Letzte Nacht in Twisted River - John Irving - E-Book

Letzte Nacht in Twisted River E-Book

John Irving

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Beschreibung

1954 in einem Flößer- und Holzfällercamp in den Wäldern von New Hampshire: Der 12-jährige Danny verwechselt im Dunkeln die Geliebte des Dorfpolizisten mit einem Bären, mit tödlichen Folgen. Der Junge muss mit seinem Vater Dominic, dem Koch des Camps, fliehen – zuerst nach Boston und von dort weiter nach Vermont und Iowa und schließlich nach Kanada, verfolgt von einem Rächer, der auch nach Jahrzehnten nicht vergisst.

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Seitenzahl: 921

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John Irving

Letzte Nacht in Twisted River

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel der 2009 bei

Random House, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Last Night in Twisted River‹

Copyright © 2009 by Garp Enterprises, Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 im Diogenes Verlag

Abdruck des Auszugs aus ›Tangled Up In Blue‹ von Bob Dylan

mit freundlicher Genehmigung von Ram’s Horn Music

Copyright © 1974 by Ram’s Horn Music

All rights reserved

International copyright secured

Abdruck des Auszugs aus ›After the Goldrush‹ von Neil Young

mit freundlicher Genehmigung der Hal Leonard Corporation

Text und Musik von Neil Young

Copyright © 1970 by Broken Arrow Music Corporation

Copyright renewed

All rights reserved

Covermotiv: Illustration von Edward Gorey (Ausschnitt)

Mit freundlicher Genehmigung des

Edward Gorey Charitable Trust, New York

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24099 3

ISBN E-Book 978 3 257 60023 0

[5] Für Everett – mein Pionier, mein Held

[7] I had a job in the great north woods Working as a cook for a spell But I never did like it all that much And one day the axe just fell.

Bob Dylan, Tangled Up In Blue

[11] I

COOS COUNTY, NEW HAMPSHIRE, 1954

[13] 1

Unter den Baumstämmen

Der junge Kanadier – er war höchstens fünfzehn – hatte zu lange gewartet. Einen endlosen Augenblick lang standen seine Füße still auf den Stämmen, die im Becken oberhalb der Flussbiegung trieben; dann war er ausgerutscht und im Wasser verschwunden, ehe jemand seine ausgestreckte Hand packen konnte. Einer der Flößer hatte noch versucht, nach den langen Haaren des Jungen zu greifen; immer wieder patschte die Hand des Mannes in das eiskalte Wasser, das von all den abgeriebenen Rindenstücken zähflüssig, fast suppig war. Dann krachten zwei Stämme zusammen und brachen dem verhinderten Lebensretter das Handgelenk. Die Lücke zwischen den wie ein Teppich flussabwärts treibenden Stämmen schloss sich über dem jungen Kanadier; nicht einmal eine Hand oder ein Stiefel tauchten noch kurz aus dem braunen Wasser auf.

Sobald die Flößer den Stamm losgestochert hatten, der einen Holzstau verursacht hatte, mussten sie sich sputen und ständig in Bewegung bleiben. Wenn sie auch nur eine Sekunde innehielten, würden sie in die Strömung stürzen und von den flussabwärts treibenden Stämmen zu Tode gequetscht werden, noch ehe sie ertrinken konnten – doch Ertrinken kam häufiger vor.

Dem Koch und seinem zwölfjährigen Sohn, die vom Flussufer aus das Fluchen des Flößers hörten, der sich das Handgelenk gebrochen hatte, war sofort klar, dass jemand in noch größeren Schwierigkeiten steckte als der verhinderte Lebensretter, der seinen verletzten Arm befreit hatte und wieder sicher auf den treibenden Stämmen stand. Die anderen Flößer beachteten ihn nicht, [14] sondern eilten mit Trippelschritten über die Stämme in Richtung Ufer und riefen den Namen des verschwundenen Jungen. Dabei schoben sie ständig mit ihren Flößerhaken die Stämme vor ihnen in die gewünschte Richtung. Jetzt ging es ihnen zwar in erster Linie darum, sicher ans Ufer zu gelangen, doch dem Sohn des Kochs, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, kam es so vor, als versuchten sie, eine möglichst breite Lücke im Wasser zu schaffen, wo der junge Kanadier wieder auftauchen könnte. Tatsächlich aber gab es kaum mehr Lücken zwischen den Stämmen. Ehe man sich’s versah, war der Junge, der sich ihnen als »Angel Pope aus Toronto« vorgestellt hatte, nicht mehr da.

»Ist es Angel?«, fragte der Zwölfjährige seinen Vater. Mit seinen dunkelbraunen Augen und dem auffallend ernsten Gesichtsausdruck hätte man den Jungen glatt für Angels jüngeren Bruder halten können. Doch seine Ähnlichkeit mit dem immer wachsamen Vater ließ keinen Zweifel, zu wem er gehörte. Der Koch wirkte stets besorgt, als rechnete er ständig mit den unwahrscheinlichsten Katastrophen, und diese unterschwellige Besorgnis spiegelte sich auch in der Ernsthaftigkeit seines Sohnes wider. Ja der Junge sah seinem Vater so ähnlich, dass sich mehrere Holzarbeiter schon laut gewundert hatten, warum der Junge beim Gehen nicht genauso auffällig hinkte wie sein Dad.

Der Koch wusste nur zu gut, dass tatsächlich der junge Kanadier unter die Baumstämme geraten war. Er selbst hatte die Holzfäller ja noch gewarnt, Angel sei für die Arbeit als Flößer zu unerfahren; der Bursche hätte nicht versuchen dürfen, einen Holzstau aufzulösen. Doch wahrscheinlich wollte er sich unbedingt nützlich machen, und vielleicht hatten die Flößer ihn zunächst gar nicht bemerkt.

Außerdem hatte der Koch gedacht, Angel Pope sei noch zu unerfahren und ungeschickt, um in einer Sägemühle in der Nähe des großen Sägeblatts zu arbeiten. Das war ausschließlich den Sägewerkern vorbehalten, hochqualifizierten und erfahrenen Leuten. [15] Auch die Hobelmaschine wurde von einem Fachmann bedient, allerdings war diese Tätigkeit nicht besonders gefährlich.

Zu den gefährlicheren, aber weniger anspruchsvollen Jobs gehörten die Arbeit auf dem Rundholzplatz, wo die Stämme in das Sägewerk und auf den Sägeschlitten gerollt wurden, sowie das Abladen der Stämme von den Holztransportern. Vor der Einführung mechanischer Kräne wurden zu diesem Zweck einfach Sperren an den Seiten der Holzlaster entriegelt, so dass die gesamte Ladung auf einmal herunterrutschte. Doch gelegentlich ließen sich die Sperren nicht auf Anhieb lösen, und die Männer mussten sich unter den Laster ducken, um nicht von einer Baumstammlawine zerquetscht zu werden.

Der Koch war der Ansicht, Angel hätte nicht einmal in die Nähe sich bewegender Stämme kommen dürfen. Doch die Holzarbeiter mochten den jungen Kanadier genauso gern wie der Koch und sein Sohn, und Angel hatte erklärt, Küchenarbeit finde er langweilig. Der Junge hatte körperlich anstrengendere Arbeit gewollt, und er war gern im Freien.

Das ständige Pochen der Flößerstangen gegen die Stämme wurde kurz von den Rufen der Flößer unterbrochen, die gerade Angels Stange entdeckt hatten – etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo der Junge verschwunden war. Die knapp fünf Meter lange Stange trieb abseits der Stämme im Wasser, weiter draußen, wo die Flussströmung sie hingetragen hatte.

Der Koch sah den Flößer mit dem gebrochenen Handgelenk ans Ufer kommen, die Flößerstange in der unversehrten Hand. Zuerst an den vertrauten Flüchen, dann auch an den verfilzten Haaren und dem wirren Bart erkannte der Koch, dass der Verletzte Ketchum war – ein erfahrener Mann, der sich mit den Tücken einer Trift, dem Flößen nicht miteinander verbundener Baumstämme, auskannte.

Es war April – nicht lange nach der Schneeschmelze und dem Beginn der Matschperiode –, doch das Eis im Fluss war erst [16] kürzlich aufgebrochen, und die ersten Stämme waren weiter oben, in den Dummer-Teichen, durch das Eis gekracht. Der Fluss war eiskalt und führte Hochwasser, und viele der Holzfäller hatten dichte Bärte und lange Haare, die ihnen Mitte Mai ein wenig Schutz vor den Kriebelmücken bieten würden.

Ketchum lag wie ein angeschwemmter Bär am Flussufer auf dem Rücken. Der Teppich aus Baumstämmen trieb an ihm vorbei; er sah aus wie ein Rettungsfloß und die Flößer darauf wie Schiffbrüchige auf hoher See, nur dass das Meer von einem Augenblick zum anderen die Farbe wechselte – von Grünlich-Braun zu Bläulich-Schwarz. Gerbstoffe färbten das Wasser des Twisted River.

»Scheiße, Angel!«, schrie Ketchum. »Ich hab doch gesagt: ›Beweg deine Füße. Du musst die Füße bewegen!‹ So ’ne Scheiße!«

Für Angel war die riesige Fläche aus Baumstämmen kein Rettungsfloß gewesen. Zweifellos war er im Becken oberhalb der Flussbiegung ertrunken oder zu Tode gequetscht worden. Dennoch folgten die Holzfäller (auch Ketchum) dem Holz wenigstens noch bis zu der Stelle, wo sich der Twisted River am Dead-Woman-Damm in den Pontook-Stausee ergoss. Diesen Stausee hatte der Pontook-Damm am Androscoggin River geschaffen. Ließ man die Stämme weiter in den Androscoggin treiben, kamen sie als Nächstes zu den Sortierstellen bei Milan. Danach hatte der Androscoggin auf drei Meilen ein Gefälle von siebzig Metern; bei den Sortierstellen in Berlin dann teilten zwei Sägewerke den Fluss. Durchaus denkbar, dass der junge Angel Pope aus Toronto dorthin unterwegs war.

Bei Einbruch der Dunkelheit waren der Koch und sein Sohn immer noch in der Dining Lodge, dem Kochhaus der kleinen Siedlung namens Twisted River, die kaum größer und nur wenig dauerhafter war als ein Holzfällercamp. Gemeinsam räumten sie die zahlreichen unberührten Mahlzeiten ab, vielleicht konnte man ja [17] am nächsten Tag noch etwas davon gebrauchen. Vor nicht allzu langer Zeit war eine Dining Lodge bei einer Holztrift gar kein festes Haus gewesen. Damals gab es nur eine mobile Küche, die man fest auf das Chassis eines Trucks montiert hatte, und daneben einen Laster mit Einzelteilen, die man ablud und zu einer Kantine zusammensetzte. Damals folgten die Lastwagen noch den Holzarbeitern an ihre verschiedenen Einsatzorte entlang des Twisted River.

Zu jener Zeit kamen die Flößer – außer an den Wochenenden – kaum zum Essen und Schlafen in den Ort Twisted River zurück. Der Lagerkoch kochte dann häufig in einem Zelt. Alles musste transportierbar sein, sogar die Schlafbaracken hatte man auf Lkw-Fahrgestelle montiert.

Noch wusste keiner, was aus der nicht gerade florierenden, auf halber Strecke zwischen dem Flussbecken und den Dummer-Teichen gelegenen Ortschaft Twisted River werden würde. Hier wohnten die Angestellten des Sägewerks mit ihren Familien. Den weniger sesshaften Holzarbeitern, zu denen nicht nur die frankokanadischen Wanderarbeiter, sondern auch die meisten Flößer und die anderen Holzfäller gehörten, stellte das Holzunternehmen Schlafbaracken zur Verfügung. Der Koch und sein Sohn bekamen sogar eine besser ausgestattete Küche in einer richtigen Dining Lodge – dem Kochhaus. Aber für wie lange? Das wusste nicht einmal der Besitzer des Holzunternehmens.

Die Holzwirtschaft war in einer Übergangsphase; eines Tages würde jeder in der Holzbranche von zu Hause aus zur Arbeit gehen können. Die Holzfällercamps (und selbst die etwas weniger provisorischen Siedlungen wie Twisted River) starben aus. Ja sogar die Wanigans verschwanden, jene seltsamen Schuppen, in denen man schlief, aß und Ausrüstung lagerte und die man nicht nur auf Pick-ups, Räder oder Raupenfahrwerke montierte, sondern häufig auf kleine Floße oder Boote.

Die indianische Tellerwäscherin, die für den Koch arbeitete, [18] hatte seinem Sohn vor längerer Zeit erzählt, wanigan leite sich von einem Wort aus der Abenaki-Sprache ab, weswegen der Junge sich fragte, ob die Tellerwäscherin ebenfalls zum Stamm der Abenaki gehörte. Vielleicht war sie ja nur zufällig auf die Herkunft des Wortes gestoßen oder hatte sie einfach erfunden. (Ein indianischer Schulkamerad hatte dem Sohn des Kochs nämlich erzählt, wanigan sei ein Algonkin-Wort.)

Während einer Holztrift wurde vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit gearbeitet. Bei der Flößerei wurden die Männer viermal täglich verpflegt. Wenn früher die Wanigans nicht bis zum Flussufer durchkamen, brachte man den Flößern die beiden Mittagsmahlzeiten zu Fuß oder zu Pferd. Die erste und die letzte Mahlzeit des Tages wurden jeweils im Basislager eingenommen – oder inzwischen eben in der Dining Lodge.

An diesem Tag hatten viele der Holzarbeiter wegen Angel das Abendessen im Kochhaus ausfallen lassen. Sie hatten den ganzen Abend die treibenden Stämme begleitet, bis die Dunkelheit sie zur Umkehr gezwungen hatte. Den Männern war dabei klargeworden, dass keiner von ihnen wirklich wusste, ob der Dead-Woman-Damm offen war oder nicht. Vielleicht waren die Stämme – vermutlich mit Angel – von dem Flussbecken unterhalb der Ortschaft Twisted River schon in den Pontook-Stausee getrieben – es sei denn, der Dead-Woman-Damm war zu. Und wenn der Pontook-Damm und der Dead Woman offen waren, trieb die Leiche des jungen Kanadiers womöglich schon mit Karacho den Androscoggin hinunter. Keiner wusste besser als Ketchum, dass man Angel dort wahrscheinlich nicht mehr finden würde.

Der Koch merkte, dass die Flößer ihre Suche beendet hatten – durch die Fliegengittertür der Küche hörte er, wie sie die Flößerhaken an das Kochhaus lehnten. Einige müde Männer aus dem Suchtrupp fanden sich im Dunkeln noch in der Dining Lodge ein, und der Koch brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Das Personal war nach Hause gegangen – alle bis auf [19] die indianische Tellerwäscherin, die meistens noch bis tief in die Nacht blieb. Der Koch mit dem schwierigen Namen Dominic Baciagalupo – oder »Cookie«, wie ihn die Holzfäller gewöhnlich nannten – machte den Männern ein spätes Abendessen, und sein zwölfjähriger Sohn brachte es ihnen an den Tisch.

»Wo ist Ketchum?«, fragte der Junge seinen Dad.

»Wahrscheinlich kriegt er einen Gips«, antwortete der Koch.

»Bestimmt hat er Hunger«, sagte der Zwölfjährige, »aber Ketchum ist irre zäh.«

»Für einen, der so viel trinkt, ist er erstaunlich zäh«, pflichtete ihm Dominic bei, dachte aber bei sich: Vielleicht war Ketchum in diesem Fall nicht zäh genug, denn Angels Verschwinden traf ihn wohl von allen am schwersten. Der erfahrene Holzarbeiter hatte den jungen Kanadier mehr oder weniger unter seine Fittiche genommen; er hatte auf den Jungen aufgepasst oder hatte es jedenfalls versucht.

Ketchums Haar und Bart waren tiefschwarz – so schwarz wie Holzkohle, schwärzer als das Fell eines Schwarzbären. Er hatte früh geheiratet, und zwar mehr als einmal. Zu seinen Kindern, die inzwischen groß und ihre eigenen Wege gegangen waren, hatte er keinen Kontakt mehr. Nun wohnte er jahrein, jahraus in einer der Schlafbaracken oder in irgendeiner der heruntergekommenen Herbergen, wenn er nicht in einem selbstgebauten Wanigan schlief – auf der Ladefläche seines Pick-up-Trucks, wo er in manchen Winternächten, wenn er sturzbesoffen weggedämmert war, beinahe erfroren wäre. Doch Ketchum hatte nicht nur Angel vom Alkohol, sondern auch etliche Frauen im sogenannten Tanzsaal von dem jungen Kanadier ferngehalten.

»Du bist zu jung«, hatte der Koch Ketchum zu Angel sagen hören. »Außerdem kannst du dir bei den Damen was einfangen.«

Ketchum wird es wohl wissen, hatte der Koch gedacht. Dominic wusste, Ketchum war schon Schlimmeres passiert, als sich bei einer Trift das Handgelenk zu brechen.

[20] Das ständige Zischen und gelegentliche Flackern der Zündflammen am Gasherd in der Kochhausküche – ein alter Garland mit zwei Backöfen, acht Flammen und darüber einem rußgeschwärzten Bratrost – passte zu der Trübsal unter den Holzfällern am Tisch. Sie hatten den verschwundenen Jungen ins Herz geschlossen und ihn aufgenommen, wie man ein entlaufenes Haustier aufnehmen würde. Auch der Koch hatte ihn ins Herz geschlossen. Vielleicht sah er in dem ungewöhnlich fröhlichen Teenager eine ältere Version seines zwölfjährigen Sohnes – denn mit seinem offenen und neugierigen Blick war Angel so ganz anders als seine verschlossenen und mürrischen Altersgenossen im rauhen und kargen Twisted River.

Das alles war umso bemerkenswerter, als Angel ihnen erzählt hatte, er sei erst kürzlich von zu Hause weggelaufen.

»Du bist doch Italiener, oder?«, hatte Dominic Baciagalupo ihn gefragt.

»Ich bin nicht aus Italien, ich spreche kein Italienisch – wenn man aus Toronto kommt, ist man nicht sehr italienisch«, hatte Angel geantwortet.

Der Koch hatte geschwiegen. Dominic kannte sich ein wenig mit den Italoamerikanern in Boston aus, von denen einige Probleme damit hatten, wie sehr oder wie wenig italienisch sie waren. Angel wäre in der alten Heimat vermutlich ein Angelo gewesen, dachte der Koch. (Als Dominic klein war, hatte seine Mutter ihn mit sizilianischem Zungenschlag Angelù genannt.)

Doch nach dem Unfall fand sich sein Name, Angel Pope, nirgendwo auf seinen Sachen, auf keinem Brief, in keinem Buch. Falls er überhaupt einen Ausweis gehabt hatte, war der mit Angel im Fluss verschwunden – vermutlich in der Tasche seiner Latzhose –, und wenn Angels Leiche verschollen blieb, konnte seine Familie oder vor wem auch immer der Junge weggelaufen war, nicht benachrichtigt werden.

Ob legal oder nicht, ob mit oder ohne ordnungsgemäßen [21] Papieren, Angel Pope war über die kanadische Grenze nach New Hampshire gekommen, wenn auch nicht, wie die meisten, aus der Provinz Québec. Er hatte Wert darauf gelegt, aus Ontario und kein Frankokanadier zu sein. Der Koch hatte ihn nie auch nur ein Wort Französisch (oder Italienisch) sprechen hören, und die Frankokanadier im Camp hatten mit dem jungen Ausreißer nichts zu tun haben wollen – offenbar mochten sie keine englischsprachigen Kanadier. Angel wiederum hielt zu den Frankokanadiern Distanz; offenbar mochte er die Québécois genauso wenig wie sie ihn.

Dominic war immer diskret gewesen; jetzt wünschte er, er wüsste mehr über Angel Pope und dessen Herkunft. Angel war Daniel (oder Danny, wie die Holzfäller und Sägewerksarbeiter den Sohn des Kochs nannten) ein gutmütiger und verlässlicher Kumpel gewesen.

In Twisted River kannte fast jeder Mann im arbeitsfähigen Alter den Koch und seinen Sohn – einige Frauen ebenfalls. Dominic hatte eine ganze Menge Frauen kennenlernen müssen – vor allem, damit sie auf seinen Sohn aufpassten –, denn der Koch hatte vor zehn langen Jahren seine Frau, Dannys Mutter, verloren.

Dominic Baciagalupo spürte, dass Angel Pope Küchenarbeit gewohnt war; der Junge hatte sie ungelenk, aber ohne Murren und mit sparsamen Handgriffen (wie sie nur durch lange Übung entstehen) erledigt, obwohl ihn die Arbeit in der Küche angeblich langweilte und er sich beim Schneiden öfter verletzte.

Außerdem las der junge Kanadier gern; er lieh sich viele Bücher, die Dominics verstorbener Frau gehört hatten, und oft las er Daniel daraus vor. Angel las dem kleinen Dan zum Beispiel Robert Louis Stevenson vor – nach Ketchums Meinung »im Übermaß« –, und zwar nicht nur Entführt und Die Schatzinsel, sondern auch Stevensons unvollendeten Roman Flucht ins Abenteuer, der, laut Ketchum, am besten mit dem Autor gestorben [22] wäre. Als der Unfall auf dem Fluss geschah, waren Angel und Danny gerade mitten in der Lektüre von Der Ausschlachter gewesen. (Zu diesem Roman hatte sich Ketchum noch nicht geäußert.)

Doch egal, woher Angel Pope kam, er hatte zweifellos eine gewisse Schulbildung genossen – und zwar mehr als die meisten frankokanadischen Holzarbeiter, die der Koch kennengelernt hatte. (Mehr auch als die meisten Sägewerker und einheimischen Holzarbeiter.)

»Warum musste Angel sterben?«, fragte Danny, während er seinem Vater half, die Esstische abzuwischen. Die Holzarbeiter waren inzwischen gegangen, ins Bett oder auf einen Schlummertrunk. Und auch die indianische Tellerwäscherin war nach getaner Arbeit mit ihrem Pick-up zurück in den Ort gefahren – normalerweise lag Danny meist schon im Bett, wenn sie ging.

»Angel musste nicht sterben, Daniel – es war ein vermeidbarer Unfall.« Im Wortschatz des Kochs kamen »vermeidbare Unfälle« sehr oft vor, und sein Sohn kannte die fatalistischen Ansichten seines Vaters über die Fehlbarkeit des Menschen im Allgemeinen und jugendlichen Leichtsinn im Besonderen zur Genüge. »Er war zu unerfahren, um bei einer Trift mitzumachen«, stellte der Koch fest, als wäre damit alles gesagt.

Danny Baciagalupo wusste, wofür alles Angel oder jeder andere Teenager nach Dominics Ansicht zu unerfahren war. Der Koch hätte Angel auch ungern in der Nähe eines Fällhebers gesehen. (Der wichtigste Teil des Fällhebers war der mit einem Scharnier befestigte Wendehaken, mit dem man selbst schwere Baumstämme von Hand bewegen konnte.)

Laut Ketchum waren die »alten Zeiten« gefährlicher gewesen: Zum Beispiel sei es riskant gewesen, im Winter das Holz mit Pferdeschlitten aus den Wäldern zu ziehen. Vor nicht allzu langer Zeit stiefelten die Holzfäller in die Berge hinauf, fällten die Bäume und zogen sie mit Pferden aus den Wäldern, einen Stamm [23] nach dem anderen. Auf reifenlosen, schlittenartigen Wagen zogen sie dann das Rundholz über den gefrorenen Schnee, den nicht einmal Pferdehufe durchbrachen, weil die Spurrillen der Schlitten auf den Holzwegen nachts immer vereisten. Bis die Schneeschmelze und die Schlammperiode kamen und die gesamte Arbeit in den Wäldern zum Erliegen brachten.

Doch selbst das änderte sich. Dank der neuen Forstmaschinen, die im Schlamm eingesetzt und mit denen die Stämme über weite Strecken bis zu besseren, winterfesten Straßen transportiert werden konnten, war die Schlammperiode immer weniger ein Problem – und die Pferde mussten Raupenschleppern weichen.

Mit den Bulldozern konnten neuerdings Zufahrten bis zum Fällplatz angelegt und das Holz per Lastwagen direkt zu einer zentraler gelegenen Abladestelle an einem Fluss, Teich oder See abtransportiert werden. Nicht mehr lange, und der Transport auf Straßen würde die Flößerei überflüssig machen. Vorbei die Zeiten, als man Seilwinden dazu benutzte, Pferde vorsichtig die steileren Hänge hinunterzulassen. »Die Arbeiter konnten auf dem Hintern runterrutschen«, hatte Ketchum dem kleinen Dan erzählt. (Ketchum hielt große Stücke auf Ochsen, die im tiefen Schnee sehr standfest waren, doch Ochsen hatten sich nie durchgesetzt.)

Auch der Holzabtransport auf Schienen war Geschichte. Er endete 1948 im Pemigewasset Valley, im selben Jahr, als einer von Ketchums Cousins bei der Papiermühle von Livermore Falls unter eine Shay-Lokomotive kam – ein 50-Tonnen-Ungetüm, mit dem die letzten Schienen aus dem Wald geschafft wurden. In den 1950er Jahren dienten die ehemaligen Schienenbetten den Lkws als stabile Holzabfuhrstraßen, allerdings konnte sich Ketchum noch an einen Mord auf der Beebe-River-Eisenbahn erinnern – »seinerzeit«, als er noch einen mit erstklassigen Fichtenstämmen beladenen vierspännigen Schlitten lenkte. Ketchum war damals auch noch Kutscher einer frühen Lombard-Dampflok gewesen, [24] die von einem Pferd gezogen wurde. Das Pferd bewegte die vorderen Schlittenkufen, und der Kutscher saß vorn auf dem Holzanhänger; bei späteren Modellen wurden Pferd und Kutscher durch einen Steuermann an einem Lenkrad ersetzt. Wie Danny Baciagalupo wusste, war Ketchum auch Steuermann gewesen – anscheinend hatte Ketchum alles gemacht.

Auf den alten Lombard-Fahrwegen um Twisted River herum fahren inzwischen Lkws, allerdings stehen in der Gegend immer noch ein paar zurückgelassene Lombard-Wracks herum. (Eins steht immer noch aufrecht in Twisted River, ein anderes liegt, auf die Seite gekippt, in einem Holzfällercamp namens West Dummer – oder neuerdings Paris, nach der Paris Manufacturing Company in Paris, Maine.)

Der Phillips Brook fließt nach Paris und in den Ammonoosuc River, der seinerseits in den Connecticut River mündet. Die Flößer transportierten auf diesem Flüsschen Hartholzstämme bis nach Paris, und auch etwas Faserholz. Das Sägewerk in Paris verarbeitete ausschließlich Hartholz – die Firma aus Maine stellte Toboggans her, traditionelle indianische, kufenlose Schlitten –, und in dem Holzfällercamp mit seinem dampfbetriebenen Sägewerk war der ehemalige Pferdestall inzwischen in eine Maschinenwerkstatt umgebaut worden. Daneben standen auch das Haus des Werksleiters sowie eine Schlafbaracke für 75 Mann und eine Kantine, außerdem gab es ein paar einfache Familienunterkünfte – von einem voller Optimismus angelegten Apfelgarten und einem Schulgebäude ganz zu schweigen. Dass es in der Ortschaft Twisted River weder eine Schule gab, noch jemand optimistisch genug gewesen war, um Apfelbäume zu pflanzen, führte zu der (vor allem in Paris vertretenen) Ansicht, das Holzfällercamp sei eine zivilisiertere und beständigere Siedlung als Twisted River.

Von der Anhöhe zwischen diesen beiden Vorposten aus betrachtet, wäre kein Wahrsager so töricht gewesen, der einen oder [25] der anderen Siedlung Erfolg oder Langlebigkeit zu prophezeien. Danny Baciagalupo hatte gehört, wie Ketchum sowohl dem Holzfällercamp in Paris als auch Twisted River den sicheren Untergang vorhersagte, doch Ketchum hatte prinzipiell »nichts für Fortschritt übrig«, wie der Koch seinen Sohn gewarnt hatte. Dominic war kein Geschichtenerzähler, und er zog Ketchums Geschichten regelmäßig in Zweifel. »Daniel, du solltest Ketchums Geschichten nicht unbesehen glauben«, sagte Dominic dann.

War Ketchums Tante, eine Buchhalterin, wirklich in der Drechselbankfabrik in Milan von einem Stapel Holzeinfassungen erschlagen worden? »Ich bin mir nicht sicher, ob es in Milan eine Drechselbankfabrik gibt oder je gegeben hat, Daniel«, hatte der Koch seinem Sohn zu bedenken gegeben. Und laut Ketchum hatte ein Gewitter vier Personen in dem Sägewerk bei der Staumauer zu den Dummer-Teichen getötet, bei dem größten und am weitesten flussaufwärts gelegenen der Dummer-Teiche. Angeblich hatte ein Blitz in den Blocksenkwagen eingeschlagen. »Der Kranführer und der Werkzeugeinrichter, der Sägewerker, der die Hebel der Bandsäge betätigte, und ein Hilfsarbeiter wurden allesamt von einem einzigen Blitz getötet«, hatte Ketchum Danny erzählt. Zeugen hätten beobachtet, wie das gesamte Werk niederbrannte.

»Schon erstaunlich, dass diesmal kein einziger von Ketchums Verwandten unter den Opfern war, Daniel.« Mehr sagte Dominic dazu nicht.

Tatsächlich war ein anderer Cousin Ketchums in den Schnitzler einer Papierholzfabrik gefallen; einem Onkel hatte ein herumfliegender, ein Meter zwanzig langer Stamm das Gehirn zerquetscht in einer Sägerei, in der lange Fichtenstämme auf die für Papierholz erforderliche Länge zurechtgeschnitten wurden. Und auf dem Dummer-Teich hatte es einmal einen sogenannten »Dampfesel« gegeben, eine schwimmende, dampfbetriebene [26] Winde, mit der Stämme für den Einlauf zum Sägewerk an der Staumauer gebündelt wurden, doch die Maschine war explodiert. Auf der Insel im Teich fand man im Frühlingsschnee, wo durch die Explosion sämtliche Bäume angesengt worden waren, ein gefrorenes Männerohr. Später, so behauptete Ketchum, habe ein Eisangler das Ohr im Pontook-Stausee als Köder benutzt.

»Auch Verwandte von dir, nehme ich an?«, hatte der Koch gefragt.

»Nicht, dass ich wüsste«, hatte Ketchum erwidert.

Ketchum behauptete, er habe das »legendäre Arschloch« gekannt, das flussaufwärts von den Schlafbaracken und der Kantine von Camp Five einen Pferdestall gebaut hatte. Als alle Männer im Lager erkrankten, schnallten sie den Mann in eine Art Geschirr aus Zaumzeug und hängten ihn im Pferdestall über die Jauchegrube, »bis das Arschloch von den Dämpfen ohnmächtig wurde«.

»Jetzt verstehst du, weshalb Ketchum den alten Zeiten nachtrauert, Daniel«, hatte der Koch zu seinem Sohn gesagt.

Dominic Baciagalupo kannte einige Geschichten, behielt sie aber meist für sich. Doch die, die er seinem Sohn erzählte, regten die Phantasie des Jungen weit weniger an als Ketchums Geschichten. Eine handelte von der Kochgrube draußen vor dem Zelt des Kochs am Chickwolnepy Stream, nicht weit vom Success Pond. In den schon erwähnten alten Zeiten hatte Dominic während einer Trift einmal eine Kochgrube ausgehoben, Durchmesser eins zwanzig, und abends zur Schlafenszeit angefangen, darin Bohnen zu kochen. Die Grube deckte er mit heißer Asche und Erde ab. Den versiegelten Topf wollte er um fünf Uhr morgens, wenn er glühend heiß war, fürs Frühstück aus dem Boden holen. Doch ein Frankokanadier war noch im Dunkeln aus dem Schlaf-Wanigan getreten, wahrscheinlich um zu pinkeln. Er war barfuß gewesen, als er in die Kochgrube fiel, und hatte sich beide Füße verbrannt.

[27] »Das war’s? Das ist die ganze Geschichte?«, hatte Danny seinen Dad gefragt.

»Na ja, ist wohl ’ne Art Kochgeschichte«, hatte Ketchum gesagt, um nett zu sein. Manchmal zog Ketchum Dominic damit auf, dass am oberen Androscoggin Baked Beans und Erbsensuppe inzwischen von Spaghetti verdrängt würden.

»Früher hatten wir hier nie so viele italienische Köche«, sagte Ketchum dann und zwinkerte Danny zu.

»Heißt das, du hättest lieber Baked Beans und Erbsensuppe statt Pasta?«, fragte der Koch seinen alten Freund.

»Dein Dad ist ein empfindliches Kerlchen, stimmt’s?«, meinte Ketchum dann zu Danny und zwinkerte erneut. »Heiliger Dünnschiss!«, hatte Ketchum mehr als einmal zu Dominic gesagt. »Du bist vielleicht empfindlich!«

Jetzt war wieder Schlammperiode, und der Fluss führte Hochwasser. Eine große Wassermenge war durch eins der Schleusentore gekommen – Ketchum nannte das »Flutwasser«, wahrscheinlich aus dem Schleusentor an der Ostseite des Little Dummer Pond –, und ein unerfahrener Junge aus Toronto, den sie kaum gekannt hatten, war mit weggeschwemmt worden.

Nur noch kurze Zeit würden die Holzfäller das Wasservolumen im Twisted River erhöhen. Zu diesem Zweck hatten sie an den Flüsschen, die in die Haupttriftgewässer mündeten, Staudämme gebaut. Die Schleusen wurden im Frühjahr geöffnet, so dass eine Unmenge Wasser das Triften erleichterte. In diesen Flüsschen (und an deren Ufern) stapelte sich während des Winters das Faserholz und wurde dann mit dem von den Dämmen gestauten Wasser in den Twisted River geschleust. Wenn das kurz nach der Schneeschmelze geschah, war die Strömung schnell, und die rasch dahintreibenden Baumstämme bohrten sich in die Flussufer.

Der Koch fand, der Twisted River besitze nicht genug [28] Biegungen, um seinen Namen – Gewundener Fluss – zu verdienen. Der Fluss schoss aus den Bergen geradeaus talwärts, er hatte nur zwei Biegungen. Doch für die Flößer, besonders für die alten Hasen, denen der Fluss seinen Namen verdankte, waren diese beiden Biegungen schlimm genug, denn sie verursachten jedes Frühjahr einige üble Holzstaus – vor allem oberhalb des Beckens in der Nähe der Dummer-Teiche. An beiden Flussbiegungen mussten die Stämme meist von Hand losgestochert werden; an der oberen Biegung, wo die Strömung am stärksten war, hätte man keinen so Unerfahrenen wie Angel auf den Holzstau losgelassen.

Doch Angel war im Becken untergegangen, wo der Fluss relativ ruhig war. Die treibenden Stämme wühlten das Wasser zwar auf, aber die Strömung war eher mäßig. Und an beiden Biegungen löste man die größeren Staus zu Dominic Baciagalupos Leidwesen mit Dynamit auf. Die Sprengungen brachten die Töpfe, Pfannen und anderen aufgehängten Utensilien seiner Küche durcheinander; im Speisesaal rutschten die Zuckerdosen und Ketchup-Flaschen von den Tischen. »Dein Dad mag kein Geschichtenerzähler sein, Danny, aber Dynamitfan ist er ganz gewiss nicht«, so hatte es Ketchum dem Jungen gegenüber formuliert.

Vom Flussbecken unterhalb der Ortschaft Twisted River floss das Wasser bis in den Androscoggin River. Neben dem Connecticut waren der Ammonoosuc und der Androscoggin die großen Triftgewässer im Norden New Hampshires. Alle diese Flüsse waren erwiesenermaßen mörderisch.

Doch in dem relativ kurzen Flussabschnitt zwischen dem Little Dummer Pond und dem Ort Twisted River, wo es Stromschnellen gab, waren schon einige Flößer ertrunken oder zerquetscht worden – und auch in dem breiten Flussbecken. Angel Pope war weder der Erste, noch würde der junge Kanadier der Letzte bleiben.

Und selbst in den notdürftig zusammengezimmerten [29] Siedlungen Twisted River und Paris waren etliche Sägewerksarbeiter verstümmelt oder sogar getötet worden – gar nicht wenige leider bei Schlägereien, die sie sich in gewissen Kneipen mit den Holzfällern lieferten. Es herrschte Frauenmangel – deswegen die Schlägereien; Ketchum allerdings behauptete steif und fest, es herrsche Kneipenmangel. In Paris gab es jedenfalls überhaupt keine Kneipe, und nur verheiratete Frauen wohnten dort.

Ketchum zufolge waren es diese beiden Faktoren, welche die Männer aus Paris fast allabendlich auf die Holzabfuhrstraße nach Twisted River trieben. »Man hätte nie eine Brücke über den Phillips Brook bauen dürfen«, behauptete Ketchum außerdem.

»Siehst du, Daniel«, sagte der Koch, »Ketchum hat wieder einmal nachgewiesen, dass uns der Fortschritt irgendwann alle umbringen wird.«

»Aber dieses ganze katholische Zeug bringt uns noch vorher um, Danny«, widersprach Ketchum. »Italiener sind Katholiken, und dein Dad ist italienischer Abstammung – und du folglich auch, obwohl weder du noch dein Dad in eurem Denken besonders italienisch seid, und auch nicht besonders katholisch. Ich meine vor allem die Frankokanadier, die beispielsweise so viele Kinder haben, dass sie sie manchmal durchnummerieren, statt ihnen Namen zu geben.«

»Gott im Himmel«, sagte Dominic Baciagalupo kopfschüttelnd.

»Stimmt das?«, wollte der kleine Dan von Ketchum wissen.

»Was ist denn Vingt Dumas für ein Name?«, fragte Ketchum den Jungen zurück.

»Roland und Joanne Dumas haben keine zwanzig Kinder!«, rief der Koch.

»Vielleicht nicht gemeinsam«, erwiderte Ketchum. »Was war dann der kleine Vingt? Ein Versprecher?«

Dominic schüttelte wieder den Kopf. »Was ist denn?«, fragte Ketchum.

[30] »Ich habe seiner Mutter versprochen, dass Daniel eine anständige Bildung bekommt«, sagte der Koch.

»Nun, ich mache gerade den Versuch, Dannys Bildung zu vervollständigen«, argumentierte Ketchum.

»Zu vervollständigen«, wiederholte Dominic immer noch kopfschüttelnd. »Deine Wortwahl, Ketchum«, begann der Koch, verstummte aber wieder; er sagte nichts mehr.

Weder ein Geschichtenerzähler noch ein Dynamitfan, dachte Danny Baciagalupo. Der Junge liebte seinen Vater heiß und innig, doch der Koch hatte eine bestimmte Angewohnheit, die seinem Sohn schon aufgefallen war. Oft führte Dominic seine Gedanken nicht zu Ende (nicht laut, jedenfalls).

Von der indianischen Tellerwäscherin abgesehen – und der Handvoll Sägewerksarbeiter-Ehefrauen, die dem Koch in der Küche halfen –, aßen nur selten Frauen im Kochhaus, außer an den Wochenenden, wenn einige der Männer mit ihren Familien zum Essen kamen. Der Koch hatte ein striktes Alkoholverbot durchgesetzt. Das Abendessen (oder »Abendbrot«, wie es die alten Flößer nannten, die noch die Wanigans gewohnt waren) wurde bei Einbruch der Dunkelheit aufgetragen, und die meisten Holzfäller und Arbeiter aus dem Sägewerk waren nüchtern bei ihrer Abendmahlzeit, die sie rasch und fast stumm verspeisten – selbst an den Wochenenden oder wenn gerade keine Trift im Gange war.

Da die Männer meist direkt von der Arbeit ins Kochhaus kamen, war ihre Kleidung dreckig und sie rochen nach Pech und Fichtenharz, nasser Rinde und Sägespänen, aber ihre Hände und Gesichter waren sauber und dufteten nach der Kieferteerseife im riesigen Bad des Kochhauses. (Vor dem Essen die Hände zu waschen war auch eine der von Dominic durchgesetzten Regeln.) Außerdem waren die Handtücher im Waschraum immer sauber; die Handtücher waren ein Grund, weshalb die indianische [31] Tellerwäscherin im Allgemeinen länger blieb. Während die Küchenhilfe das letzte Geschirr vom Abendessen abwusch, steckte die Tellerwäscherin ihrerseits in der Waschküche des Kochhauses die Handtücher in die Waschmaschinen. Sie ging erst nach Hause, wenn der Waschgang beendet war und sämtliche Handtücher in die Trockner gepackt waren.

Die Tellerwäscherin wurde Indianer-Jane genannt, auch wenn natürlich niemand sie so rief. Danny Baciagalupo mochte sie, und sie schien an dem Jungen einen Narren gefressen zu haben. Sie war über zehn Jahre älter als sein Dad (sie war sogar älter als Ketchum), und sie hatte einen Sohn verloren – offenbar war er im Pemigewasset ertrunken, falls Danny die Geschichte richtig verstanden hatte. Vielleicht aber waren Jane und ihr toter Sohn auch aus der Gegend namens Pemigewasset Wilderness, New Hampshire, nordwestlich der Sägewerke in Conway, und der Sohn war anderswo ertrunken. Nördlich von Milan, wo das Fichtensägewerk stand, begann eine noch größere, ungezähmte Wildnis, und dort oben gab es weitere Holzfällerlager und jede Menge Stellen, an denen ein junger Holzfäller ertrinken konnte. (Jane hatte Danny erzählt, Pemigewasset bedeute »Gasse der schiefen Kiefern«, und für den Jungen mit seiner lebhaften Phantasie klang das nach einem Ort, an dem man leicht ertrinken konnte.)

Eigentlich erinnerte sich Dan nur noch daran, dass es ein Triftunfall in der Wildnis gewesen war, und so zärtlich, wie die Tellerwäscherin den Sohn des Kochs ansah, musste ihr Sohn wohl ungefähr zwölf gewesen sein, als er ertrank. Danny wusste es nicht, und er fragte auch nicht. Alles, was er über Indianer-Jane wusste, hatte er beobachtet oder sich zusammengereimt.

»Man hört keine Gespräche mit, die für anderer Leute Ohren bestimmt sind, Daniel«, hatte sein Vater ihm eingeschärft. Damit meinte der Koch, Danny solle nicht den Gesprächsfetzen oder unzusammenhängenden Bemerkungen der Männer beim Essen lauschen.

[32] An den meisten Abenden tranken die Holzfäller und Sägewerksarbeiter nach dem Essen – aber nicht so hemmungslos wie zur Zeit der Wanigans und in der Regel nicht, wenn am nächsten Morgen eine Trift anstand. Die wenigen, die in Twisted River eine eigene Unterkunft hatten, tranken zu Hause. Die »Durchreisenden« – also die meisten Waldarbeiter und alle kanadischen Wanderarbeiter – tranken in ihren kargen Schlafbaracken, die in dem ewig feuchten Teil des Ortes direkt oberhalb des Flussbeckens standen. Von diesen Herbergen aus konnte man die tristen Spelunken zu Fuß erreichen, ebenso den schäbigen Tanzsaal, der seinen Namen zu Unrecht trug, da dort gar nicht getanzt wurde – es gab nur Musik und den üblichen Männerüberschuss.

Die Holzfäller und Sägewerksarbeiter, die Familie hatten, zogen die kleinere, aber angeblich »zivilisiertere« Siedlung Paris vor. Ketchum weigerte sich standhaft, das Holzfällercamp »Paris« zu nennen, und blieb bei dem, wie er sagte, richtigen Namen des Fleckens – West Dummer. »Keine Ortschaft, nicht einmal ein Holzfällercamp, sollte nach einer Firma benannt werden«, erklärte Ketchum. Außerdem empörte es ihn, dass ein Holzunternehmen in New Hampshire nach einer Firma in Maine benannt wurde – die zudem ausgerechnet Toboggans herstellte, indianische Holzschlitten.

»Meine Güte!«, rief der Koch. »Bald treibt auf dem Twisted River nur noch Faserholz – zur Papierherstellung! Was ist denn an Toboggans schlimmer als an Papier?«

»Aus Papier werden Bücher gemacht!«, hatte Ketchum entgegnet. »Und welche Rolle spielen denn Toboggans bei der Bildung deines Sohnes?«

In Twisted River waren Kinder Mangelware, und die wenigen gingen in Paris zur Schule – so wie Danny Baciagalupo, wenn er überhaupt zur Schule ging. Um Dannys Bildung zu verbessern, behielt ihn der Koch nicht selten zu Hause, damit er das eine oder andere Buch las, eine Tätigkeit, die in der Schule in Paris [33] (oder West Dummer) nicht unbedingt gefördert wurde. »Gott bewahre, dass die Kinder in einem Holzfällerlager lesen lernen!«, lästerte Ketchum. Er hatte als Kind nicht lesen gelernt, worüber er immer noch wütend war.

Auf der anderen Seite der kanadischen Grenze herrschte – und herrscht nach wie vor – eine große Nachfrage sowohl nach Rundholz als auch nach Faserholz. Der Norden New Hampshires liefert weiterhin riesige Holzmengen an Papiermühlen in New Hampshire und Maine sowie an eine Möbelfabrik in Vermont. Doch von den einstigen Holzfällercamps zeugen nur noch kümmerliche Ruinen.

In einem Ort wie Twisted River blieb nur das Wetter unverändert. Von der Staumauer am unteren Ende des Little Dummer Pond bis zum Flussbecken unterhalb von Twisted River hielt sich zu jeder Jahreszeit, außer wenn der Fluss zugefroren war, bis weit in den Vormittag hinein ein hartnäckiger Nebel oder Dunst über dem unruhigen Wasser. Das durchdringende Wimmern der Sägeblätter von den Sägewerken her war so vertraut wie das Gezwitscher der Vögel, allerdings waren weder der Sägelärm noch das Vogelgezwitscher so verlässlich wie die Tatsache, dass es in diesem Teil New Hampshires nie Frühlingswetter gab – von jener scheußlichen Periode zwischen Anfang April und Mitte Mai abgesehen, die sich durch gefrorenen, langsam tauenden Schlamm auszeichnete.

Dennoch war der Koch geblieben, und nur wenige in Twisted River kannten den Grund. Noch weniger wussten, warum, woher und wann er überhaupt gekommen war. Doch sein Hinken hatte eine Vorgeschichte, das war allen klar. In einem Ort mit einem Sägewerk oder in einem Holzfällercamp war ein Hinken wie das von Dominic Baciagalupo nichts Ungewöhnliches. Wenn Stämme jeder Größe in Bewegung gesetzt wurden, war ein Knöchel rasch zerquetscht. Selbst wenn der Koch gerade nicht [34] ging, fiel auf, dass der Stiefel an seinem kaputten Fuß zwei Nummern größer war als der an seinem intakten Fuß. Und wenn Dominic saß oder ruhig dastand, war der größere Stiefel immer abgewinkelt. Die Einwohner von Twisted River, die sich mit solchen Dingen auskannten, wussten, dass so eine Verletzung von allen möglichen Unfällen bei der Holzarbeit herrühren konnte.

Dominic hatte sich für den Job als Teenager ausgegeben. Seiner eigenen Einschätzung nach war er damals zwar nicht so unerfahren wie Angel Pope gewesen, doch »noch ziemlich grün hinter den Ohren«, wie er seinem Sohn erzählte. Er hatte nach der Schule auf einer Verladerampe in einem der großen Sägewerke in Berlin gejobbt, wo ein Freund von Dominics abwesendem Vater Vorarbeiter war. Dieser angebliche Freund von Dominics Dad war dort bis zum Zweiten Weltkrieg Teil des Inventars gewesen, doch der Koch hatte den sogenannten Onkel Umberto als Alkoholiker in Erinnerung, der wiederholt über Dominics Mom herzog. (Selbst nach Dominic Baciagalupos Unfall nahm dessen verschwundener Vater nie Kontakt zu ihm auf, und »Onkel« Umberto erwies sich kein einziges Mal als Freund der Familie.)

Auf dem Rundholzplatz hatte eine Ladung Hartholzstämme gelegen, hauptsächlich Ahorn und Birke. Der junge Dominic rollte gerade mit Hilfe eines Fällhebers die Stämme in das Werk, als plötzlich etliche gleichzeitig losrollten – er konnte ihnen nicht mehr ausweichen. 1936 war er erst zwölf; den Fällheber bediente er mit verwegener Selbstsicherheit. Dominic war damals genauso alt gewesen wie sein Sohn jetzt. Nie würde der Koch seinem geliebten Daniel erlauben, einen Rundholzplatz zu betreten, selbst dann nicht, wenn der Junge einen Fällheber rechts- und linkshändig bedienen könnte. Als Dominic damals von den rollenden Stämmen zu Boden geschleudert wurde, bohrte sich der Wendehaken seines Fällhebers wie ein Angelhaken in seinen linken Oberschenkel und sein linker Fußknöchel wurde seitlich [35] weggedrückt und vom Gewicht des Holzes zerquetscht. Die Blutung aus der Fällheberwunde war nicht lebensgefährlich, doch damals konnte man leicht an einer Blutvergiftung sterben. Auch hätte er später wegen der Knöchelverletzung an einer Gangrän (damals noch Wundbrand genannt) sterben können oder – das war wahrscheinlicher – den linken Fuß, wenn nicht das ganze Bein, amputieren lassen müssen.

1936 gab es im Coos County keine Röntgengeräte. Einen zerschmetterten Knöchel zusammenzuflicken fiel den medizinischen Experten in Berlin nicht ein; in solchen Fällen empfahl sich ein kleiner oder gar kein chirurgischer Eingriff. Bei so einem Unfall hieß es abwarten: Entweder waren die Blutgefäße platt gequetscht, was eine Durchblutungsstörung zur Folge hätte – dann würden die Ärzte den Fuß amputieren müssen –, oder die gebrochenen und verschobenen Knöchelfragmente würden krumm und schief zusammenwachsen und irgendwie heilen und Dominic Baciagalupo würde zeitlebens hinken und Schmerzen haben (wie es dann auch kam).

Es gab auch noch die Narbe vom Haken des Fällhebers, die der Bisswunde eines seltsamen kleinen Tieres glich, eines Tieres mit einem einzigen gebogenen Zahn und einem Maul, das nicht groß genug gewesen war, um den Schenkel des Zwölfjährigen zu umschließen. Und ehe der Koch einen Schritt machte, zeigte sein linker Fuß scharf nach links. Seither fiel den Leuten, noch bevor sie Dominic hinken sahen, zuerst der missgestaltete Knöchel und die Fehlstellung des Fußes auf.

Eins war klar: Dominic würde nie Holzfäller werden. Bei dieser Arbeit musste man sein Gleichgewicht halten. Und der Unfall war in einem Sägewerk passiert – ganz abgesehen davon, dass der Trunkenbold und »Freund« seines durchgebrannten Vaters dort Vorarbeiter war. Nein, Dominic Baciagalupos Zukunft lag auch nicht in einem Sägewerk.

»He, Baciagalupo!«, hatte ihm Onkel Umberto oft zugerufen. [36] »Du magst einen neapolitanischen Namen haben, aber du hängst rum wie ein Sizilianer.«

»Ich bin Sizilianer«, erwiderte Dominic dann pflichtschuldig. Seine Mutter schien darauf ungemein stolz zu sein, dachte der Junge.

»Tja, aber dein Name ist napolitano«, entgegnete Umberto.

»Nach meinem Vater, nehme ich an«, mutmaßte der junge Dominic.

»Dein Dad war kein Baciagalupo«, teilte ihm Onkel Umberto mit. »Frag Nunzi, woher dein Name stammt – schließlich hat sie ihn dir gegeben.«

Dem Zwölfjährigen passte es gar nicht, wenn Umberto, der Dominics Mutter offenkundig nicht mochte, sie »Nunzi« nannte – eine Koseform von Annunziata. Aus Umbertos Mund klang es überhaupt nicht zärtlich. (In einem Theaterstück oder einem Film hätte das Publikum Umberto problemlos als Nebenfigur identifiziert, doch die beste Besetzung für die Rolle des Umberto wäre ein Schauspieler, der überzeugt ist, eine Hauptrolle zu spielen.)

»Und du bist wohl auch nicht mein richtiger Onkel?«, hatte Dominic von Umberto wissen wollen.

»Frag deine Mama«, antwortete der. »Wenn sie gewollt hätte, dass du siciliano bleibst, hätte sie dir ihren Namen geben sollen.«

Der Mädchenname seiner Mutter war Saetta, worauf sie ebenfalls sehr stolz war, genau wie auf alle Saettas, von denen Dominic sie je hatte erzählen hören, wenn sie über ihre Abstammung sprach.

Über Dominics Abstammung sprach Annunziata nur äußerst ungern. Das wenige, was der Junge wusste, hatte er eher schlecht als recht aus Informations- oder Desinformationsbröckchen zusammengetragen, ähnlich den unvollständigen Beweisen und lückenhaften Indizien in dem zunehmend beliebten Brettspiel Cluedo, das der Koch und Ketchum mit Dan spielten und zu [37] dem sich manchmal auch Jane gesellte. (War es Oberst Günther von Gatow in der Küche mit dem Kerzenleuchter, oder hat Fräulein Ming den Mord mit dem Revolver im Musikzimmer begangen?)

Als Kind wusste Dominic nur, dass sein Vater, ein Neapolitaner, die schwangere Annunziata Saetta in Boston sitzengelassen hatte. Es ging das Gerücht, er habe ein Schiff zurück nach Neapel genommen. Auf die Frage »Wo ist er jetzt?« (die der Junge seiner Mutter oft gestellt hatte) zuckte Annunziata seufzend die Achseln, schaute entweder gen Himmel oder zu der Dunstabzugshaube über dem Küchenherd und sprach die geheimnisvollen Worte: »Vicino a Napoli.« – »In der Gegend von Neapel«, vermutete Dominic. Mit Hilfe eines Atlas und weil der Junge gehört hatte, wie seine Mutter im Schlaf die Namen zweier Bergstädte (und Provinzen) in der Gegend um Neapel murmelte – Benevento und Avellino –, kam Dominic zu dem Schluss, dass sein Dad in diesen Teil Italiens geflohen war.

Umberto, der war eindeutig kein Onkel – und auf jeden Fall ein »legendäres Arschloch«, wie Ketchum es formuliert hätte.

»Was ist denn Umberto für ein Name?«, hatte Dominic den Vorarbeiter gefragt.

»Der vom König!«, hatte Umberto entrüstet geantwortet.

»Ich meine, das ist doch ein neapolitanischer Name, stimmt’s?«, hatte der Junge gefragt.

»Was fragst du mich hier aus? Du bist zwölf und tust, als wärst du schon sechzehn!«, rief Umberto.

»Ich soll doch allen sagen, ich sei sechzehn, das war doch deine Idee«, hatte Dominic den Vorarbeiter erinnert.

»Hast ja auch einen Job gekriegt, Baciagalupo«, hatte Umberto gesagt.

Dann rollten die Baumstämme, und Dominic wurde Koch. Seine Mutter, eine auf Sizilien geborene Italoamerikanerin, die eine ungewollte Schwangerschaft von Boston nach Berlin in New [38] Hampshire verschlagen hatte, konnte kochen. Sie war aus der Großstadt nach Norden gezogen, nachdem sich Gennaro Capodilupo in Richtung der Docks in der Nähe von Atlantic Avenue und Commercial Street geschlichen und sie in anderen Umständen zurückgelassen hatte, um, ob buchstäblich oder im übertragenen Sinn, das Schiff »zurück nach Neapel« zu nehmen.

Arschloch (wenn schon nicht Onkel) Umberto hatte recht: Dominics abwesender Vater war kein Baciagalupo, sondern ein Capodilupo – was, wie Annunziata ihrem Sohn erklärte, »Wolfskopf« hieß. Was sollte die ledige Mutter schon machen? »Nach all den Lügen, die dein Vater erzählt hat, müsste er eigentlich Boccadalupo heißen!«, sagte sie zu Dominic. Das bedeutete »Wolfsmaul«, wie der Junge später erfuhr – ein passender Name für das Arschloch Umberto, dachte er oft. »Aber du, Angelù, du bist mein Wolfskuss«, sagte seine Mutter.

In dem Bemühen, ihn für ehelich zu erklären, und weil sie Wörter liebte, aber sehr eigenwillig damit umging, nannte seine Mutter Dominic nicht Kopf (noch Maul) des Wolfes; für Annunziata Saetta kam nur ein Wolfskuss in Frage, ›Baciodilupo‹. –Doch irgendein Witzbold hatte ihr eingeredet, ›Baciacalupo‹ sei richtig, und wegen Nunzis verschliffener Aussprache wurde aus dem ›c‹ ein ›g‹. Noch ehe er Koch wurde, war aus Dominic Baciodilupo ein Dominic Baciagalupo geworden.

Seine Mutter benutzte auch die Kurzform Dom – Dominic leitet sich von domenica ab, was »Sonntag« bedeutet. Nicht, dass Annunziata eine strikte Anhängerin des von Ketchum so genannten »katholischen Zeugs« gewesen wäre. Was an der Familie Saetta katholisch und italienisch war, hatte die junge, unverheiratete Frau schließlich gen Norden nach New Hampshire getrieben; in Berlin würden sich andere Italiener (vermutlich auch Katholiken) ihrer annehmen.

Hatte Nunzis Familie erwartet, dass sie ihr Kind zur Adoption freigeben und ins Bostoner North End zurückkehren [39] würde? Nunzi wusste, dass so etwas gang und gäbe war, aber sie dachte nicht daran, ihr Baby wegzugeben, und geriet – trotz ihres beträchtlichen Heimwehs nach dem italienischen North End – auch nie in Versuchung, wieder nach Boston zu ziehen. Sie war ungeplant in andere Umstände geraten, worauf sie weggeschickt worden war, was sie verständlicherweise übelnahm.

Auch wenn Annunziata in der Küche eine treue Sizilianerin blieb, waren die sprichwörtlichen Familienbande endgültig zerrissen. Ihre Bostoner Familie – und mit ihr auch die italienische Gemeinschaft im North End und alles, was dort das »katholische Zeug« verkörperte – hatte sie verstoßen. Jetzt verstieß Nunzi sie. Weder ging sie selbst zur Messe, noch schickte sie Dominic hin. »Es reicht, dass wir bei Bedarf zur Beichte gehen«, sagte sie zu Dom, ihrem kleinen Wolfskuss.

Und weder brachte sie dem Jungen Italienisch bei – von ein paar unentbehrlichen Kochbegriffen abgesehen –, noch war Dominic gewillt, die Sprache der »alten Heimat« zu lernen, die für ihn das Bostoner North End war, nicht Italien. Die Sprache und der Ort hatten seine Mutter verstoßen. Italienisch würde nie Dominic Baciagalupos Sprache sein, und er betonte entschieden, nichts ziehe ihn nach Boston.

Alles in Annunziata Saettas Leben in Berlin war ein Neuanfang. Die jüngste von drei Schwestern konnte so gut Englisch lesen und sprechen wie sizilianisch kochen. Nunzi brachte Kindern in einer Grundschule in Berlin das Lesen bei, und nach dem Unfall nahm sie Dominic aus der Schule und lehrte ihn die Grundlagen der Kochkunst. Außerdem legte sie Wert darauf, dass der Junge Bücher las – nicht nur Kochbücher, sondern alles, was sie selbst las, Romane vor allem. Ihr Sohn hatte die allgemein missachteten Gesetze zur Kinderarbeit übertreten und war dabei zum Krüppel geworden, und Annunziata hatte ihn aus dem Verkehr gezogen; zum Hausunterricht gehörte für sie kulinarische und literarische Bildung.

[40] Weder das eine noch das andere war Ketchum zuteil geworden, der noch keine zwölf war, als er die Schule verließ. 1936, mit neunzehn, konnte Ketchum weder lesen noch schreiben. Wenn er nicht als Holzfäller arbeitete, belud er auf den offenen Rampen des größten Sägewerks von Berlin Eisenbahn-Flachwagen mit Nutzholz. Die Belademannschaft schichtete die Ladung oben so auf, dass die Wagen problemlos durch Tunnel und unter Brücken hindurchkamen. »Darin erschöpfte sich meine Bildung, bevor deine Mutter mir das Lesen beibrachte«, erzählte Ketchum Danny Baciagalupo gern. Der Koch schüttelte dazu wieder den Kopf, doch an der Geschichte, dass Dominics verstorbene Frau Ketchum das Lesen beigebracht hatte, ließ sich offenbar nicht rütteln.

Zumindest gehörte sie anscheinend nicht in die Kategorie von Ketchums Lügengeschichten – so wie beispielsweise die über die Schlafbaracke mit der niedrigen Decke in Camp One. Laut Ketchum hatte man »irgendeiner Rothaut« den Auftrag erteilt, den Schnee vom Dach zu schaufeln, doch der Indianer hatte diese Arbeit vernachlässigt. Als das Dach unter dem Gewicht des Schnees einstürzte, kamen alle Holzarbeiter mit dem Leben davon – bis auf den Indianer, der, wie Ketchum es formulierte, »an dem konzentrierten Gestank nasser Socken« erstickt sei. (Natürlich kannten der Koch und sein Sohn Ketchums ständige Klage, der Gestank nasser Socken sei der größte Fluch des Lebens in den Schlafbaracken.)

»Ich erinnere mich an keinen Indianer in Camp One.« Mehr hatte Dominic zu seinem alten Freund nicht gesagt.

»Du bist zu jung, um dich an Camp One zu erinnern, Cookie«, hatte Ketchum erwidert.

Danny hatte oft erlebt, wie sein Vater bei der bloßen Erwähnung der sieben Jahre Altersunterschied zwischen ihm und Ketchum hochging, während Ketchum dazu neigte, die Altersdifferenz zwischen ihnen überzubetonen. Diese sieben Jahre [41] wären ihnen unüberwindlich erschienen, wenn sich die beiden Männer im Berlin ihrer Jugend kennengelernt hätten – als Ketchum ein knochiger, aber bärenstarker Neunzehnjähriger war, der schon mit einem (wenn auch struppigen) Vollbart protzte, und Annunziatas kleiner Dom noch ein Kind war.

Er war damals ein starker, drahtiger Zwölfjähriger gewesen – nicht groß, aber kompakt und sehnig –, und der Koch hatte immer noch die Figur eines schlanken, muskulösen, jungen Holzarbeiters, obwohl er inzwischen dreißig war und sogar älter wirkte, besonders in den Augen seines halbwüchsigen Sohnes. Es war seine Ernsthaftigkeit, die seinen Dad älter erscheinen ließ, dachte der Junge. Man brauchte in Gegenwart des Kochs nur »die Vergangenheit« oder »die Zukunft« zu sagen, schon runzelte er die Stirn. Und was die Gegenwart anging: Sogar der zwölfjährige Daniel verstand, dass die Zeiten sich änderten.

Er wusste, dass eine Knöchelverletzung das Leben seines Vaters von Grund auf verändert hatte; ein anderer Unfall, der Dannys junger Mutter widerfahren war, hatte den Verlauf seiner eigenen Kindheit umgekrempelt und das Leben seines Vaters erneut von Grund auf verändert. Für einen Zwölfjährigen konnte Veränderung nichts Gutes sein. Jede Veränderung beunruhigte Danny – so wie es ihn beunruhigte, wenn er in der Schule fehlte.

In den nicht so alten Zeiten, als Danny und sein Dad während einer Trift in den Wanigans arbeiteten und schliefen, war der Junge nicht zur Schule gegangen. Dass er die Schule nicht mochte – aber den versäumten Unterrichtsstoff immer, und viel zu mühelos, nachholte –, beunruhigte Danny auch. Alle anderen Jungs in seiner Klasse waren älter als er, weil sie möglichst oft die Schule geschwänzt und den versäumten Unterrichtsstoff nie nachgeholt hatten. Alle waren sitzengeblieben und hatten eine oder zwei Klassen wiederholt.

Wenn der Koch merkte, wie beunruhigt sein Sohn war, sagte [42] er unweigerlich: »Lass dich nicht unterkriegen, Daniel – aber bleib am Leben. Eines Tages hauen wir ab von hier, Ehrenwort.«

Doch auch das beunruhigte Danny Baciagalupo. Sogar die Wanigans waren für ihn wie ein Zuhause gewesen. Und in Twisted River hatte der Zwölfjährige ein eigenes Zimmer oben im Kochhaus, wo auch das Schlafzimmer seines Vaters lag und das Bad, das sie sich teilten. Es waren die einzigen Zimmer im ersten Stock des Küchengebäudes, und sie waren geräumig und gemütlich. Jedes hatte ein Oberlicht, große Fenster mit Blick auf die Berge und – unterhalb des Kochhauses – auf einen Teil des Flussbeckens.

Holzabfuhrwege zogen sich um die Hügel und Berge. Wo die Holzfäller das Hartholz und den Nadelwald geschlagen hatten, gab es große Wiesenflächen und Sekundärwald. Von seinem Zimmer aus kam es Daniel so vor, als könnten der blanke Fels und der Sekundärwald nie Ersatz für die Ahornbäume und Birken hervorbringen oder für die Weichhölzer – die Fichten und Tannen, die Rotkiefer und die Weymouthskiefer, die Hemlocktanne und die Amerikanische Lärche. Der Zwölfjährige glaubte, dass die Wiesen verwilderten und überall nur hüfthohes Gras und Unkraut wuchs. In Wirklichkeit wurden die Wälder der Region nachhaltig bewirtschaftet. In diesen Wäldern wird immer noch Holz geschlagen – »im verdammten einundzwanzigsten Jahrhundert«, wie Ketchum später sagen würde.

Und wie Ketchum regelmäßig versicherte: Manche Dinge änderten sich nie. »Die Amerikanische Lärche wird immer Sümpfe mögen, die Gelb-Birke wird als Möbelholz immer hohe Preise erzielen, und die Pappelblättrige Birke wird außer als Brennholz nie für irgendwas zu gebrauchen sein.« Doch was die Tatsache anging, dass sich die Triften in Coos County bald auf ein Meter zwanzig lange Stämme Faserholz beschränken würden, weigerte sich Ketchum mürrisch, irgendwelche Vorhersagen zu machen. (Der erfahrene Flößer gab höchstens zu bedenken, dass [43] kleineres Faserholz häufig aus der Strömung abtreibe und von Aufräumteams geborgen werden müsse.)

Was die Holzbranche aber wirklich verändern und schließlich vielleicht sogar den Koch die Arbeit kosten würde, war der rastlose Geist der Moderne. Der Zeitenwandel konnte für eine kleine »Siedlung« wie Twisted River das Aus bedeuten. Danny Baciagalupo jedoch fragte sich nur wie besessen: Was für Arbeit konnte es in Twisted River geben, wenn die Holzfäller einmal weitergezogen wären? Würde dann auch der Koch weiterziehen?, fragte er sich besorgt. (Und könnte Ketchum jemals weiterziehen?)

Was den Fluss betraf, der floss einfach weiter, was sollen Flüsse sonst tun – sonst tun. Unter den Stämmen trieb der Leichnam des jungen Kanadiers, und der Fluss stieß ihn hin und her – hin und her. Wenn der Twisted River in diesem bestimmten Augenblick ebenfalls ruhelos, sogar ungeduldig wirkte, so wollte der Fluss vielleicht auch, dass die Leiche des Jungen rasch weitertrieb – rasch weitertrieb.

[44] 2

Do-si-do

In einem Schrank neben der Speisekammer bewahrte der Koch zwei modrige Schlafsäcke und zwei Klappbetten auf – sie stammten noch aus der Zeit, als er in transportablen Wanigans geschlafen hatte. Beides hatte Dominic nicht etwa aus Nostalgie behalten. Manchmal übernachtete nämlich Ketchum in der Küche des Kochhauses. Und wenn Danny dann noch auf war, bettelte er darum, ebenfalls in der Küche schlafen zu dürfen, weil er hoffte, von Ketchum eine neue Geschichte erzählt zu bekommen, falls der nicht zu betrunken war – oder eine neue, wilde Version einer alten Geschichte.

An dem ersten Abend, nachdem Angel Pope unter den Baumstämmen verschwunden war, schneite es leicht. Im April war es nachts immer noch kalt, doch Dominic hatte die beiden Gasherde in der Küche eingeschaltet, den einen auf 175, den anderen auf 220 Grad, und vor dem Schlafengehen noch die trockenen Zutaten für die Scones, die Maismuffins und das Bananenbrot vorbereitet. Seine Armen Ritter (aus Bananenbrotscheiben) waren beliebt, und morgens machte er die Pfannkuchen immer frisch; wegen der rohen Eier bewahrte Dominic den Pfannkuchenteig nie länger als zwei Tage im Kühlschrank auf. Auch die Buttermilchbrötchen machte er fast jeden Morgen frisch und backte sie in dem auf 220 Grad vorgeheizten Herd.

Gewöhnlich war es Dannys Aufgabe, vor dem Zubettgehen die Kartoffeln zu schälen, zu würfeln und über Nacht in Salzwasser einzuweichen. Am nächsten Morgen röstete sein Dad sie [45] dann zusammen mit dem Schinkenspeck auf dem Backblech. In dem alten Garland-Herd befand sich das Backblech über dem Grillrost, in Augenhöhe des Kochs. Obwohl er einen langstieligen Pfannenwender benutzte und sich entweder auf die Zehenspitzen oder auf einen kleinen Hocker stellte (beides nicht leicht für einen Koch mit schiefem Fuß), verbrannte sich Dominic häufig den Unterarm, wenn er in den hinteren Teil des Blechs langte. (Manchmal löste Indianer-Jane den Koch am Backblech ab, weil sie größer war und längere Arme hatte.)

Es war noch dunkel, wenn Dominic aufstand, um zu backen und den Schinkenspeck zu braten, und es war auch dunkel, wenn Danny im ersten Stock des Kochhauses aufwachte, weil es nach Schinkenspeck und Kaffee duftete, und es war immer noch dunkel, wenn die Küchenhilfen und die Tellerwäscherin aus dem Ort in ihren Wagen eintrafen; zuerst hörte man immer die Motoren, Sekundenbruchteile später tauchten die Scheinwerfer auf. Morgens war der Grillrost des Garland meist glühend heiß, damit der Käse auf den Omeletts schmolz. Bevor Danny zur Schule ging, musste er noch die Paprikas und Tomaten für die Omeletts schneiden und die große Kasserolle mit Ahornsirup hinten auf den achtflammigen Herd stellen.

Die Außentür zur Küche ließ sich nicht richtig öffnen und schließen; sie hing so locker, dass sie im Wind klapperte. Die Fliegengittertür ging nach innen auf, was auch auf die Liste der Dinge gehörte, die Danny Baciagalupo beunruhigten. Aus verschiedenen praktischen Gründen wäre es besser gewesen, wenn die Tür nach außen aufgegangen wäre. In der Küche war immer so viel los, dass man keine Tür brauchte, die einem im Weg war– aber einmal, vor langer Zeit, war ein Bär in die Küche des Kochhauses eingedrungen. Es war ein lauer Abend gewesen – die defekte Außentür hatte offen gestanden –, und der Bär hatte die Gittertür einfach mit dem Kopf aufgestoßen und war ins Haus marschiert.

[46] Danny war noch ganz klein gewesen und konnte sich nicht an den Bären erinnern, doch sein Vater musste ihm die Geschichte immer wieder erzählen. An jenem Tag hatte Dannys Mutter den Jungen schon längst zu Bett gebracht. Als der Bär hereinkam, saßen Dannys Eltern gerade bei einem späten Snack: Champignon-Omelett und dazu ein Glas Weißwein. Als er noch Alkohol getrunken habe (erklärte Dominic seinem Sohn), habe er häufig nachts Lust auf einen Imbiss gehabt. (Jetzt nicht mehr.)

Als Dannys Mutter den Bären sah, schrie sie laut auf. Worauf der Bär sich auf die Hinterbeine stellte und sie aus zusammengekniffenen Augen ansah. Dominic jedoch hatte eine ganze Menge Wein getrunken und zunächst nicht gemerkt, dass es ein Bär war. Offenbar hielt er den Eindringling für einen haarigen, betrunkenen Holzfäller, der seine schöne Frau angreifen wollte.

Auf dem Herd stand eine gusseiserne Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser, in der der Koch eben die Champignons für das Omelett angeschwitzt hatte. Dominic nahm die noch warme Pfanne und schlug sie dem Bären ins Gesicht – hauptsächlich auf die Nase, aber auch auf die breite, platte Nasenwurzel zwischen den kleinen, blinzelnden Bärenaugen. Der Bär ließ sich auf alle viere fallen und entfloh durch die Küchentür. Nur das zerrissene Fliegengitter und zerbrochene Holzlatten blieben im Türrahmen zurück.

Jedes Mal, wenn der Koch diese Geschichte erzählte, sagte er zum Schluss: »Tja, natürlich musste die Tür repariert werden, aber sie geht immer noch in die falsche Richtung auf.« Und wenn Dominic die Geschichte seinem Sohn erzählte, fügte er meist hinzu: »Einen Bären hätte ich nie mit einer gusseisernen Bratpfanne geschlagen – ich hielt ihn für einen Mann!«

»Aber was hättest du mit einem Bären gemacht?«, fragte Danny seinen Dad.

»Ihm gut zugeredet, schätze ich«, antwortete der Koch. »Mit einem Mann kann man in so einer Situation nicht reden.«

[47] Was er mit »so einer Situation« meinte, konnte Dan nur raten. Hatte sein Vater sich eingebildet, seine hübsche Frau vor einem gefährlichen Mann beschützen zu müssen?

Die gusseiserne Bratpfanne bekam übrigens einen Ehrenplatz. Sie musste sich nicht mehr mit anderen Töpfen und Pfannen die Küche teilen, sondern hing in Schulterhöhe an einem Haken im ersten Stock – gleich hinter Dominics Schlafzimmertür. Sie wurde zur Allzweckwaffe des Kochs; sollte er jemals auf der Treppe Schritte hören oder einen Eindringling (ob Tier oder Mensch), der in der Küche herumschlich, würde er nach ihr greifen.

Dominic besaß keine Schusswaffe und wollte auch keine haben. Er war zwar in New Hampshire groß geworden, aber nie jagen gegangen – was nicht nur an seiner Knöchelverletzung lag, sondern auch daran, dass er ohne Vater aufgewachsen war. Die Jäger unter den Holz- und Sägewerksarbeitern brachten dem Koch ihr Wild. Der zerlegte die Tiere für sie und behielt genug Fleisch für sich, um gelegentlich im Kochhaus Hirsch oder Reh aufzutischen. Nicht dass Dominic die Jagd ablehnte, er mochte nur weder Wildbret noch Schusswaffen. Außerdem hatte er immer wieder denselben Traum, von dem er Daniel erzählt hatte und in dem er im Schlaf ermordet (in seinem Bett erschossen) wurde; und jedes Mal, wenn er aus diesem Traum erwachte, hallte der Knall des Schusses noch in seinen Ohren nach.

Und so kam es, dass in Dominic Baciagalupos Schlafzimmer eine Bratpfanne hing. In der Küche gab es gusseiserne Bratpfannen in allen Größen, doch die mit zwanzig Zentimeter Durchmesser war zur Selbstverteidigung am besten geeignet. Sogar Danny konnte sie mit einiger Wucht schwingen. Die 26er- und 28er-Bratpfannen waren vielleicht besser zum Braten, aber zu schwer und darum als Waffen ungeeignet. Nicht einmal Ketchum könnte mit diesen größeren Pfannen schnell genug zuschlagen, um einen geilen Holzfäller oder einen Bären unschädlich zu machen.

[48] In der Nacht, nachdem Angel Pope unter die Stämme geraten war, lag Danny Baciagalupo in seinem Bett im ersten Stock des Kochhauses. Das Zimmer des Jungen war direkt über der sich nach innen öffnenden Fliegengitter- und über der wackligen Außentür, die er im Wind klappern hörte. Den Fluss hörte er auch. Im Kochhaus konnte man den Twisted River immer hören, wenn der Fluss nicht unter einer Eisschicht lag. Doch Danny war wohl genauso schnell eingeschlafen wie sein Vater, da er den Pick-up nicht kommen hörte. Es hatten auch keine Scheinwerfer in das Kochhaus hineingeleuchtet. Wer auch immer am Steuer des Pick-ups saß, hatte sich entweder einen Spaß daraus gemacht, in fast völliger Dunkelheit herzufahren – oder er war betrunken und hatte vergessen, die Scheinwerfer einzuschalten.

Danny glaubte zu hören, wie die Fahrertür des Pick-ups ins Schloss fiel. Der tagsüber weiche Schlamm knirschte nachts unter den Stiefeln – nachts wurde es noch so kalt, dass der Schlamm gefror, und jetzt bedeckte ihn obendrein eine dünne Schneeschicht. Ich muss mich getäuscht haben, dachte der Junge; das Plopp hätte auch irgendein Geräusch in seinem Traum sein können. Doch dann hörte er wieder Schritte auf dem gefrorenen Schlamm vor dem Kochhaus, sie klangen wie ein Schlurfen – tapsig und vorsichtig. Vielleicht ist es ein Bär, dachte Danny.

Der Koch hatte draußen vor der Küche eine Kühlbox stehen. Sie war zwar fest verschlossen, enthielt aber das Hackfleisch für das Lammhaschee, den Schinkenspeck und alle anderen leicht verderblichen Lebensmittel, die nicht in den Kühlschrank passten. Was, wenn der Bär das Fleisch in der Kühlbox gewittert hat?, dachte Danny.

»Dad?«, rief der Junge, doch sein Vater schlief wohl tief und fest am anderen Ende des Flurs.

Wie alle anderen auch hatte der Bär mit der Außentür offenbar Probleme; er schlug mit der Tatze dagegen, und Danny hörte auch ein Brummen.

[49] »Dad!«, rief Danny lauter. Er hörte, wie sein Vater die Bratpfanne von dem Haken an der Schlafzimmerwand riss. Wie sein Dad war der Junge in langer Unterhose und Socken zu Bett gegangen. Der Boden im Obergeschoss fühlte sich für Danny kalt an, trotz der Socken an seinen Füßen. Er und sein Dad tapsten nach unten in die von den flackernden Zündflammen des alten Garland-Herds schwach erhellte Küche. Der Koch hielt die schwarze Pfanne beidhändig fest. Nachdem der Bär (falls es einer war) die Außentür aufbekommen hatte, drückte er seinen Oberkörper gegen das Fliegengitter. Auf wackligen Beinen, aber aufrecht, kam er ins Haus. Die langen weißen Zähne schimmerten gespenstisch.

»Ich bin kein Bär, Cookie«, sagte Ketchum.

Das leuchtende Weiß, in Dannys Vorstellung die gebleckten Zähne des Bären, war der frische Gips an Ketchums rechtem Unterarm. Der Gips reichte von der Mitte seiner Handfläche bis zur Armbeuge. »Tut mir leid, Leute, wenn ich euch erschreckt habe«, fügte Ketchum hinzu.

»Mach die Außentür zu, ja? Ich geb mir alle Mühe, dass es hier drin warm bleibt«, sagte der Koch. Danny sah, wie sein Vater die Pfanne auf die unterste Treppenstufe legte. Ketchum versuchte, mit der linken Hand die Außentür zuzuziehen. »Du bist besoffen«, stellte Dominic fest.

»Ich hab nur einen Arm, Cookie, und ich bin Rechtshänder«, sagte Ketchum.

»Trotzdem bist du besoffen«, sagte Dominic Baciagalupo zu seinem alten Freund.

»Vermutlich weißt du noch, wie das ist«, erwiderte der.

Danny half Ketchum beim Zuziehen der Außentür. »Bestimmt hast du einen Mordshunger«, sagte er zu ihm. Der leicht schwankende, stämmige Mann verstrubbelte ihm die Haare.

»Ich muss nichts essen«, sagte Ketchum.

»Aber vielleicht wirst du davon schneller nüchtern«, sagte der [50] Koch und öffnete den Kühlschrank. »Ich habe noch etwas Hackbraten, der schmeckt kalt gar nicht übel. Du kannst Apfelmus dazu haben.«

»Ich brauche nichts zu essen«, wiederholte der stämmige Mann. »Du musst mit mir kommen, Cookie.«

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte Dominic, doch sogar Danny merkte, wenn sein Vater vorgab, etwas nicht zu wissen, was er offensichtlich doch wusste.

»Du weißt, wohin«, sagte Ketchum. »Ich erinnere mich nur nicht an die genaue Stelle.«

»Weil du zu viel trinkst, Ketchum, deshalb erinnerst du dich nicht«, sagte Dominic.

Als Ketchum den Kopf senkte, schwankte er noch mehr. Einen Augenblick lang dachte Danny, der Flößer würde umkippen. Und weil beide Männer jetzt leiser sprachen, merkte der Junge, dass sie verhandelten. Sie achteten auch darauf, nicht zu viel zu sagen, denn Ketchum wusste nicht, was Dominic dem Zwölfjährigen über den Tod seiner Mutter erzählt hatte, und Dominic wollte nicht, dass sein Sohn zu viele unerwünschte Details erfuhr, die Ketchum in diesem Moment einfallen mochten und die den Jungen erschrecken könnten.

»Probier einfach mal den Hackbraten, Ketchum«, sagte der Koch leise.

»Mit Apfelmus schmeckt er ziemlich gut«, ergänzte Danny. Der Flößer ließ sich vorsichtig auf einem Hocker nieder. Seinen neuen weißen Gips legte er auf die Arbeitsplatte. Alles an Ketchum war kantig wie ein geschnitzter Stock – und, wie Danny aufgefallen war, »irre hart« –, weshalb der weiße, zerbrechlich wirkende Gips an dem Mann so deplatziert wirkte wie ein künstliches Glied. (Hätte Ketchum einen Unterarm verloren, hätte er sich mit dem Stumpf beholfen – und ihn vielleicht als Knüppel verwendet.)

Doch jetzt, wo Ketchum saß, sah er in Dannys Augen wieder [51] so ungefährlich aus, dass man ihn berühren konnte. Noch nie zuvor hatte der Junge einen Gips angefasst; sogar in betrunkenem Zustand wusste Ketchum irgendwie, was Danny gerade dachte. »Na los – du darfst ihn anfassen«, sagte der Flößer und hielt dem Jungen seinen Gips hin. An Ketchums gekrümmten Fingern, die starr aus dem Gips herausragten, klebte getrocknetes Blut oder Harz. Bei einem gebrochenen Handgelenk tat es die ersten paar Tage weh, die Finger zu bewegen. Vorsichtig berührte der Junge Ketchums Gips.

Der Koch brachte Ketchum eine große Portion Hackbraten mit Apfelmus. »Es gibt Milch oder Orangensaft«, sagte Dominic, »ich könnte dir aber auch einen Kaffee machen.«

»Was für eine traurige Auswahl!«, sagte Ketchum und blinzelte Danny zu.

»Traurig«, wiederholte der Koch und sagte dann kopfschüttelnd: »Ich mach einen Kaffee.«

Danny wünschte, die beiden Männer würden einfach über alles reden. Der Junge wusste viel über die Vorgeschichte der beiden, aber nicht genug über seine Mutter. Kein