Leichen lügen nicht - Walter Rabl - E-Book

Leichen lügen nicht E-Book

Walter Rabl

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Beschreibung

 Leichen lügen nicht. Aber sie verraten alles.       Ein Sturz entpuppt sich als Mord. Ein rätselhafter Suizid war in Wahrheit ein Gewaltverbrechen. Ein vermeintlicher Unfall erzählt bei genauem Hinsehen eine ganz andere Geschichte.   Walter Rabl, einer der renommiertesten Gerichtsmediziner Österreichs, öffnet die Tür zu einer Welt, in der Blut spricht, Knochen Hinweise liefern und kleinste Spuren über Schuld und Unschuld entscheiden. Er berichtet von spannenden Fällen, in denen Todesursachen entschlüsselt, Identitäten geklärt, Täter überführt – und Unschuldige entlastet werden.       Wussten Sie ...   • wie man einen perfekt getarnten Mord erkennt?   • warum Erfrorene oft halb bekleidet sind?   • was Blutspuren über den Tathergang verraten?   • was im Körper beim Ertrinken geschieht?       Spurensuche, Kriminalistik und Wissenschaft – erschütternde Tatsachen packend wie ein Thriller! 

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Nach mehr als vier Jahrzehnten Erfahrung als Gerichtsmediziner führt uns Walter Rabl in die Welt von Tatortbegutachtungen, Obduktionen, Toxikologie und vieles mehr. Er lässt uns hinter die Kulissen von Verbrechen blicken und zeigt uns eine Welt, in der kein Detail unbedeutend ist und die Wahrheit oft im Verborgenen liegt.

Gemeinsam mit der Autorin Birgit Kofler-Bettschart klärt er gängige Mythen und Irrtümer über sein Fach auf, erklärt anhand oft tragischer Fälle die wissenschaftlichen Methoden seiner faszinierenden Disziplin und beschreibt anschaulich, wie die Gerichtsmedizin unklare Todesfälle entschlüsselt, Identitäten klärt, Täter überführt und Unschuldige entlastet.

Fälle, die unter die Haut gehen:

Die Gerichtsmedizin Innsbruck konnte mithilfe einer DNA-Analyse von Leichenteilen feststellen, dass es sich dabei um Günther Messner, den Bruder der Berglegende Reinhold Messner handelt. Er kam bei einem Unglück am Nanga Parbat im Jahr 1970 ums Leben.

Langjährige Rätsel um gekrönte Häupter konnten dank moderner forensischer Methoden aufgeklärt werden. So wurden gefundene Knochen mittels DNA-Analyse den seit 1918 vermissten Zarenkindern Romanow zugeordnet.

u.v.m.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wie es wirklich ist

Verbreitete Mythen über Todesfälle und die Gerichtsmedizin

Es gibt nichts, was es nicht gibt

Warum selbst erfahrene Gerichtsmediziner immer wieder überrascht sind

Von unentdeckten Morden und der Auferstehung des Lazarus

Warum Leichenbeschauer irren können und Obduktionen so wichtig sind

Wer hat es erfunden?

Von österreichischen Pionieren und Meilensteinen der Gerichtsmedizin

Warum Leichen nicht lügen und morden sich nicht lohnt

Methoden und Möglichkeiten der modernen Gerichtsmedizin

Rätsel der Vergangenheit

Von Mumien, Zarenfamilien und warum Jack the Ripper heute enttarnt würde

Von „Cold Cases“ und neuen Spuren

Wie die Gerichtsmedizin zur Lösung ungeklärter Verbrechen beiträgt

Den Toten einen Namen geben

Wie Unbekannte, Ermordete und Katastrophenopfer identifiziert werden

Von Blutspritzern, Hautschuppen und anderen Spuren

Warum Gerichtsmediziner nicht die Ersten am Tatort sind und wie forensische Spezialdisziplinen zusammenarbeiten

Von unbekannten Fahrern und verunfallten Politikern

Wie die Gerichtsmedizin Todesfälle und Verletzungen im Straßenverkehr untersucht

Von rätselhaften Suiziden und doch nicht perfekten Morden

Wie die Gerichtsmedizin verdächtige Todesfälle aufklärt

Schrei aus der Stille

Wie die Gerichtsmedizin sexuelle Übergriffe beweisen kann – oder die Unschuld vermeintlicher Täter

Von angeblichen Stürzen und schweren Verbrechen

Wie die Gerichtsmedizin Gewalt gegen Kinder aufdeckt

Von Femiziden und Partnergewalt

Wenn Beziehung zur Gefahr wird und wie Prävention funktionieren kann

Wenn dem Gehirn der Sauerstoff ausgeht

Von defekten Thermen, Ertrunkenen und tödlichen Mahlzeiten am Würstelstand

Schussverletzungen im Visier

Über die Physik des Schießens, Waffenlegenden und Studien zur Polizeimunition

Die Dosis macht das Gift

Warum harmlose Substanzen tödlich sein können und Giftmorde nicht unentdeckt bleiben

Gefahr durch Hitze und Kälte

Warum Erfrorene oft nackt sind und Flammen nicht immer tödlich

Einsatz für das Leben

Warum Erhängen grausam ist und wie ich zum Zeugen gegen die Todesstrafe wurde

Die Autor:innen

Vorwort

Der junge Mann blutet und ist aufgebracht, er berichtet den Polizisten von einem Angriff. Vor einem Lokal bei den Innsbrucker Viaduktbögen sei er brutal niedergestochen worden, von einem anderen Mann, mit dem es zuvor Streit gegeben hatte. Zwei Stichwunden am Oberschenkel, ein klarer Fall – sollte man meinen. Als die Exekutive den jungen Mann zur Untersuchung und Sicherung der Spuren in die Gerichtsmedizin bringt, fällt gleich etwas auf: Das Verletzungsbild besteht aus zwei exakt parallelen Stichkanälen, gleich tief und sauber gesetzt.

Eine solche Verletzung entsteht nicht bei einem Gerangel oder einer wilden Schlägerei. Sie entsteht, wenn man ruhig sitzt, geplant vorgeht – und sich selbst verletzt. Der junge Mann hat sich das Messer ins Bein gerammt, um einen unliebsamen Rivalen verleumden zu können, die Geschichte vom Angriff ist frei erfunden. Aus dem Opfer wird ein Täter, aus dem Mordversuch eine Verleumdung.

Fünf Stockwerke, kein Abschiedsbrief, keine Erklärung. Eine Frau liegt tot auf dem Gehsteig, offenbar ist sie gesprungen. Die Kommission aus Polizeiärztin, Kriminalisten und Polizeijuristen ist sich einig. Das ist ein Suizid, kein Anlass zur Obduktion. Eine Staatsanwältin wird stutzig: Warum sollte sich eine lebenslustige Frau, erfolgreich, beliebt, voller Pläne, keine Anzeichen für psychische Erkrankungen, in die Tiefe stürzen?

Die Juristin besteht auf einer gerichtsmedizinischen Untersuchung und die fördert eindeutige Befunde zutage: Einblutungen in den Augenbindehäuten, das sind typische Zeichen für eine Gewalteinwirkung gegen den Hals, Zupack-Halteverletzungen an den Armen. Die weiteren Ermittlungen können letztendlich nachweisen, dass sie der Ehemann gewürgt und dann von der Terrasse gestoßen hat. Beinahe wäre ein Mord als Selbstmord zu den Akten gelegt und der Täter nie verurteilt worden.

Solche Wendungen erleben wir in der Gerichtsmedizin regelmäßig. Oft liegen die Fakten ganz anders, als sie zunächst erscheinen. Genau das macht dieses Fach so faszinierend. Hier geht es um mehr als medizinische Befunde, es geht um Gerechtigkeit. Mit wissenschaftlichen Methoden unterstützen Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner die Wahrheitsfindung und die Durchsetzung des Rechts. Sie liefern Fakten und Grundlagen dafür, Unschuldige zu schützen und Schuldige zu überführen. Und dafür, die wahren Abläufe zu entschlüsseln, auch wenn auf den ersten Blick alles ganz anders zu sein scheint.

In diesem Buch laden wir Sie ein, die Arbeit der Gerichtsmedizin aus nächster Nähe kennenzulernen. Wir, das sind Walter Rabl, Gerichtsmediziner mit mehr als vier Jahrzehnten Berufserfahrung, bis zu seiner Pensionierung Ende 2024 stellvertretender Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität Innsbruck und 20 Jahre lang Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin, und Birgit Kofler-Bettschart, Autorin und Herausgeberin des Blogs Medical Murder Mystery.

Die Perspektive dieses Buches ist die des Experten, die Fakten und Fälle werden aus Sicht des Gerichtsmediziners erzählt. In gemeinsamer Arbeit ist ein Buch entstanden, das Fachwissen, Erfahrung und Freude am Erzählen verbindet und das Leserinnen und Leser mitnimmt in eine Welt, über die viele nur vage oder falsche Vorstellungen haben und die für Wahrheit und Gerechtigkeit unverzichtbar ist.

Die Gerichtsmedizin ist ein kleines, aber nicht zu unterschätzendes medizinisches Fach, sie ist eine entscheidende Stütze der Rechtsstaatlichkeit. Ihre Aufgabe ist keineswegs nur die Untersuchung der Toten. Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner analysieren auch die Verletzungen bei Lebenden, untersuchen Gifte und DNA-Spuren, besuchen Tatorte und präsentieren ihre Gutachten vor Gericht, unterrichten Studierende und forschen. In diesem Buch zeigen wir Ihnen, was die Gerichtsmedizin wirklich leistet – und warum es gefährlich ist, wenn sie nicht ausreichend mit Ressourcen ausgestattet ist.

Wie erkennt man einen gut getarnten Mord? Warum sind Erfrorene oft halb ausgezogen? Was verraten Blutspuren über den Tathergang? Mit diesem Buch führen wir Sie in die Welt hinter den Kulissen von Filmen, Serien und Kriminalromanen. In eine Welt, in der kein Detail unbedeutend ist und die Wahrheit oft im Verborgenen liegt. Anhand von wahren Fällen erklären wir die wissenschaftlichen Methoden der Gerichtsmedizin und räumen mit gängigen Mythen auf.

Wir nehmen Sie mit zu aufsehenerregenden Mordfällen, beinahe unentdeckt gebliebenen Verbrechen, zu rätselhaften Unfällen und erschütternden Fällen von Gewalt. Sie erfahren, wie die Gerichtsmedizin falsche Beschuldigungen verhindert oder Todesursachen richtigstellt. Wir nehmen sie mit in eine Welt, in der Leichen nicht lügen und manchmal mehr sagen, als man gedacht hätte.

Walter Rabl & Birgit Kofler-Bettschart Innsbruck/Wien, im Juni 2025

Wie es wirklich ist

Verbreitete Mythen über Todesfälle und die Gerichtsmedizin

Seit mehr als zwei Jahrzehnten erforscht die US-amerikanische Rechtswissenschaft ein sehr spezielles Phänomen, den sogenannten „CSI-Effekt“. Dabei geht es um die Frage, ob und in welcher Weise Fernsehkrimis oder Streaming-Serien über Wissenschaftler aus verschiedenen Gebieten der Forensik bei Gerichtsverhandlungen das Entscheidungsverhalten von Geschworenen beeinflussen. Manche Forscher gehen davon aus, dass die Laienrichterinnen und -richter unter dem Eindruck von CSI Miami, CSI Vegas und ähnlichen Serien absolut präzise und unwiderlegbare wissenschaftliche Beweise erwarten.

Ob es hierzulande einen vergleichbaren „SOKO-Effekt“ geben könnte, ist meines Wissens bisher unerforscht. Fest steht jedenfalls, dass viele Menschen die Arbeit der Gerichtsmedizin vor allem aus den unzähligen Krimis kennen, die in Buchhandlungen ganze Regalwände füllen und in enormer Vielfalt im Kino, Fernsehen oder auf Online-Portalen zu finden sind.

In dieser Welt der Romane, Serien und Filme wird die Gerichtsmedizin manchmal authentisch, immer wieder aber auch verzerrt dargestellt. Es gibt eine ganze Menge von Mythen, Irrtümern und falschen Vorstellungen über uns Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner, über unseren Arbeitsalltag und unsere Methoden, aber auch über Todesarten und ihre physiologischen Hintergründe.

„Die Kommissare sollen bitte in die Pathologie kommen“

Eine verbreitete Verwirrung betrifft schon einmal die Unterscheidung zwischen Pathologie und Gerichtsmedizin – oder Rechtsmedizin, wie unser medizinisches Fach in Deutschland und der Schweiz heißt. „Die Kommissare sollen bitte in die Pathologie kommen“, sagt da die Sekretärin gerne einmal im Fernsehkrimi. Das könnte auf einem einfachen Übersetzungsfehler beruhen. In vielen englischsprachigen Ländern heißt die medizinische Ausbildung, die unserer Gerichtsmedizin entspricht, „forensic pathology“ und diese „forensische Pathologie“ ist eine Spezialisierung innerhalb des Fachs Pathologie.

Im deutschsprachigen Raum sind Pathologie und Gerichtsmedizin zwei eigenständige medizinische Fächer mit unterschiedlichen Aufgabengebieten und unterschiedlichen Facharztausbildungen. Die Pathologie ist die Lehre von den Krankheiten, ihrer Entstehung, ihrer Verläufe und ihrer Folgen. Wenn jemand krank ist und im Spital verstirbt, ist die Erforschung der Todesursache in der Regel ein Fall für die Pathologie. Pathologinnen und Pathologen überprüfen auch klinische Diagnosen. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist die mikroskopische Untersuchung von Gewebe, das bei Operationen entfernt wird. Damit können sie bei einer Tumoroperation zum Beispiel feststellen, ob ein ausreichend großes Areal entfernt wurde, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist oder um welche Tumorart es sich genau handelt, damit eine zielgerichtete Therapie eingeleitet werden kann.

Die Gerichtsmedizin hat ganz andere, sehr vielfältige Aufgaben. Unsere Expertise kommt ins Spiel, wenn rechtliche Fragen mithilfe von medizinischen, histologischen, chemisch-toxikologischen oder molekularbiologischen Erkenntnissen beantwortet werden sollen. Wir sind für die Untersuchung fremdverschuldeter Todesfälle, für Fälle von plötzlichem Tod unklarer oder eindeutig nicht-natürlicher Ursache oder ärztliche Fehlbehandlungen mit Todesfolge zuständig.

Wir sollen die Todesursache entschlüsseln, aber auch die Identität von Verstorbenen klären, den Zeitraum des Todeseintritts feststellen, den genauen Hergang einer Gewalttat oder einen möglichen Alkohol-, Medikamenten- oder Drogeneinfluss klären.

Mit der Pathologie gemeinsam hat die Gerichtsmedizin, dass entgegen weit verbreiteten Vorstellungen beide Fächer nicht nur mit den Toten arbeiten, sondern sehr viel häufiger mit Lebenden.

Mehr als Tatort und Seziersaal

Geht es nach vielen Krimis, ist das Zeitmanagement für Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner recht einfach: Etwa 30 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen sie am Tatort, die restlichen 70 Prozent am Seziertisch. Das reale Leben ist doch etwas vielschichtiger und abwechslungsreicher. Die Arbeit im Seziersaal macht im Schnitt nur etwa fünf Prozent unserer Arbeitszeit aus. Am Tatort sind wir ziemlich selten anzutreffen: In Tirol und Vorarlberg zum Beispiel werden wir nur zehn- bis 15-mal jährlich an einen Leichenfundort gerufen, das sind etwa 0,01 Prozent unserer Arbeitszeit.

Das schon deshalb, weil es in Österreich gar nicht so viele Gewalttaten mit Todesfolge gibt, wie man als abgebrühter Krimifan meinen könnte. 76 Anzeigen wegen Mordes weist die Kriminalstatistik des Innenministeriums für 2024 aus, laut Statistik Austria gab es 2023 90 Verurteilungen wegen Mordes. In Tirol und Vorarlberg wird bei etwa zehn Tötungsdelikten im Jahr eine gerichtsmedizinische Obduktion beauftragt. Andere Todesfälle mit Verdacht auf Fremdverschulden sind natürlich viel häufiger, von solchen sind einige Hundert pro Jahr im Seziersaal der Innsbrucker Gerichtsmedizin zu bearbeiten.

Einen großen Teil ihrer Arbeitszeit verbringen Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner am Schreibtisch: mit dem Bearbeiten von Obduktionsgutachten, mit molekularbiologischen oder toxikologischen Prüfberichten, mit dem Verfassen von Verletzungsgutachten und dem Vorbereiten von Gerichtsverhandlungen oder Vorträgen. Dazu kommen Vorlesungen, Praktika und Seminare, die wir abhalten, Untersuchungen von Menschen mit verdächtigen Verletzungen in verschiedenen Kliniken, Kontrolluntersuchungen in der eigenen Ordination der Gerichtsmedizin und die Teilnahme an jeder Menge von Forschungsprojekten.

Wir arbeiten viel mit Lebenden

Es sei nicht jeder und jedem gegeben, in diesem Beruf zu arbeiten, höre ich als Gerichtsmediziner oft. Immer nur mit Leichen arbeiten, das wäre doch schwierig. Tatsächlich arbeiten wir häufiger mit Lebenden als mit Toten. Die Gerichtsmedizin Innsbruck als größtes gerichtsmedizinisches Institut in Österreich führt pro Jahr etwa 600 bis 650 Obduktionen durch. Dem gegenüber stehen etwa 1000 Gerichtsgutachten pro Jahr und rund 4500 toxikologische Fälle, das sind unter anderem Alkohol- und Drogenuntersuchungen aus Verkehrskontrollen oder Verkehrsunfällen, Proben aus Intensivstationen oder verdächtige Substanzen, die von der Polizei übermittelt werden. Im Rahmen von DNA-Analysen werden in Innsbruck für ganz Österreich mehr als 10.000 Spuren pro Jahr untersucht. Obduktionen machen also nur einen kleinen Prozentsatz der Aufträge aus, die die Gerichtsmedizin von verschiedenen Stellen und Behörden erhält.

Mit den Lebenden und für die Lebenden werden wir zum Beispiel tätig, wenn wir rekonstruieren, wie es zu einer Verletzung gekommen ist, wie gravierend sie ist und welche Folgen sie hat. Das kann auch im Zusammenhang mit Versicherungsleistungen relevant sein. Oder wenn wir verdächtige Verletzungen untersuchen, die häusliche Gewalt nahelegen, besonders auch Kindesmisshandlungen. Auch bei Sexualdelikten kommt uns eine wichtige Aufgabe zu, was die Beweissicherung und die Diagnose typischer Verletzungsmuster betrifft.

An der Gerichtsmedizin Innsbruck werden pro Jahr auch mehrere Hundert Vaterschafts-Feststellungen gemacht. Besonders oft arbeiten wir mit Lebenden, wenn es um toxikologische Untersuchungen geht – zum Beispiel um die Fragestellung, ob bei einem Unfall oder einem gewalttätigen Angriff Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner werden von den Strafverfolgungsbehörden aber auch als objektive Instanz zu Fragen der Verhandlungsfähigkeit oder Vollzugstauglichkeit beigezogen. Zum Beispiel ist ein Angeklagter, der eine schwere Herzerkrankung hat, nicht verhandlungsfähig oder eine verurteilte Täterin mit einem Tumorleiden im Endstadium muss ihre Haftstrafe nicht antreten.

Klinische Medizinerinnen und Mediziner fragen sich vor allem, wie sie eine Verletzung bestmöglich behandeln können. Wir fragen, wie sie entstanden ist. Dabei geht es nicht nur darum, Verursacher zu belasten. Sondern wir können unter Umständen so zur Vermeidung künftiger Risiken beitragen. Ein gutes Beispiel dafür: Als die mechanischen Reanimationshilfen eingeführt wurden, also Geräte, mit denen man bei der Wiederbelebung eine automatische Herzdruckmassage durchführen kann, waren anfangs Brustbeinbrüche, die wiederum zu Herz- und Lungenverletzungen führten, eine häufige Komplikation. Wir haben dieses Phänomen an der Gerichtsmedizin Innsbruck eingehend untersucht und konnten wichtige Beiträge dazu liefern, die Konstruktion dieser Geräte zu verbessern und damit solche gefährlichen Verletzungen zu vermeiden.

Es gibt noch andere Beispiele für die Arbeit der Gerichtsmedizin im Dienste der Lebenden. In manchen Fällen entdecken wir zum Beispiel bei einer Obduktion eine Krankheit mit einer genetischen Komponente, zum Beispiel eine familiär gehäuft auftretende Herzmuskelverdickung, die hypertrophe Kardiomyopathie. So wie bei einem scheinbar gesunden 11-Jährigen, der beim Schwimmen plötzlich untergegangen und ertrunken ist. In seinem Fall konnten so die Geschwister des Buben gezielt untersucht und rechtzeitig behandelt – und damit vor einem ähnlichen plötzlichen Herztod geschützt werden.

Apropos Angehörige: Ein aus gerichtsmedizinischer Sicht eigentlich einfacher Fall, der mir aber dennoch immer im Gedächtnis bleiben wird, ist der eines jungen Mannes, der während einer Reise nach Asien unter unklaren Umständen zu Tode gekommen war. Er war in einem Hotelzimmer tot und bereits fäulnisverändert aufgefunden worden. Die Eltern waren völlig verzweifelt, weil sie von den Behörden vor Ort keine konkreten Auskünfte über die Todesursache bekamen und Gericht und Polizei keine weiteren Untersuchungen durchführten. Nach der Überführung des Leichnams beantragte die Familie eine Privatobduktion, bei der sich eine Medikamentenüberdosierung als Todesursache herausstellte.

Die Eltern des jungen Mannes sind mir heute noch dafür dankbar, dass ich ihnen Klarheit verschafft habe. Dieses Beispiel macht deutlich, wie wichtig für Angehörige die konkrete Klärung der Todesursache eines Familienmitglieds ist. Dadurch wird die weitere Trauerarbeit oft erst möglich.

Leichen als Beweismittel

Viele Menschen stellen es sich schlimm vor, einen toten Körper zu sezieren. Und in manchen Krimis – ob Bücher, Serien oder Filme – versetzen sich die Gerichtsmediziner geradezu in die Opfer hinein, die sie obduzieren, sehen sie vor sich, wie sie als Lebende waren.

Sicherlich bekommt man in unserem Beruf ein spezielles – eigentlich ein natürlicheres – Verhältnis zum Tod und zum Sterben. Aber eine emotionale Beziehung zu „unseren“ Leichen, wie das in solchen Darstellungen suggeriert wird, bauen wir nicht auf. Das dürfen wir auch nicht, denn unsere Aufgabe ist es, objektive Befunde zu erheben und nicht durch Emotionen beeinflusst zu sein. Wenn ein Leichnam vor uns im Seziersaal liegt, ist all das, was einmal den Menschen ausgemacht hat, nicht mehr vorhanden. Er ist ein Beweismittel, dessen Untersuchung uns viele Aufschlüsse geben kann und das rechtlich als „Sache“ qualifiziert wird. So sehr wir das nüchtern und vorurteilslos sehen müssen, so sehr sind ein angemessener Respekt vor den Verstorbenen und eine adäquate ethische Grundhaltung immer wichtig.

Aus meiner Sicht ist die Arbeit des Gerichtsmediziners emotional weitaus weniger belastend als der Job der Polizistinnen und Polizisten, die am Tatort sind, die den Angehörigen von Opfern die Todesnachricht überbringen und mit ihnen auch weiter interagieren müssen. Und auch weniger belastend als zum Beispiel die Arbeit mit krebskranken Kindern, bei denen bekannt ist, wie schlecht ihre Prognose ist – eine Erfahrung, die ich während meiner Ausbildung gemacht habe.

Aber natürlich gibt es Fälle, die uns auch nach Jahren der gerichtsmedizinischen Arbeit nicht kaltlassen können. Zum Beispiel wenn Kinder im Spiel sind. Es wäre auch schlimm, würde man abstumpfen und sich an all die Grausamkeiten gewöhnen. Die Fähigkeit zur objektiven Einschätzung allerdings darf dabei nie beeinträchtigt sein.

„Der Tod ist zwischen 16.00 und 16.30 Uhr eingetreten.“

Um die Bestimmung der Todeszeit, besonders in Fällen eines Fremdverschuldens, ranken sich eine Menge Mythen. In Krimis sagt die Gerichtsmedizinerin am Tatort schon einmal: „Der Tod ist zwischen 16.00 und 16.30 Uhr eingetreten, Näheres nach der Obduktion.“

Mit einer solchen Präzision lässt sich der Todeszeitpunkt mit gerichtsmedizinischen Methoden leider nicht eingrenzen, so hilfreich das auch für die Ermittler wäre. Unsere Schätzungen haben im besten Fall eine Schwankungsbreite von zwei bis drei Stunden. Die dafür notwendigen Untersuchungen müssen ehestmöglich und noch am Auffindungsort vorgenommen werden, sonst wird das Ergebnis immer ungenauer.

Für Schätzungen des Todeszeitpunkts spielen viele Faktoren eine Rolle: individuelle Merkmale des oder der Verstorbenen wie Körpergewicht oder Körpergröße, aber auch die Auffindesituation, die Bekleidung, die Umgebungstemperatur oder die Sonneneinstrahlung, die Frage, ob die Leiche zugedeckt war oder wie viel Feuchtigkeit und Wind sie ausgesetzt war.

Eine der wichtigsten Methoden der Todeszeitschätzung ist die Messung der Kerntemperatur des Körpers, wobei diese immer in Relation zur Umgebungstemperatur und vielen anderen Parametern zu beurteilen ist. Unter normalen Bedingungen – sprich bei Zimmertemperatur – beginnt die Körperkerntemperatur etwa zwei bis drei Stunden nach dem Tod um rund ein Grad Celsius pro Stunde zu sinken. Wir verwenden ein Digitalthermometer und messen beim Lokalaugenschein üblicherweise mittels sogenannter „Stichinzision“, einem kleinen Hautschnitt, die zentrale Temperatur direkt in der Leber.

Immer wieder messen Notärztinnen und -ärzte am Fundort die Temperatur mit Infrarot-Thermometern am Innenohr. Das ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der Kopf kühlt wesentlich schneller aus als der Rumpf und die Temperatur im Gehörgang wird stark von Wind, Wetter oder Schnee beeinflusst. Für die Todeszeitschätzung würde man mit dieser Methode also von einer zu niedrigen Temperatur ausgehen. Besonders gravierend: Bei einer Körpertemperatur weit unter 30 Grad gilt eine Reanimation als aussichtslos. Werden solche Werte aber nur im Ohr gemessen, etwa bei Lawinenopfern oder bei aus kaltem Wasser geretteten Personen, haben diese Menschen durchaus Überlebenschancen, weil ihre Kerntemperatur möglicherweise deutlich höher ist.

Wir haben dieses Phänomen an der Gerichtsmedizin Innsbruck erforscht. Unter anderem habe ich im Selbstversuch parallel an beiden Ohren gemessen, wobei ich mir auf einer Seite einen Beutel mit Schnee aufgelegt habe. Im Gehörgang der gekühlten Seite ist die Temperatur rasch gesunken. Diese frostige Versuchsanordnung hat zwar wichtige Erkenntnisse gebracht, aber auch eine saftige Mittelohrentzündung. Doch das war es wert. Unsere Daten haben unterkühlten Menschen womöglich das Leben gerettet.

Natürlich müssen wir bei der Todeszeit-Schätzung mittels Temperaturmessungen unter anderem auch darauf achten, ob der Täter oder die Täterin versucht haben könnte, etwas zu manipulieren – zum Beispiel, um sich ein Alibi zu verschaffen. Sind etwa an einem Tatort bei frostigen Außentemperaturen alle Fenster weit offen, wollte jemand möglicherweise einen früheren Todeszeitpunkt vorspiegeln. Andererseits kann das aber auch die Feuerwehr verursacht haben, die über das Fenster eingestiegen ist, oder die Person, die die Leiche gefunden hat und aufgrund des belastenden Geruchs erst einmal gründlich lüften wollte.

Wichtige Hinweise, wie viel Zeit seit dem Eintritt des Todes vergangen ist, liefern uns neben dem Temperaturabfall auch andere Veränderungen, die der Körper nach dem Tod entwickelt: zum Beispiel rot-blaue Totenflecken, die etwa zehn bis 15 Minuten nach dem Kreislaufstillstand entstehen, weil das Blut nicht mehr durch den Körper gepumpt wird und entsprechend der Schwerkraft in tiefer liegende Körperteile sinkt. Oder die Totenstarre, die etwa zwei bis drei Stunden nach dem Tod dadurch entsteht, dass die Restenergie in den Muskelzellen verbraucht wird und die Muskeln so ihre Fähigkeit zur Entspannung verlieren.

Interessant sind Pupillenreaktionen auf Medikamente, wie sie Augenärztinnen und -ärzte bei Untersuchungen eintropfen. Diese gibt es durchaus auch noch ein paar Stunden nach Todeseintritt, ebenso wie die Muskulatur mechanisch oder durch elektrische Reize nach dem Tod noch für eine bestimmte Zeit erregt werden kann. Es stehen auch biochemische Methoden zur Eingrenzung des Todeszeitpunkts zur Verfügung, zum Beispiel die Analyse des Augenkammerwassers oder von Proteinabbauprodukten.

Wird eine Leiche erst nach längerer Zeit gefunden, ist üblicherweise der Fäulnisprozess bereits fortgeschritten. Dann kommen andere Methoden ins Spiel. Die sogenannte Autolyse, also die Zersetzung des Organismus durch körpereigene Fermente, ist wie jeder chemische Vorgang stark von der Temperatur abhängig und kann in einzelnen Organen wie der Bauchspeicheldrüse schon einige Stunden nach dem Tod einsetzen. Nach dieser Phase werden Fäulnisbakterien aktiv und beginnen ihre Zersetzungsarbeit im Körper. In solchen Fällen geht es in der Regel weniger um eine möglichst präzise Einschätzung des Todeszeitpunks als um eine annäherungsweise Klärung der Liegezeit eines Leichnams. Dafür sind etwa die Beurteilung der Fäulniszeichen und ihrer Ausprägung wichtig, die in mehr oder weniger typischen Verläufen vor sich gehen, oder die Bestimmung, welche Maden, Käfer oder Insektenpuppen vorhanden sind. Diese Arbeit mit verschiedenen Insektenstadien ist Aufgabe der forensischen Entomologie, daher spricht man hier von einer entomologischen Liegezeitbestimmung.

In späteren Phasen sind auch noch andere Phänomene relevant dafür, den Todeszeitraum abschätzen zu können. Das ist zum Beispiel die Ausbildung von Fettwachs an einer Leiche, wie das bei niedrigen Temperaturen und Sauerstoffabschluss im Gletscher, in kalkhaltigem Wasser oder in feuchten Gräbern vorkommt. Oder eine allfällige Mumifizierung, bei der die Leiche unter bestimmten Außenbedingungen vertrocknet, wobei ihre Strukturen weitgehend erhalten bleiben. Auch der Grad der Skelettierung gibt wichtige Hinweise auf die Liegedauer: In unseren Breiten ist aufgrund der klimatischen Bedingungen eine Leiche, die im Freien liegt, frühestens nach einem Jahr skelettiert, im Erdgrab erst nach einigen Jahren.

Tatsächlich spielen die Schätzungen der Gerichtsmedizin zum Todeszeitraum in der Praxis oft eine gar nicht so wesentliche Rolle. Die Polizei ermittelt mit effektiven Methoden viele andere Puzzlesteine, die den Todeszeitraum einschränken: etwa wann eine Person zuletzt gesehen wurde, von wann die Post in ihrem Briefkasten ist, wann sie zuletzt online oder im Handynetz war, was die Smartwatch verrät und ähnliche Hinweise mehr.

Wann ist ein Mensch tot?

Wann ein Mensch als „tot“ gilt, ist gar nicht so einfach zu definieren, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheint. Zunächst einmal tritt der Tod üblicherweise nicht von einer Sekunde zur nächsten ein. Das Sterben beginnt mit der sogenannten Agonie, der Sterbephase, die je nach Todesursache sehr kurz oder auch sehr lang sein kann, und endet erst viele Stunden, nachdem Kreislauf und Atmung aufgehört haben, mit dem Absterben der letzten Körperzelle.

Ab wann man einen Menschen als „tot“ betrachtet, ist abhängig von der Definition. Der „klinische Tod“ ist definiert als Stillstand von Kreislauf und Atmung. Je nach Umständen ist in dieser Phase noch eine Reanimation möglich, in seltenen Fällen setzen Kreislauf und Atmung sogar spontan nochmals ein. Das wird als Lazarus-Effekt bezeichnet, benannt nach Lazarus, der laut Johannesevangelium von Jesus von den Toten auferweckt worden sein soll. Diese Phase hat aber ihre Grenzen, denn durch den Sauerstoffmangel wird das Gehirn zunehmend geschädigt. Beim „Hirntod“ hingegen fallen sämtliche Hirnfunktionen endgültig aus, das bedeutet das Ende des Menschen als Lebewesen, das ein Bewusstsein hat.

Der Zeitpunkt des „biologischen Todes“ schließlich ist definiert durch das Absterben der letzten Körperzelle – nachdem sich dies aber nicht feststellen lässt, ist das ein theoretisches Konzept mit keiner praktischen Relevanz. Rechtlich bestimmt der Zeitpunkt des Hirntods den Individualtod eines Menschen. Die zweifelsfreie Feststellung des Hirntodes ist auch die Voraussetzung dafür, dass Organe des oder der Verstorbenen, so sie geeignet sind, explantiert und für eine Transplantation verwendet werden dürfen.

Der Giftmord ist eine Rarität

Die Methoden, mit denen in Büchern, Serien und Filmen gemordet wird, sind vielfältig. Giftmorde sind in der fiktionalen Welt sehr populär, aber auch Erschießen, Erstechen, Erwürgen, nicht zu vergessen natürlich das Erschlagen mit dem berühmten „stumpfen“ Gegenstand.

Die Kriminalstatistik liefert ein etwas anderes Bild. Gift wird bei vorsätzlichen Tötungsdelikten im wirklichen Leben äußerst selten eingesetzt. Eher sehen wir unabsichtliche Intoxikationen. Als Tatwaffen werden am häufigsten Messer verwendet, sehr oft handelsübliche Küchenmesser, weil sie einfach verfügbar sind. Dem Erstechen als Todesart bei Gewaltdelikten – in der Gerichtsmedizin nennen wir das „scharfe Gewalt“ – folgen, was die Häufigkeit betrifft, Erwürgen bzw. Erdrosseln.

Morde durch Erschießen sind hierzulande eher selten, das sieht in Ländern mit sehr liberalen Waffengesetzen anders aus. Bei uns werden Schusswaffen vorwiegend bei Suiziden verwendet. Laut Kriminalstatistik des österreichischen Bundeskriminalsamtes wurden im Jahr 2024 im Zusammenhang mit angezeigten Gewaltdelikten – das umfasst auch solche, die nicht tödlich endeten – 352 Schuss-, 2596 Stich- und 593 Hiebwaffen eingesetzt oder mit ihnen gedroht.

Im Keller sind nur die Leichen

In der Krimiwelt arbeiten Angehörige des gerichtmedizinischen Berufsstandes oft im Keller, wo sie als schrullige Einzelkämpferinnen und -kämpfer in kalten Sektionssälen bei diffus-blauem Licht ihren täglichen Verrichtungen nachgehen. Zum Glück ist auch diesbezüglich die Realität anders. Im Keller sind an der Gerichtsmedizin Innsbruck – und das ist auch an anderen Instituten so, die ich kenne – nur die Leichen, die hier diskret angeliefert werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts hingegen bevölkern die hellen oberen Etagen. Im Obduktionssaal sind echtes Tageslicht oder Tageslichtlampen wichtig, damit wir gut sehen können. Da kann es zum Beispiel darum gehen, Leichenflecken und deren Farbe richtig einzuschätzen, Hinweise auf Kohlenmonoxidvergiftungen erkennen zu können, die zu auffallend hellroten Totenflecken führen, oder sehr feine Verletzungen wie Nadeleinstichstellen zu entdecken.

Bei einer Auswärtsobduktion in einem kleinen Krankenhaus hatten wir einmal das Problem, dass im Seziersaal die Lichtanlage erneuert worden war. Das allerdings nicht mit Tageslichtlampen, sondern mit warmweißem Licht, wie es für Fleischtheken verwendet wird, um die Ware frischer und ansprechender zu präsentieren. Im konkreten Fall führte dies zum falschen Verdacht einer Kohlenmonoxidvergiftung. Die Lampen wurden ausgetauscht.

Die beiden deutschen Gerichtsmediziner Hermann Merkel und Kurt Walcher haben schon in ihrem Standardwerk zur Obduktion „Gerichtsärztliche Diagnostik und Technik“ in den 1930er-Jahren auf die besondere Bedeutung von Tageslicht hingewiesen: „Ein frühzeitiger Anfang der Sektion am Tage ist immer zu empfehlen, besonders natürlich im Winter, da man sonst allzu leicht bei längerer Dauer künstliche Beleuchtung braucht.“ Es folgen aus heutiger Sicht durchaus unorthodoxe Empfehlungen: „Diese lässt sich ja oft freilich nicht umgehen, wenn der Sektionsraum ungenügenden Lichtzutritt hat. In solchen Fällen empfiehlt es sich gelegentlich, auf dem Lande, lieber im Freien zu sezieren, was allerdings eine Fernhaltung von Zuschauern durch die Polizei zur Voraussetzung hat und daher nicht immer möglich ist.“

Übrigens ist es nicht kalt im Obduktionssaal, an unserem Arbeitsplatz herrschen übliche Raumtemperaturen, denn es reicht völlig, wenn die Leichen vor und nach der Obduktion gekühlt werden. Besonders empfindliche Geräte in den Labors der Toxikologie oder Molekularbiologie brauchen konstante Umgebungsbedingungen, dort gibt es besonders gute und leistungsfähige Klimageräte.

Meine realen Kolleginnen und Kollegen und ich arbeiten auch nicht allein, wie es in Fiction-Werken oft der Fall ist: Bei jeder Obduktion unterstützt uns jedenfalls ein Sektionsassistent oder eine Sektionsassistentin, das sind Mitarbeitende mit einer speziellen medizinischtechnischen Ausbildung. Sie sind im ethisch korrekten Umgang mit Verstorbenen ebenso ausgebildet wie darin, die histologischen, toxikologischen und molekularbiologischen Proben richtig für die Untersuchung und Aufbewahrung vorzubereiten – in der Forensik nennen wir das asservieren. Wer schon einmal einen Todesfall in der Familie hatte, weiß, dass es gar nicht so einfach ist, Verstorbene zu transportieren oder gar zu entkleiden.

Bei vermuteten Tötungsdelikten sind regelmäßig Beamte der Kriminalpolizei und mitunter auch der Staatsanwaltschaft bei der Obduktion anwesend. Dazu kommen oft auch andere Zuschauer, die nicht direkt mit dem Fall befasst sind, wie Polizeischülerinnen und -schüler oder Studierende der Medizin. In der Morgenbesprechung sehen wir uns im Team anhand von Bildern alle Obduktionen des Vortags nochmals gemeinsam an, so ist bei jedem Fall ein Mehraugenprinzip sichergestellt.

Dass Menschen, die in der Gerichtsmedizin arbeiten, schrulliger sind als der Bevölkerungsdurchschnitt, wäre noch zu beweisen – ich habe noch keine einschlägigen Studien gesehen. Ich kenne jedenfalls keine Kollegin und keinen Kollegen, die oder der in voller Lautstärke Opern oder Heavy Metal beim Obduzieren hört – das würde schon das Diktieren der Befunde ziemlich schwierig machen.

„Wie schlimm das riecht …“

Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung reiben sich Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner nicht vor der Obduktion Salben mit stark riechenden ätherischen Ölen wie Menthol oder Tigerbalsam unter die Nase, um den üblen Geruch der Leichen ertragen zu können. Das ist nicht nur zumeist unnötig, sondern wäre auch ein regelrechter Kunstfehler in unserem Beruf. Wir müssen mit allen Sinnen wahrnehmen können, was uns die Leiche an Informationen und Hinweisen liefern kann. Dazu gehören auch auffällige Gerüche, zum Beispiel die Alkoholfahne, der bittermandelartige Geruch von Blausäure oder die recht typischen olfaktorischen Hinweise auf eine Rauchgasvergiftung.

Vieles machen auch die Haltung und die Vorstellung aus – wenn ich schlimmen Leichengeruch erwarte, wird er mir zusetzen. Ich habe einmal mit Studierenden diesbezüglich ein interessantes Experiment gemacht. Im Rahmen eines Praktikums musste eine Leiche untersucht werden, die schon deutliche Fäulnisveränderungen aufwies. Das wussten die Teilnehmenden vorher nicht.

Ich ließ eine Gruppe mit geschlossenen Augen den Obduktionssaal betreten und fragte sie nach den Wahrnehmungen. Keine und keiner hat etwas Auffälligeres berichtet als das Parfüm der Nachbarin. Als sie dann die Augen geöffnet und die stark verweste Leiche gesehen haben, war das Geruchsempfinden plötzlich anders.

Der Geruch ist meist weit weniger belastend, als Laien vermuten. Ein Verstorbener kann nie so intensive Gerüche entwickeln wie ein lebender Mensch. Aus langjähriger Erfahrung kann ich bestätigen: Die beiden Situationen, in denen die Geruchsbelästigung für mich fast unerträglich war, betrafen lebende Personen. Und der Geruchssinn gewöhnt sich rasch an konstante Pegel und nimmt sie nicht mehr als störend wahr.

Was für den Geruch gilt, ist grundsätzlich auch bei der oft vermuteten hohen Infektionsgefahr der Fall: Eine Leiche ist nie so infektiös wie der lebende Mensch. Auch wenn ein Mensch zu Lebzeiten eine übertragbare Infektionskrankheit hatte, geht von der Leiche selbst keine aktive Übertragung mehr aus. Wir haben es als Obduzierende selbst in der Hand, Infektionen zu vermeiden. Zum Beispiel verwenden wir keine elektrischen Knochensägen für die Präparation und verwenden kein heißes Wasser, damit kein Dampf und somit keine Aerosole entstehen, über die sich Infektionen verbreiten könnten. Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass das größte Risiko für eine Infektion des oder der Obduzierenden von Verstorbenen mit fortgeschrittener Tuberkuloseerkrankung ausgeht.

Aber gerade diese Erkrankung ist bereits beim ersten Blick in den Brustraum zu erkennen. Für die weitere Obduktion werden in solchen Fällen entsprechende Schutzmaßnahmen getroffen, wie zum Beispiel FFP3-Masken und eine Desinfektion entsprechend den einschlägigen Richtlinien.

Andere Infektionen wie Hepatitis, HIV, Grippe oder COVID-19 sind schon viel weniger gefährlich. Je weiter postmortale Veränderungen wie die Fäulnis fortgeschritten sind, desto weniger infektiös wird die Leiche. Denn die krank machenden Erreger werden von den harmlosen Fäulnisbakterien, die aus dem Darm der Verstorbenen stammen, überwuchert und verdrängt.

Wir sind keine Ermittler und keine Richter

Natürlich ist es im Krimi dramaturgisch interessant, wenn die Gerichtsmedizinerin mit dem Kommissar Zeugen befragt und Täter in die Enge treibt. Mit Tatverdächtigen kommen wir in der realen Gerichtsmedizinwelt allerdings üblicherweise nicht in Kontakt – außer, wir müssen sie auf Verletzungen wie Kampfspuren oder Kratzer und Alkohol- oder Drogenkonsum untersuchen oder wir sehen sie nach einer Anklage vor Gericht. Vernehmungen führen nur Staatsanwälte und Kriminalbeamte durch. Wir machen auch nur selten eine Spurensicherung am Tatort, denn das ist die primäre Arbeit der Kriminalistinnen und Kriminalisten der Polizei. Sehr viele technische Spuren wie Fingerabdrücke, Werkzeugspuren, Schuhsohlenabdrücke oder Projektil-Vergleiche werden auch in deren Labors ausgewertet. Biologische Spuren wie Speichel, Sperma, Blut oder Hautpartikel kommen zu uns, in die Spurenlabors der Gerichtsmedizin, zur weiteren Analyse.

Die Ermittlungsarbeit ist eine sehr arbeitsteilige Angelegenheit, bei der viele Spezialistinnen und Spezialisten dazu beitragen, die Ermittlergruppe beim Zusammensetzen des Puzzles und der Lösung des Falls zu unterstützen. Die Gerichtsmedizin liefert dabei mit ihren Befunden Sachbeweise und hilft, sie auf der Basis des aktuellen medizinischen und naturwissenschaftlichen Wissens richtig zu interpretieren und einzuordnen. Dabei bewerten Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner nicht, ob ein gewaltsamer Todesfall Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge ist – diese Entscheidung müssen die Ankläger und letztlich die Gerichte treffen.

„Ist das Ihr Mann?“