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Leonie steht mit Mitte zwanzig vor großen Entscheidungen: Nach einem One-Night-Stand ist sie schwanger. Wie soll sie sich entscheiden? Karriere oder Kind? Und dann gibt es da noch Andreas, der der Richtige zu sein scheint … Leonie wendet sich an ihre Großmutter Gertrud. Die erzählt ihr von ihren Erlebnissen im Paris der 1960er Jahre, von der sexuellen Revolution, vom Schmerz, ihre Tochter weggeben zu haben und von ihrer eigenen Abtreibung. Wird sich die Familiengeschichte nun wiederholen?
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
Maria Schober
Leonie
Bis die Morgenröte kommt
Bernardus-Verlag 2023
Impressum
1. Auflage 2023
© Bernardus-Verlag
In der Verlagsgruppe Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Bernardus-Verlag
Verlagsgruppe Mainz
Süsterfeldstraße 83
52072 Aachen
www.bernardus-verlag.de
Gestaltung, Druck und Vertrieb:
Druck & Verlagshaus Mainz
Süsterfeldstraße 83
52072 Aachen
www.verlag-mainz.de
Abbildungsnachweis (Umschlag):
© MaverickMedia – stock.adobe.com
Druckbuch:
ISBN-10: 3-8107-0384-2
ISBN-13: 978-3-8107-0384-2
E-Book:
ISBN-10:
ISBN-13:
Für Maria
Prolog
»Dieser elende Personalmangel! Ich begreife es nicht! Warum gibt es in der Betreuung von alten Menschen so wenig Ressourcen?«, dachte Schwester Laura und radelte in Richtung Pflegeheim. Seit einigen Tagen half sie im Nachtdienst bei den Demenzkranken aus. Das einzige darauf spezialisierte Pflegeheim war schäbig und längst renovierungsbedürftig. Aber die Stadt hatte einfach kein Geld.
Laura liebte ihre Arbeit im Hospiz. Es trug sie jenes Motto, das einmal ein Kardinal im Zuge der aufkommenden Euthanasiedebatte formuliert hatte: »Der Mensch soll an der Hand eines Menschen sterben, nicht durch die Hand eines Menschen.« Jetzt als Krankenschwester auf der Demenzstation zu arbeiten, war für die engagierte Frau jedoch eine neue Herausforderung, vor allem, weil sie sich nicht ausreichend informiert fühlte. Sie kannte weder den Familienhintergrund der Patienten, noch hatte sie andere nützliche Informationen. Aber wenigstens waren die medizinischen Fakten vollständig aufgezeichnet … Nur zu einer Patientin hatte ihr die Vorgesetzte einige weitere Stichwörter in die Hand gedrückt: »Gertrud, 1943 geboren, wohnhaft in Salzburg, nach einem Schlaganfall dauerhaft verwirrt, Verschiebung des Tag- und Nachtrhythmus. In der Nacht aktiv und schreibt stundenlang. Beobachtung wichtig.« – Die anderen Patienten waren in der Nacht offenbar ruhig, deswegen hatte ihr die Chefin nur die nachtaktive Gertrud ans Herz gelegt.
Die letzten zwei Nächte hatte Laura die alte Dame beobachtet, die immer einige Stunden damit verbrachte, zu schreiben. Laura hatte einige Male versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber vergeblich. Auch als die Krankenschwester einmal länger neben Gertrud gestanden hatte, hatte die alte Dame sie scheinbar nicht wahrgenommen. Der Text, den Laura währenddessen über ihre Schulter hin gelesen hatte, begann mit ›Liebe Leonie‹. Berührt von der persönlichen Anrede hatte die Schwester unwillkürlich weitergelesen und war überrascht von der klaren Sprache, in der der Brief verfasst gewesen war.
Als sie heute Nacht das Zimmer der alten Dame betrat, saß Gertrud wie immer ganz versunken an ihrem Schreibtisch.
»Guten Abend.« Der Raum war dunkel, nur schwach erleuchtet von einer Tischlampe. Gertrud drehte sich nicht um, murmelte aber eine kurze Begrüßung.
»Liebe Leonie«, stand auf dem weißen Blatt Papier. Laura nahm einen Stuhl und setzte sich Gertrud gegenüber. »Schreiben Sie einen Brief?« – Gertrud reagierte nicht.
»Wer ist Leonie?«, fragte Laura und um der Frage Nachdruck zu verleihen, tippte sie kurz auf den Namen. Gertrud schrak auf, und auf einmal kam Leben in die alte Dame. »Leonie?« Mit einem herzlichen Lächeln ging sie zu ihrem Schrank, um daraus einen großen Stapel abgegriffener Blätter zu holen. »Leonie ist meine Enkelin!« Mit fühlbarer Freude legte Gertrud die Blätter vor Laura hin. »Ich schreibe ihr Briefe, um sie zu stärken. In diesem Brief schreibe ich gerade«, Gertrud deutete auf den Text, »dass es besser wäre, wenn sie Andreas heiraten würde. Ich schreibe ihr, dass ein Vater für seine Kinder so viel mehr ist, als nur ein Erzieher.« Sie zeigte auf den Stapel: »Wollen Sie einige Briefe sehen?«
Laura zögerte: »Wenn Sie mögen …?«
Eifrig suchte Gertrud ein Blatt nach dem anderen und legte es Laura vor: »In diesem Brief habe ich über die Würde des Menschen geschrieben, und in dem habe ich ihr erzählt, dass die Liebe so wertvoll ist. Hier geht es um One-Night-Stands und in diesem Brief schrieb ich über die tiefe Dimension der menschlichen Sexualität.«
Plötzlich schien Gertrud erschöpft. Ihre Bewegungen wurden fahrig und aufgeregt. Eines der Briefblätter segelte zu Boden. Laura hob das Blatt auf und las halblaut, ohne dass sie es eigentlich wollte, das Ende des Briefes vor – und erstarrte: »Liebe Leonie, bitte verzeih mir, dass du nicht leben darfst. Deine Omi, die dich immer vermissen wird!«
Gertrud hatte es gehört. Mühsam und mit heiserer Stimme sagte sie: »Das ist immer das Ende des Briefes.«
Ihre Augen waren unruhig geworden. Sie deutete auf eine seltsame, fast unheimliche, aber kleine Zeichnung, die sich ebenfalls auf jedem Briefbogen befand: »Sehen Sie die Schlange? Sie hat gewonnen!«
Kapitel 1
»Freiheit!« Das Zauberwort dieser Zeit! Welch ein wunderbares Gefühl! Endlich fertig mit all dem Pauken und Büffeln. Leonie war überglücklich. Im Salzburger Café Tomaselli freute sich Leonie über ihren Abschluss in Jura. Sie genoss den Cappuccino; ihre Arbeit im Salzburger Anwaltsbüro, wo sie schon im Sommer als Praktikantin gearbeitet hatte, schien noch in angenehm weiter Ferne. Wie eine Königin thronte Leonie auf einem schwarzen Thonetsessel an dem kleinen runden Tisch und genoss die betriebsame Stille im Salzburger Café Tomaselli. Plötzlich hörte sie ein Zischen und blickte um sich: der Kellner bediente die Kaffeemaschine. Aus ihren Träumen gerissen, fiel Leonies Blick auf die Zeitung, die jemand am Nebentisch liegengelassen hatte, und eine Schlagzeile, die augenblicklich ihr Interesse weckte: »Mann gibt Schwangerer heimlich Abtreibungspille!« Zisch! Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie nahm die Zeitung: »Er wollte nicht Vater werden, darum mischte ein Mann seiner Freundin heimlich eine Abtreibungspille in das Essen«, las sie dort.
Ärger stieg in Leonie auf. »Geht’s noch …?! Natürlich darf der junge Mann das nicht tun, natürlich ist es verboten, jemanden etwas ins Essen zu mischen!«, dachte die junge Frau und merkte, wie sich ihr Ärger in Zorn wandelte. Verblüfft legte sie die Zeitung zurück und rührte heftig in ihrem ungezuckerten Kaffee. »Ich verstehe nur zu gut, dass es verboten ist, einem anderen so etwas anzutun! Der Punkt ist die Übergriffigkeit und Heimtücke. Das geht natürlich in gar keinem Fall. Andererseits, kann man hier von Töten sprechen? – In dem frühen Schwangerschaftsstadium kann man ja noch gar nicht von einem Kind reden …«
In Leonie stieg eine Frage auf, die sie selbst überraschte: »Und ich – will ich überhaupt Kinder?« Sie wunderte sich, wie einige Zeilen aus der Zeitung sie verunsichern konnten. »Ist es nicht mein gutes Recht, nach meinem schweren Jurastudium mein Leben zu genießen und Karriere zu machen? Und zum Genießen gehört es nun mal frei zu sein! Ohne Verpflichtungen! Den einen oder anderen Mann kennenzulernen und wer weiß …« Wieder ließ sie das Zischen zusammenzucken. Etwas Kaltes strich ihr über den Rücken.
»Wäre es nicht dumm, auf das alles zu verzichten?« Zisch! Nun schreckte sie das laute Geräusch nicht mehr. »Die alten Anschauungen können mir gestohlen bleiben!« Sie hörte die Ermahnungen ihrer Mutter und das ließ Trotz in ihr hochsteigen.
Von ihrer plötzlichen Erbitterung überfordert, sprang Leonie auf, legte das Geld auf den Tisch und marschierte zum Ausgang. Beim Verlassen des Cafés stieß sie mit einem Unbekannten zusammen. Zornentbrannt richtete sie sich auf … und blickte in strahlende, blaugraue Augen. »Entschuldigung«, hauchte sie, und stürmte an dem jungen Mann vorbei ins Freie.
Als Leonie zu Hause ankam, hörten die seltsamen Gedanken nicht auf. Sie grübelte und es kam ihr vor, als drehe sie sich im Kreis. Sie kochte heiße Milch und rührte ihre sanfteste Trinkschokolade hinein, legte sich auf die Couch und Leo, ihr Kater, schmiegte sich an sie. Doch ihre sonst so gemütliche Wohnung war heute nicht der gewohnte Zufluchtsort; die zwei kleinen Zimmer in der Salzburger Gstättengasse wirkten plötzlich fremd auf sie und auf ihrem hellgrauen Sofa kam sie nicht zur Ruhe. Sie fragte sich, was diese Gedanken sollten und warum sie sie so aufwühlten.
Als sie beim Schnurren ihres Katers die Augen schloss, begann Leonie leise zu träumen. Vor sich sah sie diese strahlenden blauen Augen. Kein Gesicht, keine Kleidung, kein Körper. Nur ein sanfter Blick. Im Hintergrund schlängelte sich etwas Mächtiges in die Höhe. Erschrocken fuhr sie auf und bemerkte, dass sie geschlafen hatte. Leonie brauchte frische Luft!
Aufgewühlt schlenderte Leonie durch die nächtlichen Gassen Salzburgs. »Was macht mich als Frau aus?«, fragte sie sich. Sie erreichte den kleinen Platz, auf dem ein schmiedeeiserner Papageno in ruhiger Gelassenheit residierte. Die zierliche Schmiedeeisenfigur mit ihren verspielten Federn schenkte ihr immer wieder einen Hauch von Leichtigkeit. Auf dem Platz befand sich ein kleines Lokal, wo es die besten italienischen Antipasti und Weine gab. Mit der liebenswerten Wirtin Angelika verband sie eine Freundschaft. Die beiden Frauen konnten sich stundenlang über Gott und die Welt unterhalten. Leonie setzte sich an einen der kleinen Tische. »Na, Leonie, was machst denn du heute bei mir?«, wollte Angelika wissen, denn ein Besuch an diesem Wochentag war ungewöhnlich für die ehrgeizige junge Frau. »Bringst du mir bitte ein großes Glas Rotwein? Die letzten Stunden waren so skurril!« Leonie erzählte Angelika von ihrem Nachmittag und von dem Unbekannten.
»Weißt du, Leonie, solche Augenblicke sind sehr wertvoll, denn genau solche Blicke in die Augen eines Menschen sind oft eine Brücke zu fremden Herzen – und auch eine Berührung mit dem eigenen!« Mit leuchtenden Augen erklärte die Freundin ihre Sicht der Dinge. »Ich glaube, du hast diese geheimnisvolle Berührung gefühlt. Wie mir scheint, hat dich dieser Mann ins Herz getroffen, gerade in dem Moment, in dem Fragen auf dich einströmten, die für dich neu und ungewohnt sind.« Angelika, die von vielen scherzhaft »Hobbypsychologin« genannt wurde, war wieder einmal in ihrem Element!
»Ja, du hast sicherlich recht, ich wurde im Herzen erwischt. Vielleicht war es ja Amors Pfeil?« Lachend schlug Leonie ihre Hände über ihrem Herzen zusammen. Doch plötzlich sah sie erschrocken aus: »Aber ehrlich, eine Liebe brauche ich jetzt nicht …«
Angelika brachte Leonie noch ein Glas Wein und sie plauderten weiter. Nach zwei Stunden ging es Leonie schon wieder erheblich besser und sie verabschiedete sich gutgelaunt von ihrer Freundin. An der Tür hielt Angelika sie nochmal zurück: »Vergiss diese blauen Augen nicht! Träume von dem Blick dieses Unbekannten!«, riet sie Leonie und lächelte sie liebevoll an. »Dieses Verlangen nach einem anderen Menschen nennt man ›Wohlgefallen‹. Ich weiß, das ist ein etwas veralteter Begriff, aber klingt er nicht wunderbar!?« Völlig entzückt stand Angelika vor Leonie und breitete ihre Arme aus: »Wohlgefallen …«, wiederholte sie und ließ das Wort wie ein köstliches Schokoladenstück auf ihrer Zunge zergehen. »Wohlgefallen. Du fühlst dich mit dem anderen wohl.« Sie stockte kurz: »Das ist der erste Schritt in die Liebe!« Mit einem verschmitzten Lächeln umarmte Angelika ihre Freundin.
»Schlaf gut!«
»Gute Nacht! Schlaf auch du gut und träum was Schönes!« Ein bisschen beschwipst lachte Leonie in sich hinein. Sie grüßte Papageno mit einem Knicks und ging frohgemut durch die nächtliche Stadt zurück nach Hause.
Kapitel 2
Zu Hause legte sich Leonie ins Bett. Sie hoffte, durch ihren Schwips schnell einschlafen zu können, aber die Gedanken, die sie seit dem Nachmittag bedrängten, ließen sie nicht in den ersehnten Schlaf sinken. Leonie holte ein Glas Milch und gab ein wenig Honig hinein. Ihre Mutter behauptete immer, dass das ein unfehlbares Mittel sei, um einschlafen zu können. Doch nichts dergleichen geschah. Unruhig wälzte sie sich in ihren Kissen. Um 2:34 Uhr stand sie auf, öffnete ihren Laptop, tippte »Schlafstörungen« ein und lauschte dem Vortrag eines Schlafforschers. Dieser riet, sich die quälenden Gedanken von der Seele zu schreiben. Am nächsten Tag wäre noch genug Zeit, sie zu lösen.
Sie schnappte sich ihren Notizblock und begann zu schreiben, während ihr Kater Leo schnurrend neben ihr lag:
»Soll ich überhaupt Kinder bekommen? Ist das nicht mühsam? Keine meiner Freundinnen denkt ernsthaft darüber nach! Julia hat erzählt, dass sie nie Mama sein möchte, von Marlene mit ihrer verkorksten Geschichte ganz zu schweigen. Die fühlt sich noch immer schuldig wegen ihrer Abtreibung und hat seitdem Angst vor allem, was sich auf der Erde schlängelt! Arme Marlene! Ich sollte mit Omi sprechen, denn mit Mama kann man ja nicht über solche Themen reden – sie ist immer so kleinkariert und rückständig. Ich frage mich, ob Mama wirklich die Tochter von Omi ist. Omi hat so etwas Weltgewandtes an sich, sie hat immer von Paris geschwärmt! Da muss ich auch bald wieder hin, was für eine herrliche Stadt! Mama kann ich auf jeden Fall nicht fragen, die kommt mir dann wieder mit Lilly. Meine Schwester ist ja lieb, aber immer geht es nur um ihre Kinder … Ich kann wirklich nur Omi fragen, die hat den Weitblick, der den meisten Frauen fehlt, und Tante Susanne könnte ich in Wien besuchen! Was für ein beneidenswertes Leben sich diese Frau aufgebaut hat …«
Das Bild von Gertrud erschien vor ihr. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, denn ihre Großmutter war durch ihre freie und ungezwungene Art schon immer Leonies großes Vorbild gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter.
Wahrscheinlich lag es an den völlig konträren Weltanschauungen der beiden Frauen: Die Großmutter frei, großzügig und weltgewandt. Die Mutter hingegen empfand Leonie als streng, moralisierend und traditionell.
Wie durch Nebel getrübt, zeichneten sich die verschwommenen Linien des Mannes mit den strahlenden Augen vor ihr ab.
Leonie glitt auf ihrem Fahrrad durch die Landschaft und dachte über die Lebensgeschichten ihrer Familienmitglieder nach. Als sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie ihre Großmutter angerufen, um sich bei ihr zum Frühstück einzuladen. Nun fuhr sie durch die Kaigasse zum Kajetanerplatz und ein kurzes Stück auf der Nonntaler Hauptstraße, weiter am Gerichtsgebäude vorbei, um dann am Freisaalweg Richtung Gneis nach Grödig zu ihrer Oma zu radeln. Das Holzhäuschen der Großmutter wurde von einem herrlichen Garten mit zahllosen Blumen umgeben, in dem Gertrud oft tagelang arbeitete. Mit ihrem ›grünen Daumen‹ hegte und pflegte sie ihre Pracht. Lilien, Orchideen und eine atemberaubende Magnolie tauchten das Grundstück in ein weißlich strahlendes Rosa – ein Zaubergarten! Als sie Kinder waren, hatte Omi immer wunderbare Geschichten über Feen, Kobolde und andere Gestalten erzählt, die in dem kleinen Paradies leben sollten. Leonie hatte diese Phantasiewelt immer geliebt.
In der Küche deckte Gertrud den Tisch für das gemeinsame Frühstück. Auf dem Tisch standen vier Gläser mit selbstgemachten Marmeladen. Es gab Erdbeere mit Lavendelblüten, Johannisbeere, Himbeermarmelade und natürlich die klassische Marillenmarmelade. Auf den Gläsern klebten Etiketten, auf denen handschriftlich das Jahr und der Inhalt vermerkt waren. Der Duft im Haus war vertraut. »Kann man Gemütlichkeit riechen?«, überlegte Leonie. Im selben Moment umarmte ihre Großmutter sie mit der unverwechselbaren Herzlichkeit, die zu ihrer Omi gehörte.
»Omi, kann man Gemütlichkeit riechen?«
»Ja, vielleicht.«
»Ich glaube, ich habe die Gemütlichkeit jetzt gerade hier gerochen!«
Gertrud schmunzelte und ihre Augen blitzten: »Ich weiß nur eines, dass man sich Gerüche sehr lange merken kann.« Sie schob Leonie von sich und wandte sich dem Herd zu: »Du verbindest diesen besonderen Geruch wahrscheinlich mit deinen Kinderjahren.«
»Ein Hauch von Nostalgie!« Leonie war gutgelaunt.
Die beiden Frauen setzten sich an den Tisch und Kaffeeduft stieg ihnen in die Nase. Leonie fühlte sich rundherum wohl und sie war glücklich, mit Omi Kaffee und frische Kipferl mit Marillenmarmelade genießen zu können.
»Omi, was hältst du vom freien Sex?«, platzte es plötzlich aus Leonie heraus.
So verdutzt hatte Leonie ihre Großmutter nur selten gesehen.
»Was fragst du mich da?« Die alte Lady war perplex.
»Omi, was hältst du von freiem Sex?«, wiederholte Leonie.
»Also habe ich mich nicht verhört?« Ungläubig blickte die alte Dame ihre Enkelin an.
»Omi, du bist die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann«, erwiderte Leonie. »Ich weiß, dass du das nicht so eng siehst! Mit Mama und Papa will ich nicht darüber reden.« Leonie holte kurz Luft und fuhr fort: »Und mit meinen Freundinnen darüber zu reden, bringt nichts, denn die sind ja ebenso jung wie ich. Lilly kann ich auch nicht fragen, denn die hat sowieso keine Nerven wegen der Kinder.«
Fassungslos starrte Gertrud ihre Enkelin an.
»Laut Mama hast du ja recht wilde Jahre erlebt – ich glaube, du warst damals so alt wie ich!« Aufmunternd sah sie ihre Großmutter an und fuhr unbekümmert fort: »Du hast doch die Achtundsechziger miterlebt, und hast du nicht erzählt, du hättest diese Zeit genossen!?«
Gertrud überlegte, wie sie mit diesen Fragen umgehen sollte. »Warum willst du das alles wissen?«, fragte sie.
Da berichtete Leonie vom vergangenen Nachmittag im Kaffeehaus, dem Zeitungsartikel und den Fragen, die ihr seither im Herzen brannten.
»Wie lange hast du Zeit?«, wollte die Großmutter nun wissen.
»Lange«, lächelte Leonie: »Ich habe viel Zeit!«
»Dann werde ich dir meine Geschichte erzählen.«
Gertrud hatte zuerst Mühe die Vergangenheit hervorzuholen. Stockend und mit viel Schweigen dazwischen begann sie zu erzählen: von Maria, ihrer Mutter, von Johann, ihrem Vater, dem Bauernhof in dem einsamen Tal … Die Bilder wurden immer stärker vor ihrem inneren Auge und auf einmal war Gertrud gedanklich wieder ganz in ihrer Jugend …
Kapitel 3
»Beeile dich und höre auf, diese Schriften über irgendeine Revolution zu lesen! Das bringt ja doch nichts«, schimpfte Maria mit ihrer Tochter.
»Ich bin ja schon fertig mit dem Stall …«, nörgelte das Mädchen leise vor sich hin. Ihre Mutter sollte ihr Gemaule nicht mitbekommen, ansonsten bekam sie wieder einen ihrer endlosen Vorträge über Werte, Fleiß und Hilfeleistung zu hören. »Immer ist irgendetwas auf diesem alten, blöden Bauernhof zu tun. Mir geht das schon so auf die Nerven! Wenn ich alt genug bin, dann gehe ich weg! Ich will endlich frei sein und die Welt erkunden!«
Gertrud war das vierte und jüngste Kind und wuchs mit ihren Eltern in einem kleinen Ort im Salzburger Land auf. Dort besaßen sie einen Bauernhof, der ihnen während des Krieges über die schlimmsten Zeiten hinweggeholfen hatte. Doch das Leben war damals alles andere als einfach gewesen, denn Maria, die Mutter, hatte den Hof allein bewirtschaften müssen: Johann, Gertruds Vater und gläubiger Christ, hatte den ortsansässigen Priester, der in seinen Predigten ganz offen gegen den Nationalsozialismus gewettert hatte, verteidigt und damit den Unmut der NS-Gemeindevorsteher auf sich gezogen. Drei Tage nach seinem Verhör hatte er den Einberufungsbefehl erhalten und wurde im Russland-Feldzug an die vorderste Front eingezogen. Maria war nun allein zuständig, für die vier Kinder zu sorgen. Doch sie hatte immer wieder ihren Hoffnungsanker auf Gott geworfen und gewusst, dass ihr Leid in seiner großen Liebe geborgen war. Das erzählte sie ihren Kindern jeden Abend und gab damit sich und den Kleinen Zuversicht.
Gertrud musste, wie alle anderen Kinder auch, von klein an mitarbeiten. Sie versorgte die Hühner und arbeitete im Stall, denn sie liebte die Tiere. Wenn sie nach der Arbeit auf dem Hof und ihren Hausaufgaben nicht zu erschöpft war, widmete sie sich ihrem größten Hobby: dem Lesen.
Nach ihrer Schneiderlehre begann Gertrud sich zunehmend für fremde Länder und Städte zu begeistern. Sie nahm sich das Wort Goethes zu Herzen, wonach Reisen die beste Bildung sei. Den Anfang machte sie mit gelegentlichen Besuchen in der Stadt Salzburg. In der Auslage einer Buchhandlung sah sie einen Titel von Simone de Beauvoir: »Das andere Geschlecht«. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, kein Geld für solchen Luxus auszugeben, doch die Begeisterung für diese Schriftstellerin und ihre Ideen rief lauter. Prompt war das Buch gekauft. »Was für eine mutige Frau! Ich möchte auch so sein wie sie und endlich frei leben und meine eigenen Entscheidungen treffen! Wir sind so abhängig, von den Männern, von der Kirche und überhaupt … Wenn ich mir Mama und Papa ansehe, dann leben die ihre Rollen perfekt! Aber so möchte ich nicht leben: gefangen in diesem starren Rollenbildern! Darin kann ich meine Weiblichkeit nur passiv leben, wie Simone schreibt!«
Gertrud schlenderte nachdenklich, ihr neu erworbenes Buch in den Händen, durch die Straßen der Stadt.
Die Großmutter hob ihren Kopf und nahm einen Schluck des inzwischen kalten Kaffees. Sie stand auf, verließ die Küche und kam mit einem zerfledderten Buch zurück. Man sah, dass dieses Werk viele Male gelesen worden war. Sie legte es vor Leonie hin und tippte darauf: »Dieses Buch hat mich auf meinen Weg gebracht!« Die Augen der Großmutter strahlten nicht im gewohnten Glanz. Es lag etwas Trauriges in diesem Blick.
»Weißt du, das Leben meiner Mutter bestätigte genau das, was ich hier las. Deine Urgroßmutter war alles andere als frei oder selbstbestimmt! Für mich stand fest, dass sich die ganze Gesellschaft ändern sollte und dass die Frauen befreit werden müssten, insbesondere von der Mutterschaft, denn laut Beauvoir ist Mutterschaft eine Knechtschaft«, erklärte die Großmutter nachdenklich.
Gertrud und ihr Vater hatten viel Zeit damit verbracht, über die Themen der sexuellen Revolution zu diskutieren. Leidenschaftlich versuchte er, die Position der Kirche zu vertreten, Empfängnisverhütung würde die Würde der Frau beschädigen.
»So ein Blödsinn! Nur jene Frau ist frei, die über ihren Körper selbst bestimmen kann«, schimpfte das junge Mädchen aufgebracht. »Vater, es kann doch nicht sein, dass wir als Frauen nicht über unseren eigenen Körper bestimmen dürfen! Schau, du machst ja auch das, was du willst, oder etwa nicht?«
Johann blickte bestürzt von seiner Arbeit hoch. Wieder huschte der ihr schon bekannte Schatten über sein hageres Gesicht: »Glaubst du wirklich, dass ich nur das mache, was mir gefällt? Dass ich nur meinem Vergnügen folge, ohne je an das Notwendige zu denken?«, wollte er ungläubig von seiner Jüngsten wissen. Doch den Schmerz, der ihm dieser Vorwurf bereitete, konnte er vor Gertrud gut verbergen. Darin war er schon ein Meister geworden.
»Nein Vater, natürlich nicht. Aber ich will frei sein! Denn nur wenn ich frei bin, kann ich glücklich werden«, verteidigte Gertud ihre Ansichten. »Nicht wie Mutter, die doch nur arbeitet und nur für andere lebt!«
»Mädchen, wenn du deine Mutter so siehst: heißt das, dass du glaubst, sie sei unglücklich?«, fragte er bestürzt und nahm seine Arbeit wieder auf.
»Ich weiß es nicht, Papa. Aber kann so ein Leben glücklich sein?«
»Ja, genau so ein Leben macht glücklich!«, versicherte Johann.
Gertrud stockte und hörte mit einem Mal auf zu erzählen. Sie schaute an Leonie vorbei und war in Gedanken weit weg.
»Omi, was ist los?«
Gertrud lächelte kurz, für einen Augenblick. Dann wandte sie ihren Blick ab. Tränen standen ihr in den Augen.
»Omi, was ist los, warum weinst du?«
»Ach, weißt du, als mein Vater behauptete, es mache glücklich, für andere da zu sein, lachte ich ihn aus!« Traurig berichtete die Großmutter weiter: »Nein, Vater, ich glaube, um mein Glück finden zu können, muss es mir gut gehen, für mich selbst bin ich doch der wichtigste Mensch«, zitierte Gertrud ihr junges Ich.
Stille im Raum. Schließlich begann die Enkelin zaghaft, das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Omi, für mich ist das wirklich entscheidend. – Wie denkst du darüber: Soll ich für mich der wichtigste Mensch sein, oder ist das doch anders?«
Gertrud betrachtete ihre Enkeltochter lange, dann schmunzelte sie und sagte: »Das, mein Schatz, musst du selbst herausfinden, genauso wie ich es herausfinden musste …«
Gertrud lehnte sich in ihrem Sessel zurück und machte innerlich wieder die Tür zu ihrer Vergangenheit auf:
Als sie 21 Jahre alt war, zog sie von zu Hause weg. Sie ging nach Salzburg und nach kurzer Zeit übersiedete sie nach Wien. Doch auch diese Stadt war ihr zu klein und schließlich erreichte sie ihren Sehnsuchtsort, die »Cité de l’amour«: Paris! In kürzester Zeit erlernte sie die Sprache und die landesüblichen Gepflogenheiten. Gertrud schmeckte die Luft der Freiheit, der Unabhängigkeit – ja, sie hatte den Eindruck, den Esprit jener Revolution zu atmen, die einst von dieser Stadt aus das ganze Land und schließlich die ganze Welt erobert hatte! Gertrud war offen für alles und folgte dem Geist dieser Zeit, der vieles umbrach, nicht zuletzt in Bezug auf die weibliche Sexualität. Durch die »Pille« fühlte sich Gertrud frei und lebte ein wildes, intensives Leben mit wechselnden Männerbekanntschaften.
Um die Erzählung ihrer Großmutter nicht abbrechen zu lassen, startete Leonie von neuem: »Und Omi, wie hast du dann Mama bekommen? War Opa deine große Liebe?«
»Nein! Opa war nicht meine große Liebe, aber er war der Mann, den ich am meisten liebte.«
»Wie jetzt, war er nun deine große Liebe oder nicht?«
»Weißt du, die große Liebe muss nicht immer der Mensch sein, den man sein Leben lang liebt.«
Eine nachdenkliche Pause entstand.
»Mein Engel, können wir morgen weiterreden? Ich bin jetzt doch etwas müde und mich an das alles zu erinnern, ist sehr anstrengend.« Ausgelaugt saß die Großmutter auf ihrem Sessel. Leonie stand auf und umarmte die alte Frau.
»Darf ich morgen wiederkommen?«
»Die Tür und mein Herz stehen dir immer offen!«
Kapitel 4
Freiheit! Unbändige Freiheit durchströmte Gertrud, als sie am Gare du Nord ankam. Der Bahnhof, unweit vom Montmartre und von Sacré-Cœur, begrüßte sie mit Nichtbeachtung. Endlich! Atemlos tauchte sie ein in ein unbekanntes, nach Unabhängigkeit schmeckendes Lebensgefühl. Niemand sah sie, niemand nahm Kenntnis von ihr. Diese wohltuende Gleichgültigkeit! Menschen über Menschen quollen aus den Zügen und begaben sich schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Sie reihte sich ein in die anonyme Menschenmasse und wurde vom Strom durch die riesige Ankunftshalle ins Freie mitgerissen. Sie fühlte sich durch das allumfassende Desinteresse aufgenommen und endlich angekommen. Nicht einmal die Sprache war ihr vertraut, doch schon nach einigen Minuten war sie eins mit dem Lebewesen »Stadt«. Gedankenlos, ziellos ließ sich die junge Frau in die neue Heimat treiben.
Geschäfte, Schaufenster, Restaurants, Hotels, Menschen und Straßen wechselten sich dynamisch ab. Eine logische Abfolge, die ihr entsprach. Leichtigkeit und Ausgelassenheit begleiteten sie. In allen Gassen saßen Menschen vor Restaurants oder Bars. Viele Bilder, die sie in Reiseführern inhaliert hatte, stiegen in ihr auf. Sie durchwanderte das Pigalle, das in diesen Jahren immer mehr zum Vergnügungsviertel wurde. Hier lebten um das Jahr 1900 Größen der Malerei wie Pablo Picasso, Henri Toulouse-Lautrec und Vincent van Gogh. Gertrud sog die Luft der Künste ein. Sie spazierte am Grand Guignol vorbei, doch die schwere, hohe Holztüre würde sich nicht mehr öffnen. Das einzigartige Theater, welches vor langer Zeit eine Kapelle gewesen war, hatte seine Pforten leider für immer geschlossen. Auf seiner Bühne waren Horrorstücke und Krimis aufgeführt worden und gleichermaßen beliebte wie derbe Komödien. Gertrud hätte gerne eines der frivolen Stücke gesehen!
Sie flanierte vorbei an der neuesten Mode, vorbei an Buchhandlungen, in denen auch das Buch von Simone Beauvoir ausgestellt war, vorbei an kleinen Friseur- und Delikatessenläden, vorbei an Kirchen und herrschaftlichen Häusern, vorbei an all den wunderbaren Kompositionen dieser herrlichen Stadt! In jeder Straße erlebte sie eine fremdartige Vielfalt. Straßenbahnen schlitterten über Geleise und zahllose Autos kämpften um den besten Platz. Die eleganten Metroeingänge mit ihren geflochtenen Eisenträgern im Stil des Art Nouveau waren zum Symbol für Paris geworden. Benzin, Essen, Menschen und Tiere vermengten sich zu einem lebendigen Parfüm. Dieser Duft verkörperte für Gertrud Freiheit. Diese Stadt war die Stadt von Liberté, Egalité, Fraternité. Es war die Stadt der Revolution. Es war ihre Stadt und es war ihre Revolution!
Neben dem Studium der Kunstgeschichte arbeitete sie als Kellnerin in einem Bistro und jobbte am Abend in einer Bar. Gertrud zog die Anonymität und Gesichtslosigkeit der Großstadt dem Leben auf dem Land, wo man ständig beobachtet und beurteilt wurde, entschieden vor.
Eines Abends betrat ein Mann das Lokal und Gertrud schien es, als ob die Zeit stehen bliebe … Hochgewachsen, athletisch und mit einer Anziehungskraft, die sie noch bei keinem Menschen so intensiv wahrgenommen hatte, stand er in der Bar und füllte den gesamten Raum mit seiner Präsenz. Es war pure Anziehung! Alles zog Gertrud zu ihm hin: die Augen, der Geruch, das Lächeln …
An diesem Abend nahm er keine Notiz von ihr und so versuchte sie an den folgenden Tagen wieder, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Viele Abende lang vergeblich. So beschloss sie, als Gast in die Bar zu kommen. Sie hatte mit den Stammgästen und Kollegen großen Spaß und trank ordentlich. Um zwei Uhr nachts stand plötzlich der Ersehnte vor ihr und bat sie um einen Tanz.
»Aber das ist doch eine Bar!«, meinte Gertrud mit ihrem deutschen Akzent.
»Ich kann überall tanzen«, sagte Pierre lächelnd und schob Sessel und Tische beiseite. Gertrud war im ersten Moment von der engen Tanzhaltung überfordert, doch sie wusste, der Tango provozierte diese buchstäblich. Dem Vierachteltakt verfallen, ließ sie sich von Pierre festhalten. Die Tanzschritte elektrisierten sie. Mit seinem kraftvollen Körper führte er sie entschieden über die kleine Tanzfläche. Erotik pur! Sie war verrückt nach diesem Mann. Sie war verliebt! Später an diesem Abend nahm Gertrud Pierre mit zu sich nach Hause …
Kapitel 5
Augen, große blaugraue Augen. Verzweiflung schien von ihnen auszugehen und von weither hörte sie ein unheilvolles Geräusch, das immer lauter, immer bedrohlicher wurde …
Leonie schreckte hoch. Leo, ihr Kater, stand über ihren Kopf gebeugt.
Gestern hatte Leonie ihre Großmutter mit gemischten Gefühlen verlassen, sie wusste aber nicht, was sie beunruhigte. Aufgrund ihrer inneren Unruhe entschied sie sich, trotz der frühen Stunde Sport zu machen. Das war für sie immer die beste und schnellste Ablenkung. Sie zog ihr Sportoutfit an und schwang sich auf ihr Rennrad.
Links der Untersberg, rechts die Stadt. Sie erinnerte sich an die geheimnisvollen Augen des jungen Mannes. Sie träumte vor sich hin und übersah dabei eine Gruppe von Joggern, die ihr entgegenkam. Im letzten Moment konnte sie ihr Fahrrad noch auf die andere Seite reißen. Einen der Läufer verfehlte sie nur knapp. Blaugraue Augen. Ein Schreck durchfuhr Leonie. Sie stieg ab und ihre Knie zitterten. Sie sah den Männern nach. Da drehte sich derjenige, den sie fast umgefahren hatte, um und blickte etwas besorgt in ihre Richtung. Mit einem Wink gab sie ihm zu verstehen, dass alles ok wäre und bekam dafür ein umwerfendes Lächeln geschenkt. Der junge Mann hob die Hand, winkte ebenfalls und lief wieder weiter. Ein wunderschönes Lachen und strahlende Augen! Jene Augen, die sie seit dem ominösen Zusammenprall vor dem Kaffeehaus verfolgten.
Während Leonie den Männern nachsah, stieg die Sorge um ihre Großmutter in ihr hoch und sie griff zum Handy.
»Guten Morgen. Wie geht es dir heute?«, wollte Leonie von der alten Dame wissen.
»Guten Morgen, mein Schatz«, antwortete eine müde Stimme. »Es geht mir nicht schlecht, aber ich konnte nicht schlafen. Immer wieder kamen Bilder von damals hoch.«
»Soll ich dir etwas mitbringen, wenn ich dich heute besuche?«, fragte Leonie.
»Nein danke, meine Süße.« Besorgniserregend matt klang das. »Aber ich bin heute sehr müde und möchte lieber allein bleiben. Ist das schlimm für dich?«
»Aber Omi, nichts, was du machst, ist schlimm für mich! Wir können unser Treffen gerne verschieben. Ruh dich aus. Ich melde mich morgen wieder bei dir.« Leonie war etwas enttäuscht, denn sie war neugierig auf die Fortsetzung der Geschichte.
»Danke, aber dieses Erinnern ermüdet mich sehr und es tut auch ein bisschen weh. Ich merkte wieder einmal, wie viel ich versäumt habe.« Gertruds Traurigkeit war für Leonie greifbar. »Und ich weiß, ich kann es nicht nachholen …«
»Du und etwas versäumt?! Ich dachte, du hast so viel erlebt, bist so viel gereist?«, fragte Leonie ungläubig.
»Ich habe die gemeinsame Zeit mit deiner Mutter versäumt …«, stammelte Gertrud und legte auf »… und noch vieles mehr«, klang es noch leise aus dem toten Hörer.
Verdutzt stieg Leonie auf ihr Fahrrad und fuhr den Weg zurück. »Soll ich Omi noch einmal anrufen? Nein, sie will sicher nicht bedrängt werden. Aber was ist da los? So kenn ich meine Großmutter gar nicht. Die ist doch immer so stark. Und was hätte sie versäumen können? Paris – wie schwärmte sie immer von dieser großen Freiheit! Ich weiß nicht, warum Mama immer aufsteht, wenn Omi davon spricht … Mit Mama kann ich auch nicht über meine Gedanken reden. Sie wird es nicht verstehen, dass mir die Freiheit so wichtig ist und dass das auch heißen kann, dass ich vielleicht keine Kinder bekommen will … Vielleicht sollte ich mit Julia reden?!«
Nachdem sie geduscht hatte, machte sich Leonie zu Fuß auf den Weg zu dem Geschäft, in dem Julia das Geld für ihr Gesangsstudium verdiente. Sie wusste, dass sie jetzt Dienst hatte und dass so früh am Morgen noch nicht allzu viel los war und sie ein paar Worte mit ihrer Freundin wechseln konnte.
»Was für eine schöne Stadt. Keine Touristen! Ich muss öfter um 9 Uhr morgens durch die Stadt gehen. Wie wunderbar!« Leonie spazierte durch die Getreidegasse, über den Alten Markt und ging beim Kaffeehaus vorbei, in dem sie vor zwei Tagen diesen aufwühlenden Artikel gelesen hatte. Plötzlich stand sie vor dem Dom. Sie liebte diesen Platz und zu einer so frühen Stunde erstrahlte der gesamte Ort in noch größerem Glanz. Leer, einsam und ruhig lag das imposante Gotteshaus vor ihr. Da fiel ihr Blick auf den Eingang und sie entdeckte den jungen Mann mit den blauen Augen. Umringt von jungen Mädchen. Alle blickten fasziniert zu ihm hoch, er erklärte ihnen etwas und verschwand anschließend mit ihnen im Dom.
»Vielleicht ist er Fremdenführer?«, dachte Leonie und huschte ihnen durch das schwere Holzportal nach.
Sie erkannte den Dom nicht wieder: Völlig leer stellte sich der Innenraum der Kirche dar. Alle Sesselreihen waren weggeräumt und nur einige Bänke standen in dem nun fremd wirkenden Raum. Nur wenige Menschen befanden sich im Gotteshaus. Die Säulen wurden mit rosa und hellblauen Farben beleuchtet, Teppiche lagen auf dem Boden und einige Bildschirme waren rechts und links an den Seiten aufgebaut. Vorne, rechts vom Altar, war eine Art Bühne aufgebaut. Auf dieser, mit dem Rücken zu Leonie, stand der Mann und um ihn herum die jungen Mädchen. Sie stimmten ein Lied an und er hob wie ein Dirigent die Arme. Es sah aus, als ob er alle Chormitglieder umarmen würde.
Sie setzte sich abseits von ihnen auf einen der wenigen verbliebenen Sessel.
»Alles, was atmet, lobet den Herrn, Halleluja, Halleluja«, tönte es durch das Gotteshaus. Leonie schloss die Augen. Sie saß im Dunkeln und genoss die Musik und die besondere Stimmung in der leeren Kathedrale. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder von Wäldern und Wiesen. Von ausgestreckten Armen, in die sie sich fallenlassen konnte. Sie hörte von weither die Worte: »Komm heim, lass alle Lasten los. Komm heim in Seine Arme …«
Leonie fühlte sich gehalten und geborgen.
»Hat es Ihnen gefallen?«, fragte sie plötzlich eine männliche Stimme. Erschrocken blickte Leonie auf und sah in die ersehnten Augen.
»Ja, ja schon«, stotterte sie und wurde rot: »Ich muss jetzt leider gehen.«
»Schade. – Dann freue ich mich auf das nächste unverhoffte Wiedersehen!«
Dieser Satz des jungen Mannes klang in Leonie nach. Julia wusste: »Am Wochenende ist ein Fest im Dom und es kommen viele junge Menschen, deshalb das besondere Setting und die Proben«
»Hättest du Lust auf ein kleines spätes Frühstück?« Leonie lud Julia ein.
»Ja. Ich habe in zehn Minuten sowieso Pause«, freute sich Julia.
Die beiden genossen die Stadt, kehrten bei Angelika ein und blödelten mit ihr bei Bruschetta mit Tomaten, Basilikum, Mozzarella und Parmaschinken, spazierten durch die Gassen und kauften sich Joghurteis in dem kleinen Laden gegenüber der Kollegienkirche. Gemütlich setzten sie sich damit auf die Stufen der Kirche und beobachten das bunte Treiben. Sie philosophierten über Gott und die Welt, über das Glück und seine Bedeutung.
Nach zwei Stunden musste Julia aufbrechen und Leonie blieb lächelnd auf den Stufen in der Sonne sitzen. »Ach, ist das schön, dass ich den Mann im Dom getroffen habe! Ist das Glück? Ist Lilly glücklich? Ist Mama glücklich und wie geht es Omi? Ist sie glücklich? Ist es Glück, lieben zu können?« Leonie schloss die Augen und erinnerte sich mit Wohlgefühl an den Moment, als sie heute in der Kirche saß und den Liedern lauschte: »Komm heim und sieh, komm in Seine Arme …!«
Kapitel 6
Das Handy läutete. Leonie schrak auf. Sie war gestern mit ihrer Mutter bei den Salzburger Festspielen gewesen. Es war spät geworden. Sie waren voller Eindrücke von der Mozartoper gewesen und hatten Angelika in ihrem Lokal aufgesucht. Als beide schon etwas mehr getrunken hatten, erzählte Leonie ihrer Mutter von den Gedanken, die sie plagten. Daraufhin begann Inga, ihrer Tochter von ihrer Kindheit zu erzählen.
Leonie kannte die Geschichte, aber in so einer Eindringlichkeit hatte sie sie noch nie wahrgenommen. Sie sah ihre Mama jetzt mit etwas anderen Augen und stellte sich vor, wie schlimm es für ein Kind sein musste, ohne seine Mutter aufzuwachsen. Gewiss machte es einen Unterschied, ob eine Mutter nicht für ihr Kind da sein konnte oder – wie bei ihrer Großmama – nicht da sein wollte! Allein sich das verlassene Baby vorzustellen, ließ Leonies Augen feucht werden.
Das Handy meldete sich wieder, dröhnend, doch Leonie wollte nicht abheben. Sie wollte nur ihren Kater ausschlafen. Sie machte sich Vorwürfe, mit ihren Fragen alte Wunden aufgerissen zu haben. Nun stand sie aber doch auf, weil das Handy einfach keine Ruhe gab. Anfangs hatte sie die afrikanischen Trommeln als Klingelton noch spannend gefunden, doch jetzt gingen sie ihr allmählich auf die Nerven.
»Hallo?«, fragten sie verschlafen in den Hörer. Als Antwort hörte Leonie lediglich ein Gewimmer.
»Lilly, was ist passiert?« – Weiterhin nur Weinen.