Leidenschaftliche Spiritualität - Dr. habil. Satnam Paulus-Thomas Weber - E-Book

Leidenschaftliche Spiritualität E-Book

Dr. habil. Satnam Paulus-Thomas Weber

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Beschreibung

Leidenschaftliche Spiritualität - das ist eine Reise durch zentrale Phasen und Aspekte unseres menschlichen Lebens. Es ist eine Liebeserklärung an das Dasein mit all seinen Farben und auch abgründigen Seiten. - Wie zeigt sich eine tiefe Erfüllung von Menschsein, inmitten der diversen Lebensumstände? Diese Frage begleitet durch die unterschiedlichen Erlebniswelten des Buches. Es wird deutlich, dass wir nicht für Erfolg oder sicheres Leben unterwegs sind als Menschen, sondern als Forschende, als Erfahrende, als Kundschafter und Fragende - auf dass sich uns die Fülle von Wirklichkeit immer weiter erschließt. Das "Feuer der der Wirklichkeit" - wie es im Untertitel formuliert wird - kann der einfache Alltag sein, eine gelebte Partnerschaft, der Weg der Heilung und Therapie, der Pfad der Meditation. Es kann aber auch bedeuten, der Armut auf der Straße zu begegnen, im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu meditieren, oder sich auf den Weg zu einer der ältesten Kulturen der Menschheit zu machen. Der Umgang mit Leben und Sterben, mit den Abwegen von Religion, wie auch ein wacher Blick auf das, was in der Tiefe unserer heutigen Zeit geschieht, gehören hier mit ins Bildfeld. Die einzelnen Kapitel formen einen lebendigen Bogen - eben eine Reise, die zwischen mehr erzählenden und mehr philosophsichen Abschnitten pendelt und dabei immer Grundzüge einer modernen authentischen Spiritualität für uns Menschen im 21. Jahrhundert skizziert. Am Ende können die Leserinnen und Leser selbst Teil dieses Weges sein - hineingenommen in eine leidenschaftliche Berührung mit dem Leben.

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EPUB
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Seitenzahl: 416

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Satnam Paulus-Thomas Weber

Leidenschaftliche Spiritualität

Das Herz öffnen für das Feuer der Wirklichkeit

© 2021 Dr. habil. Satnam Paulus-Thomas Weber

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-32226-4

Hardcover:

978-3-347-27440-2

e-Book:

978-3-347-27441-9

Umschlagfoto vorne: Stephan Leupold

Umschlagfoto hinten: Maria Sanftl

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Allen gewidmet, die mir auf dieser Reise begegneten, die mich lehrten zu leben und zu sterben, die mit mir Schülerinnen und Schüler des Seins sind.

Einführung

1. In unprivilegierten Situationen den Pfad des Erwachens gehen

Schülerin und Schüler des Seins werden

2. Die Magie gelebter Gefährtenschaft

„Kannst Du an meiner Seite wachsen?“

3. Lass Deine Wunde zum Ort Deiner Wandlung werden!

Begegnung von Gestalttherapie und Initiation

4. "Komm nach Hause" - ruft die Amsel

Zen-Weg gehen: Initiation und Pilgerschaft

5. Mein Name ist wie der Staub der Straßen

Obdachlosigkeit und die Illusion des Besitzes

6. Die andere Seite des Mondes

Zeugnis ablegen von der Finsternis

7. Heile uns, du heiliges Land der Traumzeit und der Traumpfade!

Pilgerreise ins Land der Aboriginal People

8. Sich umarmen lassen von den Mysterien des Todes und des Lebens

Leben als Reise in das Wunder des Daseins

9. Wir sind Teilchen und Welle und erwachender Sternenstaub

Eine Anthropologie des Erwachens

10. Religiösen Missbrauch und spirituelles Tabu erkennen

Schattenaspekte des spirituellen Feldes

11. Wenn aber unsere Welt zerfällt…

Ein Zugang zu unserer heutigen globalen Situation

12. Unendlicher Beginn: Dass wir nie enden, jung zu sein

Spurensuche für eine moderne Spiritualität

Weckruf – anstelle eines Vorworts

Lasst uns wach werden für das Wesentliche!

In einer herausfordernden Zeit – in oft schwierigen Lebenssituationen – lasst uns den Blick nicht verlieren für das, worum es eigentlich geht, wofür Menschsein lohnt und Leben und Sterben sich erfüllen.

Danke allen, die mich unterstützen immer wieder zur Kostbarkeit von Dasein zu erwachen!

Danke allen, die mitwirkten, dass dieses Buch zu denen kommt, die es lesen.

Satnam Paulus-Thomas Weber

Einführung

Was würde in uns geschehen, wenn wir dem Leben in seiner ganzen Bandbreite zustimmen, mit den verschiedenen Aspekten des Daseins in Berührung kommen und dies alles als Impuls zur persönlichen Entwicklung nutzten? Könnten wir frei werden für das Leben - hin zu unverstelltem, möglichst authentischem Menschsein?

Dieses Buch ist ein Tagebuch - ein Tagebuch von einem Weg, der für mich vor vielen Jahren begann. Es ist das Tagebuch eines Suchenden, Pilgernden, Findenden in unserer heutigen Zeit - als solcher verstehe ich mich. Die Reise zur inneren Freiheit ist immer ein Beginn, sie ist aus meiner Sicht nie abgeschlossen. Sie lebt nicht so sehr von spektakulären Ereignissen und Erfahrungen, als mehr von einer durch alles hindurch wachsenden Grundhaltung. Dazu werden die Dinge, Situationen, Menschen und andere Lebewesen, die uns dabei begegnen, unsere LehrerInnen und Wegweiser. Auf den folgenden Seiten versuche ich, davon gleichsam Zeugnis abzulegen - mag damit auch Euch, die Lesenden inspirieren, die eigenen Erfahrungen als Tore zu authentischer Menschlichkeit zu nutzen so gut es eben geht.

Die Inspiration zu diesem Buch sind Aufsätze, die mich schon lange begleitet haben. Starke Erfahrungen meiner spirituellen und menschlichen Suche begann ich in Worte und Sprache zu bringen. Mich bewegt in alle dem die Frage, wie unverkürztes Menschsein möglich ist – und ich weiß, dass es möglich ist. Können wir mehr und mehr lernen, nicht auszugrenzen, sondern zu erfahren, zu verstehen, uns anrühren zu lassen von der Wirklichkeit, die bisweilen die Intensität eines Feuers haben kann?

Was ist ein spirituelles Suchen, Reisen und Reifen – wenn nicht echtes und authentisches Menschsein? Und was ist gelebte Spiritualität – wenn nicht die, wie ich es als Student mal formuliert habe, „leidenschaftliche Berührung mit allem, was ist, weil alles lebendig ist“? Daraus wurde die Spur dieses Buches - verbunden mit meinen Erfahrungen als spirituell Lehrender und Therapeut für viele Menschen seit einer Reihe von Jahren.

Wie geht es, in unserer heutigen Welt sehr konkrete, oft auch heftige, bisweilen tief inspirierende Situationen als Tore zu dem zu erleben, was wir unsere Wesenstiefe, Existenzialität oder auch Spiritualität nennen? Wenn wir die alten Begrenzungen von traditionellen Religionen - so wertvoll sie bisweilen sind - öffnen und nicht nur in den abgesteckten Bezirken des Religiösen suchen, wenn wir die sicheren "Tempelanlagen" und die warmen Meditationssäle verlassen und uns hinausbegeben in die winddurchwehte Wildnis des alltäglichen und oft auch so gänzlich nicht-alltäglichen aber ebenso menschlichen Lebens, dann schlägt uns das ganze Feuer der Wirklichkeit entgegen. Wir können erfahren, wie diese zunächst gar nicht so spirituell anmutenden Erlebnisse - uns zutiefst reifen lassen, wenn wir sie zu lesen lernen und an unser Herz halten.

So begann mein Weg mit dem Schreiben dieses Buches eigentlich vor 20 Jahren, einer intensiven Erfahrung oder Schau bei einer Nachtwanderung mit Freunden entlang der Meeresküste zum Kap Arkona auf der Insel Rügen. Dies ist der letzte Text dieses Buches. Darin ist eine Art "Vision" – eine weitere Welt – die mich selbst etwas lehrt. Diese Offenheit habe ich versucht in meinen Weg zu formen. So blieb es für mich nicht bei dem Studium der Philosophie und Theologie in Würzburg damals, wo ich auch promovierte und dann meine Habilitation zur menschlichen Bewusstseinsgeschichte vom Paläolithikum bis heute schrieb. Es blieb für mich nicht bei meinem tiefen Eintauchen in die christliche Tradition als Meditierender, als Mönch und als Priester, als angehender Hochschullehrer und Kursleiter. Mein Weg führte zum Zen, wo ich die mystische Erfahrungstiefe fand, die ich für mich schon lange gelebt hatte, die nun nochmal mehr in eine Form kam. Daraus wurde der 4. Aufsatz, wo die Amsel mich heimrief ins Jetzt der Übung, in diesen Moment, in die fast diamantene Klarheit und Unbestechlichkeit der Zen-Praxis, in dieses Nacktsein in der Existenz – wie ich Zen erlebte. Um meine eigenen Wege und Umwege gut begleiten zu können – und das auch für andere zu können, kam ich zur Psychotherapie, unter anderem zur Gestalttherapie, deren Hauptfigur, Fritz Perls, einen starken Zugang zu östlichen Meditations-Praktiken hatte. Die Wandlung dessen, was wund ist in uns, das war mein Thema und ich sah das schon immer in der Begleitung durch weise und erfahrene "Älteste" – bei den Ureinwohnern Australiens, in der Schwitzhütten-Praxis der Indianer – und eben in der heutigen Gestaltarbeit. Daraus entstand der 3. Aufsatz, der auch Teil meiner damaligen Ausbildung war. Mit Zen kam ich in Kontakt mit Bernard Glassman, einem der ungewöhnlichsten und tiefsten, ja authentischsten Lehrer, die ich kenne. Er brachte Meditation an die heftigen – "feurigsten" – Orte dieser Erde. So kam ich zu einem Retreat im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, was mich tief bewegte. Etwas in mir rief mich dorthin… Im 6. Text „Die andere Seite des Mondes“ habe ich das beschrieben. Als ich später in Luxemburg eine Stelle hatte als Referent für Integrale Spiritualität, inspirierte mich nochmal Bernard Glassmans Weg hin zu einem von ihm kreierten „Straßenretreat“ – 5 Tage auf der Straße leben, betteln, meditieren in einer deutschen Großstadt. „Mein Name ist wie der Staub der Straßen“ – wurde aus dieser Erfahrung (5).

Eine lange Lebenssehnsucht war immer wieder mein Weg in die Wildnis, in die Urlandschaften der Erde. Wie eine Pilgerreise empfand ich das und zeitweise war dies das Heiligste, das ich je gelebt hatte. Etwas in mir suchte nicht nur die Natur, die Wildnis, etwas in mir erfuhr auch das Alte und Uralte der Evolution von Menschen, unseren Ahninnen und Ahnen dort. So führte es mich nach Australien, zu der vermutlich „ältesten“ Kultur der Menschheit – den Aboriginal People. Dort begegnete ich ihnen und mir selbst und der großen Natur. „Heile uns du heiliges Land der Traumzeit und der Traumpfade!“ Diese Pilgerreise ist mein 7. Text hier geworden.

Ja – und mein Weg führte aus der Philosophie und Phänomenologie, aus der Arbeit im christlichen Feld und der Kontemplation, über Zen und Straße und Australien zum Tantra, zur Inspiration durch Osho (den ich leider nicht mehr direkt erlebt habe in Indien), zur Ausbildung im Tantra, wo ich auch meine mich immer wieder inspirierende Gefährtin, Sahaja Jutta Pree, kennen und lieben lernte. Von da ist der 2. Aufsatz, den ich dann aktuell geschrieben habe, möglich geworden: „Die Magie gelebter Gefährtenschaft“. Nun bin ich selbstständig, leite mit meiner Partnerin hier in Neumarkt ein Institut für Somatisch Basierte Meditation und transpersonale Atemarbeit mit vielen Kursen, Retreats, Trainings und Ausbildung. Dies alles ist möglich geworden durch ein tiefes oft gemeinsames Eintauchen in den Buddhismus, wobei meine Gefährtin mir hier immer wieder Türöffnerin ist. So kamen wir zu Reginald Ray in Colorado - USA, dessen Arbeit Somatischer Meditation in machtvollen tibetischen Praktiken wurzelnd, mich tief geprägt hat. Ergänzend dazu forschten (und forschen) wir im Sinne der transpersonalen Psychologie mit tiefergehenden Übungen, wie vor allem dem Holotropen Atmen, in dem wir eine 4-jährige Ausbildung bei Dr. Sylvester Walch machten.

In meinem alltäglichen Leben, auch mit dem, was sich wiederholt, wo ich oft mühsam etwas aufbaue, wo ich versucht habe und immer wieder versuche das mir Kostbare zu anderen Menschen zu bringen – aus diesem Alltag entstand dann die Einsicht, dass wir in „unprivilegierten Situationen den Pfad es Erwachens gehen“ können. Damit beginnt ja dieses Buch hier.

In der heutigen Situation – gerade schreiben wir das Jahr 2021 und sind noch sehr sehr mit Corona und allem was daraus folgt beschäftigt – in der heutigen Situation wird mir klar, wie sehr das Sterben, der Tod und das Größere darin ausgegrenzt, ja tabuisiert sind in unserer heutigen modernen Gesellschaft. Da liegt der Überhang auf dem Wachstum – und niemand will schwinden, gehen, sich loslassen, sich verwandeln lassen…. Aber wer wären wir Armen denn - so kam es mir eines Nachts – wenn wir nicht umarmt und gehalten wären in unserem Menschsein von den Mysterien des Todes und des Lebens? Ich empfinde es wirklich als einen Segen, ein Gehalten-sein, diese Qualität von Geborenwerden und Sterben. Darum geht es im 8. Aufsatz. Und wer sind wir Menschen denn wirklich? - Das beschäftigt mich immer wieder neu, in vielen Stunden der Meditation, in meinen Einzelretreats, die ich zum Teil in wilden Landschaften, gemacht habe, in Dunkelretreats, die ich kenne, in der Arbeit als Begleiter, Supervisor und Therapeut in meiner Praxis hier in Neumarkt. Wer sind wir denn – wir sind doch oft ziemlich krasse Wesen, wir Menschen, manchmal echt unerträglich, und dann wieder wunderbar, sinnlich, fein und absolut liebenswert… Vielleicht sind wir ja wirklich Teilchen und Welle zugleich, wie es die Quantenphysik lehrt, sind erwachender Sternenstaub… Das versuche ich im 9. Text zu sortieren.

In meinen Ausbildungen, aber auch darüber hinaus, war ich in sehr vielen Gruppen, Trainings, Retreats, zum Teil weltweit. Da konnte ich wunderbare LehrerInnen erleben, aber auch deren Schatten. Ich konnte heilende Gruppenprozesse machen, aber auch solche, die sich wie die Wiederkehr alter Traumafelder anfühlten. So habe ich hier einen Aufsatz versucht zu den Schatten-Aspekten des spirituellen Weges – aus der Sicht der SchülerInnen, was ich ja auch immer bin, wie auch aus der Sicht der Lehrenden, was ich ebenfalls bisweilen bin. Das ist der 10. Text dieses Buches.

Und dann leben wir ja in dieser nicht einfachen Situation heute – ich meine nicht nur mit Viren und Lockdowns und Widerstand – ich meine dass wir seit Jahrzehnten, vielleicht schon länger, in einem Umbruch als Menschenfamilie uns befinden. Dazu habe ich viel geforscht und gearbeitet. Hier ist ein aktueller Aufsatz dazu, in dem ich auch versucht habe auf dieses aus meiner Sicht so zentrale Thema des sog. „spirituellen Tabus“ einzugehen. Was ist es, dass wir uns für eine Öffnung ins Unendliche gesellschaftlich wie entschuldigen müssen? Was macht so große Angst, dass wir die heißesten Sex-Erlebnisse eher in eine Vita schreiben könnten, als eine umfassende und uns tief verwandelnde Seinserfahrung? Ich meine hier nicht den „Insider“-Kreis von spirituellen Menschen, ich meine das im Großen der Gesellschaft und in den Ebenen von Politik, Wirtschaft, Karriere, Wissenschaft… Also – wie auch immer – mehr dazu steht im 11. Aufsatz „Wenn aber unsere Welt zerfällt“.

Und in alle dem, können wir, wenn wir das Feuer der Wirklichkeit zu berühren bereit sind, erfahren, dass wir immer wieder jung sind, dass wir eine Ursprungs-Frische in uns haben, wenn wir offen sind, wenn wir uns aus der Quelle des Lebens selbst zu erneuern trauen. Unendlicher Beginn – das ist ein visionärer auch gewagter Text – eine „Bergtour in das Beyond heutiger Religionen und Traditionen“, und meine Erfahrung der Nachtwanderung – wie eingangs beschrieben.

Damit schließt sich der Bogen – und für mich sind und waren dies alles Torwege, die mir anboten und mich einladen immer wieder, authentisch, also unverfügbar, wahr, offen, verletzlich, frei, liebend und wagemutig zu sein. Wie – wenn wir nichts auslassen? Kann es sein, dass uns dann eines Tages nichts mehr zu irritieren, zu stören vermag, weil ja schon alles da sein darf? Kann es sein, dass die Angst, die oft so tief in uns Menschen – gerade uns modernen Menschen – sitzt, dann sich löst und wir frei werden nicht weg vom Dasein, sondern für das Leben?

Noch eine Anmerkung zu diesem Buch hier insgesamt: Ist mein erstes Buch "In-Bild des Kommenden"1 eher eine grundlegende philosophische Skizze moderner Spiritualität inmitten unserer heutigen Zeit, so hat das vorliegende Buch in vielen Texten eher erzählenden Charakter, ist so gesehen freier, weniger im Zusammenhang geschrieben. Jeder Text steht auch für sich, hat bisweilen etwas Aphoristisches im Vergleich mit den anderen Aufsätzen. Und zugleich ist da ein gemeinsamer Bogen, der sich auch mir erst im Schreiben bildete und den ich in den kurzen "Übergang…" - Texten ausdrücke.

Mein Wunsch ist, dass Ihr Euch inspirieren lassen könnt von meinen Erfahrungs-Berichten. Wähle die Themen, die Dich ansprechen oder folge dem Aufbau dieses Buches. Und vor allem, finde Deine eigene Resonanz, vielleicht auch Worte und Ausdruck für Deine Erfahrungen und das Geschenk Deines Lebens.

In diesem Sinne wünsche ich uns gemeinsam eine gute Reise durch die lebendigen Landschaften der Wirklichkeit!

Satnam Paulus-Thomas Weber,

Neumarkt im März 2021

Übergang…

Unser aller Leben geschieht in bestimmten Situationen, in denen wir atmen, lieben, schlafen und wachsen. Diese Situationen empfinden wir als mehr oder weniger fördernd für uns und unsere Vision vom Leben. Mit den unterstützenden Aspekten unseres Alltags können wir in der Regel besser umgehen – was nicht heißt, dass sie immer hilfreich sein müssen. Auch ein Leben in Reichtum und Sorglosigkeit kann einen die Jahrzehnte verschlafen lassen… Entspannen kann uns, dass wir letztlich alle in einer Art „unprivilegierter“ Situation leben – und sei es einfach, dass wir in unserem Menschsein Verwundbarkeit, Schmerz, Krankheit, Alter und Tod teilen.

Dieser erste Text versucht zu sehen, wie wir in den verschiedensten Lebens-Lagen und äußeren Situationen dennoch das Kostbare verwirklichen können: Zu authentischen Menschen zu werden, in unsere Wahrheit zu erwachen – dieses einzigartige Leben so gut es möglich ist, zu gestalten.

1  Satnam Paulus-Thomas Weber: In-Bild des Kommenden. Erwachendes Menschsein in herausfordernder Zeit. Ein spiritueller Reise-Begleiter. Hamburg 2019

1

In unprivilegierten Situationen den Pfad des Erwachens gehen

Schülerin und Schüler des Seins werden

 

Wenn aber alles passt – ist es schwer zu erwachen!

Gerade scheint die Sonne in mein Zimmer

Es ist jetzt - und gerade scheint die Sonne in mein Zimmer, in unsere Wohnung. Die Landschaft liegt in einem besonderen Licht, das von innerer Leuchtkraft und Brillianz ist, ein Licht, das ich in diesem Jahr vielfach in der Natur wahrgenommen habe. Vielleicht hat sich mein Sehen verändert, mag sein. Noch ist "Corona-Zeit", und wenn Du das hier liest, ist vielleicht immer noch diese Situation von Krankheit, Ansteckungsgefahr, nervigen Lockdowns und den einander widersprechenden Stimmen und Meinungen, dazu unser Alltag. Vielleicht ist es auch schon zu Ende. Möglicherweise ist es auch schon lange vorbei. Nun - jetzt, wo ich dies schreibe ist das meine, ist das unsere Situation, und selten hat eine Gesamtlage die Menschen rund um den Globus so verbunden und zugleich verwirrt und auseinandergebracht, wie diese wirklich nicht privilegierte Situation.

Wenn ich in die Geschichte blicke, so gab es so viele Seuchen und Kriege und auch staatliche Eingriffe und Verordnungen - und Menschen hatten da über kürzere oder längere Zeit hindurchzugehen. Oft lernen wir besonders in solchen Zeiten, einander beizustehen. ZeitzeugInnen des 2. Weltkrieges berichten, wie sie kaum je im Leben soviel selbstlose Unterstützung erfuhren, wie in dieser Zeit größter Not und Bedrohung, Hunger und Heimatlosigkeit. Zugleich löst gerade menschlicher Hass, unsere Gier und Gewalt den Krieg aus - wie auch in milderem Maß unsere heutige Situation (und nicht nur durch das umherziehende Virus) verschärft wird durch menschliches Ungenügen, Verblendung, Schuldzuweisungen, Verwirrtheiten und kurzsichtiges Habenwollen… Zugleich erlebe ich heute sehr viel Kostbares, das wie in den Schalen der Krisen auf uns wartet - und bisweilen nur dort. Welch besondere und ansprechende Mails und Briefe oder auch Anrufe bekam ich von Menschen in den letzten Wochen und Monaten. Zum Teil als Reaktion auf etwas, das ich geben konnte - wie etwa einen Text, ein Audio mit einer Übung oder einen Talk von mir - zum Teil aber auch einfach spontan als Lebenszeichen, als Brücke des Verbundenseins, des Wissens umeinander. Etwas mag wach werden in uns Menschen, gerade dann, wenn wir in Krisen sind, wenn Not ist, wenn ein Virus umgeht, wenn staatliche und sonstige Kräfte in einer jeweiligen Mischung aus guter Absicht und Verwirrung mit einem Schuss an Manipulation und Rigidität handeln. Etwas in uns Menschen kann erstaunlicherweise wachsen, gerade in schwierigen Zeiten, kann das Herz öffnen füreinander, für das unverbrüchlich Menschliche, für das Leben in seiner zeitweise wirklich bedrohten Schönheit und Leuchtkraft. Etwas in uns erblüht - genau in unprivilegierten Situationen.

Unprivilegiert…

Wir alle wünschen es uns natürlich - diese günstigen Lebenswendungen für das, was wir lieben, wovon wir träumen, was wir erleben und leben wollen. Wir wünschen uns Gesundheit und Sicherheit, wünschen uns gute Eltern und Freunde oder Freundinnen, wünschen uns gelingendes Wachstum und Lernen, einen sinnvollen Beruf und und und… Wir wünschen uns diese Vorteile des Lebens - wohl wissend, dass dies nicht für alle möglich ist auf diesem Planeten. Wir sehen sehr klar, dass es wirklich Privilegien sind, die uns als Geschenke zukommen, und die genau so schnell wieder verschwinden können - Geschenke, von denen viele Menschen zur Zeit nur träumen können, weil die Situation in ihrem Land, in ihrer Gesellschaft und Familie, oder aufgrund ihrer Chancen in Bildung, Beruf und Freiheit - dies gar nicht möglich macht.

In unserer modernen Welt haben wir uns an diese Art von Privilegien gewöhnt und halten sie für normal. Wir werden ärgerlich, wenn wir sie nicht bekommen, oder wenn sie uns genommen werden. Haben wir einen Anspruch darauf? Manchmal meinen wir, wir hätten es falsch gemacht, wären Schuld daran, dass es nicht so ist, wie wir es uns wünschen oder wie es eine Zeit lang in unserer Biographie da war. Im Kern sind diese günstigen Umstände, diese Privilegien, lediglich dass das Leben sich uns so zeigt, wie wir es uns wünschen, inklusiv der Überraschungen, die wir gerne zusätzlich ans Leben delegieren - natürlich sollten es gute Überraschungen sein. Also - wir wünschen uns, dass das Leben, die Welt, besonders aber unsere Lebensgeschichte der inneren Landkarte entspricht, die wir uns vom Leben, von unserem Selbst-Weg gemacht haben. Landkarten sind sehr hilfreich - allerdings nur dann, wenn sie der Landschaft entsprechen, von der sie eine Skizze sind. Eine Landkarte, die der Wirklichkeit des Landes nicht entspricht ist etwas "speziell", eigentlich nutzlos. Sie ist eher ein Bauplan - wir versuchen das Leben so zu machen, zu managen, dass es unserem Plan entspricht. Nur - das funktioniert nicht wirklich. Vielleicht gelingt es in kleinen Bereichen - aber im Großen fast nie. Damit wird der eigentliche Punkt von diesen unprivilegierten Situationen klar - es bedeutet, dass wir in einer Welt leben, ein Leben führen, das uns unverfügbar ist, das nicht unseren Ideen und Gedanken oder Wünschen gehorcht.

In unprivilegierten Situationen zu leben bedeutet, ein Leben zu führen, das wir nicht gemacht haben, in einer Welt geboren zu sein, die wir nicht erfunden haben, in einer Zeit zu existieren, die uns vorgegeben ist, die unseren Wünschen nicht entspricht, die uns konfrontiert mit dem "Anderen", dem Gegebenen von Wirklichkeit. Die unprivilegierte Situation zeigt uns ganz klar unsere Ohnmacht hinsichtlich der Totalität des Daseins. Wir sind nur ein Staubkorn - ein bewusstes vielleicht, aber nicht der Nabel der Welt. Das wird uns unverbrüchlich klar in solchen Situationen.

Wenn wir genau hinschauen, trägt jedes Menschenleben diese Züge. Gerade in der modernen Welt, wo wir solch eine Sensibilität für unsere persönliche Einzigartigkeit und Kostbarkeit als diese einmaligen Menschen haben, können wir leicht entdecken, dass wir alle in unprivilegierten Situationen leben. Das kann sein, dass wir in einer Kultur oder Gesellschaft existieren, die uns zutiefst fremd ist und deren Werte und Haltungen wir nicht teilen, die wir oberflächlich und verwirrt empfinden. Es kann sein, dass wir uns am falschen Ort erleben - unser Herz würde aufblühen in einem warmen Land inmitten von Natur, wir aber leben in einer Großstadt der nördlichen Hemisphäre. Unsere Biographie kann mit schwierigen gesundheitlichen Umständen starten, wir können bei Eltern landen, die krank sind, oder deren Herz sich nicht für uns zu öffnen vermag, weil sie so sehr selbst verletzt oder mit sich überhaupt nicht im Frieden sind. Wir können sogar traumatische Lebensphasen durchleben und tief verletzt diese unsere Menschen-Reise beginnen. Wir können körperlich oder psychisch eine heftige Störung in uns tragen, die unser Leben prägt, uns Tore verschließt zu etwas, das wir gerne täten oder leben würden. Wir können aber auch ganz frei und gut und frisch starten ins Leben - und in uns ist ein "Mechanismus", der offensichtlich damit nicht zurechtkommt. Wir inszenieren gleichsam selbst den Absturz, die Not, das Desaster, verschwenden Zeit und materielle Güter, kommen endlos nicht auf die Spur und wachen erst Jahrzehnte später auf mit dem bleibenden Schmerz, dass wir die Hälfte unseres Lebens völlig nutzlos vergeudet haben.

Unprivilegierte Situationen entstehen und erscheinen oft genau in scheinbar oder auch wirklich privilegierten Lebenskontexten. Sei es, dass wir das Kostbare, das Geschenk nicht als solches sehen, es für normal halten und uns nicht entsprechend verhalten, so dass das Wesentliche zu erblühen vermag in dieser Zeit. Oder sei es, dass wir hinter den Kulissen einem Leiden begegnen, um das viele von außen gar nicht wissen. Da ist ein äußeres Gelingen, ein erfolgreicher Beruf - aber dahinter ist ein Mensch, der sich selbst in einsamen Stunden unendlich abwertet, sich nicht ausstehen kann, sich zerleidet an Selbstvorwürfen und keine Liebe hat für sich. Da ist ein Leben das nach außen hilfreich und frei wirkt, jemand, der anderen beisteht und Mut macht - und selbst Nacht für Nacht durch Albträume des Schreckens, der Panik und der Abgründe menschlicher Geschichte geht. Für viele von uns, gerade auch in sonst recht unterstützenden Lebens-Situationen ist der sogenannte Mangel an Lebens-Zeit, an Alltags-Zeit ein großes Thema, bisweilen echt eine Wunde. Schon allein immer unter Zeitdruck zu sein, macht uns weh und mürbe, aber noch mehr, wenn wir endlos keine Zeit haben für das, was wir lieben. Vielleicht besitzen wir vieles, was wir uns auch gewünscht, wofür wir gearbeitet haben - aber wir haben im Grunde kaum die angemessene Zeit, dies zu genießen, es so zu erleben, dass wir ein Empfinden innerer Erfüllung spüren können. Wir haben Vieles - nur für das Leben selbst, für uns selbst, unsere Selbstwerdung, da haben wir das Wesentliche nicht: die Zeit, die es braucht, dass wir uns erspüren, uns erkennen, an uns arbeiten, dass es freier wird in uns. Wir haben die Zeit nicht, zu leben, auch wenn das Leben in vollen Schalen vor uns steht. Unprivilegierte Situationen - weil es eben anders ist, als wir es uns wünschen.

Dem Leben nichts entgegenstellen

Es stellt sich uns eine zentrale und unumgängliche Frage: Wie antworten wir auf dieses Leben, das wir leben, das uns manchmal einfach vor vollendete Tatsachen stellt, ohne uns zu fragen? Nehmen wir den Kampf auf - vertrauen wir nur und einzig unserer Landkarte, unserer Vorstellung, wie die Dinge zu laufen hätten, vertrauen wir unserem Machen und Wollen - oder lassen wir uns resigniert überrollen von dem, wie es ist, und begraben in uns den Wunsch, das Wissen, das Gewiss-sein, dass wir eigentlich eine Anders-Sicht vom Leben haben - diese nur noch in uns abgekapselt zu schützen vermögen? Aber - gibt es noch eine andere Möglichkeit?

Ach ja, wir könnten der Wirklichkeit erst mal zutrauen, dass sie aus der gleichen Weisheit geboren ist, wie wir selbst und unsere Wünsche. Wir könnten dem Strom des Lebens eine Art Vertrauensvorschuss anbieten, mit ihm zu floaten versuchen, uns von ihm tragen, inspirieren, auch manchmal durchaus provozieren und herausfordern lassen. Wir könnten dem Dasein elastisch begegnen mit jener Gabe, die wir heute "Resilienz" nennen. Bevor dies Supervisionen und Coachings entdeckt haben - war es ein wesentliches Geheimnis des Lebendigen auf unserer Erde. Durch die Evolution hindurch hat Leben, haben die Lebewesen in pflanzlicher, tierischer und menschlicher Gestalt sich den wechselnden Umständen immer wieder neu und elastisch angepasst - nicht um sich aufzugeben, sich zu verlieren oder um zu gefallen, sondern genau um ihr Leben zu erhalten, um ihre Art da zu sein, auch weiter in der Zukunft zu sichern. Neben dem Gesetz der sogenannten "Homöostase", also der Fähigkeit des Lebendigen physisch und psychisch für ein inneres Gleichgewicht zu sorgen und diese lebendige und lebensnotwendige Balance in sich aufrechtzuerhalten auch bei wechselnden Außenbedingungen, also neben diesem Gesetz der Selbst-Balance braucht es in der Evolution die Resilienz. Diese geht damit einher, mit zu strömen in den wechselnden Bedingungen, anders ist auch eine Aufrechterhaltung des Selbstgewinns nicht möglich. Wir können diese beiden Pole in uns selbst beobachten. Wenn wir zu sehr in die Anpassung an das Andere, das von außen kommt, gehen, verkommt Resilienz zu einem Selbstverlust und wir tanzen nach der Pfeife der anderen oder der Gesellschaft. Sind wir allerdings zu hartnäckig mit unserer inneren Balance und deren Aufrechterhaltung beschäftigt, so verpassen wir unter Umständen das Mitgehen mit den sich ändernden Umweltbedingungen und werden für andere stur, starr und nicht mehr verstehbar in einer Art "veralteter" Mentalität. Wir haften am Gestern, während die Welt sich schon weiter gedreht hat. Beides elastisch, gar spielerisch zu verbinden, das wäre die Kunst, die es uns ermöglicht auch in unprivilegierten Situationen, genau diese als unsere Reifungschance, als willkommene Herausforderung und Wachstums-Impuls, ja als Werkzeug der Arbeit an uns selbst zu nutzen, als Trittstein auf dem Pfad tiefer Selbsterforschung, auf dem Pfad des Erwachens.

Menschen auf dem Weg

Dieses elastische Schwingen mit nicht einfachen Situationen, mit sich ständig ändernden Lebensumständen, das können wir eigentlich sehr gut von der Natur lernen - das lebt sie seit Millionen, ja Milliarden von Jahren, das zeigt sich uns oft deutlich in der Vegetation, die sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten an neue Umweltbedingungen anzupassen vermag. Auch Tiere können da unsere Lehrerinnen und Lehrer sein. Sie sind elastisch, nicht so festgezurrt in ihrem Geist und ihren Vorstellungen, wie das Dasein zu sein hätte.

Nun - wir können das aber auch von Menschen lernen, bisweilen sogar von uns selbst. So war ich vor vielen Jahren in einer schwierigen Situation, die mich tief erschüttert hatte. Mein Fühlen und Denken war davon besetzt. Es war Oktober, ein leuchtender sonnenreicher Oktober. Immer wieder hatte ich Zeit, in die Natur zu gehen und dort lernte ich inne zu halten. Es war da plötzlich alles unbedeutend, dies, was mich sonst ausmachte - da war nur diese unglaubliche Schönheit des Lichtes, der Landschaft, der Bäume und des Flusses und wie das Licht mit seinen Farben sich im Wasser spiegelte. Da war nicht mehr das Denken, noch Sorgen und Verzweifeln - da war nur noch diese Schönheit, dieses Schauen, diese Weite, diese Öffnung. Ja, genau das war das Wunder daran: Hier war nicht ein kleiner schöner Moment inmitten eines Stroms von Not. Es war genau anders herum - da war meine schwierige Situation hineingeborgen in diese viel größere Schönheit des Lebens, der Landschaften, der Sonne, der Zeiten von Kommen und Gehen. Ich verstand bisweilen, wie ein großer Teil meiner Nöte von meiner Einstellung abhing und auch durch die Wandlung meines Zugangs zum Leben sich lösen könnte. An einem bestimmten Punkt wurde das dann neue Wirklichkeit für mich.

Einige Jahre später - ich war in Indien, mein erster Aufenthalt dort. Kodaikanal, eine kleine Stadt in den Bergen auf über 2000 Metern Höhe, mit einem recht angenehmen Klima im sonst tropisch-heißen Südindien. Menschengedränge - am Markt. Neben mir bewegte sich "etwas". Ich schaute näher hin. Ein Mensch, ein Mann, ohne Beine ging auf den Händen, Badeschuhe an den Händen. Sehr geschickt setzte er sich ab und schaute mich an - bat um eine Gabe. Er war so in meinem Alter, schaute sehr wach. Er sprach recht gut Englisch: "Ach, Ihr Europäer mit eurem Mitleid…" sagte er, als könne er Gedanken lesen. "Weißt Du" fuhr er fort, "wenn ich tausende von Leben habe - was macht es dann aus, wenn ich eines davon in bitterstem Elend verbringe…?" Dabei sah er mich an, als ob da eine Freiheit in ihm leuchtete, die mich rief, die mich lockte seiner Inspiration zu folgen auch weit über seine Worte hinaus. Ich gab ihm. Aber er gab mir unendlich mehr!

Rigoberta Menchu bekommt den Friedensnobelpreis - sie gibt eine kurze Skizze ihres Lebens. Wie sie miterleben musste, dass viele aus ihrer Familie vom Militär ermordet wurden. Da war in ihr auch der furchtbare Schmerz, da war Verzweiflung und Wut gegen die Unterdrücker ihres indigenen Volkes. Und da war diese uneinnehmbare Wachheit in ihr. Genau dieser erlebte Schrecken ist ihr Inspirator, ist ihr Tor hin zu einem völlig neuen Leben. Sie lernt die Sprache der Mächtigen - der Unterdrücker - sie lernt zuerst Spanisch. Sie sucht Wege geschickten Handelns in ihrem Land für ihr Volk, für das Leben. Sie geht mit dem, was sie erlebt hat, aber nicht in die Resignation, in den Hass. Sie geht in ein kraftvolles Engagement für das, was sie liebt. Das ist Resilienz, das bedeutet, in heftigen Situationen den Pfad des Aufwachens zu gehen.

Es ist so interessant - wenn wir Menschen in einen sehr weiten Raum der Wahrnehmung kommen, sei es durch eine heftige Krisensituation, wo unsere alten Denkmuster und Vorstellungen zusammenbrechen und wir dann auch wirklich diese loslassen, oder sei es in veränderten Zuständen des Bewusstseins, in intensiven Erfahrungen, Meditationen, Retreats, Dunkelheit oder an der Schwelle des Todes, wenn wir von da aus schauen - sehen wir unser Leben, die Welt, unser menschliches Dasein völlig neu. Wir verstehen, was uns oft alte buddhistische Tradition ans Herz legt, dass wir nicht in Situationen geraten, die per se gegen uns sind. Mögen sie krass sein, heftig, unerträglich, oder einfach nur schwierig - aber darin liegt ein Aufruf des Lebens, dieses Rätsel in einmaliger Weise zu lösen, in unserer Art zu antworten. Die Tradition nennt es Karma. Recht verstanden ist es eben nicht eine Last oder gar ein Zeichen, dass wir früher etwas falsch gemacht haben - es ist eher eine Art Lebens-Frage, ein Koan im Sinne des Zen, eine Verschlüsselung von Weisheit, die von uns entschlüsselt, erhellt, durchschmerzt, auf jeden Fall aber durchlebt werden will. Es ist, als bäte das Universum uns, diesen gleichsam schöpferischen Lösungs-Beitrag als unsere Musik zur großen Symphonie beizutragen, als lüde es uns ein, kon-kreativ uns zu beteiligen an der großen Intelligenz des Daseins in seiner lebendigen Entfaltung. Hier könnten unprivilegierte Situationen wahrhaft zu einem Baustein, einem Werkzeug, zumindest zu einem mehr oder weniger willkommenen "Material" unserer Lebensantwort werden. Hier könnten sogenannte unprivilegierte Situationen ein Privileg der Herausforderung sein, Hindernisse zu Fördernissen werden für unseren Reifungsweg (wie ein Zen-Lehrer mir einst sagte). - Sie könnten uns aufwecken wie ein Schlag… um zu erwachen.

Die Siddhas im alten Indien

Wir sind da in guter Gesellschaft. Vor vielen Hunderten von Jahren, im alten Indien, also in den ersten Jahrhunderten, lebten Frauen und Männer, die tief inspiriert waren vom Weg des Buddha, von dessen befreiender Entdeckung, von dem, was möglich ist in einem einzigen Menschenleben. Sie waren entschlossen voll Liebe und Leidenschaft für die höchsten Möglichkeiten von Menschsein zu gehen - Liebhaber des Lebens, die dem Menschen (und damit sich selbst) unermesslich viel zutrauten. Sie fanden die in dieser Zeit schon etablierten klösterlichen Gemeinschaften und buddhistischen Schulungs- oder Studien-Zentren nicht sonderlich attraktiv, fanden sie viel zu eng und in der Gefahr aus dem Erbe des Buddha eine Ideologie zu machen. Sie wollten das Leben mit offenem Herzen ungeschützt berühren, wollten mit dem Feuer des Daseins vertraut werden und nichts ausschließen - koste es was es wolle. Mit allem, was existiert wollten sie den Geist sich öffnen lassen in die unermessliche Weite und Freiheit des Erwachens. Dies und nicht weniger war für sie menschliche Erfüllung. Sie gingen nicht in die sicheren, privilegierten Orte. Sie gingen dorthin, wo es sie hinrief, wo es kratzte und schreckte… Zum einen waren sie oft einfache Leute, die sich keine großen Luftsprünge leisten konnten. Sie sorgten für ihre Kinder und Familie, sie kümmerten sich um ihre häufig einfachen und wenig angesehenen Jobs. Sie lebten so gesehen ein recht normales Leben. Aber zugleich taten sie etwas Unerhörtes. Sie praktizierten eine tiefe, radikale, sehr im Körper verwurzelte Meditations-Praxis. Tag für Tag und Nacht für Nacht. Und sie trafen sich als Gemeinschaft in den Dschungeln, in der Wildnis, auf Verbrennungs- und Totenplätzen, an Flüssen und im Niemandsland. Dort meditierten und praktizierten sie zusammen - oft auch als Paare, als Gefährten und Gefährtinnen. Sie erkannten, wie sehr Frauen und Männer in gegenseitiger Wertschätzung gerade des Verschiedenseins, sich im gemeinsamen Weg des Erwachens unterstützen konnten. Und dann kehrten sie wieder in ihr alltägliches Leben zurück. Dieses war nun in einer neuen Sicht lebbar: Jener Sicht, die aus der tiefen Praxis in den Retreat-Zeiten erwuchs. Das war auch jene umfassende Sicht, die sich diesen Menschen, Männern und Frauen, jeden Tag oder jede Nacht in ihrer alltäglichen Meditations-Praxis vertiefte und entfaltete.

Sie entdeckten: Nicht, wenn wir rausgehen aus dem Leben mit all seinen Herausforderungen, nur noch in der Höhle der Meditation leben (so sinnvoll das für bestimmte Menschen und in besonderen Zeiten auch sein kann), nicht, wenn wir im geschützten religiösen Kontext der monastischen Bewegung, der Klöster leben und meditieren, sondern, wenn unsere Praxis den Mut hat, das Feuer zu sein, unser gesamtes ungekürztes, unzensiertes Leben zu verwandeln - genau dann, kann die größtmögliche spirituelle Tiefe sich in uns öffnen. Darin finden wir die Intensität von erwachendem Menschsein. Dann ist der Alltag so etwas wie ein "Schmirgelpapier", das uns aufrubbelt, wo die Themen freiwerden, die wir dann in der spirituellen Praxis durcharbeiten, klären und daran reifen können. Beides steht nicht gegeneinander - beides durchdringt sich und inspiriert sich gegenseitig. Übung ist Alltag und Alltag ist Übung. Leben und Spiritualität stehen sich nicht im Weg - Spiritualität ist die größtmögliche Dichte von gelebtem, bewusstem Menschsein. Spiritualität erkennt die Kostbarkeit, Sinnlichkeit und Schönheit von Menschsein, von auch gebrochenem menschlichem Leben, von Untergängen und Wandlungen und Auferstehungen. Der Pfad des Erwachens ist die größtmögliche Wertschätzung, in all unseren Lebens-Umstände, in allen unprivilegierten Situationen.

Es sind die Siddhas - so heißen diese Menschen in Indien. Sie sind die Verwirklichten, das meint das Wort "Siddha", verwirklicht, dass in ihnen die Wirklichkeit von Menschsein, von Leben, von allen Lebens-Umständen, in die Menschen geraten können, sichtbar wird. In ihnen kommt Wirklichkeit in menschlichem Antlitz zum Leuchten.

Für mich sind diese Menschen uns sehr sehr nah. Sie waren radikaler als wir - aber das mag uns inspirieren, herauszutreten aus der Mittelmäßigkeit unserer Gesellschaft und unserer eigenen Mentalität. Sie lebten im Alltag, wie wir selbst mit vielerlei beladen, sorgend für sich und die Kinder und in Beziehung und schwierigen Umständen. Sie lebten definitv in unprivilegierten Situationen. Und sie erschufen genau daraus ihren Pfad des Erwachens.

Der privilegierteste Ort für unsere Lebens-Reise

Nach schwierigen und herausfordernden Situationen müssen die meisten von uns nicht suchen. Das Leben kann uns immer wieder überraschen und lässt sich nicht in unsere kausale Logik einsperren: …dies ist, weil jenes die Ursache ist… Manchmal passt das, oft aber nicht. Das ist nicht falsch, aber die Wirklichkeit ist komplexer. Wenn wir Frieden finden mit dem, was ist, und dem, wie es ist, wenn wir lernen unser eigenes Leben zu umarmen, auch wenn wir es nicht verstehen - dann haben wir darin eine enorme Chance. Es geht nun nicht mehr darum, unser Gestern zu kritisieren, was wir falsch gemacht haben, oder was wir hätten besser tun können. Wir haben nichts falsch gemacht, wenn wir heute in einer leidvollen Situation sind. Selbst wenn wir eine sichtbare Kausalität finden können, also wenn wir heute arm sind, weil wir letztes Jahr alles Geld verprasst haben, selbst dann können wir lernen damit anders umzugehen als nur uns Vorwürfe zu machen… Wir können einen Schritt weiter gehen. Dieser entlastet uns auch von der Zukunft. Wir können eine enorme Befreiung erfahren, wenn wir dem Morgen nicht die Wunsch-Hypothek der Vergangenheit aufbürden. Die Zukunft mag nicht unsere Erwartungen erfüllen, die wir schon gestern und heute nicht leben konnten. Nein - so geraten wir nur in mehr Enttäuschung und in eine Verbitterung über das Dasein.

Wenn wir erkennen, dass wir mit im Grunde jeder Situation umzugehen lernen können, wenn jedweder Umstand die Möglichkeit in sich trägt, eine Entwicklungschance zu sein, eine Provokation der Reifung, manchmal auch durch Niederlagen und Abgründe hindurch, wenn wir das erkennen, dann können wir uns in das Jetzt, in diesen Moment, in das Heute tief ankommen lassen. Dieser Moment, diese Stunde jetzt, dieser Augenblick ist voll von Leben, ist Deine und meine Situation, ist nicht ein Privileg, ist nicht eine Wunscherfüllung, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Diese Situation ist viel mehr. Dieser Augenblick ist die Wirklichkeit, ist das Tor zum Dasein als Teilhabe am Sein, weist uns hin ins Zeitlose, in das große Jetzt, in dem - wie die Weisen sagen - das All ruht. Hier gehen Vergangenheit, Heute und Zukunft ein und aus wie vertraute Gäste - aber sie regieren nicht und bestimmen nicht das Leben. Hier ruhen wir gleichsam am Herzen des Seins selbst, haben wir die Chance Schülerinnnen und Schüler des Seins zu werden - oder zu entdecken, dass wir nie etwas anderes waren.

Schülerinnen und Schüler des Seins

Dies ist eine radikale und so gesehen moderne – existenzielle – Fassung des alten Siddha-seins. Wir sind bereit mit allem umzugehen, wir lassen alles herankommen als unsere einmalige Lebens-Situation, als unseren Tag im All - Alltag genannt. Und wir muten allem, was auftaucht unsere Verwandlungskraft zu. Nicht nur kann die Wirklichkeit von Menschsein in der ganzen Bandbreite unser Herz berühren, wie ein Feuer. Wohl auch ist unsere Wachheit, unser erwachender Herz-Geist jenes unbestechliche Feuer, das die Dinge, von denen zu lernen wir bereit sind, verwandelt. Ein geradezu alchemistischer Prozess, in dem die Verwandlung nicht an der Oberfläche endet, sondern in die Tiefe der „Materie“, des Materials unseres Lebens geht – wo wahrhaft Blei zu Gold werden kann, wie bei den alten Meistern und Meisterinnen der Alchemie.

Zu dem kann es kommen, wenn wir erkennen, dass unsere vielleicht recht unvorteilhafte oder unprivilegierte Lebenslage ein tieferes Innen und ein unendliches sich Öffnen in Größeres hat bis hinein in eine „äußerste Situation“. Tieferes Innen bedeutet, dass unsere Lebens-Situation nicht der Inhalt unseres Daseins ist, sondern lediglich der Kontext. Es ist der Container, gleichsam der „Retreat-Ort“, und dieser ist ja nicht der Inhalt der Meditation und der Praxis. Das gleiche gilt auch für die Situation, in der wir leben – sie ist nur das „Um“ unseres Lebens, nicht unsere Lebens-Essenz selbst. Wir können in einfachen, womöglich ärmlichen Verhältnissen unglaublich tiefe Kunst erschaffen, wir können in einem betriebsamen Alltag Stunden großer Stille und Meditation finden, wir können in einer schwierigen Gesellschaft Beziehungen und Freundschaften als Orte der Liebe und Wertschätzung kultivieren. Nach innen hin in unser Innerstes schauend – wie es der Pfad der Meditation tut – ist immer alles frei! Wir können das nahezu an jedem Ort in fast jeder Lage tun. Die Situation ist nur das Umfeld – mehr nicht. Das Thema unserer Lebens-Melodie erklingt von weit innen aus dem unendlichen Tiefenraum unseres Seins.

Zugleich ist unsere Lebens-Situation hineinverortet in das Land und die Zeit und in je weitere Situationen: In unsere Biographie und die Geschichten anderer Menschen – in den großen Strom der Menschheitsgeschichte auf unserer Erde – in die Tiefe und das Geheimnis der Evolution – in das Werden der Planeten und Sterne – in die unergründliche Dynamik, die dahinter steht aus dem Herzen des Seins – in die noch weitere und äußerste Situation letztlich, die wie ein transzendentaler Horizont immer noch größer ist als alles, was wir denken, ersinnen oder erkennen. Diese zeigt sich als die Weite, die nochmal die Möglichkeit schafft, dass wir Weite überhaupt wahrnehmen oder denken oder erkennen können. Es ist diese apriorische – aller Erfahrung und Erkenntnis vorausgehende - Unermesslichkeit und Offenheit, die alles hintergreift und aus der alles hervorzugehen scheint, die somit im Innersten aller Dinge und Wesen anwesend ist. Die innerste Immanenz der absoluten Offenheit und Weite – die alles gleichsam ermöglicht – ist zugleich die radikale Transzendenz – alles übersteigend und immer noch unendlicher. Diese ist die alles durchmessende Transparenz, die alle Manifestationen, alle Wesen und Dinge durchlichtet. Wir nähern uns einer ontologischen Ahnung dessen, was im Westen Gottheit oder Gott, im Osten Leerheit, Bewusstheit, Raum, in der Philosophie Sein oder Existenz genannt wird.

Kehren wir nun zurück zu unserer kleinen alltäglichen und vielleicht „unprivilegierten“ Lebens-Situation, in der wir gerade das Geschirr abwaschen, der Hund bellt und die Kinder quengeln, während die Sonne scheint und die Amsel ihr Lied singt – kehren wir also zu dieser Situation zurück, so lädt uns dies ein zu erkennen, dass dies alles gleichsam wie durchlichtet ist von der Weite des Seins, geöffnet hinein in den lebendigen Sinn-Zusammenhang alles Lebendigen, den wir sodann, wenn unsere Verblendung endet, in jedem Detail, also im Geschirr, im Hund und in den Kindern, wie auch in diesem einmaligen Tag heute und unserem momentanen Empfinden jetzt gerade, erkennen, ja geradezu fühlen können. Zugleich ist es damit in unserer Alltags-Situation möglich, nach innen hin uns zu vertiefen und aus der erfahrenen Fülle des tiefen Innen, das sich gleichermaßen als unermessliche Offenheit und Weite von Bewusstsein erweisen kann, die Schönheit jedweden Lebens zu sehen, in berührender Liebe unser Herz sich öffnen zu lassen für alles, was um uns her geschieht und lebt.

Wäre das nicht eine Umschreibung dessen, was die Erfahrenen Erwachen oder "Erleuchtung" nennen? – Also gar nicht dass alles toll ist oder wir nur noch auf einer Glückswelle durch das Leben reiten – das ist doch eher ein Zerrbild davon. Es ist eher dies, dass wir (endlich) die Wirklichkeit so wahrnehmen, wie sie ist – nämlich nicht zerstückelt oder unser Hier und Jetzt isoliert, abgeschnitten von allem anderen – sondern das Leben in seiner Ganzheit erfahren, die bis in die äußerste Situation, in die Weite des göttlichen Seins reicht und zugleich sich unverbrüchlich in die innere Tiefe und Erfahrungsdichte unseres Menschlichseins verwurzelt und so alltäglich zugänglich und vertrauenswürdig wird.

Wir kommen zu der interessanten Sicht, dass unsere Situation, in der wir leben und meditieren und arbeiten, dass diese ganz und gar nicht „un-privilegiert“ zu sein scheint. Zu dieser Weite von Leben dazuzugehören, einfach zu existieren – dies offenbart sich als ein so unglaubliches „Privileg“, dass die konkrete Fassung oder Färbung der jeweiligen Alltags-Situation eher in den Hintergrund treten könnte. Wenn wir das sehen, erwächst daraus eine enorme Freiheit. Wir können dann widerstandsfrei erleben, wahrnehmen und auch handeln in einer Welt, die genau nach dieser Transparenz auf das Größere, Freiere und Schöpferische hin sich sehnt. So wird unsere - sei sie eine privilegierte, sei sie eine unprivilegierte - Situation zum Ort des Erwachens, auf dass wir unser Herz öffnen, und wir uns so lehren und führen, ja beschenken lassen können von der großen Wirklichkeit des Lebens selbst, zu der wir unbedingt gehören.

 

Übergang…

Die dichtesten und herausforderndsten Situationen können in einer tiefen Beziehung entstehen. Nicht, weil wir eingesperrt sind und ein gemeinsames Haus haben. Vielmehr, weil wir spüren, dass wir uns selbst tief begegnen, dass wir die Liebe lernen mit all ihren Umwegen, dass wir uns selbst verlassen, wenn wir den anderen Menschen verlassen. Es ist wie eine Meditations-Praxis zu zweit: Voller Wunder, und zugleich unausweichlich.

Dieser Aufsatz geht auf unsere menschliche Fähigkeit zu einer tiefen Liebesbeziehung ein, sowie auf unsere Sehnsucht, diese zu finden. Wir suchen diesen anderen Menschen, der oder die uns so anzieht, fasziniert, wo das Herz so aufgeht. Darin begegnen wir dem einzigartig anderen Menschen, und wir begegnen uns selbst – ja wir erfahren darin Welt in einem menschlichen Gesicht. Das ist die Magie darin - denn zugleich sind wir unverbrüchlich gefordert: wir begegnen unserer Gefährtin – unserem Gefährten für die gemeinsame Reise.

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Die Magie gelebter Gefährtenschaft

„Kannst Du an meiner Seite wachsen?“

 

Da ist ein Geheimnis – das kannst Du einfach nicht alleine lernen!

Das Geschenk der Beziehung

Sicher eines der größten und auch herausforderndsten Geschenke unseres menschlichen Lebens ist es, eine tiefe Beziehung zu einem anderen Menschen zu finden und zu leben. In unserer derzeitigen gesellschaftlichen Vorstellung von Partnerschaft krassiert die Idee, dass dies eine Normalität ist, und wer allein lebt, ist ab einem bestimmten Punkt - wo das Single-Leben nicht mehr als cool wirkt - nicht ganz in der Ordnung und nicht wirklich normal. Nun - es ist aus der Sicht jener, die Menschen in Paarbeziehungen begleiten und dies auch selbst leben, genau anders herum. Eine gelingende und tiefe Partnerschaft zu leben, das ist ein besonderes Glück. Allein zu sein, mit all dem Wertvollen, das diese Lebensform beinhaltet, ist eher die Normalität - die Basis gleichsam. Das finden wir auch in den spirituellen Traditionen und hier besonders im tantrischen Weg des Buddhismus, etwa in Indien oder in Tibet bzw. den davon inspirierten Traditionen nun auch im Westen: Gelebte Beziehung gilt als ein besonderer und kostbarer Schritt der Entwicklung von beiden, und ist sowohl herausfordernd und sehr anspruchsvoll, wie auch mit einem inneren Segen erfüllt, ja mit einer Bandbreite von Erfahrungen, die kaum auf anderem Weg zu entdecken sind.

Ich selbst lebe seit einer ganzen Reihe von Jahren in der Beziehung zu meiner Gefährtin. Wir leben, lieben, wachsen miteinander und ein großer Teil der Arbeit mit Menschen, der Retreats und Kurse ist auch unser gemeinsames Geben und Wirken. Es ist für mich nach wie vor eines der größten Geschenke meines Lebens. Für uns beide ist das nicht die erste Beziehung - wir konnten in vorausgehenden Partnerschaften leben und lernen. Unsere Begegnung trägt von Anfang an die Zeichen der Gefährtenschaft - auch im Sinne der alten Überlieferungen und Einsichten dazu. So manche tiefe Beziehung beginnt nicht (und das nicht nur in der modernen Welt - die "Alten" vor fast zweitausend Jahren berichten auch davon), wenn wir zwanzig sind, sondern oft eher in der Mitte des Lebens. Auch eine Beziehung, die jung beginnt kann diese Tiefe finden, geht aber, wie im Grunde alle wesentlichen Beziehungen, durch mancherlei Untergänge und Auferstehungen. Vielleicht sind wir Menschen zu einer bestimmten Tiefe des Sich-Einlassens auf einen anderen Menschen erst fähig ab einem gewissen Alter, ab einer bestimmten Reife.

So wird dies beschrieben von den alten Wissenden um das Geheimnis der Gefährtenschaft: "Wenn du tief berührt bist von diesem Menschen, der da vor dir steht, wenn in dir möglicherweise zugleich die große Anziehung zueinander da ist, wie auch eine Furcht, fast ein Erschrecken, dich so tief einzulassen, wenn du spürst, dass du nicht ausweichen kannst von diesem Menschen weg, ohne dich selbst zu verraten, wenn du erkennst, wie deine Liebe zu diesem Menschen etwas dich wesentlich Involvierendes hat, du aber diesen anderen Menschen nicht besitzen kannst, sie oder ihn ganz frei sein lassen musst (was eigentlich in jeder Beziehung gilt) - dann stehst du vermutlich vor deiner Gefährtin - vor deinem Gefährten." Als Gefährtenschaft können wir eine Beziehung beschreiben, die eine existenzielle Tiefe und Unausweichlichkeit hat, so als wolle das Leben uns miteinander (und vielleicht nur miteinander) die nächsten Reifungsschritte führen. Dies ist eine besondere und tiefe Art von Miteinander. Das Interessante daran ist, dass im Grunde jede Beziehung von zwei Menschen sich in diese Tiefe entfalten könnte. In der Regel aber finden wir das nur wenige Male im Leben. In der Tradition wird es nicht reduziert auf die Mann-Frau-Beziehung. Gefährtenschaft, das können auch Freunde oder Freundinnen sein. Das gilt auch für uns heute natürlich und ist so gesehen sehr modern. Ich mag hier sehr bewusst hinzufügen, dass auch die Liebe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern genauso das Potenzial zur Gefährtenschaft hat, wie die Frau-Mann-Beziehung, sei es als Freundschaft, oder eben auch als intimes Paar. Bei den alten Meditierenden war ebenso ein außermenschliches Wesen dazu fähig mit uns eine Gefährtenschaft zu leben: Ein Hund, ein Baum, ein Berg - sie wurden als beseelt, als lebendig und dem Menschen ebenbürtig angesehen, und oft waren sie die Weiseren… Das weitet den Blick für uns heute. Wir können auch nach außen hin "allein" leben und zugleich sind wir in einer tiefen lebens-fördernden Gefährtenschaft mit einem Freund oder einer Freundin (ich mag hier das Wort der "Liebes-Freundschaft"). Wir können mit einem anderen Wesen eine bereichernde Beziehung leben. Ich selbst kenne existenzielle Begegnungen mit Bäumen und Bergen, dem Meer oder einem Felsen. Auch wenn natürlich - insbesondere für unsere moderne westliche Auffassung vom Menschen - die Beziehung von Mensch zu Mensch eine besondere Tiefe und Herzkraft hat.

Was wir nur durch ein Gegenüber lernen…

Es gibt nun bestimmte Aspekte im Leben, die können wir allein nicht entdecken. Wir können ja viel in der Meditations-Praxis lernen, wir können mit Atemarbeit zum Beispiel durch erweiterte Bewusstseins-Räume reisen, wir können auch allein durch große Urlandschaften wandern und uns selbst erproben in unterschiedlichen Lebensbedingungen, ja wir können in diesem oder jenem Beruf unsere Erlebnisse einfahren, allein, in Gruppen, in Teams, in der Öffentlichkeit. Und es bleibt, dass wir in alle dem nicht das berühren, nicht einmal erahnen können, was es denn ist, das wir nur mit einem Gegenüber lernen und erfahren können.