Letzte Reisen - Ilka Piepgras - E-Book

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Ilka Piepgras

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Beschreibung

Sterben ist heute ein Tabuthema. Dabei suchen alle, die damit konfrontiert sind, nach einem Umgang mit dem Tod. Ilka Piepgras, herausragende Autorin des Zeit Magazins, hat deswegen beschlossen, ehrenamtlich als Sterbebegleiterin zu arbeiten. Bei den Sterbenden und im Hospiz lernt sie dabei nicht nur viel über den Tod, sondern auch über das Leben. Als Ilka Piepgras von dem plötzlichen Tod ihres gerade fünfzigjährigen Nachbarn überrumpelt wird, fühlt sie sich hilf- und sprachlos. Und schlagartig wird ihr bewusst: Ein zweites Mal will sie dem Tod nicht unvorbereitet begegnen. Ein Wunsch, der umso drängender wird, als ihre Eltern schon alt sind. Ilka Piepgras fasst schließlich den Entschluss, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Wie gelingt ein gutes Sterben – das ist die Frage, die sie sich angesichts der Menschen, sie sie auf ihrem letzten Weg begleitet, immer wieder stellt. Die Begegnungen mit Sterbenden verändern ihre Sicht auf die Welt und machen sie letztlich fokussierter und gelassener. Und sie führen zu überraschenden Gesprächen mit Freunden, Kindern – und ihren Eltern. Ihr Vater, dem sie von ihrer Arbeit erzählt, ist erfreut: "Wie schön. Dann können wir ja endlich übers Sterben reden." Und auch davon erzählt Ilka Piepgras in ihrem Buch.

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Seitenzahl: 284

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Ilka Piepgras

Letzte Reisen

Wie Sterbende mich lehrten, was es heißt zu leben

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der überraschende Tod ihres Nachbarn lässt Ilka Piepgras hilf- und sprachlos zurück. Auf keinen Fall will sie dem Tod noch einmal so unvorbereitet begegnen – vor allem, weil ihre Eltern schon alt sind. Ilka Piepgras beschließt, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Wie gelingt ein gutes Sterben? Das ist die Frage, die sie sich immer wieder stellt. Die Begegnungen mit Sterbenden verändern ihre Sicht auf die Welt. Und sie führen zu überraschenden Gesprächen mit Freunden, Kindern – und ihren Eltern. Endlich vermag sie, einen Umgang zu finden mit dem Unausweichlichen.

Inhaltsübersicht

WidmungWie es begannDen Tod kennenlernenDer Tod ballt seine FaustLetzte DingeReifeprüfungDer jähe TodDie mit den Bäumen sprichtFrau Merzig erwartet den TodWir WegwerfkörperAuf dem FriedhofSternstundenEwig lebenMein alter VaterDas Interview meines LebensAngekommenNachwortDanksagungLiteraturverzeichnis
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Für Stefanie N.

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Wie es begann

Der 16. Mai 2012, der Tag vor Christi Himmelfahrt, ist ein prächtiger Frühlingstag in Berlin. Ich bin zu Hause, als es plötzlich an der Tür klingelt, einmal, zweimal, Sturm. Normalerweise passiert nicht viel in unserer ruhigen Wohngegend im Südwesten der Stadt. Jetzt hält jemand die Klingel gedrückt, ein schriller Dauerton, der nichts Gutes verheißt.

Am Gartentor steht Lea, die Sechzehnjährige von nebenan. Das Handy am Ohr, springt sie auf der Straße herum wie ein verwundetes Tier. Während sie zusammenhangslose Sätze ins Telefon schreit, winkt sie mich hinüber in ihr Haus und ins Wohnzimmer hinein. Dort liegt ihr Vater merkwürdig verzerrt auf der Couch, Holger, halb verhüllt von einer verrutschten Wolldecke. Sein Gesicht hat eine blaugraue Farbe, wie von einem enormen Bluterguss. »Kümmere dich um den Kleinen!«, ruft Lea, und meine Aufgabe für die nächsten Stunden ist klar: Leas vierjährigen Bruder abschirmen. Er soll nicht sehen, wie Rettungssanitäter seinem Vater das Hemd aufreißen und den Brustkorb massieren, wie sie über einen Schlauch Sauerstoff in seine Lunge pressen und schließlich versuchen, ihn mit Stromstößen zurückzuholen. Alles wird gut, beschwichtige ich den Jungen, bald ist der Papi wieder gesund. Das Gerede fällt mir leicht, ich glaube zu diesem Zeitpunkt selbst daran.

Wir haben Zirkus gespielt, als der Ambulanzwagen vorfuhr, und auf dem Trampolin gehüpft, als die Rettungssanitäter Sauerstoffflaschen ins Haus schleppten. Jetzt kommt ein Sanitäter aus dem Haus und raucht, an den Wagen gelehnt, eine Zigarette. Er wirkt müde und bedrückt. Jemand zieht mich beiseite, Holger habe es leider nicht geschafft. Wie, nicht geschafft? Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dann werden mir die Knie weich. Holger, ein Mann von Anfang fünfzig, so alt wie mein eigener Mann, lebt nicht mehr? Holger, der mir eben noch – das Basecap auf dem Kopf und eine Zigarette im Mundwinkel – nachbarschaftlich über die Hecke zugewinkt hat: Hey, alles cool bei dir? Aus heiterem Himmel weg?

Herzversagen, heißt es später. Als abends der Leichenwagen vor dem Nachbarhaus hält und ein Aluminiumsarg reingetragen wird, sickert die Erkenntnis langsam in mein Bewusstsein.

 

Am nächsten Tag fliege ich nach Athen, die Reise war lange geplant. Ich laufe im Regen über die Akropolis, und von überall kommt mir Holgers blaugraues Gesicht entgegen: Aus den Ruinen und den Vitrinen des Museums scheint es plötzlich heraus, auf den Straßen und im Restaurant blickt es mich an. Ich werde es nicht mehr los, auch später in Berlin nicht. Noch heute, fünf Jahre danach, holt es mich gelegentlich ein.

Als unser Nachbar starb, war ich 47 und hielt mich für unverwundbar. Ich hatte zwei Kinder zur Welt gebracht und als Reporterin in einem venezolanischen Gefängnis recherchiert, ich beherrschte die Krieger-III-Position beim Yoga, ohne zu wackeln. Wie man einen Kondolenzbrief verfasst, wusste ich nicht. Bis unser Nachbar starb, stellte ich mir unter Sterben nicht viel vor, es war ein abstrakter Begriff. Eines dieser unangenehmen Themen für später, wenn man alt ist. Etwas, das weit weg in Syrien geschah oder abgeschirmt von der Öffentlichkeit auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Auch meine Großeltern hatte ich nicht tot gesehen. »Tu dir das nicht an«, hieß es in der Familie, als es um den letzten Besuch bei der sterbenden Großmutter im Pflegeheim ging, »bewahr dir das Bild von ihr aus besseren Tagen.« Ich habe mich vor ihrem letzten Anblick gedrückt.

Früher, als die Kirchen den Prozess des Sterbens gestalteten und dem Tod einen Sinn gaben, wurden Menschen von ihren Familien auf dem Sterbebett begleitet. Es gehörte zu den Pflichten eines Christen, sich der Sterbenden anzunehmen. Man kannte tröstende Gebete und forschte nach ungebeichteten Vergehen. Die mittelalterliche Ars Moriendi – die Kunst, zu sterben – hatte einen pädagogischen Ansatz: Sie verstand sich als erlernbares Handwerk, um mit Hilfe von Bibeltexten und dem Glauben an Jesus Christus die Angst vor dem Tod zu überwinden.

Heute ist das Sterben hochspezialisierten Gruppen überantwortet. Die Dienste, die dem Toten erwiesen werden, sind käuflich. Die Fortschritte der Intensivmedizin haben die Dauer des Sterbens dramatisch verlängert und den Tod als Ereignis beinahe abgeschafft – und damit auch das Wissen um die Tradition. Der Tod als natürlicher Endpunkt menschlichen Lebens ist aus dem Blick geraten. Fachkräfte beschäftigen sich mit dem Sterben, und weil die Menschen immer älter werden und weit entfernt von ihren Kindern leben, geschieht es gewöhnlich in Pflegeheimen oder Kliniken. Dabei wollen die meisten zu Hause sterben. Aber in den Familien weiß kaum noch einer, wie das geht.

 

»Der erste Tote bedeutet für jeden Menschen einen gewaltigen Einschnitt«, sagt die Therapeutin, zu der ich ein halbes Jahr nach Holgers Herzversagen gehe. Ich bin dünnhäutig geworden, überreizt und empfindlich. Schlafe schlecht und werde scheinbar grundlos von Angst überfallen. Längst geht es nicht mehr um den Schock der Sterblichkeit – sondern um die Furcht vor dem Verlust. Vielleicht wird morgen mein eigener Mann blau angelaufen auf dem Sofa liegen. Vielleicht geht alles noch vierzig Jahre gut – aber irgendwann ist es so weit. Unausweichlich. Doch wie soll ich weiterleben mit diesem Wissen, dass jede Sekunde alles zu Ende sein kann?

»Stellen Sie sich vor, es klingelt. In der Tür steht ein Polizist. Er eröffnet Ihnen, Ihr Mann sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Was tun Sie?« Schritt für Schritt lotst mich die Therapeutin durch die quälende Szenerie. Mit geschlossenen Augen spiele ich das, was ich am meisten fürchte, gedanklich durch – von der Reaktion auf die Todesnachricht über den ersten Anruf bis zu jenem Musikstück, das mir Trost bringt. Ich reflektiere die Art, wie ich Abschied nehmen und die Trauerfeier gestalten würde. Nachdem ich mir das Unvorstellbare vorgestellt habe, weiß ich, es ist zu überstehen. Es gibt ein Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen, so schmerzvoll es auch sein wird. Am Ende der Sitzung bin ich verheult und erschöpft – und sehr befreit.

 

Ich bin Jahrgang 1964, geboren auf dem Höhepunkt des Babybooms, der nach dem Krieg einsetzte und mit dem Pillenknick endete. Babyboomer sind in Frieden und Wohlstand hineingeboren worden, sie streben nach Vervollkommnung, ihr Lebensstil ist materialistisch und auf Fortschritt ausgerichtet. Wir sind unablässig mit uns selbst beschäftigt und lehnen körperlichen Verfall ab. Wir erleben Sinnkrisen und sehen uns wechselweise als Gewinner oder Versager, aber an den Tod denken wir nicht. Wir haben Aerobic erfunden und die Bedeutung atmungsaktiver Sportbekleidung erkannt. Hunger, Angst, Leiden nehmen wir nicht als reale Bestandteile des Lebens wahr, sondern als unvorstellbaren Bruch. Wir sind existentiell verzärtelt, was uns grundlegend von Eltern und Großeltern unterscheidet.

Babyboomer glauben, der Tod gehöre irgendwie zum Leben, aber auf keinen Fall zum eigenen. Sie leben unbehelligt vom Tod, obwohl er allgegenwärtig ist: Man liest und hört von ihm in Filmen und Romanen, begegnet ihm beim Fernsehen und in Computerspielen. Aber die Konfrontation ist nicht unmittelbar, sondern fiktiv. In der Babyboomer-Welt, einer komplett materialistischen Welt, ist der Tod schockierend abstrakt. Babyboomer sind so fest verankert in ihrer Welt, dass sie allein die Vorstellung, sie irgendwann verlassen zu müssen, als Beleidigung empfinden. Der Tod ist die ultimative narzisstische Kränkung, er ist unverzeihlich.

Statistisch gesehen haben Babyboomer zum jetzigen Zeitpunkt eine Lebenserwartung von über achtzig Jahren. Und sie steigt sogar um zwei bis fünf Jahre pro Dekade – und damit auch der Eindruck, die Lebensspanne verlängere sich immer weiter. In einer Zeit, in der Rockbands noch mit siebzig Fußball-Arenen füllen und über sechzigjährige Frauen ihr erstes Kind gebären, einer Zeit, in der Jugendliche sich wie Erwachsene verhalten und Erwachsene wie Jugendliche, ist Alter ein schwammiger Begriff geworden und mehr denn je eine Frage der Haltung. »Amortality« nennt die britische Autorin Catherine Mayer dieses Phänomen, was man frei mit »Verweigerung der Sterblichkeit« übersetzen kann. Sterblichkeitsverweigerer leben durchgängig im selben Takt, egal ob als Teenager oder Greis. Sie wehren sich dagegen, Altern und Tod als Größe in ihrer Lebensgestaltung anzuerkennen.

Sterblichkeitsverweigerer vertrauen darauf, dass die Wissenschaft ihnen dabei helfen wird, lange gut zu leben. Sie schauen hoffnungsfroh nach Kalifornien, wo Biowissenschaftler und Tech-Milliardäre eine Allianz gegen den Tod gebildet haben. In den Zukunftslaboren des Silicon Valleys wirkt der Tod noch überholter und unzeitgemäßer als anderswo. Viel Geld fließt in Stiftungen mit programmatischen Namen wie »Forever healthy« oder »Life Extension Foundation«. Dort geht man davon aus, dass Altern eine Krankheit ist, die man bald heilen kann. J. Craig Venter beispielsweise, bekannt durch die Entschlüsselung des Genoms, hat sich mit »Human Longevity, Inc.« zum Ziel gesetzt, mit Hilfe der DNA-Sequenzierung den Tod zu überlisten. Wenn es gelingt, die Funktion einzelner Gene systematisch zu bestimmen, könnten ein paar Jahrzehnte mehr Lebenszeit herausspringen, oder auch mehr. Und bei Calico, einem von Google gegründeten Biotech-Unternehmen, arbeiten Computerspezialisten und Gentechniker Hand in Hand an Langlebigkeitsstrategien. Unsterblichkeit, so scheint es, ist irgendwann nur noch eine Frage des Geldes.

Am anderen Ende des Spektrums tüfteln Software-Firmen Konzepte aus, um mit dem Tod Geld zu verdienen. In San Francisco, wo eine starke Hospizbewegung das Thema Sterben offensiv und avantgardistisch angeht, widmen sich Werbeagenturen und Software-Entwickler intensiv der Frage, wie man normale, vielbeschäftigte, gesunde Menschen dazu bekommt, sich für ihre Sterblichkeit zu interessieren. Eine Menge digitaler Organisationshilfen zum Sterben sind entwickelt worden, die App »SafeBeyond« beispielsweise bündelt relevante Informationen zum Weitergeben am Lebensende. Passwörter und Benutzernamen, Bankinformationen und Versicherungspolicen, die Kundennummer bei der Papier-Recyclingfirma oder der Kontakt zum Fensterputzer werden praktisch und sicher für die Nachwelt aufbereitet.

In Berlin, wo ich lebe, nutzt man Service-Apps noch nicht beim Sterben, sondern um Autos zu leihen oder Essen zu bestellen. Der Tod ist bei uns immer noch analog. Doch auch hierzulande sind die Dinge in Bewegung. Die erste Nachkriegs-Generation ist über 70 Jahre alt und gerade in Rente gegangen. Es ist die Generation der Achtundsechziger, eine stark politisierte Generation, die für Individualismus und sexuelle Befreiung steht. Mit über siebzig begehren die Rebellen von damals ein letztes Mal auf: Gegen das stille, schicksalsergebene Sterben, wie sie es jetzt bei den alten Leuten erleben. Der Tod, so scheint es, ist der letzte existentielle Bereich, in dem es gesellschaftlich noch etwas zu befreien gibt. Es wird nicht länger hingenommen, sich dem Lebensende stillschweigend wie die Eltern zu ergeben. Jetzt wird gestaltet und diskutiert. Das Recht auf Sterbehilfe ist ein zentraler Punkt.

Eine neue Art von Basisbewegung entsteht: Aus England kommt die Idee von »Sterbecafés«, in denen man sich zum zwanglosen Austausch über den Tod verabredet. Spielfilme wie die Hollywood-Produktion »Still Alice« oder Til Schweigers Komödie »Honig im Kopf« übersetzen sperrige Themen wie Alzheimer und Altersdemenz in leicht verdauliche Unterhaltung. Radio und Fernsehen räumen dem Thema Sterben viel Sendezeit ein. Eine Flut von Büchern beschäftigt sich mit dem Tod. Die Suche nach neuen, zeitgenössischen Formen der mittelalterlichen Ars Moriendi ist voll im Gange.

Auch ich häufe nach dem jähen Tod unseres Nachbarn Bücher und Aufsätze an. Bücher mit Titeln wie Besser leben mit dem Tod oder Sterben für Anfänger. Ich bin es gewohnt, mich schwierigen Themen zu nähern, indem ich die Literatur befrage. Aber in diesem Fall funktioniert es nicht. Die Bücher langweilen mich, nichts davon hat mit mir zu tun, der Tod bleibt Buchstabengewimmel, bedrohlich, aber abstrakt. Ich finde nicht hinein. Mir wird etwas bewusst: Ich muss mir selbst Klarheit über das Sterben verschaffen. Ein zweites Mal will ich dem Tod nicht unvorbereitet begegnen. Ich muss ihm nahekommen, damit er seinen Schrecken verliert, muss so viel wie möglich über ihn erfahren. Sonst werde ich das Erlebnis nicht los.

Aber wie kann man Sterben lernen, ohne selbst betroffen zu sein? Im Gespräch mit der Therapeutin habe ich mich meiner Verlustangst gestellt, nun will ich mich der Angst vor dem Sterben stellen. Ich möchte dem Tod Wissen und Erfahrung entgegensetzen. Wie soll das gehen? Zunächst suche ich das Gespräch mit alten Menschen. Aber es ist schwierig, jemanden zu fragen: Wie fühlt sich das an, wenn das Ende nah ist? Nicht einmal mit meinen Eltern, die immer gebrechlicher werden, habe ich bislang übers Sterben sprechen können. Es fällt mir schwer, ihren Tod auch nur in Erwägung zu ziehen. Doch wenn es so weit ist, will ich vorbereitet und ihnen eine Hilfe sein.

Heute wird viel davon gesprochen, wie wir sterben, und wenig darüber, warum. Von Selbstbestimmung und Würde ist die Rede, vom Recht auf Sterbehilfe und davon, dass der Tod zum Leben gehört. Aber was heißt das für mein Leben, was ist der Sinn? Das sind große Fragen, die mir kein Mensch beantworten kann, und sei er noch so weise – das wird mir beim Tee mit einer alten Dame aus der Nachbarschaft klar, einer disziplinierten und klugen Frau. Sie berichtet vom Alltag alter Menschen, davon, wie die Welt auf die Größe zweier Zimmer zusammenschrumpft und sich alle Kraft, die man noch aufbringen kann, auf den eigenen Körper konzentriert. Wir reden über die Vorstufe des Sterbens, der Tod ist im Alter nah, aber greifbar ist er nicht.

Um herauszufinden, wie das Leben ausgeht, um dem Tod auf die Spur zu kommen, muss ich ganz dicht an ihn rankommen, so viel ist klar. Und dann ist da plötzlich der Gedanke an Sterbebegleitung, wie ein Geistesblitz entsteht die Idee. Ich habe die Mutter einer guten Freundin vor Augen, die, um sich auf den Tod ihres Vaters vorzubereiten, in der Kleinstadt, wo sie lebt, eine Hospizgruppe gründete und seit vielen Jahren Sterbende ambulant begleitet. Mir war das immer ein bisschen unheimlich, was sie macht – in die Häuser fremder Menschen zu gehen und ihnen beistehen, wenn das Leben zu Ende geht. Wer tut sich das freiwillig an? Auf einmal weiß ich, was sie antreibt, es erscheint mir logisch und klug, der bestmögliche Weg.

Per E-Mail erkundige ich mich bei ein paar Berliner Hospizen nach Möglichkeiten zur Sterbebegleitung. Die freundlichste Antwort kommt vom Lazarus Hospiz, im Anhang ein Fragebogen, den es für Interessenten an einem Vorbereitungskurs auszufüllen gilt. Es sind allgemeine Fragen zu Familienstand, Beruf, Sprachkenntnissen und Erfahrungen mit Gruppen oder ehrenamtlicher Arbeit. Zudem wird nach Ängsten gefragt, die man in Bezug auf die Begleitung Sterbender hat. »Dass mir das Sterben persönlich zu nah geht«, notiere ich spontan. Auch die Frage, was ich mir unter Sterbebegleitung vorstelle, beantworte ich ohne Zögern: »Da sein. Zuhören. Die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt stellen.« Die Einschätzung meiner Fähigkeiten für die Sterbebegleitung fällt mir schwerer. Was kann man für die Begleitung sterbender Menschen wohl brauchen? »Empathie und Lebenserfahrung. Eine gesunde Mischung aus Standhaftigkeit und Sensibilität«, schreibe ich hin, und: »Ein Gefühl von Ruhe und Frieden vermitteln zu können.« Dann bringe ich den Brief zur Post. Später schlage ich ein frisches Notizheft auf und schreibe auf die erste Seite: 5. Januar 2014. Fragebogen ausgefüllt und weggeschickt. Instinktiv weiß ich, dass an diesem Tag etwas Wichtiges geschieht.

Erstes Gespräch mit Lydia Röder steht ein paar Wochen später im Heft. Lydia Röder hat den ambulanten Lazarus Hospizdienst mit aufgebaut und leitet ihn seit vielen Jahren, auch den Vorbereitungskurs für Sterbebegleiter hat sie konzipiert und führt ihn durch. Vor dem Gespräch mit ihr bin ich nervös, keine Ahnung, warum. Zu dem Treffen verspäte ich mich, Blitzeis legt an diesem Tag den Berliner Verkehr lahm, und ich schliddere unsicher den Bürgersteig vor dem Lazarus-Haus entlang, einem riesigen Gebäudekomplex, in dem außer dem Hospiz auch ein Pflegeheim untergebracht ist, zudem Schulungsräume, ein Wohnheim für Schwestern der Diakonie, die Träger der Lazarus-Einrichtungen ist, und vieles mehr. Ich verliere mich in dem Gewirr aus Häusern, Höfen und Eingängen, lande irrtümlich im Haupthaus, wo es auffallend warm ist und das Licht sehr gedämpft. Ein Ort des Rückzugs, denke ich, und der Einsamkeit, das auch. Nur ein einziger Mensch ist zu sehen, der Pförtner in seiner Loge. Mit seiner Hilfe finde ich den Weg zum ambulanten Hospizdienst, der in einem angrenzenden Gebäude untergebracht ist. Eine steile Treppe führt zu den Räumen weit oben unterm Dach hinauf. Wie in einer Altbauwohnung sieht es hier aus, Küche und Wannenbad inklusive.

Das Herumirren hat mich entmutigt, ich mache bei der Begrüßung keine gute Figur. »Na, auf dem Fragebogen haben Sie mir einen resoluteren Eindruck gemacht«, sagt Lydia, und es dauert einen Moment, bis ich begreife: diese Frau, deren kurze graumelierte Haare wie ein Helm geschnitten sind, hat einen speziellen Humor. Ihre Stimme ist heiser, die Mimik schalkhaft, sie hat eine warmherzige Aura. Lydia trägt ockerfarbene Cordhosen und Strickstrümpfe, um den Hals eine Kette aus roten Korallen. Sie hat Yogi-Tee gekocht, und auf dem Tisch, an dem wir Platz nehmen, brennt eine dicke Kerze. Das Gespräch ist kurz. Ob ich Fragen habe? Mir fällt nichts ein, noch nicht. Ich werde darüber aufgeklärt, dass mir die Kursgebühr von 250 Euro nach zwei Jahren zurücküberwiesen wird, sofern ich so lange im Hospizdienst bleibe und es dann noch wünschen sollte. Die endgültige Entscheidung, ob ich am Kurs teilnehmen will, solle ich überschlafen, sagt Lydia, von ihrer Seite sei alles okay. Zum Abschied schüttelt sie mir jovial die Hand. Kaum zu Hause angekommen, teile ich per E-Mail meine Zusage mit.

Es fühlt sich gut an, was hier passiert. Wie ein Abenteuer, dessen Ausgang vollkommen offen ist. Ich werde dem Tod ins Auge schauen – vielleicht sogar etwas entdecken, das mich mit den dramatischen Ereignissen in Holgers Haus versöhnt. Seine Familie ist inzwischen weggezogen, hinein ins geschäftige Leben der Innenstadt. Lea, schlagartig erwachsen geworden, studiert fern von Berlin, der Kleine ist ein Schulkind, wach und fröhlich, als ich ihn zuletzt sah. Sie haben es offenbar überstanden. Knapp zwei Jahre nach dem verhängnisvollen Tag im Mai beginnt meine Zeit im Hospizdienst. Es ist der Aufbruch in ein Gebiet, dessen Sprache ich nicht spreche, eine Grand Tour zum Tod. Der Anfang einer Reise ins Unvertraute, einer Reise voll überraschender Erfahrungen und Gespräche, für die mir vorher der Mut fehlte. Es ist die Reise meines Lebens, und davon erzählt dieses Buch.

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Den Tod kennenlernen

Am Tag, als der Vorbereitungskurs für die Sterbebegleitung beginnt, tobt ein Frühlingssturm über Berlin. Draußen fegt ein starker Wind morsche Äste aus den Bäumen, drinnen stehen elf Töpfe mit rosaroten Gänseblümchen bereit. Die Blumentöpfe bekommen wir am Ende des Tages als Hausaufgabe mit auf den Weg: Mal sehen, wie lange sie überleben. Symbole haben in der Hospizarbeit große Bedeutung.

Zehn Frauen und ein Mann bilden einen Stuhlkreis, in dessen Mitte eine brennende Kerze steht. An den Wänden des Seminarraums hängen Bilder in warmen Farben. Es sind Energiebilder, die sich positiv aufs Gemüt des Betrachters auswirken sollen. Ein Stein geht von Hand zu Hand, wer ihn hält, erzählt, wie er sich gerade fühlt. Mit einer solchen Befindlichkeitsrunde wird jedes Seminar eröffnet und beendet. Die Gruppe ist so heterogen wie ihre Stadt – eine buddhistische Nonne, eine vegan lebende Studentin, eine deutsche Jüdin, eine katholische Sozialpädagogin aus Polen, eine protestantische Eventmanagerin und ein muslimischer Laborassistent sind hier unter anderem versammelt, alle zwischen 25 und 55 Jahre alt. Die Stimmung ist erwartungsvoll gespannt.

Insgesamt verbringen wir siebzig Stunden zusammen, übers Jahr aufgeteilt auf sechs Wochenenden plus sechs Abendtermine. Das Seminar in den Räumen des Hospizdienstes bereitet uns darauf vor, todkranke Menschen zu Hause oder im Hospiz zu unterstützen, mit ihnen durch die letzte Lebensphase zu gehen, die Zeit von Abschied und Bilanz. Oft können Sterbende kaum artikulieren, was ihnen guttut oder was sie bedrückt. Die gleiche Frequenz suchen und eintauchen in ihre Welt – das lernt man in der Ausbildung. Was man als Sterbebegleiter macht, gilt es bei jedem Einsatz neu zu erspüren. Es gibt keine formalen Handlungsanweisungen, außer: hingehen, aufmerksam zuhören und hinsehen, reagieren. Bedürfnisse erkennen. Manchmal muss die Speisekammer aufgefüllt oder das Handyguthaben aufgeladen werden, erfahren wir. Manchmal bietet der Sterbebegleiter auch bloß ein bisschen Ablenkung zwischen Fernsehen und Abendessen. Oder er erfüllt letzte Wünsche: einmal noch den Ku’damm rauf- und runterfahren oder den Bruder besuchen, um sich zu versöhnen.

Die Qualifikation zur Sterbebegleitung unterliegt keiner Norm: Alle 1500 ambulanten Hospizdienste Deutschlands bereiten ihre Ehrenamtlichen so vor, wie sie es für richtig halten. Die meisten Kurse folgen dem sogenannten Celler Modell. Das ist ein christlicher Ansatz, die verloren gegangene Ars Moriendi, die Kunst des Sterbens, wiederaufleben zu lassen. Beim Lazarus Hospizdienst (Lazarus hieß der Tote im Neuen Testament, der von Jesus unversehrt aus dem Grab gerufen wurde) orientiert man sich am säkularen Berlin: Der Kurs ist weltanschaulich offen und keiner Religion verpflichtet, deshalb hängen Energiebilder statt Kreuze an der Wand.

Eine Menge Rollenspiele gehören zum Ausbildungsprogramm und Filme, in denen es um Sterben, Tod und Trauer geht. Ziel ist es, eine Ahnung davon zu bekommen, welche Prozesse Sterbende durchlaufen, wie sie sich fühlen. Selbstwahrnehmung gehört ebenfalls zur Ausbildung, denn um sein Gegenüber zu erkennen, um sich in ihn hineinversetzen zu können, muss man wissen, wo man selbst gerade steht. Nach und nach füllen Erzählungen über verlorene oder ungeborene Kinder, traumatische Trennungen, schwere Krankheiten und trostlose Familienverhältnisse den Seminarraum. Eine Kleenex-Box steht griffbereit, denn manche Übung berührt einen wunden Punkt. Das Gruppenerlebnis ist intensiv, nicht jedem liegt das. Drei Teilnehmer brechen den Kurs im Lauf der Monate ab.

Einmal werden Papierkrawatten ausgeteilt, auf denen jeder sechs Dinge notieren soll, die ihm wichtig sind. Bei mir steht die Familie ganz oben, weiter unten Erkenntnisgewinn und Natur. Dann heften wir uns die Krawatten an die Pullover, und Lydia schneidet Stück für Stück, von unten nach oben, Begriffe ab. Nach und nach fallen Gott, Rotwein, Beweglichkeit und andere Werte zu Boden. Jeder Schnitt kommt unvermittelt und hart. Am Ende geht es leichter. Loslassen, so scheint es, ist vor allem am Anfang eine Hürde, erstaunlicherweise, denn die wichtigsten Dinge fallen als Letztes.

Ein anderes Mal schweigen wir einen ganzen Nachmittag lang und verständigen uns nur mit Blicken und Gesten. Wir lernen die Welt aus fremden Blickwinkeln kennen – etwa aus einem Rollstuhl. Wie unterschiedlich Intimität definiert wird, zeigt eine Übung, in der wir Körperzonen farbig markieren, an denen wir uns von fremden Menschen auf keinen Fall berühren lassen wollen. Es entstehen ungleiche Farbmuster. Solche Sichtweisen nicht zu bewerten, sie einfach stehen zu lassen, gehört zu den zentralen Lektionen der Hospizarbeit. Hier lernt man Unvoreingenommenheit wie woanders Stricken oder Russisch. Es ist eine Schule der Vorurteilslosigkeit.

Auf den langen S-Bahn-Fahrten nach Hause tippe ich nach den Workshops hektisch Nachrichten in mein Handy und schicke sie an mich selbst – bloß nichts vergessen. Die Welt erscheint in neuen Farben, wenn man lernt, sich zurückzunehmen und nicht alles auf sich zu beziehen. So gesehen ist es eher ein Kurs über das Leben als über das Sterben. Ich hatte mit Frontalunterricht gerechnet: Flipcharts, Referate über den Tod. Aber ich muss mein Inneres nach außen kehren, bevor man mich in ein Sterbezimmer lässt. Warum? Was hat diese Selbstanalyse mit Sterbebegleitung zu tun?

»Sterbende brauchen ein stabiles Gegenüber. Wer psychisch mit sich im Einklang ist, kann ihnen unbefangen und frei begegnen. Am Lebensende spüren Menschen Ängste und Befürchtungen des anderen schnell. Und sie spüren, ob du echt bist«, sagt Lydia. Als Leiterin des ambulanten Hospizdienstes ist sie gleichzeitig auch eine Art Mentorin für die etwa siebzig Lazarus-Sterbebegleiter. Lydia ist 47 und hat früher als Krankenschwester gearbeitet, zur Sterbebegleitung kam sie über Sitzwachen bei Aids-Patienten. Mit ihrer einfühlsamen und direkten Art verkörpert sie das Wesentliche der Sterbebegleitung: Unerschrockenheit.

 

Im Frühsommer beginnen erste Praxiseinsätze. Jährlich gehen beim Lazarus Hospiz an die 150 Anfragen von Pflegediensten, Krankenhäusern, Arztpraxen und Angehörigen ein. Manchmal kommen fünf an einem Tag, manchmal kommt wochenlang keine. Wir schwärmen aus an unterschiedliche Orte: ein Pflegeheim im Wedding, eine Wohnung in Berlin-Mitte oder ein Krankenzimmer im stationären Hospiz. Jetzt hat das Sterben einen Namen, notiert auf einem Formblatt mit rudimentären Informationen: Adresse, Geburtsjahr, manchmal die tödliche Krankheit. Bin ich vorbereitet für die Begegnung mit dem Tod?

Mein erster Einsatz ist im Hospiz, am Pfingstmontag gehe ich zum ersten Mal dorthin. Hospize sind aus einer Art Bürgerbewegung gegen das medikamentalisierte Sterben im Krankenhaus entstanden, ausgelöst von Cicely Saunders, die Ende der Sechzigerjahre in London das erste Hospiz gründete. Saunders war erst Sozialarbeiterin und Krankenschwester, dann Ärztin und Pionierin der Palliativmedizin.

In Hospizen ergänzen sich Laienhelfer und Profis. Ziel ist es, eine Situation zu schaffen, in der der Tod ähnlich erlebt wird wie im Kreis vertrauter Menschen. Hospize sind vor allem für Menschen gedacht, die allein sind. Nach dem Sozialgesetz steht in Deutschland jedem unheilbar Kranken ein Platz zu – sofern die Erkrankung fortschreitet, eine Heilung ausgeschlossen ist und die Lebenserwartung nur noch Wochen beträgt. Doch ein freier Platz ist ein Glücksfall, denn es herrscht Bettenmangel. Obwohl die Zahl der Hospize seit Ende der Neunziger bundesweit wächst, kommen in Deutschland insgesamt nur rund 3290 Betten auf 82 Millionen Einwohner. Nordrhein-Westfalen steht mit 62 stationären Hospizen im bundesweiten Vergleich an erster Stelle, Berlin nimmt mit 15 Hospizen den fünften Platz ein, verfügt jedoch prozentual über die meisten Betten pro Einwohner. In Bayern, wo die Familientraditionen am stärksten sind, stehen die wenigsten Betten zur Verfügung.

Jedes Hospiz führt eine Warteliste, ein freier Platz wird an den vergeben, der ihn am dringendsten braucht. Im Lazarus Hospiz gibt es 16 Pflegeplätze, das ist die gesetzlich festgelegte Obergrenze, um den familiären Charakter von Hospizen zu gewährleisten. Alle Hospize stehen unter pflegerischer, nicht ärztlicher Leitung. Darin ähneln sie den von Hebammen geleiteten Geburtshäusern. Wie im Bestreben nach einer sanften Geburt geht es auch in der Sterbebegleitung um eine intime, geschützte Atmosphäre fern der Hochleistungsmedizin. Aber während man bei der Geburt auf Informationen im Überfluss zurückgreifen und Kreissäle besichtigen, Kurse für Schwangerenyoga belegen und in der Geburtsvorbereitung Wehen wegatmen lernen kann, wird über das Ende kaum gesprochen. Über den Lebensanfang wissen wir viel, das Ende scheuen wir.

 

Als ich das Zimmer betrete, liegt Magda Hesse im Bett und schaut aus dem Fenster. Eigentlich heißt Magda Hesse anders, alle Namen der Verstorbenen und ihrer Angehörigen in diesem Buch sind geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

Frau Hesse ist 81 Jahre alt und hat Lungenkrebs, so steht es in ihrer Krankenakte. Über ihrem abgemagerten Körper spannt sich die Haut, die Füße sind angeschwollen, voller blauer Flecke. Die wenigen Haare, die sie noch auf dem Kopf hat, stehen in alle Richtungen ab und haben eine schöne dunkelbraune Farbe. Ihre Augen strahlen.

Draußen reckt sich der Fernsehturm glänzend in die Junisonne. Das Zimmer wirkt wie ein normales Krankenzimmer: Bett, Schrank und Sessel, kleiner Esstisch, nichts Persönliches – bis auf das gerahmte Foto von einem englischen Bobby, das auf dem Nachttisch steht. »Mein Mann«, sagt Magda Hesse. »Ist 2000 gestorben.«

Die Unterhaltung stockt, also stelle ich Fragen: »Wie viele Jahre haben Sie in England gelebt?«, »Welcher Ihrer beiden Söhne hat die drei Töchter – der, der in Liverpool geblieben ist, oder der, der mit Ihnen nach Berlin kam?« Diese Art Kreuzverhör ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was im Kurs gelehrt wird. Dort heißt es: »Aufnehmen, was da ist. Darauf eingehen, damit arbeiten.« Aber irgendwie muss das Gespräch doch Fahrt aufnehmen. Ich bin nervös, Frau Hesse wirkt belustigt. Sie schaut mich erwartungsvoll an.

Frau Hesse wird täglich von ihrem Sohn besucht, sonst kommt niemand. Seit einem Sturz kann sie nur noch mühsam laufen, lesen mag sie nicht mehr. Bleibt nur der Fernseher und mal ein Rollstuhl-Ausflug auf die Dachterrasse des Hospizes.

»Wie wäre es, wenn ich uns Eis hole?«

»Warum nicht.«

Wenig später essen wir wortlos Erdbeereis, nur das Kratzen der Löffel in den Bechern ist zu hören. Ob sie Wünsche hat, frage ich sie.

»Zigaretten«, sagt Magda Hesse und macht eine kurze Pause. »Ist doch egal, ob ich rauche oder nicht, ich sterbe ja sowieso.«

Bei meinem nächsten Besuch stecke ich ihr eine Marlboro zwischen die Lippen. Dass sie im Bett rauchen darf, gehört zu den Annehmlichkeiten eines Hospizes. Hier ist alles weniger festgelegt als im Krankenhaus. Hier macht der Patient die Regeln. Hier geht es nicht darum, das Leben zu verlängern, sondern die Qualität des verbleibenden Lebens zu steigern. Deshalb wird in Hospizen anders gestorben: wissender, besser vorbereitet. Wer ins Hospiz zieht, weiß: Hier gibt es keine Hightech-Medizin, nicht einmal weiße Kittel. Manche leben noch einmal auf und sortieren im Rückblick ihre Biografie. Dann stirbt es sich leichter.

Ich gebe Frau Hesse Feuer, sie saugt an der Zigarette. Beim zweiten Zug schafft sie es kaum, den Filter zwischen die Lippen zu stecken, so zittrig ist sie. Beim dritten Zug führe ich ihr die Hand und schlage dann vor, die Zigarette auszudrücken. »Muss ja nicht sein«, stimmt sie zu. Sie wirkt erleichtert – vielleicht, weil der Gedanke ans Rauchen schöner war als das Rauchen selbst.

»Wie geht’s Ihnen heute?«

»Beschissen.«

Ich habe mir Sterbebegleitung anders vorgestellt. Poetischer und ein bisschen intellektueller. Als großartige Möglichkeit, von der Weisheit und Erfahrung zu profitieren, die Menschen im Laufe ihres Lebens und im Schatten des Todes ansammeln. Etwa so, wie man es bei Mitch Albom in Dienstags bei Morrie liest. Albom erzählt, wie er in Gesprächen am Sterbebett seines ehemaligen Lehrers lernt, das Leben neu zu betrachten und zu verstehen. Doch anstatt solcher Kleiner-Prinz-Weisheiten lerne ich an diesem Nachmittag etwas Besseres: den eigenen Turbo-Lebensrhythmus der langsamen Gangart eines verlöschenden Menschen unterzuordnen. Raum und Zeit verschwinden dann, die Welt entfernt sich kolossal, und ich trete so stark mit mir selbst in Verbindung wie sonst nie. In den Stunden bei Magda Hesse entferne ich mich vom Rest der Welt so weit, als wäre ich auf einem Tiefseetauchgang. Im Hospiz bin ich gezwungen, mich komplett auf mich selbst zu verlassen, auf Intuition und Instinkt. Kein akademischer Grad, kein beruflicher Erfolg ist hier von Bedeutung, weder Status noch Reputation. Es geht um das Leben, um seine Schwere und Schönheit.

Magda Hesses Beine zittern plötzlich wie im Trommelwirbel. Ich lege meine Hand auf ihren Oberschenkel, bis das Zittern aufhört, und frage sie nach ihrem Lieblingsbuch.

Als ich ein paar Tage später mit einem Exemplar von Jane Eyre wiederkomme, sitzt Frau Hesse aufrecht im Sessel am Tisch. Der Fernseher läuft. Zum ersten Mal sehe ich sie nicht im Nachthemd, sondern in einem fliederfarbenen Strickpullover, den sie verkehrt herum anhat. In der leuchtenden Farbe wirkt Magda Hesse vital, aber das täuscht. Sie klagt, es gehe ihr schlecht. Immer wieder fallen ihr die sonst so lebhaften Augen zu.

»Ich bin müde vom Nichtstun, Tag und Nacht sind eins.«

»Sie wirken bedrückt. Was ist los?«

Sie sorgt sich um ihren Sohn, mit dem sie bis zuletzt zusammenlebte. Er ist Rentner, Anfang sechzig, alleinstehend. Alt genug, um für sich zu sorgen, doch Magda Hesse ist sicher: »Allein kommt er nicht zurecht. Der weiß nicht mal, wie man die Waschmaschine bedient.«

Dann ruckelt sie unruhig im Stuhl und stöhnt. Ich massiere ihre Schultern, »da stecken all die Sorgen drin, ja?« Hesse senkt den Kopf, genießt die Berührung und sitzt jetzt ruhig.

Zu Hause stelle ich Jane Eyre zurück ins Regal. Mit Romanen lässt sich die Einsamkeit am Ende des Lebens nicht vertreiben – und Sterben bedeutet absolute Einsamkeit.

»Der Tod ist schließlich nichts anderes als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden. Die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein«, hat der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf in seinem großartigen, als Buch erschienenen Blog Arbeit und Struktur notiert. Es ist eine Chronik von der Krebsdiagnose bis zum Ende. Herrndorf war knapp fünfzig, als ihn ein besonders heimtückischer Hirntumor überfiel. Dreieinhalb Jahre hat er mit dem Krebs überlebt und so unsentimental darüber geschrieben wie kein anderer: »Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.« Er spricht im gleichen herben Ton vom Sterben wie vom Leben.

Im Juli, einen Monat, nachdem wir uns kennengelernt haben, verletzt sich Magda Hesse bei einem Sturz die Schulter. Jetzt bekommt sie starke Schmerzmittel und dämmert vor sich hin. Sie hat aufgehört zu sprechen und zieht sich in sich selbst zurück. Als ich ins Zimmer trete, sitzt sie teilnahmslos auf ihrem Stuhl, im Fernsehen läuft Bei Anruf Liebe, ohne Ton. Ich nehme ihre Hand, sie zieht sie zurück. Der Tag ist heiß und schwül, über dreißig Grad. Ich führe eine Schnabeltasse an Magda Hesses Mund, sie nimmt einen winzigen Schluck Wasser, dann noch einen, ganz langsam immer mehr. Als ich die Tasse absetze, gibt sie mir durch ein Zucken im Arm zu verstehen, dass sie mehr möchte. Nach einer halben Stunde hat sie ein Viertel der Tasse ausgetrunken. So viel Zeit für so wenig Flüssigkeit – unmöglich für einen Pfleger, sich diese Zeit zu nehmen, wenn er in einer Schicht gemeinsam mit einem Kollegen 16 Menschen zu versorgen hat.

Als ich drei Tage später komme, liegt Magda Hesse im Bett, die Augen geschlossen. Bei jedem Atemzug reißt sie ihren Kopf so heftig nach hinten, als hielte sie jemand gewaltsam unter Wasser gedrückt und sie käme nur mit letzter Kraft an die Oberfläche. Ihr Atmen wird von einem rasselnden Geräusch begleitet – das Todesrasseln der letzten Stunden. Durch die Bettdecke treten die Beckenknochen ihres abgemagerten Körpers hervor. Gelegentlich fährt ihr linker Arm durch die Luft, als wüsste sie nicht mehr, wohin damit. Die Füße sind bläulich verfärbt, das Blut transportiert nicht mehr genug Sauerstoff. Der Mensch stirbt nicht auf einen Schlag, sondern die Organe stellen nach und nach die Arbeit ein, wenn das Herz keinen Sauerstoff mehr durch den Körper pumpt. Den Anfang macht das Gehirn. Allmählich bricht die Koordination des Körpers zusammen. Als ich ihre Hand nehme, reagiert Magda Hesse nicht. Ihr Bewusstsein ist auf dem Rückzug, angeführt von ihrem Körper, der kaum noch Treibstoff hat. Magda Hesse ist dem Tod jetzt nah.

Ich verlasse das Hospiz in einem eigenartigen Zustand von Schwerelosigkeit – als wäre die Lebensenergie, die der sterbenden Frau entweicht, auf mich übergegangen. Ein paar Stunden später ruft eine Pflegerin an: Frau Hesse ist eben verstorben. Nur zwei Monate habe ich sie gekannt, aber in außergewöhnlicher Nähe und Verbundenheit.