Letzte Ruhe im Wohnmobil - Stephan Pörtner - E-Book

Letzte Ruhe im Wohnmobil E-Book

Stephan Pörtner

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Beschreibung

Anfang März in Südfrankreich: Henry Kummer genießt seinen Ruhestand – diesmal aber wirklich, glaubt er. Doch die entspannte Atmosphäre auf dem Camping de l'hippodrome bei Nizza währt nicht lang, Kummers Platznachbar Georges sorgt für Wirbel: Erst zettelt er eine Schlägerei mit Jugendlichen an, dann drückt er Kummer einen Briefumschlag mit geheimem Inhalt in die Hände – »falls ihm etwas zustößt« –, und schließlich verschwindet er wirklich spurlos.Einige Wochen später taucht Georges auf Kummers Stammcampingplatz im Tösstal wieder auf, wie immer leicht beschwipst und gut gelaunt.Kurz darauf wird er in seinem Wohnmobil erschossen. »Tamisiech …«, kann Kummer da nur sagen. Und dann wird er neugierig. Schließlich war er zweiunddreißig Jahre lang Polizist, auch wenn er die meiste Zeit am Empfang des Kripo-Gebäudes in der Zürcher Kasernenstrasse verbracht hat … Wer war Georges wirklich?

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stephan Pörtner

Letzte Ruhe im Wohnmobil

Ein Fall für Henry Kummer

Kriminalroman

Atlantis

Erstens

Ein zaghaftes Jaulen, ein Quietschen fast, weckteKummer. Als er ein Auge öffnete, sah er, dass Tara am Kopfende seiner Schlafkoje stand und ihn erwartungsvoll ansah. Er drehte sich ab und versuchte noch einen Moment lang so zu tun, als würde er schlafen, doch die Mischlingshündin wedelte freudig mit dem Schwanz und stieß ihn mit der Schnauze an. Sie kannte ihn. Seine Hoffnung, er würde noch einmal einschlafen, war reine Selbsttäuschung, die nicht funktionierte. Die Nacht im Camper war kalt gewesen, die Heizung hatte er abgedreht, als er gestern Abend gegen zehn Uhr zu Bett gegangen war. Mit einem Ruck schlug er die warme Decke zurück, setzte sich auf und schlüpfte in seine gefütterten Crocs, die ihm Irma im Herbst auf seinen 62. Geburtstag geschenkt hatte.

»Die sind sehr praktisch«, hatte er sich bedankt.

»Sie sind sehr hässlich«, hatte Irma gelacht. »Aber so ist es nun mal. Das Praktische ist der Feind des Schönen. Auf den Campingplätzen brauchst du nicht gut auszusehen.« Recht hatte sie, warme Füße waren wichtiger als allfällige Eleganz.

Die meisten Menschen – von gegen ihren Willen mitgeschleppten Teenagern abgesehen – gaben Stil und gepflegtes Äußeres an der Rezeption des Campingplatzes ab. Das galt auch für Kummer, der eine rote Faserpelzjacke und eine hellblaue Daunenweste, beides im Ausverkauf eines Sportdiscounters erstanden, über die Sachen zog, die er zum Schlafen getragen hatte: ein kurz- und ein langärmliges T-Shirt und ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift Côte d’Azur, von dem er nicht mehr nachvollziehen konnte, warum er es gekauft hatte. An den Beinen trug er lange Unterhosen unter einer grauen Trainerhose. Er setzte seine schwarze Wollmütze auf, griff nach Taras Leine und ein paar Hundesäckchen, die hier lange nicht alle benutzten, aber er sah nicht ein, warum andere seinen Dreck wegräumen sollten. Tara sprang heraus, kaum dass er die Schiebetür des Campers einen Spalt breit aufgezogen hatte. Sie schlief drinnen, draußen in der Transportbox war es nachts zu kalt. Obwohl Kummer dachte, dass ein Hund das eigentlich aushalten sollte, da der Wolf, von dem er abstammte, auch draußen schlief, brachte er es nicht übers Herz, sie auszusperren. In der Führerkabine hatte er ihr ein warmes Nest aus einer alten Wolldecke eingerichtet, zu Beginn des Winters war sie jeweils um vier Uhr morgens auf das Fußteil seines Betts gesprungen. Das hatte er ihr ausgetrieben. Er lebte auf genug kleinem Raum, sein Bett war sein Bett, das wollte er nicht mit einem Hund teilen. Es war kurz vor acht Uhr.

Tara rannte ein Stück voraus, blieb stehen und hielt die Nase in den Wind. Von den Informationen, die sie sammelte, verstand Kummer nur eine: Es war kalt.

»Tamisiech«, fluchte er, schritt über den Kiesplatz zum Ausgang des Campingplatzes und bog in die kleine Straße ein, der Sonne entgegen, die nun jeden Tag etwas früher aufging und die Wärme brachte, die für alle, die in engen, schlecht beheizbaren Unterkünften hausten, den Unterschied zwischen leichten und schweren Tagen machte. Die Tage waren hier in Südfrankreich deutlich wärmer als in der Schweiz oder in Deutschland. Das war der Grund, warum so viele, vor allem Pensionierte, den Winter hier verbrachten. Auch die Nächte waren milder, Minustemperaturen gab es selten. Und trotzdem hatte er die Kälte unterschätzt.

Kummers Traum, mit dem Camper auf einem Platz direkt am Meer zu stehen, auf das er jeden Morgen beim Aufstehen schauen würde, hatte sich nicht erfüllt. Die meisten Campingplätze in der Region waren von Mitte Oktober bis Ostern geschlossen. Einer der wenigen, die ganzjährig geöffnet hatten und direkt am Meer lagen, war jener in Saintes-Maries-de-la-Mer, aber dort gab es keinen Strom, und sein Solarpanel reichte nicht aus, um autark zu sein. Schließlich war er auf diesem Campingplatz in der Nähe des Hippodroms von Nizza gelandet, der auch das ganze Jahr über offen war. Der Platz lag in Villeneuve-Loubet, einem Vorort, der mit anderen Gemeinden und der Stadt zusammengewachsen war. Hier konnte er seine Besorgungen zu Fuß oder mit dem Velo erledigen, in einer halben Stunde war er im Zentrum von Nizza. Im Gegensatz zu jenen, die mit dem Wohnwagen unterwegs waren, musste er sich jeweils zwischen Mobilität und Komfort entscheiden. War das Markisenzelt aufgebaut und der Camper auf Wohnen umgestellt, ließ er sich nicht mehr bewegen. Regnete es ein paar Tage, konnte es eng und bedrückend werden. Er hatte sich schon den Kauf eines freistehenden Vorzelts überlegt, aber er wollte nicht noch mehr Material herumfahren. Das Campen bot endlose Verlockungen, Zubehör und Gadgets zu erwerben, die das Leben leichter machen sollten. Es gab einige YouTube-Kanäle, auf denen die neuste Ausrüstung angepriesen wurde, und er zwang sich jeweils, nicht gleich etwas zu bestellen. Er musste sparen, und das meiste war dann doch nicht so umwerfend wie versprochen oder kam nur selten zum Einsatz und nahm vor allem Platz weg.

Bei schlechtem Wetter war er jeweils froh, dass er allein war und sich, außer wenn Tara rausmusste, auch mal einen Tag im Bett verkriechen konnte und nicht wie die Rentnerpärchen das ganze Alltagsritual auf engstem Raum abspulen musste. Es war, so dachte er, unmöglich, sich dabei nicht auf den Geist zu gehen. Viele solcher Paare hatte er kennengelernt. Sie hatten sich ein Arbeits- und Familienleben lang gar nicht so oft gesehen und versuchten nun, einander auf dem Campingplatz aus dem Weg zu gehen. Sie fuhr einkaufen und kochte, während er mit dem Velo oder Töff herumdüste. Die gemeinsame Zeit wurde vor dem Fernseher verbracht. Diese Generation, für die der Fernseher und das Fernsehprogramm den Tag strukturierten, starb langsam, aber sicher aus. Die jüngeren Leute, Paare und Familien saßen vor ihren jeweiligen Bildschirmen und stellten ihr eigenes Programm zusammen.

Der Strand war um diese Tageszeit noch verlassen, nur Leute wie er selber, ältere Menschen mit meistens kleinen Hunden, gingen gemächlich im Wind. Tara tobte durch den Sand, traf Artgenossen, Kummer nickte den Besitzerinnen zu, schaute aber, dass er genug Distanz hielt, sodass er nicht mit ihnen plaudern musste. Dazu war es zu früh, vor allem auf Französisch oder Englisch, die Sprache, auf die sich alle Nicht-Einheimischen geeinigt hatten. Er schlenderte den Strand entlang und bog dann in die Hauptstraße ein, wo sich ein Café mit Bäckerei befand, das auch im Winter geöffnet war und Chez Nous hieß.

Mit einer windgeschützten Terrasse ausgestattet, war es der ideale Ort, um den Tag an sich herankommen zu lassen. Die Bedienung grüßte ihn und fragte, wie es ihm ginge, ohne eine Antwort zu erwarten. Wie immer bestellte er einen Espresso und ein Croissant.

Die aufliegende Lokalzeitung beachtete er nicht. Die Pandemie war vorbei, dafür war ein Krieg ausgebrochen. Er vermied es, wann immer möglich, sich über das Weltgeschehen zu informieren, als bliebe er von dessen Auswirkungen verschont, wenn er nichts von ihnen wusste. Da es aber fast unmöglich war, nicht mitzubekommen, was auf der Welt vorging, war dies ein sinnloses, ans Abergläubische grenzendes Verhalten.

Tara leckte gierig die Krümel auf, die ihm herunterfielen. Kummer blinzelte in die Sonne, die nun so weit aufgegangen war, dass ihre wohlige Wärme die Terrasse erreichte. Innert kurzer Zeit entfaltete sich sein zerknülltes Gemüt. Das Leben ist gut, dachte er. In den letzten Jahren war er zweimal in Lebensgefahr geraten und schwer verletzt worden. Erst ein Bauchschuss, der ihn den Polizistenberuf an den Nagel hängen ließ, ein knappes Jahr später ein Messerstich in den Hals, ausgeführt von einer Frau, die eine Reihe von Morden auf Campingplätzen in der Schweiz verübt hatte. Dass er noch am Leben war, hatte er Tara zu verdanken. Seither mied er Gefahren, weil er überzeugt war, dass jeder Mensch ein gewisses Quantum Glück hatte, das irgendwann aufgebraucht war. Leider war dieses Quantum individuell sehr unterschiedlich bemessen und darum nicht kalkulierbar. Deshalb mochte er den Song »Extra Extra Read all about it (Ben)«, zu finden auf dem Album Bo Diddley & Company von 1963, dem ersten, auf dem Bo Diddley, von dem er ein großer Fan war, von der Gitarristin Duchesse begleitet wurde, die auf dem Cover abgebildet war und wohl die Company darstellte. Das Lied erzählt von einem Kerl, der unter anderem angeschossen wird, aus einem Flugzeug fällt und bloß darüber lacht. Während ihm der Arm amputiert wird, raucht er mit der anderen Hand cool eine Zigarette, bis es in der letzten Strophe dann heißt: »That’s why it is so shocking to behold: Old Ben passed away from a common cold.«

An einer Erkältung zu sterben war auch das höchste Risiko, das Kummer seit seiner Genesung einging, und das war hier trotz allem kleiner als in Zürich, wo seine Freundin Irma und seine Tochter Mona lebten, mit denen er hin und wieder telefonierte. Zu Weihnachten war er in die Schweiz gefahren und hatte bei Irma gewohnt. Es waren schöne Tage, aber nach etwa zehn solchen war sie sichtlich froh gewesen, als er wieder abfuhr. Ihm war fast ein wenig zu wohl geworden in der warmen Wohnung. Im Gegensatz zu ihm war Irma noch berufstätig, im Gesundheitswesen. Sie hatte viel Stress und wenig Zeit. Auch Mona hatte viel um die Ohren, ihr kurz vor der Coronakrise eröffnetes Café hatte knapp überlebt, aber es war ein täglicher Kampf, es am Laufen zu halten, vor allem im Winter, wenn die beliebten Außenplätze fehlten.

Auf den Campingplätzen lebten Menschen mit Schicksalen, die seinem glichen. Alte, Abgehalfterte, Ausgestiegene. Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgemustert und vom familiären Umfeld nicht vermisst wurden, die im Weg waren oder endlich die Freiheit genießen wollten, die sich vierzig Jahre lang auf vier Wochen Ferien beschränkt hatte. Die nun wissen wollten, was es mit diesem wahren Leben, von dem so viel die Rede war, auf sich hatte. Falls sie von den Versprechungen dieses goldenen Lebensabschnittes enttäuscht waren, ließen sie es sich nicht anmerken, sondern vertrieben die Zeit mit Spaziergängen und Ausflügen, Besichtigungen, Museumsbesuchen, Kochen, Essen, Alkohol und endlosen Gesprächen über das Wetter und die Preise. Lebensqualität setzte sich aus genossenen Zusatzgraden und ergatterten Sonderangeboten zusammen.

Hier, im Süden Frankreichs, kam als Pflichtprogramm das Boule-Spiel dazu. Wer sich mehr als ein paar Nächte auf dem Campingplatz aufhielt, wurde zwangsrekrutiert. Selbst Kummer hatte sich nicht drücken können, trotz mangelnder Treffsicherheit. Jeden Abend um halb sechs traf sich der harte Kern der Dauercamper auf dem Kies beim Eingang des Platzes. Rund eine Stunde lang wurde gespielt, danach kam der gemeinsame Apéro. Billiger, aber erstaunlich guter lokaler Rosé wurde getrunken, alle brachten in loser Reihenfolge eine Flasche mit, es wurde gelacht und geplaudert, obwohl alle ungefähr dasselbe erlebt hatten, nämlich nichts. Kummer, dessen eingerostetes Schulfranzösisch aufgeblüht war, seit er mehr Zeit in Frankreich verbrachte, konnte sich redlich unterhalten. Trotzdem tat er zuweilen so, als verstehe er nichts, was manchmal daran lag, dass er nicht zuhörte, und manchmal daran, dass er keine Lust hatte sich zu äußern, vor allem, wenn es um jenes Weltgeschehen ging, das er zu ignorieren suchte.

Die Gruppe bestand fast ausschließlich aus älteren französischen Ehepaaren, die in kälteren Regionen ein Häuschen hatten, in dem ihre Kinder oder Verwandten gegen geringe Miete lebten, während sie im Süden überwinterten. Schweizer und Deutsche machten Station auf dem Weg nach Spanien, wo, wie sie berichteten, alles besser war. Besser bedeutete billiger und wärmer.

Als Kummer im Winter 2019 mit dem Camper losgezogen war, hatte er auch nach Spanien gewollt, war aber damals schon in Frankreich hängen geblieben und im Frühjahr 2020, kurz vor dem Lockdown, in die Schweiz zurückgekehrt. Wie sich in den letzten Jahren gezeigt hatte, konnte schnell etwas passieren. Das Gefühl der Sicherheit, die seit dem Abzug der Kurzstrecken-Raketen aus Europa bis zum Ausbruch der Pandemie geherrscht hatte, war verschwunden. Viele wünschten es zurück und hatten bereits vergessen, dass die Sicherheit, als sie herrschte, als langweilig und beengend empfunden worden war. Das Leben sollte wild und unberechenbar sein. Bei gutem Lohn und funktionierendem Gesundheitssystem natürlich. Nun, da die Zukunft unsicher und fragil geworden war, trat nicht das antizipierte intensive Lebensgefühl ein, sondern die Angst.

 

Falls Irma oder Mona etwas zustoßen sollte, wäre er von hier aus in rund zwölf Stunden zurück in Zürich, wenn nicht gerade Schneestürme tobten. Anders sah es aus, falls ihm etwas zustoßen sollte, was am wahrscheinlichsten, für ihn aber am unvorstellbarsten war. Noch zog es ihn nicht zurück, ein Blick auf die Wetter-App genügte: Hier herrschten tagsüber zwölf bis fünfzehn Grad, in Zürich waren vier bis acht Grad angesagt. Er war froh, diesen Platz gefunden zu haben, dachte er, während er von der Terrasse des Cafés in den blauen Himmel schaute. Viel hatte er nicht, mehr brauchte er nicht.

Weil er schon während seiner Arbeit am Empfang des Kantonspolizei-Postens an der Kasernenstraße in Zürich oft herumgesessen hatte, kam er mit wenig Ablenkung aus. Ständiger Begleiter war sein Tablet, auf dem er Bücher las, Filme schaute, ab und zu Mails schrieb. Das Handy benutzte er weniger, nachdem er sich vor zwei Jahren in eine Mordserie verstrickt und zu deren Aufklärung mit Signal, Telegram und anderen Messengerdiensten hantiert hatte, brauchte er inzwischen fast nur noch WhatsApp zum Telefonieren, Sprach- und selten Textnachrichten versenden.

Zu Beginn seiner Zeit auf diesem Platz hatte er Ausfahrten mit dem Rennvelo gemacht, aber die Straßen waren eng, es wurde schnell gefahren, und der Wind blies oft heftig. Zudem war die Gegend hügelig, mit Tara im zusammenklappbaren Anhänger, den er am Velo befestigen konnte, ging ihm bald der Schnauf aus. Hin und wieder radelte er mit ihr dem Meer entlang, am Flughafen vorbei in die Stadt hinein, und flanierte mit ihr auf der berühmten Promenade des Anglais. Ansonsten blieb es bei Spaziergängen dem Strand entlang.

Kummer, der seinen Espresso längst getrunken und das Croissant verzehrt hatte, zahlte, kaufte ein Brot und kehrte auf den Campingplatz zurück.

Zwei Parzellen neben ihm saß Georges, einer der wenigen Schweizer, die länger hier waren, vor seinem Wohnmobil an einem Klapptisch in der Sonne. Er war ungefähr gleich alt wie Kummer, Haar und Bart waren grau und lang.

Weil Georges wie Kummer alleine unterwegs war, war es unvermeidlich, dass sie bei den Boule-Runden, an denen Georges schon bei Kummers Ankunft teilgenommen hatte, beieinandersaßen und sich unterhielten. Wenn Teams gebildet wurden, spielten sie zusammen, Georges war ein Könner, der Kummers Patzer ausglich. Außer ihnen waren fast ausschließlich Paare unterwegs, meistens traditionell heterosexuelle, aber auch Frauen- und seltener Männerpaare, die, soweit Kummer das beurteilen konnte, akzeptiert wurden. Menschen, die mehr oder weniger ganzjährig Camping betrieben, waren stolz darauf, ein freies Leben zu führen, den Erwartungen und Normen scheinbar entflohen zu sein und waren deshalb vielleicht toleranter als der Durchschnitt. Ganz anders als, zumindest in der Schweiz, die Dauercamper, die ihre Wohnwagen und Vorzelte zu kleinen Refugien ausbauten und scharf darüber wachten, dass sich kein Grashalm über die vorgeschriebene Länge streckte.

Diese zumindest vordergründig gelebte Offenheit führte auch dazu, dass man auf einem Campingplatz, zumal im Winter, bald alle kannte, außer jenen, die nur eine oder zwei Nächte blieben. Durchreisende, denen mit einer gewissen Skepsis begegnet wurde. War es hier nicht gut genug für sie? Wussten sie von schöneren und günstigeren Plätzen?

Georges machte jeden Vormittag, wenn die Sonne und das Publikum schon auf waren, vor seinem Wohnmobil Liegestütze, Klappmesser und Kniebeugen. Er trug meistens Trägershirts, die seine muskulösen, tätowierten Arme zur Geltung brachten. Die Tätowierungen waren alt, die Farbe verlaufen, einige schwarze Flächen darunter. Krude Übertätowierungen von Motiven. Kummer fragte sich, ob er mal bei einem Rocker-Club gewesen und rausgeflogen war. Wer in bad standing, also im Streit, rausflog, musste sich die Club-Tätowierungen entfernen. Bevor sich das mit Laser erledigen ließ, war das Übertätowieren die einzige Möglichkeit gewesen. Hielt sich der Ausgeschlossene nicht an die Regeln, wurden die Tätowierungen auch mit Bügeleisen oder Schleifmaschinen entfernt, so hatte es ihm ein Kollege von der Kripo erklärt und mit entsprechenden Fotos belegt.

Georges hinkte leicht, an manchen Tagen war es kaum wahrnehmbar, an anderen deutlicher. Einmal, als der Mistral besonders heftig pfiff, war es ausgeprägter gewesen, und Georges hatte einen knorrigen Stock aus schwarzem Holz benutzt, der oben einen polierten Knauf hatte, der ursprünglich wohl eine Astverzweigung gewesen war.

»Was ist mit deinem Bein?«, hatte Kummer gefragt.

Georges zog daraufhin den Rand seiner Shorts ein wenig hoch. Auf dem linken Oberschenkel waren eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe und eine Einbuchtung zu sehen. Kummer, erkannte, dass es sich um eine Schusswunde handelte.

»Eine alte Verletzung. Die meiste Zeit spüre ich gar nichts, aber manchmal meldet sie sich plötzlich und heftig.«

Kummer hob sein T-Shirt und zeigte die Stelle, an der die Kugel in seinen Bauch eingedrungen war.

»Wenn das Wetter umschlägt, spüre ich ein Ziehen, als sei die Haut müde, zusammenzuhalten.«

Anerkennend nickte Georges. Auch er hatte erkannt, um was für eine Verletzung es sich handelte, und Schusswunden hatten nicht alle.

»Die Verletzung ist dreißig Jahre alt, die längste Zeit habe ich nicht viel davon gemerkt, aber jetzt im Alter schlägt sie an.« Georges zeigte auf Kummers Bauch. »Wer hat denn auf dich geschossen?«

»Ein Mann, der mit einer großkalibrigen Waffe hinter einer Tür stand. Vor knapp drei Jahren war das, damals war ich noch Polizist.«

»Aha«, machte Georges und wandte sich ab, ehe Kummer erklären konnte, dass er bloß beim Hausdienst gearbeitet hatte.

Danach sprachen sie nicht mehr über ihre berufliche Vergangenheit. Kummer fragte nie, was jemand beruflich machte oder gemacht hatte. Die meisten erzählten es über kurz oder lang von selber. Die Schweizer ausschließlich über kurz.

Georges hingegen blieb stets vage, wenn es um seine Vergangenheit ging. Einmal erkannte ein älterer Herr auf seinem Unterarm die Tätowierung einer Division der Fremdenlegion und fragte ihn, ob er dort Französisch gelernt hatte.

»Kann schon sein«, hatte Georges gebrummt. Der Mann hätte gerne mehr erfahren, nannte seinen eigenen Grad in der französischen Armee, erzählte, wo er stationiert gewesen war und fragte nach einem befreundeten Legionärskommandanten. Georges winkte ab. »Das ist lange her.«

Der Mann fragte nicht weiter. Im Gegensatz zu den älteren Herren, die aussahen, als hätten sie im mittleren Kader gearbeitet, braungebrannt waren und jeden Tag aufs Rennvelo stiegen oder Kite-Surfen gingen und darum topfit waren, strahlte Georges etwas Bedrohliches aus. Niemand riskierte einen Streit mit ihm. Kummer fragte sich, wozu sich Georges derart in Form hielt. War es Eitelkeit oder Gewohnheit oder die Furcht vor dem Alter? Er selber hatte sich gänzlich gehen lassen, das Rennvelo war zum Transportmittel und er zum Spaziergänger verkommen.

Hin und wieder aßen Kummer und Georges am Abend zusammen, wobei Georges der typische Camper und sein Standardmenu Fleisch vom Grill war, mit Kartoffeln, gebraten oder in der Alufolie. Dass Kummer Vegetarier war, wollte ihm nicht in den Kopf, doch der hatte sich daran gewöhnt, dass die Leute erst Fragen stellten und es dann akzeptierten. Georges trank gerne, und wenn er angetrunken war, öffnete er sich ein wenig. Einmal erzählte er, dass er in der Schweiz einen Sohn habe. Ein anderes Mal, als Georges nach dem Essen noch Schnaps aufgefahren und ihm kräftig zugesprochen hatte, wurde seine Rede wirr und giftig.

»Was ich alles gemacht habe, das glaubt mir keiner. Aber bald schreibe ich ein Buch. Da kommen dann einige Leute ins Schwitzen. Deine Seite wird nicht gut aussehen, Henry, gar nicht gut. Ich habe ein paar Bullen gekannt, damals in Zürich, die hatten Dreck am Stecken, aber so was von.« Er schaute Kummer kampflustig an.

»Schon möglich«, sagte der und schaute auf die Uhr seines Handys. »Es wird Zeit für mich, wir sehen uns.«

Die Stimmung behagte ihm nicht, er hatte mehr Bier getrunken, als er gewohnt war, was ihn umso versöhnlicher machte. Auf Diskussionen hatte er keine Lust, auch auf Tiraden gegen die Polizei, der er zwar lange angehört hatte, mit der er sich aber kaum mehr identifizierte, ebenso wenig.

»Die Wahrheit ist nicht für jeden«, hatte Georges gegrinst, ihn aber nicht zurückgehalten.

Am nächsten Tag taten sie, als sei nichts gewesen. Kurz darauf kam es zu einem Vorfall.

Zweitens

Es war Freitagnacht, als laute Stimmen und TarasKnurren Kummer kurz vor Mitternacht aus dem Schlaf schreckten. Die Stimmen klangen jung. Junge Menschen machten Lärm und schrien herum, vor allem am Wochenende, das kam immer wieder mal vor. Er gehörte nicht zu denen, die darin den Zerfall des Abendlandes sahen, der Jugend gänzliche Verkommenheit attestierten, die am besten durch harte Arbeit kuriert werden sollte, oder davon zu berichten begannen, dass es so etwas zu ihrer Zeit nicht gegeben hätte. Inzwischen waren die Alten diejenigen, die in den sechziger und siebziger Jahren groß geworden und als erste Generation mit tragbaren Geräten zum lauten Abspielen von Musik ausgestattet waren, die von Erwachsenen als reiner Krach empfunden wurde, aber das hatten sie längst vergessen. Es ist die Haupteigenschaft des Lärms, dass er von denjenigen, die ihn erzeugen, nicht als solcher empfunden wird. Lärm liegt im Ohr des Hörenden, und dieses Ohr ließ sich mit Wachskugeln der Firma Ohropax verstopfen, sodass weitergeschlafen werden konnte. Genau das hatte Kummer vor und tastete im Dunkeln nach dem gelben Plastikschächtelchen, in dem immer zwei Ohrenstopfen bereit lagen. Die Stimmen klangen aggressiv, es hörte sich wie eine Auseinandersetzung an. Kummer war entschlossen, sich von allem, was mit Auseinandersetzung, Konflikt oder gar Gewalt zu tun hatte, fernzuhalten.

Tara begann zu bellen, und er hörte eine Stimme, die nicht jung war. Es war die von Georges. Nun musste er seinen Vorsatz, der als Unbeteiligter einfach zu befolgen war, gegen das Gebot abwägen, einem Bekannten zur Seite zu stehen, wenn Gefahr drohte. Zumindest einmal nachschauen, so entschied Kummer, konnte nicht schaden. Wohl war er ein alter Mann, aber immer noch knapp zwei Meter groß. Mit einem Seufzen stand er auf, zog die Faserpelzjacke und die Crocs an, nahm Tara an die Leine. Kurz fuhr seine rechte Hand über das Stück der Holzverkleidung seines Campers, hinter dem seine alte Dienstpistole versteckt war, schob es aber nicht zur Seite, sondern stieg aus. Es war eine klare Nacht, er schaute kurz in den Himmel, wo die Sterne leuchteten, unzählige Sterne, viel mehr, als er zu Hause je wahrgenommen hatte. Er ging am Wohnmobil von Georges vorbei, in dem kein Licht brannte. Die Stimmen kamen vom Eingangsbereich. Ein Mann schaute aus der Tür seines Wohnmobils und murmelte etwas von bordel. Die anderen Camper taten so, als seien sie nicht da, machten nicht einmal Licht. In solchen Situationen wurde klar, dass das Home Sweet Home auf Rädern, dieser kleine – oder ziemlich große – fahrbare Hort der Behaglichkeit trotz allem nur geringen Schutz vor der Welt bot.

Georges stand mit dem Rücken zum Zaun, der den Platz umgab, halb im Licht der Lampe, die bei der Einfahrt hing. In der Hand hielt er den knotigen Stock. Um ihn herum standen drei Gestalten in schwarzen Trainerhosen, Daunenjacken, einer hatte die Kapuze seines Hoodies hochgezogen.

Sie brüllten, Georges brüllte zurück, Unflätigkeiten, Beleidigungen, die Kummer nicht genau verstand. Einer der Jungen griff in die Jacke und machte einen Schritt auf Georges zu. Der Knauf des knotigen Stocks traf ihn mit voller Wucht am Kopf. Eine blitzschnelle Bewegung. Blut spritzte, und der Junge blieb einen Moment wie erstaunt stehen, mit aufgerissenen Augen, ehe er zusammensackte und zu Boden ging.

»Schorsch!« Kummer trat aus dem Dunkeln. Tara bellte. Die beiden jungen Männer schauten zu ihm, wichen zurück, gerieten in Panik. Er glaubte schon, dass der junge Mann tot war, doch er kam wieder zu Bewusstsein, stöhnte und versuchte schwerfällig, wie ein betrunkener Bär, auf die Beine zu kommen. Seine Kumpels schauten zu Georges, zu Kummer, zu Tara, zögerten, schrien etwas, und in ihrem Geschrei war neben der Wut auch deutlich die Angst zu hören. Georges machte einen Satz auf sie zu und ließ den Stock durch die Luft pfeifen.

»Schorsch, es reicht! Willst du jemanden umbringen?«, schrie Kummer. Georges warf ihm einen kurzen Blick zu. Auch in seinen Augen sah Kummer Angst. Nicht wegen der Situation, die er im Griff zu haben schien. Eine tiefsitzende Angst.

»Haut ab«, schrie er auf Französisch. Der Junge am Boden war noch nicht auf den Beinen und robbte darum auf den Ellbogen rückwärts. Georges hielt den Stock quer vor sich und trat einen Schritt zurück. Die beiden anderen jungen Männer halfen dem Verletzten auf die Beine und schleppten den Blutenden durch den Eingang des Campingplatzes, und schon waren aufheulende Scooter-Motoren zu hören, ein paar laute Verwünschungen, und dann war es still. Georges trat, gefolgt von Kummer, der etwa drei Meter entfernt stehen geblieben war, aufs Trottoir hinaus und schaute den Rücklichtern der beiden Scooter nach. Kummer zitterte. Dieser Gewaltausbruch hatte Erinnerungen daran geweckt, wie er angegriffen und verletzt worden war. Obwohl es aussah, als hätte Georges sich nur verteidigt, spürte Kummer Abscheu. Der Stockschlag war viel zu hart gewesen, er hatte in Kauf genommen, den Jungen schwer zu verletzen. Nur jemand ohne Respekt vor menschlichem Leben konnte so zuschlagen.

»Was war da los, bist du verletzt?«

Georges schüttelte den Kopf. »Sie wollten mich überfallen, dachten, ich sei ein alter Schwächling. Das haben sie nun davon.«

An der rotweißen Barriere vorbei, die hochging, wenn man den richtigen Code eingab, gingen sie zurück. Es kam Kummer seltsam vor, dass Jugendliche an einem kühlen Freitagabend einem Mann vor dem Campingplatz auflauern sollten, aber er wusste, dass es nicht der Moment war, Zweifel an Georges Geschichte anzumelden.

»Jetzt brauche ich ein Bier«, sagte Georges, als sie bei seinem Wohnmobil ankamen.

»Ich nehme auch eins.«

Georges, der schon ordentlich angetrunken war, leerte die Flasche in einem Zug.

»Wo warst du denn so spät noch?«

»Zigaretten holen.«

Georges rauchte abends beim Bier Zigaretten, am Tag hatte ihn Kummer nie rauchen gesehen. Auch schien es seiner Fitness keinen Abbruch zu tun.

»Du kannst gut mit deinem Stock umgehen. Ich hoffe, dem Jungen ist nichts passiert.«

Georges funkelte ihn an. »Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn ich es gewollt hätte, wäre er nicht mehr aufgestanden.«

»Dann ist ja noch mal alles gut gegangen«, brummte Kummer und wollte gehen.

»Warte einen Moment.«

Georges verschwand in seinem Wohnmobil, Kummer hörte ihn rumoren, ein Scheppern, ein Fluchen. Mit einem gepolsterten braunen Umschlag in der Hand kam er wieder heraus und legte ihn vor Kummer auf den Klapptisch.

»Kannst du das für mich aufbewahren? Falls mir etwas zustößt.«

»Warum sollte dir etwas zustoßen?«

»Du hast ja gesehen, was eben passiert ist. Es kann auf einmal schnell gehen. Ich habe nicht nur Freunde, wenn du weißt, was ich meine.«

»Was ist da drin?« Kummer tippte mit dem linken Zeigefinger auf den Umschlag.

»Ein Teil meines Lebens. Meine Vergangenheit. So wie es aussieht, wird die wieder interessant.«

»Interessant für wen?«

»Das wirst du dann schon erfahren, wenn es so weit ist.«

»Warum behältst du die Sachen nicht?«

»Weil sie bei dir sicherer sind. Du bist der einzige Bulle, den ich kenne, also privat meine ich. Beruflich kannte ich einige.«

»Hör zu, Georges. Ich war bei der Polizei, das stimmt. Aber ich war beim Hausdienst angestellt, ich war so etwas wie ein Portier.«

»Hausdienst, schon klar.« Georges grinste, als sei das ein Codewort, das nur sie beide verstünden.

Kummer schob den Umschlag wieder über den Tisch.

»Bitte«, sagte Georges.

»Warum ich?«

»Du bist der einzige Freund, den ich habe.« Für einen Moment wirkte er ernst und nüchtern.

Zu verblüfft, um etwas zu antworten, nahm Kummer den Umschlag an sich. Georges war betrunken, aufgewühlt und sentimental. Sie waren keine Freunde. Noch nicht mal auf Facebook.

»Also gut, ich bewahre ihn bis zu meiner Abreise für dich auf. Ich will bald in die Schweiz zurück.«

»Alles klar«, brummte Georges.

Kummer stand auf, ging zu seinem Camper, legte sich hin, stopfte sich die Ohropax in die Ohren und schlief ein.

Drittens

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