Leonard Bernstein - Sven Oliver Müller - E-Book

Leonard Bernstein E-Book

Sven Oliver Müller

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Beschreibung

Leonard Bernstein war einer der ersten internationalen Medienstars der klassischen Musik. Mit seinem Können und mit seinem Charisma erreichte er ein Millionenpublikum. Der den USA geborene Sohn jüdischer Einwanderer machte sich einen Namen als Dirigent, Komponist, Autor, Lehrer, Manager, Musikvermittler. Seine "West Side Story" ist eines der populärsten Musicals des amerikanischen Musiktheaters, als Dirigent hat er nahezu alle bedeutenden Werke des klassisch-romantischen Orchesterrepertoires eingespielt, seine Mahler-Interpretationen sind legendär, sein Berliner Dirigat von Beethovens 9. Sinfonie im Dezember 1989 bleibt unvergessen. Stets positionierte er sich auch zu aktuellen politischen Fragen. Er betrieb Wahlkampf für John F. Kennedy, setzte sich für Bürgerrechte ein und polemisierte gegen den Vietnamkrieg. Eine tiefe persönliche Freundschaft verband ihn unter anderem mit Loki und Helmut Schmidt. In seiner aktuellen Biographie beschreibt Sven Oliver Müller das in jeder Hinsicht überreiche Leben einer Ausnahmepersönlichkeit, wobei er die schwierigen Aspekte nicht verschweigt: Eitelkeit, Arroganz, erotische Exzesse, den Hang zu Zigaretten und Alkohol, die innere Vereinsamung der späten Jahre.

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Seitenzahl: 477

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Sven Oliver Müller

Leonard Bernstein

Der Charismatiker

Reclam

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Leonard Bernstein – imago / ZUMA Press

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961315-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011095-9

www.reclam.de

Inhalt

1 Kein Gesamtkunstwerk2 Die (Her-)Ausbildung3 Der Dirigent4 Das Repertoire5 Der Komponist6 Der Privatmann7 Der Gefühlsmensch und der Pädagoge8 Der Politiker9 Der Amerikaner10 Tod und VerklärungLiteraturverzeichnisAbbildungsverzeichnisDanksagungRegister

1 Kein Gesamtkunstwerk

»Als ich Mitte zwanzig war, stellte man bei mir ein Emphysem fest – dabei rauche ich seit Jahrzehnten. Damals hieß es, ich wäre mit fünfundzwanzig ein toter Mann, wenn ich nicht aufhörte. Dann sagte man, ich werde mit fünfundvierzig tot sein, dann mit fünfundfünfzig. Ich habe sie alle Lügen gestraft. Ich rauche, ich trinke, ich bleibe die ganze Nacht auf und vögele herum. Ich kämpfe an allen Fronten, und das gleichzeitig.«1

Die Worte, mit denen die Zeitschrift USA Today Leonard Bernstein am 4. August 1986 zitierte, zeigen Aspekte seiner Persönlichkeit: Der Hang zu Überschwang und Genuss, aggressiv gelebte Körperlichkeit, die stets präsente Bedrohung durch eine chronische KrankheitKrankheit, Zigarettensucht und die Gleichzeitigkeit vieler verschiedener Lebensmomente.

Leonard Bernstein arbeitete und lebte öffentlich. Ihn interessierte Musik vor allem dann, wenn er sie vor einem Publikum präsentierte, das heißt, wenn er sie in seiner Funktion als Dirigent, Komponist, Pianist oder Pädagoge vermittelte. Bernsteins ZielZiele, Überzeugungen war es, Musik als Kunst- und als Lebensform in der Gesellschaft zu verbreiten, bekanntes Wissen zu vertiefen und ein neues Publikum zu gewinnen. In der Öffentlichkeit gab er sich charmant und verständnisvoll, warb beispielsweise in seinen Sendungen dafür, Kinder schon früh mit der Musik bekannt zu machen: »Kinder sollten den Musikunterricht genauso selbstverständlich bekommen wie ihre Nahrung, ihn mit genauso viel Freude erleben wie ein Ballspiel.«2 Oftmals befriedigten seine Auftritte, seine Einspielungen und seine Reden das eigene Bedürfnis nach Freiheit und Anerkennung.

Bernstein war distanzlos. Er ließ die amerikanische Gesellschaft an seinen größten Erfolgen sowie an manchen privaten Sorgen teilhaben. Seine Fähigkeit, vor und mit einem breiten Publikum zu kommunizieren, machte ihn zu einem US-amerikanischen Künstler par excellence. Entscheidend war, dass seine Mitarbeiter und seine Firma »Amberson«Amberson Enterprises ihn in ein musikalisches Symbol und in eine Marke verwandelten. Sie taten manches, um ihn an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten im Musikleben zu etablieren. Durch seine Studien zur europäischen klassischen Musik und zur amerikanischen populären Musik wurde er zu einem ausgesprochen erfolgreichen Künstler im Musikleben seiner Zeit und zu einem Mitglied der amerikanischen Elite. Er glänzte durch seine Fernsehkonzerte, seine Dirigate, seine weltweiten Tourneen und durch seine populären Musicals. Vor allem aber machten ihn seine zahllosen Einspielungen bekannt.

Auch privat arbeitete Leonard Bernstein an seinem Mythos. Unablässig berichtete er so intensiv über sich und seine Welt, seine ZieleZiele, Überzeugungen und Visionen, dass nicht nur seine FansBewunderer, Fans, sondern auch manche Kollegen und selbst Teile der Forschung bis heute dieser Sichtweise folgen, Bilder und Sprachmuster übernehmen. Der Komponist William SchumanSchuman, William nannte den Werdegang Bernsteins »die beachtenswerteste Karriere in der Geschichte der Musik«.3 Ähnliche Superlative (»umfassendster Musiker des 20. Jahrhunderts«) werden am Beginn der Fernsehdokumentation Larger than Life von anderen Musikern gebraucht.4 Am Ende eines Konzertes in AthenAthen, bei dem Bernstein mit dem New York PhilharmonicNew York Philharmonic Orchestra zuletzt vom Flügel aus MozartsMozart, Wolfgang Amadeus17. Klavierkonzert, G-Dur, KV 453, leitete, rief ihm gar eine Hörerin zu: »Ein neuer Gott ist nach AthenAthen gekommen!«5

In Leonard Bernsteins Leben verschränken sich musikalische Hoffnungen mit gesellschaftlichen Ambitionen. Kaum ein anderer Dirigent oder Komponist des 20. Jahrhunderts dürfte so viele verschiedene Interessen und ZieleZiele, Überzeugungen verfolgt haben. Deshalb ist es ausgesprochen schwierig, diesen wechselhaft lebenden und arbeitenden Musiker klar zu fassen. Der Textdichter der West Side StoryWest Side Story (Musical), Stephen SondheimSondheim, Stephen (Textdichter, Komponist), beschrieb ihn als jemanden, der alles sein wollte – Künstler, Philosoph, Mitglied von Bürgerrechtsbewegungen und Anhänger der BeatlesBeatles, The. In gewisser Hinsicht bestand er aus mehreren Persönlichkeiten, in denen er nicht nur gleichzeitig lebte, sondern die sich über die Jahre hinweg auch veränderten.6 Seine KritikerKritiker und seine Anhänger vermochten keinen Schwerpunkt zu erkennen, ja nicht einmal Bernstein selbst war dies möglich. Aufgrund der Vielfalt der von ihm praktizierten musikalischen Talente wollte er nicht allein als Dirigent, als Komponist, als Pianist oder als Musikpädagoge bezeichnet werden. Er selbst beschrieb sich einfach als »Musiker«. Falsche Bescheidenheit oder übertriebenes Selbstbewusstsein?

Zu den wesentlichen Momenten von Bernsteins Anziehungskraft gehörte, dass viele Menschen sein didaktisches Talent schätzten und den großen Optimismus, den er verbreitete. Egal wie er sich selbst tatsächlich fühlen mochte, er vermittelte, dass die Beteiligung am Musikleben jedermann froh zu machen versprach. Bernstein war populär, überschätzte seinen Einfluss allerdings oft. Seine jüngere Tochter NinaBernstein, Nina (Tochter) meinte dazu: »Sein Bedürfnis sich der Welt mitzuteilen und sich mit anderen Menschen zu verbinden, war die treibende Kraft seines Lebens. Er wäre glücklich gewesen, wenn jeder Einzelne auf der Welt seine umfangreichen Vorträge über Musik, Literatur usw. mitbekommen hätte. Diese Chance erhielt er glücklicherweise durch das FernsehenFernsehen.«7

Leonard Bernstein war ein Medienmensch. Er schwärmte davon, dass das Fernsehen für ihn ein Paradies sei, in dem er seine Freude als MusiklehrerBildung, Lehrer unter Beweis stellen könne. FernsehsendungenFernsehen bildeten die Basis für seine nationale wie internationale Wertschätzung. Gerne zeigte er jedermann, wie leicht der Zugang zur klassischen Musik sei. Geschickt setzte er seinen HumorHumor und seinen Charme ein, um etwa Jugendlichen zu erklären, warum Hector Berlioz’Berlioz, HectorSymphonie fantastique, op.14, in eine Art musikalischen Drogenrausch versetzt. So erreichte er ein breites Publikum und befriedigte verschiedene Bedürfnisse seiner Zeit: Bernstein sah attraktiv aus, war gut frisiert, kleidete sich geschmackvoll und demonstrierte anschaulich sein Wissen über die Musik, ohne dabei arrogant zu wirken.8

Sein künstlerischer wie auch sein gesellschaftlicher Aufstieg waren beachtlich. Das Kind ukrainischer Immigranten jüdischen Glaubens wurde zum Erfolgsmenschen. Bernstein war der erste US-Amerikaner, der 1958 zum Chefdirigent der New Yorker Philharmonic wurde. Eine Position, die er bis 1969 innehatte. Als Komponist machten ihn nicht nur die West Side StoryWest Side Story (Musical) und seine zahlreichen Dirigate berühmt, sondern auch die VerkaufserfolgeVerkauf auf dem Schallplattenmarkt, seine Auftritte im Radio und im FernsehenFernsehen. Zwischen 1958 und 1973 leitete er die Young People’s ConcertsYoung People’s Concerts (Jugendkonzerte) im Fernsehen, um Jugendliche für die Klassik oder den JazzJazz zu begeistern, ihnen die Struktur der Oper oder der Sinfonie zu erklären.

Bernstein fand künstlerische wie finanzielle Anerkennung und pflegte darüber hinaus beste Beziehungen zu Spitzenpolitikern, Unternehmern, Schauspielern und Menschenrechtsorganisationen. Die Presse berichtete intensiv über seine freundschaftliche Beziehung zur Familie Kennedy oder seine Party mit dem Fürstenpaar in Monaco. Umgekehrt hieß das aber auch, dass er unter strenger Beobachtung durch KritikerKritiker und Publikum, ja sogar durch Politiker und den Geheimdienst stand.

Im Rückblick wird Leonard Bernsteins Politikbewusstsein oft unterschätzt. Er war ein hochpolitischer Mensch. Damit ist nicht nur gemeint, dass er und seine Frau FeliciaBernstein, Felicia (geb. Cohn Montealegre, Ehefrau) mit JohnKennedy, John F. und Jackie KennedyKennedy, Jaqueline »Jackie« kochten, er an Wahlveranstaltungen der Demokratischen Partei teilnahm oder sich für Amnesty International engagierte. Gemeint sind besonders die Probleme, die er sich mit diesem Engagement einhandelte. Vor dem Hintergrund der rechtskonservativen Innenpolitik der späten 1940er und 1950er Jahre hielten manche den jungen jüdischen Musiker für eine politische Gefahr aus dem linken Lager. Mehrere Jahre lang wurde er vom Geheimdienst überwacht und verhört. Weil die USAUSA sich aber einige Jahre später politisch neu aufstellten, veränderte sich auch Bernsteins Bedeutung grundlegend. Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem Außenseiter der Chefdirigent der New York PhilharmonicNew York Philharmonic und ein hochgelobter Vertreter der US-amerikanischen Kultur im In- und Ausland.9

Bernstein ließ wenige Gelegenheiten aus, sich im Musikbetrieb zu präsentieren. Ausgesprochen erfolgreich war er mit seinen Dirigaten. Im Laufe seines Lebens leitete er über 70 Orchester, darunter vier mit besonderer Bedeutung: Die New York Philharmonic, die Wiener PhilharmonikerWiener Philharmoniker, das Israel Philharmonic OrchestraIsrael Philharmonic Orchestra und das Sinfonieorchester des Bayerischen RundfunksSinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks.10 In seiner Arbeit mit den New York PhilharmonicNew York Philharmonic zielte er auf eine Straffung der Organisation, er erweiterte das Repertoire und steigerte die Qualität der Aufführungen erheblich. Seine Konzerte mit den Philharmonikern in IsraelIsrael schätzte er nicht allein wegen der künstlerischen Erfolge, sondern weil er als JudeJude, Judentum, Antisemitismus seinen Beitrag zum Bestand des neuen Staates leisten wollte. Im Laufe der 1970er Jahre entwickelten sich die Wiener PhilharmonikerWiener Philharmoniker zu seinem Lieblingsorchester. Die häufigen Auftritte, Einspielungen und VerfilmungenFilm in WienWien lösten allerdings bei vielen Musikfreunden Befremden darüber aus, dass der Star aus der Neuen Welt sich am Ende seiner Karriere vor allem der Alten Welt zuwandte. Zu erwähnen ist nicht zuletzt sein Engagement als Musikpädagoge beim Schleswig-Holstein Musik FestivalSchleswig-Holstein Musik Festival1987–89.11

Auch wenn Bernstein in den USAUSA wie in Europa oft als Vertreter des »modernen« Musikbetriebs des 20. Jahrhunderts geschätzt wurde, interessierte ihn viel mehr das Repertoire des 19. Jahrhunderts, mit dem er viele Hörer in seinen Bann zog. In seinen Konzerten widmete er sich dem »langen 19. Jahrhundert« von 1780 bis 1910, mithin der Periode von der Klassik bis hin zur späten Romantik, den Werken von HaydnHaydn, Franz Joseph, BeethovenBeethoven, Ludwig van über SchumannSchumann, Robert und TschaikowskyTschaikowsky, Peter bis hin zu BrahmsBrahms, Johannes. Gustav MahlerMahler, Gustav nahm eine Sonderstellung ein, denn Bernstein tat vieles dafür, ihn als Scharnier zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert im Spielbetrieb zu etablieren. Ästhetisch betrachtet war der Dirigent Leonard Bernstein eher konservativ. Zwar schätzte er einige amerikanische Komponisten des 20. Jahrhunderts sehr (etwa GershwinGershwin, George, IvesIves, Charles, CoplandCopland, Aaron), setzte aber auf seine Konzertprogramme nur diejenigen, die tonale Stücke schrieben, und verbannte daraus die gesamte Avantgarde nach 1945. Auch die Barockmusik nahm in seinem Repertoire lediglich eine Randstellung ein.

Bernstein zweifelte oft an der Qualität seiner eigenen Kompositionen. Er fürchtete, von seinen Kollegen als zu konservativ wahrgenommen zu werden. Das ist deshalb ein Paradoxon, weil er als Dirigent oft seit langem bekannte Stücke ins Programm nahm. Insgesamt schrieb er etwa 75 Werke verschiedener Gattungen. Dazu zählen drei Sinfonien, ein Violinkonzert, vier größere Orchesterkompositionen, vier Ballette, drei Opern, Chorwerke, fünf Musicals sowie Lieder und Kammermusik. Ihm war bewusst, dass er durch seine intensive Arbeit als Dirigent relativ wenig selbst geschrieben hatte: »Deshalb werde ich von vielen Kollegen nicht als ein großer Komponist bewertet oder zumindest als jemand, der signifikante Werke komponiert hat.«12 Dass er in erster Linie für seine unterhaltsamen Bühnenwerke und seine Nähe zum BroadwayBroadway anerkannt wurde, viel weniger aber für seine Sinfonien, seine Konzerte oder die Kammermusik, erfüllte ihn mit Sorge. Letztlich wollte er nicht allein als der Komponist der West Side StoryWest Side Story (Musical) im Repertoire vertreten bleiben. Wichtig war ihm, die etablierte bürgerliche Trennung zwischen sogenannter E- und U-Musik zu relativieren.

Weil Leonard Bernstein sich selbst stets öffentlich präsentierte und manches riskierte, stieß er oft an seine Grenzen. Seine Fehler oder Misserfolge waren für einige KritikerKritiker der Beweis dafür, dass er eher ein Entertainer als ein Künstler, eben ein austauschbares Konsumobjekt sei. Vieles hatte Bernstein selbst zu verantworten. Auch nach eigentlich klugen Entscheidungen schaffte er es nicht immer, pragmatisch zu handeln und sich wenigstens aus strategischen Gründen zu kontrollieren. Oft konnte er nicht einschätzen, welche seiner expressiven Auftritte oder politischen Positionen ihm nützlich waren und welche nicht. An Mut fehlte es ihm selten, sein Eintreten für die Schönheiten der Musik, für Menschenrechte oder individuelle Freiheit war beachtlich, doch wandelte er dabei auf dem schmalen Grat zwischen Mut und Übertreibung.13

Leonard Bernstein, offizielles Porträtfoto, 1975

Deutlich wird dies am Eifer und an der Leidenschaft seiner Dirigate, die manchmal im Kontrollverlust endeten. Um Musikern wie Publikum sein Kunstverständnis zu vermitteln, brachte er etwa beim Leiten einer Sinfonie seine eigene Freude oder Ängste offen zum Ausdruck. Auch andere Dirigenten dürfte die Durchsicht einer Mahler-PartiturMahler, Gustav emotional aufwühlen, doch Bernstein machte das bei seinen Konzerten für jedermann sichtbar. Manchmal verzichtete er auf präzise Anweisungen und auf eine klar erkennbare Schlagtechnik. Seine Sprünge auf dem Podium, die expressiven Bewegungen und ausdrucksvollen Gesten hielten seine Gegner für alberne Tänze. Eine Reihe von Musikern, KritikernKritiker, Wissenschaftlern, aber auch weite Teile des Publikums fanden diesen körperlichen Einsatz überzogen. Man stellte die Vielfalt der Felder, auf denen er wirkte, besonders aber seinen extrovertierten Stil in Frage. Manche waren schockiert, gar verletzt, und fühlten sich von Bernsteins Musikverständnis beleidigt.14

Bestimmte ästhetische Botschaften waren durch die Demonstration von Gefühlen oder eitle Selbstdarstellung offenbar nicht zu vermitteln. Es könnte durchaus sein, dass sich Bernsteins Interpretationen im Verlauf seiner Karriere immer weiter von den Werken selbst entfernten, sich darin manchmal eher seine eigenen Emotionen als BeethovensBeethoven, Ludwig van oder Brahms’Brahms, Johannes Komposition widerspiegelten und der Dirigent manchmal zu einem Opfer der eigenen Gefühle wurde.

Bernsteins Suggestionskraft wird durch viele Legenden deutlich, und gerade anlässlich seines 100. Geburtstags am 25. August 2018 liegt es nahe, diese Verklärungen kritisch zu bewerten. Zu erwarten sind ein mitunter vielleicht kitschiger Kult um Bernsteins »Genie«, eine starke Internetpräsenz, aber auch allgemein eine vermehrte Präsenz einiger seiner Interpretationen (CD-Serien, Konzertreihen führender Orchester, Vortragsreihen usw.) in den Medien – wobei die Musikindustrie auf möglichst hohe Gewinne abzielen wird.

Wie aber schreibt man nun eine Biographie über Leonard Bernstein? Dieses Buch möchte Leonard Bernsteins musikalisches und gesellschaftliches Wirken durch die Untersuchung seines Charismas zeigen. Dass er Charisma besaß, wusste er genau und machte es sich gezielt zunutze. Mit seiner Hilfe lenkte er jegliche Kommunikation. Ausschlaggebend war Bernsteins Suggestionskraft, seine Fähigkeit, mit zahlreichen Künstlern sowie dem Publikum zu kommunizieren und dadurch seine Interessen und seinen Einfluss zu festigen. Nach Max WeberWeber, Max zeichnet einen Charismatiker aus, dass seine Anhänger ihn als göttlichen Gesandten verehren und in ihm einen einzigartigen Anführer erkennen. WeberWeber, Max betont besonders, dass Charisma etwas Außeralltägliches mit einer übernatürlichen Dimension darstelle. Tatsächliche Qualitäten sind demnach zweitrangig, weil letztlich nur die Gefolgschaft der Anhänger zählt. Charismatiker dienen somit auch als Projektionsfläche für die Gefühle und die Hoffnungen einer Gruppe. Dabei ist die Wirkung einer solchen Persönlichkeit in der Gesellschaft labil. Immer wieder muss sie sich in der Öffentlichkeit bewähren und demonstrieren, warum ihre Handlungen alle glücklich machen können.15

WebersWeber, Max Kategorie der charismatischen Herrschaft ist mit guten Gründen auf die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts hin ausgerichtet. Ein Charisma zu erfassen, ist ausgesprochen schwierig. Sicher scheint, dass sich in diesem Begriff Bedeutung, Ausstrahlung, Persönlichkeit, Kraft und Popularität vereinen. Charismatiker manifestieren sich im Wesentlichen durch das – meist auffällig, manchmal kurios demonstrierte – Verhalten ihrer BewundererBewunderer, Fans und durch Berichte in den Medien. Im Laufe der Zeit erhielt die äußere Erscheinung von Interpreten ein immer stärkeres Gewicht, auch in der Hochkulturszene boomte der Personenkult. Über den Stellenwert des Charismas jedoch wird im Musikbetrieb selten diskutiert. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum charismatische Dirigenten bislang eher selten wissenschaftlich untersucht wurden.16

Ohne BewundererBewunderer, Fans existiert kein Charismatiker. Dirigenten sind dafür ideale Beispiele. Das Publikum nämlich verehrt nicht allein dessen musikalische Leistung, sondern vielmehr die eigenen über Jahre und Jahrzehnte hinweg durch ihn erzeugten Wunschbilder. Die Anhänger eines Charismatikers zeigen öffentlich ihre starke emotionale Bindung. Das heißt, sie lassen es selten an Liebe, Verehrung, Verklärung oder Ausbrüchen von Freude fehlen. Eine solche Wertschätzung kann auch religiöse Formen annehmen. Rang und Leistungen einer charismatischen Persönlichkeit gelten dann als übermenschlich, sogar als sakral. Häufig kommt der Begriff des Genies ins Spiel. Bezogen auf den Dirigenten spielen Macht und Autorität in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Ein Orchesterleiter steht mit der Partitur auf dem Podium im Mittelpunkt eines Konzertsaals, lenkt das Spiel der Musiker durch sein Wissen und vermittelt, ja »überträgt« dem Publikum im Saal und in den Medien seine Interpretation eines Kunstwerkes.17

Dennoch sind Charismatiker wie Leonard Bernstein mehr als bloße Produkte ihrer Anhängerschaft oder reine Projektionsflächen. Denn gerade Musiker müssen sich in ihren Konzerten oder Kompositionen bewähren und haben sich dem Geschmacksurteil der Gesellschaft zu stellen. Für Leonard Bernsteins Bedeutung war seine Arbeit, das heißt seine Interpretationen, Kompositionen und die VerkaufszahlenVerkauf seiner Aufnahmen, ebenso wegweisend wie die Tatsache, dass er sich gekonnt öffentlich präsentierte. In dieser Hinsicht ähnelte er auch anderen populären Stars der sogenannten E- und U-Musik in den USA.USA

In Hinblick auf seine Handlungsweise und seine Wirkung war Bernstein geradezu ein idealtypischer Charismatiker. Durch seine Fähigkeiten sammelte er Menschen um sich, die auf Glücksmomente und Erlebnisse einerseits, auf neues Wissen und Lernerfolge andererseits hofften. Sue Mallet, die Planungschefin des London Symphony OrchestraLondon Symphony Orchestra, vermochte seine überbordende Wirkung auf sie und ihre Umgebung kaum in Worte zu fassen. »Er hatte tonnenweise Charisma. Ich kenne keinen anderen Künstler mit so einer Persönlichkeit, solchem Charisma, solcher Antriebskraft und Energie. Daneben verblasst jeder, der auch nur halb so alt ist.«18

In den eigenen Arbeiten wie in zahllosen Presseberichten, Fernsehreportagen und FanartikelnBewunderer, Fans ist dieses Potenzial Leonard Bernsteins gut zu erkennen. Er war ein Meister der Kommunikation in der Öffentlichkeit wie im privaten Kreis. Über diese Ausstrahlung auf seine Umgebung staunte bereits seine Schwester ShirleyBernstein, Shirley (Schwester): »Wenn Lenny einen Raum betritt, ändert sich sofort die Stimmung. Er ist einer dieser Menschen. Ich meine, sein Auftritt verändert alles in guter oder schlechter Hinsicht. Jeder wird auf ihn intensiv reagieren. Sei es, ihn zu hassen, ihn zu lieben, ihn zu beneiden – all das! Es ist unfassbar. Ich habe das bei vielen Gelegenheiten beobachtet. Er verändert die Atmosphäre an den Orten, die er besucht.«19

Die Rezeption »klassischer Musik« befand sich nach 1945 nicht nur in den USAUSA in einer Krise. Die Kluft zwischen Eliten- und Unterhaltungskultur wuchs zusehends. Im Jahr 1967 forderte der französische Komponist und Dirigent Pierre BoulezBoulez, Pierre sogar dazu auf, die Opernhäuser zu sprengen – sie seien überflüssig geworden. Um die Veränderungen des Musiklebens in dieser Zeit zu erkennen, kommt es weniger darauf an, die Ablösung etablierter, als vielmehr die Addition neuer Praktiken und Rezeptionsformen zu beschreiben. So veränderte sich das Zusammenspiel zwischen den Künsten, den Produzenten und den Konsumenten hin zur größeren medialen Präsenz der Musik (Schallplatten, Radio, FilmeFilm). Die wachsende Vielfalt neuer Tonträger und Musikstile erforderte immer weniger spezielle kulturelle Kenntnisse und erleichterte einem größeren Publikum den sozialen Zugang. Fortan konnte auch ein sozial heterogen zusammengesetztes Publikum zunehmend die Aufführung und die Auswahl von Musik, ja, auch den Umgang mit dem eigenen Musikgeschmack selbst bestimmen. An diesem Prozess nahm Leonard Bernstein intensiv teil.20

Bernstein verfügte über das Talent, durch seine vielfältigen Interessen und gleichzeitig durch seine musikalischen Werbekampagnen mit einem großen Publikum zu kommunizieren. Sein letzter Assistent, Craig UrquhartUrquhart, Craig (Assistent), hielt diese Fähigkeit für Bernsteins größte Leistung. Die Menschen, mit denen er in Kontakt kam, fühlten sich unmittelbar angesprochen und ernst genommen, auch wenn sie zuvor nur wenig von klassischer Musik wussten.21 Besonders anziehend an Bernstein war, dass er die tradierten Rollenmuster eines klassischen Musikstars hinter sich ließ. Das heißt, er arbeitete als Dirigent, Komponist oder Pianist und trat im FernsehenFernsehen als musikalischer Entertainer und Musikpädagoge auf. Je nach Situation kleidete er sich elegant oder leger, erzählte witzige GeschichtenHumor, warb für populäre Lebensstile – und unterstrich gleichzeitig die große Bedeutung der Kunstmusik. Bernstein präsentierte sich der breiten Öffentlichkeit als gebildeter, doch rundum zugänglicher und sympathischer Mensch.

Teile der Forschung beschreiben Bernstein als einen Musiker, der rundum eklektizistisch gearbeitet habe. Dabei stellt sich die Frage, ob man damit nur einzelne Aspekte seines Dirigats, seiner Kompositionen und Auftritte erfasst oder ob dies seine Einstellung zum Leben insgesamt verdeutlicht. Sicher scheint, dass er ausgesprochen neugierig und experimentierfreudig war, was ihn wiederum offener Kritik aussetzte. Deshalb gilt es zu prüfen, inwieweit diese Vorwürfe eines übertriebenen Eklektizismus zutreffen.22

Doch: Hätte eine widerspruchsärmere Persönlichkeit und ein introvertierterer Charakter so viele Menschen erreicht und in der Öffentlichkeit so lange erfolgreich wirken können? Bernsteins Energie und eben auch sein Charisma speisten sich aus all den Widersprüchen seiner Persönlichkeit einerseits und den vielfältigen Anregungen aus dem Musikleben des 20. Jahrhunderts andererseits. Vielleicht trifft hier die dem Komponisten Hanns EislerEisler, Hanns zugeschriebene Feststellung zu: »Wer nur etwas von Musik versteht – versteht auch davon nichts.«

Lässt sich ungeachtet der Fülle seiner Interessen und Tätigkeitsfelder ein Grundanliegen Bernsteins erkennen, oder sind seine Ambitionen ganz verschiedenen Persönlichkeits- bzw. Berufsfeldern zuzuordnen? Auf welche Art und Weise ähnelte oder unterschied sich der Fernsehstar vom Politiker, der Familienmensch vom Pianisten? Galten seine Bindungen primär seiner Frau FeliciaBernstein, Felicia (geb. Cohn Montealegre, Ehefrau), seinen Freunden und Kollegen, oder waren ihm seine Affären mit Männern oder neue Schallplattenverträge genauso wichtig? Wie arbeitete er mit Solisten zusammen, wo entstanden seine Aufnahmen und wie hoch waren seine EinnahmenEinnahmen? Wie wichtig war ihm die Konkurrenz mit anderen Stardirigenten, zumal die mit Herbert von KarajanKarajan, Herbert von? Was sagen die Gattungen über ihn aus, mit denen er sich am intensivsten beschäftigte, die Stücke, für die er in der Öffentlichkeit warb? Lagen seine Stärken eher in der Präsentation von JazzJazz oder Oper im FernsehenFernsehen oder doch in der Analyse der Kompositionen von Charles IvesIves, Charles und Richard WagnerWagner, Richard? Welche musikalischen Stile prägten Bernsteins eigene Kompositionen? Welche Werke fanden beim Publikum und bei anderen Musikern Anklang – und welche nicht? Wurde Leonard Bernstein eher als Dirigent oder eher als Komponist bekannt? Warum hatte er immer weniger als Pianist Erfolg? Liegen in seiner Vielfalt nicht die größte Faszination und zugleich das größte Hindernis, um sein Leben treffend zu bewerten?

Dieses Buch beschreibt Leonard Bernstein als einen disziplinierten Rebellen. Seine Mitarbeiter und auch seine Freunde versuchten seine charismatischen Extravaganzen in kontrollierte Bahnen zu lenken. Ähnliches galt durchaus auch für ihn selbst. Seine musikalische Neugier und seine gesellschaftlichen Ambitionen zeigen zum einen eine Lust an der Provokation, zum anderen aber ein Hang zum kalkulierten Risiko.23 Zu seinen Stärken zählte es, seine Umgebung nicht nur nach feststehenden Faktoren zu ordnen, sondern auch an Alternativen zu denken.

Bernstein gab viel auf die Anerkennung durch die Gesellschaft. Wer mit ihm zu tun hatte, wusste meistens genau, mit was für einer allerorten vernetzten Persönlichkeit er zusammentraf. Erst durch seine persönlichen Bindungen zu einer Handvoll Menschen ging er größere Risiken ein. Der auf diese Weise disziplinierte Rebell lernte (in den meisten Fällen) durch seine engen privaten und geschäftlichen Beziehungen, welche Grenzen er überschreiten durfte, um seine ZieleZiele, Überzeugungen zu erreichen, und welche nicht. Die engste Umgebung machte ihm seine Fehler deutlich, eine Form der pointierten Kritik, die Leonard Bernstein schätzte. Dabei hatte er das große Glück, dass nicht nur sein Freundeskreis, sondern auch viele Musiker und weite Teile der Öffentlichkeit ihm manchen Fehler verziehen.

Dass Bernstein die Chance bekam, zu einem musikalischen Symbol der USAUSA zu werden, ist, wie seine gesamte Karriere und übrigens auch sein Privatleben, als Glücksfall zu bezeichnen. Oft war Bernstein einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Er erhielt die Möglichkeit, seine Begabung einer breiten Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen, und profitierte von verschiedenen Zufällen und überraschenden Entwicklungen: Bereits 1943 machte die Erkrankung von Bruno WalterWalter, Bruno den jungen jüdischen Musiker schlagartig bekannt, als er dessen Konzert mit den New York PhilharmonicNew York Philharmonic in der Carnegie HallCarnegie Hall, New York übernahm, 1956 stellte der Geheimdienst die Überwachung ein, 1957 setzte er mit der West Side StoryWest Side Story (Musical) neue Maßstäbe als Komponist, 1989 dirigierte er in West- und in Ost-BerlinBerlin, nach dem Fall der Mauer, Beethovens 9. Sinfonie, d-Moll, op. 125.Beethoven, Ludwig van

Bernstein selbst wunderte sich über all diese Glücksfälle in seinem Leben. »Ich weiß nicht, ob eine meiner Aufnahmen, genauer gesagt, eine meiner Interpretationen wirklich gut, eher mittelmäßig oder einfach nur schlecht ist. Ich kann keine zuverlässige, objektive und unparteiische Wertung abgeben. […] Ich glaube, dass ich als Musiker einfach Glück gehabt habe: Ehrlich gesagt, ist mir in meinem ganzen Leben noch niemand begegnet, der mehr Glück gehabt hätte als Leonard Bernstein!«24

Im Jahr 1976 trug Bernstein für einige Monate einen kurzen Vollbart. Bald nahm er ihn aber wieder ab, weil er fürchtete, dadurch älter zu wirken.

Für eine solchermaßen herausragende Persönlichkeit interessierten sich nicht nur die Schallplattenfirmen oder seine FansBewunderer, Fans, sondern selbstredend auch die Forschung.25 Zahlreiche Biographien sind erschienen; darunter zunächst diejenigen, deren Autoren intensiven Kontakt zu Bernstein selbst oder zu seiner Familie hatten und über seinen Nachlass verfügten. Konkurrenzlos bleibt das Buch seines langjährigen Freundes, des Regisseurs Humphrey BurtonBurton, Humphrey (Regisseur, Mitarbeiter), wichtig ist ebenso das von Peter GradenwitzGradenwitz, Peter. Gewinnbringend durch ihre abwägenden Urteile und zahllosen Interviews ist die Lektüre Meryle Secrets, tiefere musikwissenschaftliche Analysen liefern Jack Gottlieb und Paul Meyers. Die vielleicht kenntnisreichste Untersuchung über den laufenden Forschungsstand dürfte die Bibliographie von Paul R. Laird sein.

Andere Biographen hatten zwar zu dessen Lebzeiten intensiv mit Bernstein zusammengearbeitet, doch werden viele an sich interessante Beobachtungen dadurch getrübt, dass den Autoren offenbar die eigene Eitelkeit einen Streich spielte und sie sich von einem Mitarbeiter zu einem engen Vertrauten Bernsteins verwandelten (Schuyler ChapinChapin, Schuyler (Manager) etwa, teilweise auch Allen Shawn). Noch schwächer fallen die Bücher jener Autoren aus, die Bernstein auf nur eine Eigenschaft reduzieren, ihn etwa als jemanden beschreiben, in dessen Leben es allein um die HomosexualitätSexualität gegangen sei (Joan Peyser), die seine Karriere auf das FernsehenFernsehen begrenzen (Réal La Rochelle) oder ihn durch eine Fotostrecke zu einem alternden Bohemien machen (Thomas Seiler).

Weit gewinnbringender sind dagegen die Studien, die einen wesentlichen Aspekt von Bernsteins öffentlichen Aktionen und politischen ZielenZiele, Überzeugungen in den Kontext der sich wandelnden US-amerikanischen Gesellschaft stellen. Rundum gelungen ist beispielsweise die Analyse des zunächst argwöhnisch beäugten, dann ausgesprochen erfolgreichen Politikers Bernstein von Barry Seldes. Einen umfassenden Überblick über die Inhalte und die Breitenwirkung seiner Young People’s ConcertsYoung People’s Concerts (Jugendkonzerte) im FernsehenFernsehen liefert Alicia Kopfstein-Penk. Interessant sind auch Veröffentlichungen, die sich auf bestimmte Zeiträume in Bernsteins Leben konzentrieren und so einen direkteren Zugang ermöglichen, wie etwa das Buch von Claudia Swan über seine Ausbildung in HarvardHarvard University oder der Band von Steve und Robert Sherman über seine letzten Lebensjahre.

Der Komponist Leonard Bernstein wird außerhalb wissenschaftlicher Analysen recht wenig berücksichtigt. Einen guten Überblick zu den verschiedenen Gattungen und Stilen seiner Werke liefert der Sammelband von Reinhold Dusella und Helmut Loos. Überraschende Einsichten vermitteln etwa Komponisten, die lange mit Bernstein zusammengearbeitet haben (Lukas FossFoss, Lukas, Davis Diamond). Überzeugend sind die Studien von Catherine Reef, die Leonard Bernsteins Werke in das Musikleben der USAUSA einordnet, und Alexandra Scheibler, die die religiöse Dimension einiger Werke beleuchtet. Eine breitgefächerte Analyse von Bernsteins Musicals und Opern liefert Andreas Jaensch. Generell bleibt aber in der Rezeption von Bernsteins Kompositionen das Problem bestehen, dass sich das Interesse primär auf seine Arbeit am BroadwayBroadway (Helen Smith, Carol Oja) und vor allem auf den Erfolg der West Side StoryWest Side Story (Musical) (Nigel Simeone) richtet.

Hervorzuheben sind auch die Studien, die neue Erkenntnisse über Bernsteins Ausrichtung als Musiker erbringen. Beispielsweise hebt Wolfgang Hattinger Bernsteins Charisma hervor, während Frederick J. R. Harris aufzeigt, dass ein Dirigent seinen Rang als Künstler und seine Vorbildfunktion in der Gesellschaft gerade durch den Umgang mit seinen Gefühlen erreicht. Neuen Arbeiten, wie der Monographie von Allen Shawn oder manchen Beiträgen in dem von Andreas Eichhorn herausgegebenen Sammelband, gelingt es zu zeigen, welche Charakteristika in Bernsteins Schaffen seine Bedeutung bis heute lebendig halten.

Weil Bernstein nicht nur als Dirigent und Komponist, sondern auch als MusiklehrerBildung, Lehrer wirkte, lohnt der Blick auf seine eigenen Veröffentlichungen. Dazu zählen seine Überlegungen zu einzelnen Aspekten musikalischer Kunst (Freude an der Musik, Vielfalt der Musik) oder seine Essays (Erinnerungen). Besonders interessant sind die ausgiebigen Interviews, in denen Bernstein selbst oder seine Freunde oft ohne Hemmungen Einsichten in sein Privatleben liefern (John Gruen, Enrico CastiglioneCastiglione, Enrico). Dem Journalisten Jonathan CottCott, Jonathan gelang in Bernsteins letztem Lebensjahr ein faszinierendes, extrem ausführliches Gespräch.26

Die vorliegende Darstellung wird nur teilweise der Chronologie folgen. Aufschlussreicher scheint es, Bernsteins Selbstinszenierung, seine Fähigkeiten und seine Wirkung als Charismatiker in den USAUSA und in Europa zu analysieren. Deshalb wird der Blick auf zehn ausgewählte Bereiche gelenkt, die in ihrer Gesamtheit Leonard Bernsteins facettenreiche Persönlichkeit verdeutlichen dürften.

Das folgende zweite Kapitel handelt von seiner Jugend und seiner Ausbildung. Hier geht es um die Kontexte, in denen er aufwuchs (Einwanderung der Eltern, JudentumJude, Judentum, Antisemitismus, Kleinbürgertum). Ein Schwerpunkt liegt auf seiner kindlichen Begeisterung für Musik und seiner Freude am Experiment. Wichtige Schulen und Dirigenten nahmen ihn früh unter ihre Fittiche. Das dritte Kapitel untersucht Bernsteins Karriere als Dirigent. Nach seinem triumphalen Konzert 1943 interessierten sich die Veranstalter für ihn, denn hier bot sich eine spannende Erzählung über die Leistungen eines jungen Dirigenten an. Fortan reihte sich ein Engagement an das andere. Das vierte Kapitel ist eng mit dem vorausgehenden verbunden. Beleuchtet wird Bernsteins Repertoire als Dirigent. Es geht um Schwerpunkte und Blindstellen, mithin auch um die Tatsache, dass er mit der atonalen Musik gar nichts, mit der Barockmusik wenig anzufangen wusste.

Das fünfte Kapitel behandelt einen eher vernachlässigten Aspekt seines Schaffens, seine Arbeit als Komponist. Bernstein wollte viel lieber als Komponist denn als Dirigent wahrgenommen werden. Beleuchtet werden verschiedene Gattungen, obwohl die Anerkennung durch die Medien und das Publikum hauptsächlich auf seinen Musicals basierte. Immerhin wurden die Stücke am BroadwayBroadway angemessen bezahlt. Das sechste Kapitel nimmt den Privatmann in den Blick. Bernstein liebte seine engsten Freunde, seine Familie, für die er sich allerdings wenig Zeit nahm, und vor allem seine Ehefrau FeliciaBernstein, Felicia (geb. Cohn Montealegre, Ehefrau). Alle hielten ihm den Rücken frei. Felicia gab ihre Karriere als Schauspielerin auf, achtete auf das korrekte öffentliche Auftreten in ihrer Rolle als Ehefrau eines Weltstars und versuchte sich mit seiner BisexualitätSexualität zu arrangieren.

Im siebten Kapitel geht es zum einen um die Bedeutung der Gefühle für Bernsteins künstlerischen Lebenslauf und um sein extrem extrovertiertes Auftreten. Eng damit verknüpft ist zum anderen seine Arbeit als Musikpädagoge (Jugendkonzerte, populäre Schriften, AusbildungBildung, Lehrer von StudentenStudenten). Bernstein kombinierte in der Öffentlichkeit sein Wissen und seine Kenntnis sinfonischer Musik mit Scherzen in den Jugendkonzerten. Eines seiner ZieleZiele, Überzeugungen war die Vermittlung von Musik in weiten Teilen der Gesellschaft. Das achte Kapitel widmet sich der beachtlichen Bandbreite von Bernsteins politischem Engagement. Aus dem linksorientierten, pazifistischen und humanistischen Jungmusiker wurde ein »Elder Statesman«, der mit den Spitzen der US-amerikanischen Politik meist harmonisch verkehrte. Zwar unterstützte er weiterhin den Wahlkampf der Demokratischen Partei und verurteilte das Wettrüsten, doch auch einige Präsidenten aus den Reihen der Republikaner akzeptierten ihn oder genossen wenigstens seine Kunst.

Das neunte Kapitel beschäftigt sich mit Bernsteins Engagement für die Musik in den USAUSA. Der Blick reicht von IvesIves, Charles über CoplandCopland, Aaron bis hin zum JazzJazz und Pop. Bernstein profitierte davon, dass weite Teile der USAUSA, auch außerhalb des gehobenen Bürgertums, sich auf der Suche nach einer neuen spezifisch amerikanischen Kultur befanden. Das zehnte und abschließende Kapitel skizziert sein letztes Lebensjahr, bestimmte Erfolge und die voranschreitende KrankheitKrankheit, Zigarettensucht. Bei näherer Betrachtung stellt sich das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Lob und Kritik an Bernstein als eine Erfolgsgeschichte dar. Sein (Lebens-)Werk bzw. sein Vermächtnis ließ sich nicht nur leicht weitererzählen, sondern auch den Veränderungen der Gesellschaft anpassen.

Dass Bernstein sich als Künstler und Selbstdarsteller gerade im Konzertsaal ausgezeichnet präsentieren konnte, bewies ein überraschender Zwischenfall 1982. In diesem Jahr unternahm er mit dem Israel Philharmonic OrchestraIsrael Philharmonic Orchestra eine ausgedehnte Tournee durch DeutschlandDeutschland, Mexiko und die USAUSA. Während des Abschlusskonzerts in Mexico CityMexiko City gab es ein Problem. Assistent Charlie Harmon stellte in der Pause fest, dass sein Chef die Partitur von Le Sacre du Printemps in seinem Hotelzimmer vergessen hatte. Das Publikum hatte das zweifelhafte Vergnügen, eine volle Stunde zu warten, während Bernsteins Manager Harry KrautKraut, Harry (Manager) in einem Taxi – überwiegend mit über 100 km/h – zum Hotel raste, um die vermissten Noten herbeizuschaffen. Daraufhin zeigte Bernstein seine Größe als Künstler und gleichzeitig seine emotionale Überheblichkeit: Er legte die Partitur ungeöffnet auf sein Pult und dirigierte StrawinskyStrawinsky, Igor auswendig.27

2 Die (Her-)Ausbildung

Zwar scheint es konventionell, doch liegt es auf der Hand, Biographien mit dem Namen und dem Geburtstag der beschriebenen Person zu beginnen. Hier verhält es sich anders. Schon die Wahl seines Vornamens und die damit verbundene Geschichte verweist auf die Vielschichtigkeit von Leonard Bernsteins Leben und dessen ungewöhnlichem Verlauf. Am 25. August 1918 wurde das Kind in Lawrence, Massachusetts,Lawrence, Massachusetts einem kleinen Ort nördlich von BostonBoston, Massachusetts geboren. Wie aber sollte der Sohn der Familie heißen? Der Eintrag in das Geburtenregister lautete Louis Eliezer Bernstein. Bereits der früh verstorbene Bruder und der Großvater der Mutter hießen Louis, und seine Eltern wünschten sich diesen Namen. Das Ehepaar JennieBernstein, Jennie (Mutter) und Samuel (»Sam«) BernsteinBernstein, Samuel »Sam« (Vater) nannte seinen Sohn aber in dessen ersten fünf Lebensjahren nicht Louis, sondern Leonard. Und um die Verwirrung noch zu steigern, riefen sie den Kleinen nicht nur Leonard, sondern auch Len oder Lenny.

Leonard spielte schon früh mit dem Gedanken einer Namensänderung. Freunde erinnerten sich, dass er viele Namen durchprobierte, die mit »B« begannen. Als er im Alter von 16 Jahren seinen Führerschein machte, bekam er die Möglichkeit, seinen Namen offiziell in Leonard zu ändern. Sein Vorbild, der Dirigent Serge KoussevitzkyKoussevitzky, Serge, wies ihn später darauf hin, dass »Leonard Bernstein« seiner Karriere schaden könne. Der Name wirke nicht nur jüdisch, sondern sei auch gewöhnlich. Deshalb plädierte er für einen Künstlernamen: Leonard S. Burns.1 Sein Schüler verbrachte eine schlaflose Nacht, dann ließ er seinen sonst in jeder Hinsicht tonangebenden Lehrer selbstbewusst wissen, dass er nur unter seinem eigenen Namen Erfolg haben könne. Allerdings veröffentlichte der junge Künstler Leonard Bernstein oft eigene Klaviertranskriptionen von Unterhaltungsstücken unter dem Pseudonym »Lenny Amber«. Später nutzte er seinen Nachnamen ausdrücklich und nannte seine eigene Firma »Amberson Enterprises«Amberson Enterprises.

Aufschlussreich ist auch der Blick auf die Aussprache seines Nachnamens in den USAUSA. Zu Beginn seiner Karriere wandten beispielsweise Journalisten die geltenden Regeln der US-amerikanischen Aussprache an und nannten ihn »Mr. Bernstien«. An dieser Stelle unterbrach er sofort und bat darum, seinen Namen deutsch zu betonen: »Mr. Bernstein«. Der heranwachsende Dirigent achtete wohl auch in dieser Hinsicht auf seine europäische Herkunft. Im Namen des Schmucksteins Bernstein liegt ein deutscher Ursprung. Zudem gilt dieses gelbliche Harzfossil als Symbol für Schönheit und Natürlichkeit. Der berühmte Stardirigent wurde später in ÖsterreichÖsterreich Ehrenbürger des kleinen, südlich von WienWien gelegenen Ortes Bernstein.2

Bereits die Namensfindung zeigt daher, dass große Talente nicht geboren werden, sondern sich entwickeln. Davon handelt dieses Kapitel, es umreißt sozusagen den Bauplan von Bernsteins Biographie. Beleuchtet werden sein Heranwachsen, seine Ausbildung bis in die frühen 1950er Jahre. Wichtig sind die Rolle seiner Eltern und Freunde, die schulische Ausbildung und seine Zeit in HarvardHarvard University; ebenso der Einfluss von Dirigenten und seine Vernetzung auf dem musikalischen Markt. Skizziert werden auch seine ersten Kompositionen sowie die Suche nach einer festen Anstellung. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Liebe zu seiner Ehefrau Felicia.Bernstein, Felicia (geb. Cohn Montealegre, Ehefrau)

Blicken wir zunächst auf Leonard Bernsteins Eltern SamuelBernstein, Samuel »Sam« (Vater) und JennieBernstein, Jennie (Mutter). Beide stammten aus der Ukraine, die zum russichen Zarenreich gehörteUkraine. Zwischen 1881 (der Ermordung des Zaren Alexander II.) und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 wanderte ein Drittel der osteuropäischen Juden aus. JudenJude, Judentum, Antisemitismus wurden oft in den Militärdienst gezwungen, und mit dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Kriegs 1904 stand dieses Schicksal vielen jüdischen Familien lebhaft vor Augen. Sam BernsteinsBernstein, Samuel »Sam« (Vater) Vater wollte, dass sein Sohn in der UkraineUkraine blieb, um chassidischer Rabbiner zu werden. Ohne sich von seinem Vater auch nur zu verabschieden, wanderte der Sechzehnjährige 1908 in die USAUSA aus und hoffte auf eine erste finanzielle Unterstützung durch seinen Onkel, dem der Sprung dorthin bereits gelungen war.3

Sam entschied sich für einen steinigen Weg, hatte aber Erfolg. Zunächst verdingte er sich als Hilfsarbeiter im New YorkerNew York Hafen. Schon kurz darauf gelang ihm jedoch der Eintritt in die Firma Frankel & Smith und dort ein schneller Aufstieg. Bald gründete er eine eigene Firma für Schönheitsprodukte. Das Risiko zahlte sich aus. 1927 erwarb er Lizenzen für einen Dauerwellenapparat und wurde schließlich zum größten Zulieferer für Schönheitssalons in Neuengland. Für Sam BernsteinBernstein, Samuel »Sam« (Vater) erfüllte sich der amerikanische Traum. Gleichsam über Nacht wurde der jüdische Immigrant zum Firmenchef mit 50 Angestellten, dessen Geschäft selbst während der Depressionsjahre expandierte.

Auch JennieBernstein, Jennie (Mutter) Resnick stammte aus einer Familie ukrainischer Auswanderer. 1917 gab sie im Alter von 19 Jahren den Avancen des 25-jährigen Sam nach und heiratete ihn. Sam gewann in ihr eine Frau, die ihn auch deshalb geheiratet hatte, um ihrer ungeliebten Arbeit zu entkommen. Die Ehe der beiden jungen jüdischen Einwanderer war selten glücklich. Oft stritten sie sich, trennten sich für eine gewisse Zeit und kamen dann wieder zusammen. Dass Sam der Sohn eines Rabbiners war, belastete die Ehe mit Jennie zusätzlich. Denn er befolgte streng die Regeln und Rituale der jüdischen ReligionReligion. Jennie war die Lebenslustige in der Beziehung. Sie legte Wert auf Kleidung und Aussehen, war charmant, ging gerne aus und las Liebesromane. Auch Sams beruflicher Erfolg brachte keine Ruhe in das Leben der jungen Familie. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zog man immer wieder um, allein in der Stadt Roxbury fünfmal, um durch neue Wohnungen und Häuser den sozialen Aufstieg zu demonstrieren.

Nach Lawrence in MassachusettsLawrence, Massachusetts zog Jennie im Streit, kurz vor der Geburt ihres Sohnes Leonard Bernstein am 25. August 1918. Er wurde von seiner Mutter vergöttert, blieb als Kind wie als Erwachsener der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Ehe mit SamBernstein, Samuel »Sam« (Vater) indessen verlief so unglücklich, dass Jennie von ihrem Ersparten eine heimliche Abtreibung vornahm, um nicht erneut ein Kind von diesem Mann auf die Welt zu bringen. Gleichwohl entwickelte sich in den folgenden Jahren ein etwas harmonischeres Verhältnis. JennieBernstein, Jennie (Mutter) entschied sich letztlich dazu, Sam nicht zu verlassen, seine Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Das Paar bekam später noch zwei weitere Kinder, Shirley (1923)Bernstein, Shirley (Schwester) und BurtonBernstein, Burton (Bruder) (1932). Leonard Bernstein litt als Kind nicht nur an Asthma, sondern auch an Allergien wie Heuschnupfen. Er blieb meist zu Hause, scheute Kontakt und wirkte auf seine Eltern introvertiert und melancholisch.

Von klein auf prägten die jüdische Kultur und ReligionReligion Leonards Leben. Mit acht Jahren kam er auf die Hebrew School, studierte unter anderem die Tora und lernte täglich zwei Stunden Hebräisch. Beim Besuch der Synagoge hörte Bernstein chassidische Melodien, beobachtete den Gesang und die Bewegungen der Gläubigen.4 Später begleitete er seinen Vater am Klavier, während dieser sang und die Geschichte gläubiger jüdischer Pilger vorspielte. In der Synagoge kam Leonard auch mit klassischer Musik in Berührung, da der Organist und Chorleiter hebräische Texte mit der Musik von SchubertSchubert, Franz, Mendelssohn BartholdyMendelssohn Bartholdy, Felix und VerdiVerdi, Giuseppe unterlegte. Als junger Komponist schrieb Bernstein 1945 ein Stück namens HashkiveinuHashkiveinu, in dem Tenor und Chor, begleitet von der Orgel, den hebräischen Gebetstext des Sabbat-Gottesdienstes wiedergeben. Bald darauf komponierte er auch eine Reihe jüdischer Tänze für Klavier und mehrere Lieder mit jiddischen Texten (vier SabrasSabras, YigdalYigdal).5

Leonard Bernstein reizte die musikalische Ausformung jüdischer Kultur. Was sich eben nicht nur in seiner späteren 1. Sinfonie, »Jeremiah«1. Sinfonie (»Jeremiah«) oder der 3. Sinfonie, »Kaddish«3. Sinfonie (»Kaddish«), dem Ballett DybbukDybbuk (Ballett) und manchen Chorwerken ausdrückte, sondern bereits in einigen kleinen frühen Kompositionen. Diese Vielfalt reflektiert aber zugleich die zunächst unsichere Orientierung des werdenden Musikers an der jüdischen Kultur. Er lebte in einer Familie jüdischer Einwanderer, die Zeit brauchte, sich in den USAUSA einzuleben. Doch bot gerade die US-amerikanische Gesellschaft, wie nur wenige andere Staaten, vielen JudenJude, Judentum, Antisemitismus neue Lebenschancen. Im Musikleben brachte das eine größere Bereitschaft mit sich, auch populäre und religiöse Musik aus der Alten Welt zu akzeptieren, und ebenso Karrieremöglichkeiten für berühmte Dirigenten jüdischer Herkunft wie Bruno WalterWalter, Bruno, Otto KlempererKlemperer, Otto, Eugene OrmandyOrmandy, Eugen, Fritz ReinerReiner, Fritz und Georg SoltiSolti, Georg.6

Schon als Kind fühlte sich Leonard zur Musik hingezogen, war neugierig auf das Victrola-Grammophon und gab gelegentlich Laute wie »Moinik, Moinik« von sich – was wohl Musik heißen sollte. Seine Leidenschaft wurde durch Radiosendungen noch verstärkt. Oft mussten seine Eltern es ertragen, dass er unentwegt Melodien nachsang. Ein Ereignis prägte sein Leben ganz besonders: Seine Tante Clara schenkte dem Zehnjährigen ein etwas ramponiertes Klavier, auf dem sich viel entdecken ließ und das sein Selbstbewusstsein stärkte. Jahrzehnte später, im Jahr 1981, deutete Leonard Bernstein dieses Geschenk als ein Schlüsselerlebnis seines frühen Lebens. »Nun hatte ich mein Universum entdeckt, meinen Ort, an dem ich mich sicher fühlte. Dieses Instrument gab mir ein Gefühl von Macht.«7

Im Jahr 1932 nahm Helen CoatesCoates, Helen (Sekretärin, Lehrerin) Leonard Bernstein unter ihre Fittiche. Sie wurde zunächst seine Klavierlehrerin, die ihn klug unterrichtete und zugleich seine Grenzen als Pianist erkannte. Zwar spielte er leidenschaftlich, und CoatesCoates, Helen (Sekretärin, Lehrerin) hielt ihn für begabt, aber nicht für herausragend. Vor allem war der Vierzehnjährige, verglichen mit anderen jungen Aspiranten, schon recht alt. Seine Freundschaft mit der Lehrerin jedoch hielt ein halbes Jahrhundert, denn CoatesCoates, Helen (Sekretärin, Lehrerin) wurde später seine Assistentin und Sekretärin. Sie brachte Struktur in Leonard Bernsteins Karriere. Vielleicht war sie auch die Erste, die seine ungewöhnliche musikalische Begabung erkannte.8

Sam Bernstein dagegen sah Leonards musikalische Ambitionen stets kritisch. Er dachte pragmatisch, denn sein Ziel war es, dass der Sohn die Firma übernahm. Um das zu erzwingen, setzte SamBernstein, Samuel »Sam« (Vater) wieder und wieder sein mächtigstes Druckmittel ein: sein Geld. Manchmal zahlte er Leonards Klavierstunden, manchmal musste dieser die Mittel dafür selbst auftreiben. Erst drohte der Vater dem Schüler, später dem jungen Musiker. Allerdings nahm er ihn im Frühling 1932 mit zu einem Konzert des Boston Pops Orchestra unter der Leitung von Arthur Fiedler. Zu hören war unter anderem Maurice RavelsRavel, MauriceBolero, und auch Sam gefiel die Sache so weit, dass er mit Leonard bald darauf in ein Beethoven-KonzertBeethoven, Ludwig van ging.

Nachdem Leonard Bernstein 1929 die sechste Klasse absolviert hatte, besuchte er die angesehene Boston Latin School, zu der er allein aufgrund seiner Begabung zugelassen wurde. Diese Institution war die älteste Public School der USAUSA, berühmt für die Qualität ihrer Ausbildung und berüchtigt für die Härte der Zensuren. Nur jeder dritte Schüler konnte sie mit einem Abschlusszeugnis verlassen. Bernstein musste viele naturwissenschaftliche und sprachliche Fächer belegen, darunter auch obligatorisch die Sprachen Latein und Französisch. Die Wahl hatte er zudem zwischen Griechisch und Deutsch, wobei er sich für Deutsch entschied. Seinen künftigen musikalischen Interessen hat dies sicher nicht geschadet. Nicht nur die Unterrichtsfächer und die Musik reizten ihn. Stets war er neugierig, neigte zu allen möglichen, oft völlig unsinnigen Experimenten. Beispielsweise begeisterte er sich für Wortspiele oder nahm Uhren und Füllfederhalter auseinander, um herauszufinden, wie diese Dinge eigentlich funktionieren. 1935 schloss Bernstein die Schule mit Erfolg ab. In Englisch war er Schulbester, sein guter Gesamtschnitt wurde aber durch seine schlechte Note in Geschichte (3,5) gedrückt.9

Die nächste Etappe seiner Ausbildung war ein wichtiger Schritt in seinem sozialen Aufstieg. Im Herbst 1935 begann er ein Musikstudium an der Harvard UniversityHarvard University. Wahrscheinlich hat das sogar sein Vater begrüßt, denn diese berühmte Hochschule versprach ungekannte berufliche Möglichkeiten. Dies war auch deshalb wichtig, weil die Wirtschaftskrise eine große Arbeitslosigkeit nach sich zog, die viele Menschen furchtbar belastete. In Harvard aber begann Leonard neben der vorzüglichen Ausbildung sein künstlerisches Netzwerk aufzubauen und Kontakte zur gesellschaftlichen Elite zu knüpfen. Vor allem erhielt er einen Einblick in die Vorrechte und Vorurteile der privilegierten Oberschicht aus den Neuenglandstaaten.

Die »White Anglo-Saxon Protestants« des gehobenen Bürgertums schickten ihre Kinder gerade auf Universitäten wie Harvard. HarvardHarvard University hatte damals noch eine »racial quota«, traf eine ethnische Auswahl, um unerwünschten Gruppen der Gesellschaft den Zugang zu erschweren. Die Anzahl der JudenJude, Judentum, Antisemitismus durfte beispielsweise maximal 10 Prozent der StudentenStudenten betragen. Diese mittelbaren und unmittelbaren Ausschlusskriterien stehen durchaus in Korrelation zu den geringen Aufstiegschancen schwarzer Amerikaner, auch wenn viele Juden trotz des bestehenden AntisemitismusJude, Judentum, Antisemitismus seltener einen so brutalen, oft gewaltsamen Rassismus ertragen mussten wie Schwarze. Sicher ist, dass Juden wie Schwarze auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USAUSA scharfen ethnischen, sozialen und politischen Urteilen der weißen protestantischen Elite und ihrer zahlreichen Unterstützer aus den Unterschichten ausgesetzt waren.

Keine idealen gesellschaftlichen Voraussetzungen also für die Entwicklung eines musikalischen Talents, das nicht dem weißen, protestantischen Bürgertum angehörte. Leonard Bernsteins Ausbildung an renommierten Schulen, ja sogar an dieser Eliteuniversität lässt sich auch aus diesem Grund als eine Aufstiegsgeschichte mit Risiken bezeichnen. Schließlich war er nicht nur ein Kind von Migranten aus der UkraineUkraine, sondern auch ein in der Neuen Welt heranwachsender JudeJude, Judentum, Antisemitismus. Von einigen »Societies« in HarvardHarvard University, für die er sonst prädestiniert gewesen wäre, wurde er aufgrund seines JudentumsJude, Judentum, Antisemitismus ausgeschlossen. Für ärmere Kinder, für Immigranten, vor allem für Jugendliche der ersten Einwanderer-Generation, bedeutete HarvardHarvard University eine Herausforderung. Das bezog sich auf das Pensum ebenso wie auf die strenge Prüfungsordnung und die Tatsache, dass man lernen musste, mit der etablierten Elite der Vereinigten Staaten zurechtzukommen, obwohl man selbst als Außenseiter vor ihr stand. Wer diese formellen und informellen Kriterien nicht erfüllte, musste seine Sachen packen und sich eine andere Existenz aufbauen. Wer sich aber in diesem sozialen Rahmen etablierte, verfügte über zahllose Voraussetzungen für ein erfolgreiches Leben in den USAUSA.10

An der Harvard UniversityHarvard University baute Leonard Bernstein drei seiner Eigenschaften aus, die ihn sein ganzes Leben prägen sollten: seine Neugier, seine Brillanz – und seine Undiszipliniertheit. Hier studierte er so wenig Musik wie möglich, dafür viel Literatur und Philosophie, weil ihm die unterrichtete Musik zu konservativ schien. Doch er kaufte Schallplatten und hörte diese gemeinsam mit Kommilitonen. Er gewann auch ein Stipendium für das erste Jahr und kam auf eine Ehrenliste Hochbegabter (»Dean’s List 1936«). Enorm talentiert, las er komplizierte Partituren vom Blatt, erfüllte die kompositorischen Anforderungen mühelos und war oft deutlich besser als die übrigen Studierenden. Von 1938 an wurde er Redakteur bei einem kleinen Universitätsblatt, dem Harvard Advocate. Dafür schrieb er voller Begeisterung Kritiken, ließ es weder an überschwänglichem Lob noch an teenagerhaften Verrissen fehlen. Im Jahr 1939 beendete er sein Studium mit einer ästhetisch wie politisch mutigen Arbeit, in der er zeigen wollte, auf welche Weise einige US-amerikanische Komponisten lateinamerikanische und schwarzafrikanische Musikstile geschickt in ihren Stücken einsetzten. Er erhielt dafür die eher mittelmäßige Abschlussnote »cum laude«.11

Leonard Bernstein stellte bereits in seinem achtzehnten Lebensjahr unter Beweis, dass ihn nicht nur das Musiktheater reizte, sondern dass er auch den Willen besaß, eine Produktion persönlich bis ins kleinste Detail zu organisieren. Das Musiktheater schätzte er wohl nicht zuletzt deshalb, weil es seine Entdeckerfreude und seinen Spieltrieb befriedigte. In diesem Kontext darf man nicht nur an die Erfolgsstücke von Cole PorterPorter, Cole denken. Bernsteins Interesse galt auch den Savoy Operas von William Gilbert und Arthur SullivanGilbert, William S. / Sullivan, Arthur. Zuerst nahm er sich deren Mikado vor, dann HMS Pinafore, eine Satire auf die Royal Navy im viktorianischen England. Unter seiner Leitung, mit einem kleinen Orchester und einem Chor von immerhin 40 Sängern, spielte man auf der Bühne der Boston, MassachusettsBostoner Town Hall. Bernstein versuchte jeden für sein Projekt zu gewinnen. Sogar die weibliche Hausangestellte seiner Eltern bekam eine Rolle zugewiesen, was JennieBernstein, Jennie (Mutter) nicht besonders erfreut haben dürfte. Bernstein selbst bestand darauf, gleichzeitig als Regisseur, Mitspieler und Dirigent zu wirken.12

Im Jahr 1937 brachte dieser AllroundstudentStudenten erneut ein Stück von Gilbert und SullivanGilbert, William S. / Sullivan, Arthur auf die Bühne, die Pirates of Penzance. Das Wichtigste an dieser Produktion war wohl die Bekanntschaft mit Adolph GreenGreen, Adolph (Textdichter, Schauspieler). Dieser war als Sohn ungarischer Eltern in der Bronx aufgewachsen und besaß neben seinem schauspielerischen und musikalischen Talent auch ein phänomenales Gedächtnis. Durch seine Loyalität und seine Lust am Experiment wurde er zu einem der besten Freunde Leonard Bernsteins, der an ihm – auf zugegeben etwas arrogante Weise – seine musikalische Spiellust erprobte. Er gab vor, am Klavier ein Stück von Dimitri SchostakowitschSchostakowitsch, Dimitri zu spielen, dessen genauen Titel Green erraten sollte. Der gestand, das noch nie gehört zu haben. Daraufhin umarmte Bernstein ihn herzlich, denn es war eine seiner eigenen Kompositionen. Adolph GreenGreen, Adolph (Textdichter, Schauspieler) ließ das nicht auf sich sitzen. Er hatte das Talent, sich intellektuell zu rächen, in dem er von seinem Freund verlangte, er solle für ihn Jean Sibelius’Sibelius, Jean5. Sinfonie, Es-Dur, op. 82, aus dem Gedächtnis spielen. Ein Werk, das diesem seinerzeit noch völlig unbekannt war. Bernstein hatte somit einen Partner auf Augenhöhe gefunden, der ihm ein Leben lang verbunden blieb.13

Bernsteins Jugendfreundin Kiki SpeyerSpeyer, Kiki, mit der er oft intensiv flirtete, hielt ihn im Rückblick für einen extrovertierten, aber nicht sehr selbstbewussten Menschen. Wichtiges bespreche er mit niemandem. Sie stelle ihm keine grundlegenden Fragen, weil sie nicht damit rechne, eine Antwort zu erhalten. Seine Freundin Mildred SpiegelSpiegel, Mildred, bewertete sein Verhalten und seine Interessen etwas anders: Sie meinte, Leonard Bernstein habe sich gleichzeitig befreien und berühmt werden wollen. Einerseits, weil er so dem Druck seines Vaters und einer unerwünschten Bindung an dessen Firma entkam. Andererseits, weil er sich selbst für so hochqualifiziert hielt.14

Vieles spricht für diese Überlegung. Leonard Bernstein begann, erwachsen zu werden, und wollte seinen sozialen Aufstieg beschleunigen. Musik war dafür das entscheidende Mittel, über das er in wachsendem Maße selbst verfügte. Sein Wissen erlaubte es ihm, selbstbestimmt zu handeln, ja auch Geschmäcker und Interessen anderer Menschen zu beeinflussen. Hier lässt sich ein Künstler erahnen, der lernte, sein Charisma zu entwickeln und öffentlich einzusetzen. Andere Menschen durch sein musikalisches Spiel zu manipulieren, stärkte sein Selbstbewusstsein, ja mehr noch, es verlieh ihm in bestimmten Situationen Deutungshoheit, förderte aber auch seine Überheblichkeit.

Ein gutes Beispiel dafür ist sein Umgang mit dem Tod George GershwinsGershwin, George am 11. Juli 1937. An diesem Tag besuchte Bernstein mit anderen Harvard-StudentenStudenten ein Ferienlager. Hier musizierte man häufig während des Mittagessens. In einem späteren Interview erinnerte er sich rückblickend: »Als ich aber am Sonntagmorgen aufwachte, hörte ich, dass Gershwin gestorben war. Ich beschloss, am Ende doch zu spielen. Beim Lunch gab es tatsächlich dieses schreckliche Geklapper und Geplapper. Dann setzte ich mich ans Klavier und spielte einen Akkord, um alle auf mich aufmerksam zu machen. Ich sagte ihnen, dass GershwinGershwin, George gestorben sei und dass ich ihnen eines seiner Stücke vorspielen wolle und hinterher keinen Applaus wünsche. Ich spielte das Präludium Nr. 2. Es herrschte absolute Stille – eine schwere Stille. Da wurde mir zum ersten Mal die Macht der Musik bewusst. Als ich aus dem Saal ging, hatte ich das Gefühl, dass ichGershwinGershwin, George war, nicht etwa im Himmel, nein, ich war Bernstein und hatte das Stück komponiert.«15

Ende der 1930er Jahre begegnete Bernstein drei ebenso begabten wie unterschiedlichen Dirigenten, ja mehr noch, er bekam die Chance, von diesen als Schüler unterrichtet, manchmal sogar als Partner eingebunden zu werden. Er profitierte davon, dass alle drei jeweils andere musikalische Schwerpunkte setzten und sich auch im persönlichen Umgang völlig voneinander unterschieden. Sein Mentor war Serge KoussevitzkyKoussevitzky, Serge. Mit väterlicher Zuwendung lehrte er Bernstein den Beruf des Dirigenten als einen Lebensentwurf zu begreifen. Fritz ReinerReiner, Fritz dagegen war eine viel strengere Persönlichkeit, die auf Disziplin und Kontrolle setzte. Er bestand darauf, dass der Schüler sein ganzes Können durch eine klare Schlagtechnik unter Beweis stellte. Musikalisches Wissen war ihm viel wichtiger als ein emotionaler Ausdruck. Hierin unterschied er sich von Bernsteins drittem Lehrer, Dimitri MitropoulosMitropoulos, Dimitri. Dieser war liebenswert, aber auch extravagant und ein elitärer Außenseiter, weshalb der Grieche seine Karriere eher am Rande der Dirigentenzunft vorantrieb. Seine Begeisterung für Gustav MahlerMahler, Gustav nahm sich Bernstein zum Vorbild. Zwei Andenken aus dem Nachlass seiner Lehrer begleiteten Leonard Bernstein ein Leben lang. Regelmäßig hing das Kreuz von MitropoulosMitropoulos, Dimitri um seinem Hals, und bei jedem Konzert trug er KoussevitzkysKoussevitzky, Serge Manschettenknöpfe, die er vor dem Auftritt küsste.

Serge Koussevitzky (links) beim Treffen in Boston mit George Gershwin (rechts)

Leonard Bernstein lernte den griechischen Dirigenten Dimitri MitropoulosMitropoulos, Dimitri auf einem Harvard-EmpfangHarvard University im Januar 1937 kennen. Zwar standen schon bald Prüfungen bevor, doch verfolgte er eine ganze Woche dessen Proben und Auftritte. Ihn reizte zunächst dessen Repertoire (MahlerMahler, Gustav, BeethovenBeethoven, Ludwig van und die klassische Moderne von StrawinskyStrawinsky, Igor bis ProkofjewProkofjew, Sergei), von dem er später manches übernahm. Zudem war MitropoulosMitropoulos, Dimitri pianistisch ausgebildet, dirigierte expressiv, doch ohne Taktstock. Bernstein kopierte Mitropoulos’ Habitus, seine oft gnadenlosen Anweisungen und seine ausladende Körpersprache. Nach einer der Proben lud der Dirigent seinen angehenden Schüler und dessen Freundin Mildred SpiegelSpiegel, Mildred zum Mittagessen ein. Leonard Bernstein hatte Spaghetti gewählt, der Maestro Austern. Mildred SpiegelSpiegel, Mildred war irritiert, als Mitropoulos Bernstein mit einer Gabel über den Tisch hinweg mit einer Auster fütterte.16

MitropoulosMitropoulos, Dimitri war der Erste, der Bernstein riet, Dirigent zu werden. Zunächst tat sich in dieser Hinsicht jedoch nichts. Den entscheidenden Anstoß brachte schließlich die Begegnung mit Aaron CoplandCopland, Aaron im Jahr 1937. Copland beeinflusste nicht nur Bernsteins Stil und sein Repertoire, er öffnete ihm auch viele Türen. Nach einem seiner Auftritte etwa nahm er den jüdischen Provinzjugendlichen mit auf seine Geburtstagsfeier, auf der sich Photographen, Dichter, Journalisten und Komponisten trafen. Und er nutzte seinen Kontakt zum amerikanisch-ungarischen Dirigenten Fritz ReinerReiner, Fritz, Leiter der Dirigentenklasse am Curtis Institute of Music, einem Konservatorium in PhiladelphiaPhiladelphia, Pennsylvania. CoplandCopland, Aaron gab Leonard ein enthusiastisches Empfehlungsschreiben mit auf den Weg, das jedoch tatsächlich nicht mehr als ein Türöffner war. Der Maestro nämlich war gnadenlos hart bei seiner Auswahl, und Leonard hatte zu Recht große Furcht vor der Aufnahmeprüfung.17

Fritz ReinerReiner, Fritz vertrödelte keine Zeit mit freundlichen Begrüßungen. Er führte ihn direkt ans Klavier, zeigte ihm eine Partitur und fragte ihn nach dem Stück. Bernstein musste zunächst passen, und so forderte Reiner ihn dazu auf, die Komposition vom Blatt zu spielen. Dann hatte Bernstein – wie so häufig im Leben – Glück. Während er spielte, fiel ihm der Titel des Stücks ein. Am Ende seines Vortrags nahm er seinen Mut zusammen: Natürlich kenne er diese Komposition, es sei die Akademische Festouvertüre, c-Moll, op. 80, von Johannes BrahmsBrahms, Johannes. Bernstein hatte es geschafft, und ReinerReiner, Fritz wurde zu einem seiner Lehrer.18

Im Herbst 1939 begann die vorzügliche Ausbildung. Am Curtis Institute erlebte Bernstein im Unterschied zum intellektuellen HarvardHarvard University einen professionell funktionierenden Musikbetrieb. So nahm er Unterricht bei der Pianistin Isabelle Vengerova. Fritz ReinerReiner, Fritz wiederum offenbarte seinen Schülern sein reiches Wissen und erklärte den angehenden Dirigenten, wie sie ein Orchester in den Griff bekommen konnten. Allerdings glaubte er, seinem neuen Schüler zunächst einmal wesentliche Umgangsformen beibringen zu müssen. Er zögerte keinen Moment, Leonard Bernsteins Habitus und seinen unermüdlichen Charme zu disziplinieren. Denn das junge Talent beging früh einen unverzeihlichen Fauxpax, indem er den Maestro bei einer Probe »Fritz« nannte. ReinerReiner, Fritz verlangte von »Mr. Bernstein« unterkühlt, in Zukunft nur mit »Mr. Reiner« angesprochen zu werden. Sein musikalisches Urteil beeinträchtigte das keinesfalls. Im Februar 1940 bewertete er Bernsteins Leistungen als einzige mit der Höchstnote »A«.19

Gute Kontakte und Erfolge führten schon im US-amerikanischen Musikleben jener Zeit zu neuen Kontakten und weiteren Erfolgen. Durch die Zusammenarbeit mit CoplandCopland, Aaron, ReinerReiner, Fritz und MitropoulosMitropoulos, Dimitri wurde Serge KoussevitzkyKoussevitzky, Serge auf Bernstein aufmerksam. Der US-amerikanisch-russische Dirigent jüdischen Glaubens bot Dirigierkurse an. Unter seiner Leitung wurde das Boston Symphony OrchestraBoston Symphony Orchestra für seine Interpretationen von modernen Komponisten wie StrawinskyStrawinsky, Igor, SibeliusSibelius, Jean, HindemithHindemith, Paul und SchostakowitschSchostakowitsch, Dimitri bekannt. Er führte auch Stücke junger amerikanischer Komponisten wie Aaron CoplandCopland, Aaron, Samuel BarberBarber, Samuel und William SchumanSchuman, William auf. Sein Ziel war es, auch Dirigenten aus den USAUSA auszubilden. KoussevitzkyKoussevitzky, Serge mag kein musikalisches Interpretationsgenie gewesen sein, aber er hatte einen guten Blick für Begabungen und für die Vermittlung symphonischer Musik in der Öffentlichkeit.20

KoussevitzkyKoussevitzky, Serge könnte man als einen Maestro alter Schule bezeichnen, der den Habitus eines väterlichen Grandseigneurs pflegte. Zwar war er ein wenig eitel und genoss seine Auftritte, zeigte aber stets, dass für ihn Musik eine humanitäre Botschaft vermittelte. Viele im Publikum spürten, dass er seine Zuhörer durch die Schönheit der Musik bilden wollte. Vor den Konzerten richtete er sich zu voller Größe auf und suchte Blickkontakt zu jedem einzelnen Musiker, besonders zu den Posaunisten (die offenbar für ihn als die Unruhestifter im Orchester galten).

Gemeinsam mit anderen StudentenStudenten konnte Leonard Bernstein ab 1940 bei ihm seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. KoussevitzkyKoussevitzky, Serge