Leidenschaft für Menschenwürde und Frieden in Europa - Theobald Rieth SJ - E-Book

Leidenschaft für Menschenwürde und Frieden in Europa E-Book

Theobald Rieth SJ

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Beschreibung

Der vorliegende Text ist eine biografische Dokumentation, von Theobald Rieth SJ verfasst und zuletzt diktiert. Seine Erinnerungen stellen ein Vermächtnis dar: das eines jungen Menschen, der in den Krieg Hitlers zieht und Menschen umbringt, um nach 1945 seine Lehren zu ziehen und lebenslang an seiner Schuld zu tragen. Es ist ein Leben im 20. Jahrhundert, voller Irrtümer und Brüche – aber auch ein Leben der Aufbrüche, der Wiedergutmachung und des Brückenbauens in Europa, wofür sich Theobald Rieth bis zuletzt einsetzte. Auf ihn gehen maßgebliche Initiativen der Kriegsgräberfürsorge in Deutschland und der Freiwilligendienste Jugendlicher in Europa zurück. Tausende junge Menschen teilen bis heute lebensprägende Erfahrungen durch Begegnungen, Programme und Austauschmaßnahmen, die „Theo“ initiierte – ein bleibendes Erbe für Verständigung, gegenseitigen Respekt und Nächstenliebe, das über die nächsten Generationen weiter gegeben werden kann. Angesichts aufkeimender Nationalismen und des Vergessens dessen, was das Nachkriegseuropa als große Lehre nach dem Massensterben im Weltkrieg für immer festschreiben wollte, ist der Lebensbericht in aller Bescheidenheit ein lauter Appell für das 21. Jahrhundert.

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Seitenzahl: 158

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Theobald Rieth SJ

Leidenschaft für Menschenwürde und Frieden in EuropaVersöhnung – Solidarität – Inklusion

ImpressumBibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.ISBN: 978-3-95894-028-4 (Print) / 978-3-95894-029-1 (E-Book) Redaktion: Kerstin Pahl, Katharina Fenner, Andrea Pistor, Alexander Schug, Maria-Luise Bayer © Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2016Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.Alle Bilder Theobald Rieth oder privat, wenn nicht anders in den Bildunterschriften vermerkt.

Die Veröffentlichung des Buches haben unterstützt:Jan van Aaken, Claudia Abt, Sophie Anca, Familie Ballhausen, Maria-Luise Bayer, Matthias Bayer, Thomas Bedorf, Jan Bessling, Margarete v. d. Borch, Dagmar Caspers, Gregor Delvaux de Fenffe, Katharina Fenner, Bernd Geldmacher, Tobias Gerken, Lorenz Gessner, Julia Häcker, Tina Hoffmeister, Ove Kähler, Maria Kaplan, Bjoern Neal Kirchner, Renate Krähmer-Klein, Martina Kohlhaas, Familie Kolfenbach, Nils Kreimeier, Daniel Köster, Alexander Laur, Roland Meyer, Wolfgang Mirlach, Lutz Müller, Axel Müller-Hofvenschioeld, Kerstin Pahl, Andrea Pistor, Burkhard Seif, Alexander Schug, Bernhard G. Schütz, Gunnar Wälzholz 

Inhalt

Vorwort von Maria-Luise Bayer
Editorische Anmerkungen
Einleitung von Theobald Rieth SJ
Teil 1
Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner, 1944 – 1954 und Vorgeschichte
Teil 2
Ideen und Taten für solidarisches Handeln, Leben in Freiheit und Demokratie, 1954 – 2008
Teil 3
Inklusion sozialer und ethnischer Minderheiten in Europa, 2008 – 2014
Schlusswort zur Trilogie
Anhang

Vorwort von Maria-Luise Bayer

Als ich gebeten wurde, ein Vorwort zu diesem Werk zu schreiben, habe ich zunächst abgelehnt mit der Begründung, dass ich es nicht kann. Erst danach fiel mir ein Wort von Pater Rieth SJ ein, das er häufig auch zu Jugendlichen sagte, wenn sie Angst hatten, sich an neue Dinge zu wagen: „Sag nicht, das kann ich nicht, sondern das kann ich NOCH nicht.“

Und so möchte ich den Versuch wagen, etwas zu schreiben – auch aus Dankbarkeit für alles, was ich bei P. Rieth lernen durfte und was er für junge Menschen bis zu seinem Lebensende getan hat.

Seit ich 1986 in der Arbeitsstelle der Jesuiten im Bistum Aachen meine Tätigkeit begann, erlebte ich P. Rieth immer als den rast- und ruhelosen Menschen, der viel von seinen Mitarbeiter/innen verlangte, der sich aber selbst auch nicht schonte, wenn es darum ging, für Frieden und Versöhnung einzutreten und jungen Menschen, vor allem auch Benachteiligten, neue Horizonte und Zukunft zu eröffnen.

Die Tatsache, dass er mehrere Herzinfarkte und zwei Schlaganfälle überlebte, war für ihn ein Zeichen, dass Gott von ihm noch mehr Eifer und Einsatz erwartete. So war es für ihn immer auch ein Anliegen, junge Menschen zum Nachdenken zu führen, ihnen die Augen für die Not der Mitmenschen zu öffnen, sie zum mitmenschlichen Handeln und zur Solidarität anzuregen und sie vor allem immuner zu machen gegen Indoktrination und Gewalt. Das Eintreten für Menschenwürde und die Menschenrechte bedeuteten ihm sehr viel.

So wollte er auch junge Menschen davor bewahren, in eine ähnliche Situation zu geraten, in die er selbst vor und während des 2. Weltkrieges kam.

Nach seinen Schlaganfällen 2003 mit linksseitiger Lähmung begann eine Zeit, in der er sehr häufig Alpträume hatte; er erlebte in seinen Träumen erneut die Grausamkeiten des Krieges und seine eigenen Taten, in die er als 18-Jähriger getrieben wurde.

Er las in dieser Zeit viele Kriegsberichte und verfolgte Dokumentarfilme im Fernsehen, um noch mehr über die Geschehnisse im Krieg und deren Hintergründe zu erfahren. Vieles hatte er als Jugendlicher damals nicht gewusst.

Erst 2007 wurde er etwas ruhiger, als er von einer Mitarbeiterin des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge gebeten wurde, ihr für ihre Diplomarbeit zu erzählen, wie er dazu gekommen ist, nach dem Krieg mit der Jugendarbeit auf Soldatenfriedhöfen zu beginnen. Auf der Grundlage dieser Interviews begann er, seine Kindheitserinnerungen und vor allem seine Erfahrungen als Jugendlicher und junger Erwachsener im Krieg niederzuschreiben. Ich bemerkte, wie dadurch eine Last von ihm abzufallen begann und auch seine Alpträume weniger wurden, die ihn allerdings noch bis zu seinem Lebensende begleiteten.

Auf mehrfaches Bitten und Drängen von Freunden, sein Leben und seine Projekte auch ab 1959 so ausführlich wie die vorhergehenden Abschnitte zu beschreiben, begann er nach der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in 2012 mit der Fortsetzung seiner Lebenserinnerungen, auch in Dankbarkeit gegenüber den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die er seine Projekte nicht hätte verwirklichen können.

So begann er, seine Lebenserfahrungen einschließlich der Vorgeschichte über seine Kindheit und Jugend in einer Trilogie mit den drei Sinnkreisen 

1944 – 1954: Frieden durch Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner

1954 – 2008: Frieden durch Solidarität unter Freunden, Solidarisch handeln

2008 – 2014: Frieden durch Inklusion sozialer und ethnischer Minderheiten in Europa

zusammenzufassen. Leider konnte er das Gesamtwerk wegen technischer Probleme nicht mehr schriftlich in Händen halten und so auch keine Korrekturen oder Veränderungen anbringen. 

Ich bin daher den ehemaligen Friedensdienstleistenden, die von sich aus die Idee hatten, das Lebenswerk von P. Rieth SJ in einem Buch zu veröffentlichen, sehr dankbar, dass sie quasi stellvertretend für ihn Korrekturlesen, auch dankbar dafür, dass sie versuchen, mit der Veröffentlichung dieses Werks auf die Aufgabe jedes Einzelnen hinzuweisen, die Pater Rieth mit seinem jahrzehntelangen Engagement aufzeigen wollte: Menschen und Völker miteinander verbinden, Brücken bauen und dort sein, wo wir gebraucht werden, vor allem bei den Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Maria-Luise Bayer

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text ist ein Fragment. Wer eine in sich geschlossene Erzählung erwartet, wird vielleicht enttäuscht sein. Aber die Summe der Gedankensplitter, klugen Worte und Rückblicke stellt dennoch eine facettenreiche Collage dar, die zusammengenommen ein Bild ergibt: das eines jungen Mannes, der begeistert in den Krieg Hitlers zog. Der grausame Bilder in seinem Kopf hatte – und sie nie wieder los wurde. Der es sich danach zur Lebensaufgabe machte, seine Lehren daraus zu ziehen und sie jungen Menschen weiterzugeben. Lehren über die Manipulation junger Menschen, Nationalismus, Rassismus, Krieg. Brücken zu bauen wurde ein zentrales Bild. Dieses Bild taucht durchgehend in seiner biografischen Skizze auf und ist das dominante Thema seiner Lebenserzählung. Man könnte meinen, dass das, was sich in dem folgenden Text darstellt, ein typisches Leben und typische Erfahrungshorizonte des 20. Jahrhunderts sind. Geschichte. Überwunden. Bald in Vergessenheit geraten. Aber Theobald Rieths biografische Skizzen gehen weiter und sind nicht nur auf seine eigenen konkreten Erfahrungen bezogen. Die Grundprinzipien seines Handelns sind verallgemeinerbar – und auch heute noch aktuell. Das Wirken von Theobald Rieth, mit Leidenschaft für Menschenwürde und Frieden einzutreten, ist vorbildlich, auf jeden Fall inspirierend. Wer erkennt schon, was seine Aufgabe in dieser Welt ist, und wer ist in der Lage, sich dieser Aufgabe mit aller Hingabe bis zuletzt zu verschreiben?

Die vorliegenden Texte sind von einer Gruppe ehemaliger Friedensdienstleistender gelesen und behutsam redigiert worden. Die Eingriffe beziehen sich vor allem auf formale Aspekte. Teils sind Passagen gestrichen worden. Weggelassen wurden Texte, die nicht von Theobald Rieth selbst stammen, der seiner biografischen Skizze etliche Textfragmente anderer Autoren hinzufügte. Leitend für das Redigieren war jedoch die Idee, die Stimme Theos stärker herauszuarbeiten, ihn – und nicht andere – sprechen zu lassen. Was aus der biografischen Skizze herausgenommen wurde, fand Platz in einem neuen 2. Teil, dem Anhang, in dem Texte von Theo und anderen Autoren wie auch Gedichte und Nachrufe zusammengefügt wurden.

Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der vorliegenden Texte

Einleitung von Theobald Rieth SJ

Den 1. Teil der Dokumentation widme ich meinen verstorbenen Eltern und Brüdern, meinen Jugendfreunden und meiner Jugendfreundin, meinen toten Kameraden und den Toten ehemaliger Kriegsgegner sowie allen, die halfen, dass wir nach dem Krieg einander die Hände zur Versöhnung und zum Frieden reichten.

Den 2. Teil der Trilogie widme ich meinen deutschen und europäischen Mitbrüdern im Jesuitenorden sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei den Projekten.

Den 3. Teil der Trilogie widme ich den von den Nazis ermordeten Sinti und Roma und allen, die durch Wort und Tat Frieden stiften, und meiner Schwägerin Renate, die aus ihrer Heimat Schlesien vertrieben wurde und in Westdeutschland eine neue Heimat fand, sowie ihrer jung verstorbenen Tochter Simone.

Von den angeführten Projekten, die in Kriegserfahrungen und Widerstand gegen Hitler begründet sind und die ich seit 1946 initiierte, bestehen heute noch viele in anderer Trägerschaft. Einige endeten, weil die Situationen sich geändert hatten. Mit den aktuellen Projekten spüre ich, dass ich mit 88 Jahren meinem Lebensziel, junge Menschen für Menschenwürde und Frieden zu sensibilisieren, näher gekommen bin und es Zeit ist, Saat und Ernte Jüngeren anzuvertrauen. 

Die Chronik habe ich erstellt, um Menschen zu ermutigen, auf die Berufung ihres Lebens zu hören und sie zu verwirklichen. Texte und Bilder folgen Situationen auf meinem Weg und geben Einblick in mein Handeln.

Wir können uns freuen, dass Momentaufnahmen so unterschiedlich, so unzulänglich und bruchstückhaft sind. Sie zeigen, dass wir alle unterwegs sind. Am Ziel werden wir sehen, ob Aussaat und Ernte gelungen sind. 

Es ist gut zu spüren, dass auch dann eine Hand uns führt, wenn wir versagen: „Wenn unser Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles.“ (1 Joh. 3, 20). Diese Worte haben mich oft getragen, wenn ich am Verzweifeln war und aufgeben wollte. 

Unsere Hoffnung (nach Ernst Bloch: „Verliebt sein ins Gelingen“) darf nicht zu ängstlich sein. Wenn ich auf die Jahrzehnte meines Lebens zurückblicke, werde ich still und danke Gott, der mir den Weg zugetraut hat. 

Danke allen Weggefährtinnen und Weggefährten, die mit unterwegs waren und sich für Menschenwürde und Frieden engagierten. 

Sommer 2014

1. Teil

Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner, 1944 – 1954 und Vorgeschichte

1926 bin ich in Limburg/Lahn geboren. Ich war der dritte von vier Brüdern. Ich erlebte Freiheit und zunehmende Selbstbestimmung durch Verantwortung, die sich am Gewissen orientierte. Bei unseren Eltern erlebten wir Füreinander-da-Sein. Wir konnten über Leben und Zukunft weitgehend selbst entscheiden und wurden nicht uniformiert und dressiert. So prägten Elternhaus und Freundeskreis sehr stark mein Leben. Bei Eltern, Freunden und meiner Freundin konnte ich mich auf Worte und Taten verlassen. Für uns war das gelebter christlicher Glaube.
1935 musste ich in die Hitlerjugend (HJ) gehen und kam in eine mir fremde Welt. Die Werte Wahrheit, Verantwortung und Freiheit waren durch das Elternhaus in mir als innere Orientierung grundgelegt. Bei der HJ aber wurden wir schon mit 9 Jahren auf Führer-Befehle eingeschworen, die im blinden Gehorsam und im Gleichschritt auszuführen waren ohne jede Rücksicht auf die Folgen. Wir wurden auf Krieg und Töten dressiert. Zunächst war ich begeistert vom Schießen und Kämpfen und wollte Offizier werden. Meine Mutter verhinderte, dass ich zur SS (Schutz-Staffel) ging. So begann ich nach meinem Einsatz als Luftwaffenhelfer Ende 1943 in Aachen die militärische Ausbildung als einfacher Grenadier bei der Wehrmacht. Mit den Aktionen der Hitlerjugend wurden Freiheit und Selbstbestimmung in Frage gestellt. Dies galt auch für meinen Glauben an Gott. Mein Gewissen zeigte immer stärker auf Widerstand gegen Lügen und blinden Gehorsam, die von den neuen Herren gefordert wurden. Mir fiel die zunehmende Isolierung von meinen Kameraden schwer. Als Hitlerjunge und in der Kriegszeit belasteten Feindbilder meine Sicht auf andere Menschen. Ich war oft bis zum Zerreißen angespannt.
Ab Herbst 1944 wurden wir am Dukla-Pass / Karpaten bei einer der blutigsten Abwehrschlachten an der Ostfront eingesetzt. Schon nach kurzer Zeit brodelte es in mir und in einigen Kameraden: Wer befiehlt das Töten, zu dem wir an der Front gezwungen waren? Wir wollten mit unseren 18 Jahren leben und suchten Glück wie unsere jungen Gegner. Keiner wollte sterben oder als Krüppel zurückkehren.
Wer hinderte uns, dem Feind die Hand zu reichen? Die Urheber des Krieges bekamen Gesichter: Hitler auf deutscher Seite sowie Stalin auf der andern Seite. Um Frieden zu schaffen, mussten wir bei uns selbst beginnen und die Dressur zum Töten überwinden.
Anstoß für mein Handeln für Menschenwürde und Frieden
Im Frühjahr 1945 verweigerte ich als Fahnenjunker an der Wehrmachts-Akademie in Prag vor vielen Offizieren Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht den unbedingten Gehorsam. Danach kam zu einem Gespräch mit dem Kommandeur der Akademie:
Er: „Fahnenjunker, sind Sie verrückt, in aller Öffentlichkeit den Gehorsam zu verweigern? In wenigen Wochen ist der Krieg zu Ende. Wir brauchen jetzt keine Märtyrer, sondern Menschen, die Frieden schaffen. Warum verweigern Sie jetzt noch den Gehorsam?“
Ich: „Wehrlose Menschen will ich nicht töten, aber an der Front kämpfe ich noch. Ich bin kein Feigling und Verräter!“
Er entgegnete langsam: „Ich bin bereit für Sie zu bürgen, dass Sie bei ihrer Aussage noch traumatisiert gewesen wären durch Fronterlebnisse. Meine Aussage reicht für Ihre Begnadigung – im schlimmsten Fall Strafkompanie.“ 
Mir stand die „Nazi-Sippenhaft“ vor Augen: Ich selbst wäre kein Fall mehr für den Henker, aber meine Eltern, Brüder, Freunde und meine Freundin. 
Ich: „Nein, ich nehme meine Verweigerung nicht zurück!“
Er: „Warum wollten Sie eigentlich Offizier werden?“
Ich: „Um die Heimat zu schützen.“
Er: „Ihre Verweigerung war öffentlich vor Ihren Kameraden und den Zuhörern: Sie müssen sofort hier weg!“ 
Am nächsten Tag kam er: „Mir liegt ein Befehl vor für ein Sonderkommando, mutige und todesbereite Soldaten zu rekrutieren mit dem Auftrag, Sabotage hinter der amerikanischen Frontlinie zu verüben. Das ist ein „Himmelfahrtskommando“; Chancen zur Rückkehr gleich Null.“
Ich unterbrach ihn: „Ja, sofort!“ 
Er streckte mir seine verstümmelten Arme entgegen, zerfetzt bei der Vernichtung russischer Panzer im Nahkampf. Wir hatten uns verstanden: Auch er wollte in Frieden leben. So ergriff ich beide Armstümpfe und erkannte meine Lebensaufgabe: Engagement für Frieden und Menschenwürde. Er offenbarte mir unter Lebensgefahr sein Herzensanliegen und ich band mich innerlich an die Aufgabe. Ich ahnte, dass diese Entscheidung mein ganzes Leben bestimmen würde. 
In der Nacht verließ unser Kommando die Akademie in Prag nach Potsdam zum Lehrgang für Nahkampf- und Panzervernichtung. Nach wenigen Tagen ging es hinter die amerikanische Frontlinie. Ich war außerhalb der deutschen Militärhoheit, in einem Fronteinsatz, wie ich es mir wünschte, als ich mich freiwillig zur Offizierslaufbahn gemeldet hatte. 
Nach erfolgreicher Sabotage kehrten wir hinter die deutsche Frontlinie zurück und wurden beim Endkampf um Berlin eingesetzt. Wir waren nur noch eine Handvoll Überlebende zum Kampf gegen erdrückende russische Panzerkräfte. 
Wenige Tage vor Kriegsende wurde ich schwer verwundet und geriet in russische Gefangenschaft, in der ich ständig den Tod vor Augen hatte. Nach der „Entlassung“ aus dem Lazarett erreichte ich mit Hilfe amerikanischer Soldaten meine Heimatstadt Limburg/Lahn.
1945: Im Herbst war ich bei meiner Mutter im zerbombten Elternhaus. Mein Vater und meine beiden älteren Brüder waren noch in Gefangenschaft. Auf der Suche nach einem Beruf holte ich zunächst mein Abitur nach, da ich 1943 nur einen „Reifevermerk“ erhalten hatte. Ich entschied mich für ein Praktikum in einer Maschinenbaufabrik, um den Alltag einfacher Arbeiter kennen zu lernen. Danach begann ich das Studium an einer technischen Hochschule. Es war nach kurzer Zeit zu Ende, als ich merkte, dass Menschen mir wichtiger waren als Maschinen. Ich wollte mich mit ganzer Kraft für Menschenwürde und Frieden einsetzen, um diese Werte nach dem Krieg wieder ins Bewusstsein zu heben und durch Taten zu festigen.
Überwindung von Hass und Trennung
1946 inszenierte ich mit anderen Heimkehrern zum Jahrestag des Kriegsendes vor dem Dom in Limburg das Mysterienspiel „Jedermann“. Beim Totentanz wurden beim Klang der Glocken und im Licht amerikanischer Militärscheinwerfer die Besucher nach ihrer Verantwortung gefragt: Was hast du getan, als Nazis „unwertes Leben“ auslöschten, Behinderte und Nicht-Arier? Menschen öffneten sich, sprachen wieder ohne Angst miteinander. Das Schweigen war gebrochen. Später verteilten wir CARE-Pakete an Familien in Not und besorgten Ostvertriebenen eine Wohnung.
1946 begegnete ich Jesuiten, die für eine neue Sozialordnung in Europa eintraten. Ich war fasziniert und wurde 1947 Jesuit. Das Noviziat war für mich ambivalent, oft eine Welt zum Lachen und zum Weinen. Viele meiner Mitbrüder hatten keine Ahnung von den Grausamkeiten der Front und konnten sich nicht vorstellen, dass Narben in unseren Herzen brannten. So standen wir ehemalige Soldaten mit unserer Vergangenheit allein und mussten zum Teil unsinnigen Regeln folgen. Unsere Kriegserfahrungen wurden nie aufgearbeitet.
Unvermittelt ereignete sich im Juni 1951 ein sehr schwerer Verkehrsunfall an einem Bahnübergang: 16 meiner jungen Mitbrüder starben, viele wurden schwer verletzt. Die Beerdigung erfolgte auf dem Jesuiten-Friedhof in Pullach.
Da ich in dieser Zeit schon mit zwei anderen jungen Jesuiten in Belgien studierte, versuchten wir, durch Spenden und Lebensmittelpakete, die von belgischen Familien kamen, den Mitbrüdern in München zu helfen und dadurch unser Mitgefühl auszudrücken.
Den Anstoß dazu gab P. Werenfried van Straaten, der belgische „Speckpater“. Er versorgte hunderttausende deutsche Ostvertriebene mit Lebensmitteln und Kleidung durch spektakuläre Aktionen, denen ganz Belgien folgte.
1951 begann ich mein Philosophie-Studium in Löwen / Belgien als Fortsetzung meiner humanistischen Studien. Dort besuchte ich gemeinsam mit jungen Amerikanern, Belgiern, Franzosen und Deutschen den Soldatenfriedhof Lommel mit rd. 40.000 deutschen Gefallenen. Am Eingang zum Friedhof verbot eine amtliche Tafel den Zugang mit den Worten: „Betreten wegen Seuchengefahr verboten!“ 
Seuche? Dies war offenbar nicht medizinisch zu verstehen, sondern entsprach den damaligen Feindbildern. Wir erkannten die Aufgabe: An diesem Ort wollten wir ehemaligen Kriegsgegnern die Hände reichen. Das Sterben der Soldaten aller Nationen verliert auch die letzte irdische Bedeutung, wenn die Toten vergessen werden und nicht mehr zu Menschenwürde und Frieden mahnen. Aber es dauerte noch zwei Jahre, bis das Schild verschwand.
Um unsere Idee zu verwirklichen, boten wir jungen Menschen aus Ländern des 2. Weltkriegs an, in Workcamps auf Soldatenfriedhöfen mitzuarbeiten, um Feindbilder und Vorurteile zu überwinden. 
Da wir auf einem Friedhof des 2. Weltkriegs zunächst noch nicht arbeiten durften, nutzten wir die Zeit, Soldatenfriedhöfe des 1. Weltkriegs im Raum Ypern zu pflegen. Dort starben hunderttausende englischer und deutscher Soldaten. 
Die Bevölkerung reagierte zustimmend, da die Gräberfelder völlig überwuchert waren. Erschüttert erlebten wir, was mit Gebeinen ehemaliger Kameraden geschah: Ein Bagger hob ein Loch aus. Der Sack mit den Gebeinen wurde hineingeworfen und die Stelle eingeebnet.
Der Dorfschmied der Gemeinde Dadizele zeigte uns, wie wir unsere Arbeitsgeräte pflegen konnten. Sein Vater wurde im 1. Weltkrieg aus einer Familie mit 13 Kindern verhaftet und vor deren Augen erschossen wegen des Verdachtes, belgische Soldaten unterstützt zu haben.
Als wir ihm sagten, dass wir mit unserer Arbeit auf dem Friedhof „Ter Hand“ auch das Grab seines Vaters gepflegt hätten, der zwischen den Deutschen begraben worden war, weinte er. 
Der Schmied erzählte im Dorf von unserer Arbeit und die Menschen verstanden was wir wollten: Versöhnung über den Gräbern und Toten ihre Gesichter wieder geben.