssen als dem jungen Isaac Newton.

Der Globus ist heute außerdem in Zeitzonen eingeteilt, eine Standardisierung der Zeit, die im 17.Jahrhundert unvorstellbar gewesen wäre. Man muss nur einen Moment in Newtons Haut schlüpfen, um die ganze Absurdität der Zeitzonen zu verstehen: Selbstverständlich muss eine Uhr die »wahre« Zeit anzeigen, die dem Stand der Sonne am jeweiligen Ort entspricht! Die »wahre Sonnenzeit« ändert sich aber von Ort zu Ort.

Heutige Zeitzonen liegen jeweils eine Stunde auseinander und haben daher eine durchschnittliche Breite von 15 Längengraden, was dem vierundzwanzigsten Teil des Vollkreises von 360 Grad entspricht. Die für Mitteleuropa maßgebliche Zeitzone zum Beispiel bezieht sich, von Greenwich aus gezählt, auf den fünfzehnten Längengrad. »Aber nur für die Orte, die exakt auf dem fünfzehnten Längengrad liegen, steht die Sonne im Winter tatsächlich um zwölf Uhr mittags am höchsten«, erläutert Stefan Weyers, Leiter der Arbeitsgruppe »Zeiteinheit« an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. In Deutschland trifft dies nur für die östlichste Stadt Görlitz in der Oberlausitz zu. Berlin liegt durchschnittlich sechs Minuten zurück, Aachen bereits 36 Minuten. Mit der Umstellung auf die Sommerzeit verschiebt sich die Mittagslinie dann noch einmal um 15 Längengrade nach Osten. Im Sommer sind unsere Uhren also noch weniger im Einklang mit dem Sonnenstand.

Länderübergreifende Zeitzonen haben sich in der Moderne deswegen durchgesetzt, weil Menschen in kurzen Zeitspannen große Entfernungen zurücklegen und weil die Standardzeit von einer Zentraluhr aus mittels Funk oder Kabel ohne nennenswerte Verzögerung übertragen werden kann. Uns erspart die Zoneneinteilung eine ständige Zeitumstellung von Ort zu Ort. Lediglich bei sehr weiten Reisen müssen wir gelegentlich die Uhr ein paar Stunden vor- oder zurückdrehen. Und selbst dann machen wir uns kaum Gedanken über den Lauf der Sonne, der die Ursache dafür ist.

Der feste Zeitstandard hat dazu beigetragen, dass wir den Begriff der »Zeit« heute so verwenden, als handele es sich dabei um eine sichere Sache, um irgendwas, das außerhalb unserer Köpfe existiert. Aber was soll das sein? Die Antwort auf diese Frage besteht für viele Menschen in einem Verweis auf das Ziffernblatt, den auch Albert Einstein bemühte: Zeit ist das, was man an der Uhr abliest. Aber was misst die Uhr? Halten wir zunächst fest, dass sie ein technisches Hilfsmittel zur Orientierung im Wandel des Geschehens ist, dass Mönche im Mittelalter andere Uhren zu anderen Zwecken benutzen als Stadtbewohner der frühen Neuzeit und dass die Seefahrer als Vorboten der Kolonialisierung ähnlich wie die Naturforscher des 17.Jahrhunderts auf noch präzisere Chronometer angewiesen sind. Wir werden später sehen, wie sich die Uhr im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung, der Globalisierung und Verwissenschaftlichung der Technik zu einem Instrument entwickelt, das die »wahre Sonnenzeit« als Zeitnormal infrage stellt.

Dennoch zeigen Vielfalt und Verbreitung tragbarer Sonnenuhren, wie eng Mittel und Symbole der Zeitbestimmung in jener Epoche noch an den Lauf der Natur geknüpft sind. Als Sohn eines Schafzüchters hat Newton das Spiel mit dem Schatten von klein auf erlernt. Für den heranreifenden Naturbeobachter ist die Sonne dann nur noch ein möglicher Fixpunkt am Himmel. Steht sie wieder im Zenit, ist ein Sonnentag verstrichen. Was aber, wenn man stattdessen einen Fixstern ins Auge fasst und dessen Höchststand von einer Nacht zur nächsten verfolgt? Oder den Mond? Um die Zeitmessung astronomisch und mathematisch abzusichern, wird Newton die Bewegungen der Gestirne in all ihren Facetten erforschen.

Als er das oben erwähnte Notizbuch 1659 in Grantham kauft, hat er erst wenige Grundlagen der Mathematik gelernt – nicht sehr viel mehr, als ein künftiger Landbesitzer braucht. An eine akademische Laufbahn wagt er wohl kaum zu denken. Die Universität Cambridge, wo sein Onkel William studiert hat, ist weit weg. In Woolsthorpe wartet seine Mutter darauf, dass ihr ältester Sohn in Kürze den Hof übernimmt. Er soll das Erbe seines Vaters antreten. Ende 1659 nimmt sie ihn von der Schule.

Ein Dreivierteljahr später ist er wieder zurück in Grantham – diesmal zur intensiven Vorbereitung aufs College. Vielleicht hat Onkel William die Mutter dazu überredet, vielleicht haben die Lehrer seine außergewöhnliche Begabung erkannt. Jedenfalls sieht auch die Mutter schließlich ein, dass aus einem Jungen, der tags wie nachts in den Himmel schaut, der Schattenstäbe in die Wände nagelt und nach Kometen späht, kein Schafzüchter werden kann.47

DIES ACADEMICUS

Der junge Leibniz führt ein Gelehrtenleben nach Sanduhr und Stundenplan und erliegt der Faszination des Unendlichen

Ein Mensch, ein Curriculum. Wenn Leibniz über Leibniz spricht, skizziert er seinen Bildungsweg. Viel mehr als einen Abriss seiner Lernbiografie hinterlässt der Vielschreiber nicht. Weder von der Mutter ist die Rede noch von Geschwistern, geschweige denn von Schul- oder Studienkameraden. Man erfährt kaum etwas über seine Heimatstadt Leipzig, die elterliche Wohnung schrumpft auf die Bibliothek zusammen, den Raum, in dem er sich am liebsten aufhält. Dort macht es sich der Professorensohn im Sessel des Vaters bequem. Und solange wir in Ermangelung anderer Quellen dem Inhaber des Curriculums folgen, bleiben Kindheit und Jugend dieses dunkelhaarigen, blassen, hageren Jungen auf eine stille Tätigkeit eingegrenzt: Leibniz liest.

»Wilhelm Pacidius, ein Deutscher von Geburt, aus Leipzig, der den Vater, den Führer des Lebens, zu früh verloren hatte, wurde aus eigenem Antrieb zu dem Studium der Wissenschaften hingetrieben und erging sich in ihnen mit voller Freiheit«, erzählt er selbst rückblickend. »Man ließ ihm den Zutritt zur Bibliothek des Hauses, der achtjährige Knabe verbarg sich hier oft ganze Tage lang, und obgleich er das Latein kaum stammeln konnte, so nahm er die Bücher, wie sie ihm gerade in die Hand fielen, … kostete, wo es ihm behagte.«48

Er ist nicht einmal auf ein Wörterbuch angewiesen, sondern knackt den lateinischen Code mithilfe der Holzschnitte einer Livius-Ausgabe. Zunächst dechiffriert er mit viel Geduld die Bildunterschriften, woraus sich zwar nur der Sinngehalt einzelner Wörter ergibt, aber im zweiten und dritten Durchlauf werden aus den Wörtern längere Passagen. »Darüber hoch erfreut, fuhr ich so ohne irgendein Wörterbuch fort, bis mir das meiste ebenso klar war und ich immer tiefer in den Sinn eindrang.«49

Das geschilderte Prozedere ist mühsam, doch aus seiner Sicht erwähnenswert. Wenn Leibniz etwas begreifen möchte, ist er bereit, auch die dicksten Bretter zu bohren. Zwei Eigenschaften seien ihm sein Leben lang dienlich gewesen: »Erstlich, dass ich nachgerade ein Autodidakt war, und zweitens, dass ich in einer jeden Wissenschaft, kaum dass ich an sie herangetreten war, da ich oft das Gewöhnlich nicht einmal hinlänglich verstand, Neues suchte.«50 Leibniz ist stets auf möglichst allgemeine Lösungen aus. Zum Beispiel darauf, sämtliche Begriffe auf ein »Gedankenalphabet« und damit auf möglichst einfache Ideen zurückzuführen. Oder alle einfachen Aussagen in Klassen einzuteilen. Seine Lehrer ermahnen ihn allerdings, dass es einem Knaben nicht anstehe, in Dingen, die er selbst noch nicht genügend durchgearbeitet habe, etwas Neues zu unternehmen.

Mit 14 – endlich! – darf Gottfried Wilhelm die ersten Vorlesungen an der Leipziger Universität hören, an der er bereits sieben Jahre zuvor immatrikuliert wurde. Er nimmt das Jurastudium im Frühjahr 1661 auf, im selben Jahr, in dem der dreieinhalb Jahre ältere Isaac Newton ins Trinity College in Cambridge einzieht. Beide erwartet der traditionelle Fächerkanon.

Leibniz lernt nun Griechisch und Hebräisch, vertieft sich in die aristotelische Philosophie und verbringt die Tage zwischen Hörsaal und Bibliothek. Seit seinem Knabenalter habe er eine sitzende Lebensart geführt und sich wenig Bewegung gemacht, schreibt er über sich selbst. Sein Hang zur Gesellschaft sei eben schwächer als derjenige, welcher ihn zum einsamen Nachdenken und zur Lektüre treibe.51 Was für ihn zählt, ist die rational erfüllte Zeit.

Wie sein Tagesablauf ungefähr aussieht, kann man sich ausmalen, wenn man einen Blick auf jenen Stundenplan wirft, den Leibniz im Jahr 1673 für Philipp Wilhelm von Boineburg aufstellt, einen Adligen, um dessen Erziehung er sich während seines Parisaufenthalts kümmert. Dem jungen Boineburg wird im privaten Unterricht kaum mehr Zeit zur freien Gestaltung gewährt als in einer Klosterschule:

»5½. Auffzustehen, sich anzukleiden, und das gebeth zu verrichten.

Ende der Leseprobe