Letztes Zuckerl - Herbert Dutzler - E-Book + Hörbuch

Letztes Zuckerl Hörbuch

Herbert Dutzler

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Beschreibung

Full House bei den Gasperlmaiers! Die bereits erwachsenen Kinder kehren mit ihren Familien zurück ins elterliche Nest und auch außerhalb des Gasperlmaier-Hauses geht es rund: Zuerst geschieht ein Unfall mit Todesfolge, dann gräbt ein Hund nicht etwa ein Stöckchen, sondern eine Leiche aus dem Schnee. Dass es Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen mit Männern zu tun bekommt, die sich mit Frauenhass brüsten, jemand um jeden Preis Altausseer Immobilien ergattern will und ein Hauch von Marihuanaduft in der Luft liegt, lässt seinen Vorsatz, es ruhiger anzugehen, gehörig wackeln. Franz Gasperlmaier: Polizist mit Familiensinn und wenig Liebe für Veränderung Auch wenn er sein Feierabendbier gerne in Ruhe genießt, ist Franz Gasperlmaier Familienmensch durch und durch. Vor allem schätzt er die Zeit mit seinem kleinen Enkel Theo (und der Theo schätzt das Bobfahren mit seinem Opa). Was Franz Gasperlmaier dagegen nicht so schmeckt? Dass er sich mit vegetarischer Kost begnügen muss, wenn sich die Kinder einquartieren. Und gerade diese kleinen Eigenheiten – natürlich neben dem gelegentlichen Tritt ins Fettnäpfchen – sind es, die unseren Franz Gasperlmaier so liebenswert machen. Komm mit ins Ausseerland und triff auf alte Bekannte! Fraglos hat Franz Gasperlmaiers Welt viele Facetten. Da ist seine schöne Heimat im Salzkammergut, mit den Seen, dem Loser, den Almen, der winterlichen Schönheit. Aber auch in seinem 11. Fall gerät er in Sphären, von denen er lieber nicht gewusst hätte, dass es sie gibt – beispielsweise in die Welt der Incels. Ein Glück, dass er Unterstützung von den üblichen Verdächtigen hat: der schrullige Nachbar Dr. Altmann, der die Lederne im Winter mit langen Unterhosen trägt, die resolute Ermittlerin Dr. Kohlross und auch der ehemalige Kollege Friedrich, der unter die Sportler gegangen ist, stehen ihm zur Seite. Herbert Dutzler blickt liebevoll auf das Ausseerland und seine Menschen – ohne die Augen vor den Schattenseiten zu verschließen.

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Zeit:13 Std. 39 min

Sprecher:Florian Eisner

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Herbert Dutzler

Letztes Zuckerl

Ein Altaussee-Krimi

Herbert Dutzler

Letztes Zuckerl

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
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15
16
17
Epilog
Danksagung
Zum Autor
Impressum

1

Für die Urlaubswoche zwischen Weihnachten und Neujahr hätte Gasperlmaier Besseres zu tun gewusst. Erholen hatte er sich wollen, vielleicht mit der Christine ein wenig Ski fahren, oben auf dem Loser, und zwischen den Abfahrten in der Sonne sitzen und zum Dachstein hinüberschauen. So hatte er sich das vorgestellt. Stattdessen stand er nun mit der Malerwalze im Wohnzimmer seiner Mutter und bemühte sich, die Decke zu weißen, ohne dass er allzu viel herumpatzte. Ein Spezialist für sauberes und genaues Arbeiten bei handwerklichen Tätigkeiten war er wahrlich nicht, er hetzte sich, um schneller fertig zu werden. Dabei passierten ihm dann aber immer wieder Missgeschicke, die dazu führten, dass alles noch länger dauerte als eigentlich nötig.

Zwei Wochen vor Weihnachten war Gretl Gasperlmaier gestorben, und das war eigentlich der Grund dafür, dass er hier mit der Malerwalze in der Hand in ihrem ehemaligen Wohnzimmer stand. Mit Gewissensbissen, weil er sich zuletzt nicht allzu viel um sie gekümmert hatte, um ihrem ewigen Genörgel zu entgehen. Dennoch fehlte sie ihm jetzt. Zuerst hatte ihn die Geschäftigkeit um den Tod und das Begräbnis seiner Mutter vom Grübeln abgehalten, aber nun, wo man Stück für Stück aus ihrem Haushalt hinaustrug und überlegen musste, ob man es wegwarf, behielt oder verkaufte, kamen ihm gelegentlich die Tränen. Friedlich war sie eingeschlafen, seine Mutter. Am Montag hatte sie noch beim Bäcker eingekauft, und am Dienstagmorgen war sie einfach nicht mehr wach geworden. Um zehn herum war er unruhig geworden, weil sie telefonisch nicht erreichbar gewesen war, hatte Nachschau gehalten und sie in ihrem Bett, scheinbar friedlich schlafend, gefunden. Ihm war gleich klar gewesen, dass sie tot war. Gretl Gasperlmaier war ihr ganzes Leben nie um zehn Uhr vormittags im Bett gelegen.

Und dann war der Christine eine Idee gekommen. „Glaubst du … ob die Kinder vielleicht hier wohnen wollen? Diese Wohnung, die wir uns angeschaut haben … ich weiß nicht. Ich hab kein gutes Gefühl dabei gehabt. Kein Garten, und …“ Die Kinder, damit meinte die Christine ihren Sohn Christoph, dessen kanadische Lebensgefährtin Richelle und deren zweieinhalbjährigen Sohn Theo. Sie hatten bei der Beerdigung ihrer Oma gar nicht dabei sein können, es war sich einfach nicht ausgegangen. Zudem war die Richelle neuerlich schwanger, die Familie würde also bald zu viert sein. Und diese Kinder hatten Gasperlmaier und seine Christine mit einem sehr spontanen Entschluss überrascht, ja überrumpelt.

Nur so nebenbei hatte die Christine dem Christoph, der in einem Krankenhaus in Vancouver, an der Westküste Kanadas, arbeitete, davon erzählt, dass sich kein Arzt und keine Ärztin um die freiwerdende Kassenstelle eines Allgemeinmediziners in Bad Aussee beworben hatte. „Möchtest du nicht Landarzt hier bei uns werden?“, hatte sie, mehr im Spaß, gefragt. Und keine zwei Tage später hatten sie eine WhatsApp-Nachricht bekommen. „Habe mich in Aussee beworben!“ Und dann war alles sehr schnell gegangen, eine Wohnung musste her und allerhand anderes war zu erledigen gewesen, zum Glück hatte sich die Christine um das meiste gekümmert. Am 10. Jänner würde der Christoph die Praxis übernehmen, und dass die junge Familie nun ins Haus der Oma einziehen sollte, das war die noch spontanere Entscheidung nach dem Tod von Gretl Gasperlmaier gewesen.

„Dass du halt mit den Schuhen ja nicht von der Plane runtergehst!“ Die Christine zeigte auf Gasperlmaiers abgenutzte Treter, die er für die Malerarbeiten aus der Garage geholt hatte. Sie waren voller Farbspritzer. Er nickte. „Ganz ohne Patzen geht es halt nicht!“, rechtfertigte er sich. „Bei mir schon!“, entgegnete die Christine. Gasperlmaier verzichtete auf Widerspruch. Die Christine war nur mit der Wand beschäftigt, die Decke war weit schwieriger auszumalen. „Hoffentlich“, sagte die Christine, „ist die Richelle mit dem Haus zufrieden. Sie ist ja doch die Großstadt gewöhnt, hier lebt sich’s schon anders.“ Gasperlmaier seufzte. Das Thema hatten sie schon mehrmals ausführlich besprochen. Der Christoph war es gewesen, der immer mehr Heimweh bekommen hatte und eigentlich nur seiner Frau zuliebe in Kanada geblieben war, die Richelle hatte sich gegen eine Übersiedelung nach Österreich lange gesträubt. Schließlich hatte sie doch zugestimmt, aber man wusste eben noch nicht, ob sie sich in Altaussee zurechtfinden würde, es war ein großer Schritt von der Millionenstadt in Kanada in ein Dorf im Salzkammergut. Man würde sehen, wie sich die Sache entwickelte. „Anschluss braucht sie halt, die Richelle!“, spann die Christine ihre Gedanken von zuvor weiter. „Man müsste sie gleich mit anderen jungen Müttern zusammenbringen, vielleicht finden sich sogar welche, die auch aus dem Ausland kommen oder gut Englisch können!“

„So!“, sagte Gasperlmaier und legte seine Walze zurück auf das Gitter im Farbkübel. „Passt so, oder?“ Er deutete auf die Zimmerdecke, die in frischem Weiß erstrahlte. Die Christine zog eine senkrechte Falte auf der Stirn. Gasperlmaier fiel auf, dass auch sie ein paar weiße Spritzer im Gesicht hatte, auf den Wangen. Sie sahen aus wie weiße Tränen. „Da, und da!“ Die Christine deutete auf zwei winzige graue Stellen, die er offenbar übersehen hatte. Sie nahm eben alles sehr genau. Was sie als Direktorin der Altausseer Volksschule auch unbedingt musste.

„Aber dann“, sagte Gasperlmaier, „machen wir für heute Schluss. Wir müssen ja noch die Zimmer herrichten, für die Kinder.“ Bis das Haus seiner Mutter bezugsfertig war, das konnte noch ein paar Wochen dauern. So lange musste die junge Familie mit zwei Zimmern im Elternhaus vorliebnehmen. Morgen würden Gasperlmaier und die Christine nach München hinausfahren, um sie vom Flughafen abzuholen, Silvester würde man bereits gemeinsam verbringen. Darauf freute sich Gasperlmaier jetzt schon, es war Ewigkeiten her, seit er mit seinen Kindern zusammen den Jahreswechsel gefeiert hatte.

„Ich muss noch schnell unter die Dusche“, erklärte er, als sie die Haustür hinter sich ins Schloss fallen ließen. „Mach nur“, sagte die Christine. „Ich wärm uns die halbe Ente auf.“ Zu Weihnachten waren die Katharina, seine Tochter, und deren Frau, die Stefanie, zu Gast gewesen. Die beiden waren Vegetarierinnen, und so hatte es Gasperlmaiers geliebte gebratene Ente erst gestern, am 27., gegeben, nachdem die Katharina und die Stefanie wieder nach Wien zurückgefahren waren. Natürlich war mehr als die Hälfte übriggeblieben, aber allein der Gedanke an die Reste ließ ihm schon das Wasser im Munde zusammenlaufen.

„Legst du jetzt das Handy weg?“, forderte ihn die Christine auf, als sie die Teller mit der Ente servierte. Dazu gab es, wie es sich gehörte, Semmelknödel und Blaukraut. „Ich muss nur noch schnell den Wetterbericht für morgen … hoffentlich wird es nicht allzu schlimm auf der Autobahn!“ „Wieso denn?“, war die Christine nun doch interessiert. „Schneien soll es morgen. Sogar im Flachland.“ „Oje! Schmeckt’s?“, fragte sie. „Genauso gut wie gestern!“ Die Haut war zwar nicht mehr so knusprig, das Fleisch nicht mehr so zart, aber nach einem langen Arbeitstag hatte Gasperlmaier am Entenbraten trotzdem nichts auszusetzen. „Wird ein wenig anstrengend für dich“, bemerkte die Christine zwischen zwei Bissen. „Du bist es nicht mehr gewöhnt, dass so viele Leute im Haus sind. Und der Theo wird jetzt auch schon ein bisschen lebendiger sein als vor eineinhalb Jahren. Bald wird er drei!“ „Ach was!“, winkte Gasperlmaier ab. „Ich freu mich doch schon so auf den kleinen Lausbuben! Glaubst du, dass wir ihn gleich auf die Ski stellen können?“ Die Christine lachte. „Da musst du wahrscheinlich doch bis nächstes Jahr warten, das ist sicher zu früh!“ Gasperlmaier schenkte sich und der Christine noch Rotwein nach. „Nicht zu viel!“, warnte die Christine. „Morgen müssen wir um sieben Uhr los! Sonst schaffen wir es nicht rechtzeitig zum Flughafen! Den Kindersitz für den Theo hast eh montiert?“ „Dreimal hast schon gefragt!“, seufzte Gasperlmaier. „Und dreimal hab ich gesagt, dass er schon drin ist!“

Mitten in der Nacht rüttelte die Christine Gasperlmaier an der Schulter. „Du, Franz! Wach auf! Es ist was passiert!“ Wie elektrisiert schoss Gasperlmaier hoch. Er schlief sowieso immer schlecht, wenn er jemanden aus der Familie hoch über dem Atlantik in der Luft wusste. Außerdem nannte ihn seine Christine nur dann „Franz“, wenn die Lage sehr ernst bis hoffnungslos war. „Um Gottes willen! Ist das Flugzeug …“ Er konnte nicht weitersprechen. „Nein, nicht abgestürzt. Das Flugzeug ist nicht abgestürzt. Aber der Christoph ist nicht mitgeflogen!“ Gasperlmaier kapierte zunächst gar nichts. Warum sollte sein Sohn Frau und Kind allein nach Österreich schicken? Wo er doch eine Stelle anzutreten hatte? „Warum denn nicht?“, fragte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte und auf seinen Polster zurückgesunken war. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihm, dass es erst halb fünf war. Eine Stunde konnte er noch liegenbleiben. „Ich weiß nicht, er hat nur eine Nachricht geschickt! Ich ruf jetzt einfach einmal an. Es ist ja … Moment … ja, halb acht am Abend ist es jetzt in Vancouver.“ Es tutete ein paarmal, und die Christine schaltete den Lautsprecher ein, damit Gasperlmaier mithören konnte. „Hallo, Mama!“ Christophs Stimme klang flach und tonlos. Daran merkte Gasperlmaier schon, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist los?“, fragte die Christine direkt. „Probleme gibt’s, mit dem Doktor Neuper.“ Das war der Doktor, dessen Praxis der Christoph in zwei Wochen übernehmen sollte. „Er hat mich heute angerufen, mitten in der Nacht, dass er erst Ende März übergeben kann. Weil er draufgekommen ist, dass seine Frau erst dann in Pension gehen kann, da gab’s wohl Schwierigkeiten mit der Pensionsversicherung, und … Ich bin aus allen Wolken gefallen!“ Gasperlmaier kannte den Doktor Neuper, er war ein bedächtiger Mann, ein guter Zuhörer, aber in Dingen des praktischen Alltags gelegentlich ein wenig unbeholfen, sodass es ihn jetzt nicht überraschte, dass er mit der Bürokratie, die eine Praxisübergabe nun einmal verlangte, überfordert war.

„Ja, aber warum meldest du dich dann nicht früher? Erst jetzt, wo deine Frau und der Theo schon im Flugzeug sitzen? Was denkst du dir denn?“ Die Christine war sichtlich aufgebracht. „Außerdem“, sagte sie, „dann hättest du halt drei Monate frei gehabt!“ Der Christoph seufzte. „Das geht sich finanziell nicht aus, Mama. Ich kann nicht drei Monate nichts verdienen, wenn die Richelle auch keinen Job hat! Und die in der Klinik hier waren so froh, dass ich noch zwei Monate bleibe. Und jetzt, wenn ich allein bin, kann ich auch overtime und weekend arbeiten, das zahlt sich finanziell voll aus. Und Ende Februar …“ „Wir hätten euch doch aushelfen können!“, mischte sich Gasperlmaier ein. „Du kannst doch deine Frau und den Theo nicht allein …“ „Bitte, Papa!“, unterbrach ihn der Christoph. „Wir hatten nur ein paar Stunden zum Überlegen. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, und die Richelle hat es okay gefunden. Seid halt lieb zu ihr, und macht es jetzt nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist! Und ich hab mich so lang nicht gemeldet, damit ihr … damit wir unsere Entscheidung … also, dass ihr uns halt nicht dreinredet.“ Die Christine schluckte und holte tief Atem. „Ich versteh euch schon. Natürlich machen wir das Beste daraus. Und wenn du Ende Februar dann wirklich kommst?“ „Hundert Pro!“ Der Christoph klang erleichtert. „Ich muss jetzt Schluss machen. Bin natürlich in der Klinik, die Wohnung haben wir ja schon geräumt. Und ich hab mich gleich zum Notdienst gemeldet, das lenkt ab!“ Er lachte, was nicht recht überzeugend klang, und legte auf.

Gasperlmaier schwang seine Beine aus dem Bett. „Trotzdem“, maulte er, „ein bisschen früher hätte der Bub schon anrufen können. Und dann nur eine Nachricht. Dass er damit wartet, bis Frau und Kind im Flieger sitzen … ich weiß nicht!“ Die Christine blieb ihm eine Antwort schuldig, weil sie schon im Kleiderschrank kramte. Die Heizung war noch nicht angesprungen, und der Fußboden war kalt. „Ich mach uns jetzt einen Kaffee“, sagte er. „Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.“ Er zog den Vorhang beiseite. „Und bei dem Wetter … macht gar nichts, wenn wir ein bisschen früher fahren! Es schneit!“ Für einen Altausseer war das Fahren auf einer Schneefahrbahn natürlich Alltag, Gasperlmaier dachte sich wenig bis nichts dabei. Auch das Auflegen von Schneeketten war für ihn Routine, egal, ob es sich um seinen Streifenwagen oder das Privatauto handelte. Aber draußen, im Flachland, wo die Fahrer keine Ahnung davon hatten, wie man sich bei Schnee und Eis auf den Straßen verhielt, da war das Risiko, dass es zu Staus wegen Unfällen kommen konnte, schon erheblich größer.

Für den Pötschenpass musste Gasperlmaier die Schneeketten tatsächlich auflegen, aber schon vor Bad Ischl konnte er bei einer Tankstelle halten und sie wieder abmontieren. Auf der Autobahn dann war die Fahrbahn nur noch regennass, vereinzelte Schneeflocken schafften es gerade eben, die Landschaft ein wenig weiß anzuzuckern. „Ob die Richelle das aushält, zwei Monate mit uns zusammen im Haus? Ohne den Christoph?“ Gasperlmaier schüttelte zweifelnd den Kopf. „Wir müssen sie halt gut behandeln. Uns ein bisschen kümmern. Zwei Monate sind schnell um, wirst sehen. Und genug Platz haben wir ja.“ Die Christine war, wie meist, wieder einmal die Optimistin der Familie. „Und ob ihr das Häusl von der Mama gefällt? Groß ist es ja nicht. Und sie ist halt was anderes gewöhnt!“, gab Gasperlmaier erneut zu bedenken. „Das find ich nicht in Ordnung vom Christoph, dass er sie uns allein schickt. Und so ganz ohne Vorwarnung!“ Die Christine lachte. „Vorgewarnt hat er uns ja. Heute Nacht. Ein bisschen knapp halt!“

Als sie sich dem Flughafen näherten, musste Gasperlmaier sich darauf konzentrieren, die Einfahrt zum richtigen Parkhaus zu finden, und unterbrach deshalb die Unterhaltung. Als er das Auto abgestellt hatte und auf die Uhr sah, war es gerade einmal halb zehn, und erst um elf sollte der Flieger ankommen. „Gehen wir halt einmal was essen“, schlug er vor. „Eine Leberkäsesemmel wird’s da wohl irgendwo geben, wir sind ja schließlich in Bayern!“ „Aber das Bier bleibt alkoholfrei, hörst du?“, warnte die Christine.

Schließlich fanden sich sowohl Leberkäse als auch alkoholfreies Bier und Kaffee, und die Zeit verging schneller, als sie gedacht hatten. Weil die Christine einen untrüglichen Orientierungssinn hatte, fanden sie auch den Gang, durch den die Richelle und der Theo kommen mussten. „Da sind sie!“, schrie sie plötzlich und winkte durch eine Glasscheibe den Ankommenden zu. Erst auf den zweiten Blick erkannte Gasperlmaier die beiden, noch ganz entfernt am Ende des Ganges. Bald aber lächelte ihnen eine erschöpfte Richelle durch die Scheibe zu, und der Theo zog ein finsteres Gesicht und war sichtlich übermüdet. Die Richelle deutete nach rechts, auf die Pass- und Zollkontrolle, wo sie noch durchmusste. Gasperlmaier und die Christine nickten eifrig, und als sie wenige Minuten später die beiden in die Arme schlossen, flossen bei den beiden Frauen Tränen. Gasperlmaier nahm den Theo hoch, der ein wenig steif in seinen Armen hing. „Na? Kennst du deinen Opa noch?“, fragte er. Zwar hatte er den Theo regelmäßig bei Videoanrufen gesehen, aber die Wirklichkeit war doch was anderes. „Er ist müde, er hat zu wenig geschlafen auf den Plane!“, sagte die Richelle, als sie ihn von Gasperlmaier wieder übernahm. Der Bub drückte sich eng an seine Mutter, als Gasperlmaier nach dem Wagen mit dem Gepäck griff.

„Trinken wir noch einen Kaffee?“, schlug die Christine vor. „Die Fahrt nach Hause ist lang genug!“ „Warum nicht?“, antwortete die Richelle. Gasperlmaier wurde um den Kaffee geschickt, der natürlich nur in übergroßen Pappbechern zu haben war, während die Frauen nach Sitzplätzen suchten. „Nun erzähl doch mal!“, bat die Christine, nachdem sie sich alle gesetzt hatten. Der Kaffee, fand Gasperlmaier, schmeckte auch ein wenig nach Pappe. Aber das Koffein würde ihn hoffentlich wachhalten. „Wir hatten schon alles gepackt, die letzten Nächte wir waren im Hotel, weil die Wohnung schon …“ Eine Träne rann der Richelle über die Wange. „Sorry!“, sagte sie und wischte mit einem Taschentuch. Der Theo saß auf Gasperlmaiers Schoß und langte nach dem Keks, das beim Kaffee dabei gewesen war. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, tröstete die Christine und legte der Richelle eine Hand auf ihren Rücken. „Das war ja auch ein Schock. Und was habt ihr getan, nach dem Anruf vom Doktor Neuper?“ „Diskutiert. Überlegt, was wir tun können. Dass wir nicht drei Monate bei euch ohne Einkommen sein können, das war uns klar, das wollten wir nicht. Christoph hat gemeint, dass wir uns schnell ein Apartment suchen sollen, nur für acht oder zehn Wochen. Ich hab dann vorgeschlagen, dass wir vorausfahren, Theo und ich. Damit er Zeit hat, sich einzugewöhnen. Er muss ja dann auch mal in child care, oder wie das bei euch heißt.“ „Krabbelgruppe“, half die Christine aus. „Christoph hatte Angst, dass es zu schwer sein wird für uns, aber ich habe gesagt, lass es uns tun. Weil ich ja auch schon eine Zusage habe, für einen Job!“ Plötzlich lächelte sie. „Ein Job?“, fragte Gasperlmaier, etwas ungläubig. „Ja“, sagte die Richelle. „In die Marketing bei Tourismus Ausseerland. Sie haben gemacht mit mir online ein Bewerbungsinterview, und es hat geklappt. Sobald Theo ist in die …?“ „Krabbelgruppe“, sagte nun Gasperlmaier. Die Christine deutete auf den Bauch der Richelle. „Und? Mit dem Baby? Alles gut?“ Die Richelle nickte. „Ich muss erst suchen ein Arzt in Altaussee.“ „Da kann ich dich beruhigen. Wir haben eine sehr gute Gynäkologin in Bad Aussee. Und die Leistungen sind alle gratis. Ein bisschen anders als in Kanada.“ „Free?“, fragte die Richelle. „Totally free?“ Gasperlmaier nickte. „Zumindest, sobald ihr hier zu arbeiten beginnt. Aber bis dahin findet sich auch eine Lösung.“

„Ja. Dann es geht los!“ Die Richelle steckte ihr Taschentuch wieder ein und stand auf, denn der Kaffee war ausgetrunken. Sie war, fand Gasperlmaier, sehr elegant gekleidet. Sie trug enge schwarze Hosen und Stöckelschuhe, die für den Ausseer Winter sicher nicht geeignet waren. Allerdings hatte er angenommen, in Kanada sei es jetzt auch bitterkalt. Die Winterjacke war dafür mit einem echten Pelzkragen ausgestattet, und Gasperlmaier war froh, dass die Katharina den nicht zu sehen bekam, denn sonst würde es gleich Debatten um Tierleid und Nachhaltigkeit geben, die Katharina konnte da manchmal unerbittlich sein.

Die vier Koffer der beiden fanden gerade so im Auto Platz. „Wo habt ihr denn den Rest?“, fragte er. „Das kann ja nicht alles sein, oder?“ Die Richelle nickte. „In Kisten. Die kommen mit dem Schiff. Wird dauern ein paar Wochen!“ „Gut!“, sagte Gasperlmaier. „Euer Haus ist eh noch nicht ganz fertig!“

Der erschöpfte Theo schlief bald in seinem Kindersitz ein, die Frauen hatten sehr viel zu besprechen, von dem Gasperlmaier nicht viel mitbekam, weil er sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Es hatte wieder ein wenig zu schneien begonnen, und je näher sie der österreichischen Grenze kamen, desto mehr Schneematsch lag beiderseits der Fahrbahn. Kurz nach der Grenze schlief auch die Richelle ein, und es wurde ruhig im Auto.

„Bist du müde? Brauchst du noch einen Kaffee?“, fragte die Christine, doch Gasperlmaier schüttelte den Kopf. Es war ihm lieber, wenn sie jetzt ohne Pause bis nach Hause fuhren, denn unterwegs konnte man sich sowieso nirgends richtig ausrasten. Der Pötschenpass war bereits mustergültig geräumt, als sie in der Heimat ankamen, und bald hielten sie vor ihrem Haus. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und Gasperlmaier freute sich auf nichts mehr als ein oder zwei Bier und etwas Herzhaftes zu essen. Die Christine hatte Spaghettisauce vorgekocht, und so dauerte es nicht lange, bis gegessen werden konnte.

Nun waren sie also zu viert. Für zwei Monate. Hoffentlich ging das gut. Gasperlmaier betrachtete den Theo in seinem Hochstuhl, der von der Richelle überredet werden musste, die Spaghetti zu kosten. Misstrauisch sah er sich im Wohnzimmer um. Es war offensichtlich, dass er sich nicht daran erinnern konnte, vor eineinhalb Jahren schon hier gewesen zu sein, als die Katharina, Gasperlmaiers Tochter, ihre Stefanie geheiratet hatte. Der Bub, so dachte Gasperlmaier bei sich, musste erst ein wenig warm werden. Man musste ihm einfach Zeit geben. „Schau dir einmal den schönen Christbaum an!“ Gasperlmaier hob den Kleinen hoch, damit er einen besseren Blick auf den bunt geschmückten Baum hatte. „Ours is bigger!“, sagte er. „Und wir haben lights. Und die sind grün, und blau, und rot, und everyding!“ Gasperlmaier seufzte. Das war ja ein ganz schönes Durcheinander mit den Sprachen bei dem Kleinen. Hoffentlich machten die Richelle und der Christoph da alles richtig.

Die Spaghetti der Christine maß der Theo weiterhin mit skeptischem Blick, um dann energisch den Kopf zu schütteln. „At home he likes Spaghetti!“ „Tja!“ Die Christine seufzte ebenso. „Sein ‚home‘ ist jetzt aber hier. Er wird sich schon daran gewöhnen. Kinder sind ja da recht einfach!“

„When can we go back home?“ war allerdings das Erste, was der Theo beim Frühstück am nächsten Morgen von sich gab. Es war jetzt eine schwierige Situation. Wie sollte man dem Kleinen beibringen, dass er jetzt dauerhaft hier in Altaussee wohnen würde? „We’ll stay for a while. Daddy will join us in a few days“, beruhigte ihn die Richelle, die schon wieder herausgeputzt war, als hätte sie vor, Parfum in einem Luxuskaufhaus zu verkaufen. „Sprecht bitte Deutsch mit ihm, er versteht es schon. Mit Christoph er redet auch Deutsch. Sogar Dialekt!“ Sie lachte. „Magst ein Marmeladebrot?“, probierte Gasperlmaier es gleich. Der Theo lächelte und nickte. Gasperlmaier war erleichtert. Das Eis schien gebrochen.

„Wir gehen heute ein bisschen spazieren und einkaufen“, kündigte die Christine an. „Mit dem Ausmalen musst du allein fertig werden. Ist ja nicht mehr viel zu tun.“ Gasperlmaier nickte. Morgen war Silvester, da würden sie zu Hause gemütlich feiern, da konnte er heute ruhig noch ein paar Stunden Malerarbeiten einschieben. Schließlich war es für die Familie, die Kinder sollten sich freuen können über ihr neues Heim.

„Was esst ihr denn so zu Hause, in Kanada?“, fragte Gasperlmaier die Richelle, als er sich am Abend zu Tisch setzte. Im gleichen Moment erinnerte er sich, dass „zu Hause“ nunmehr gänzlich unpassend war, am Ende sogar verletzend für die Richelle. Die aber hatte seinen Lapsus offenbar überhört und zuckte mit den Schultern. „Wir essen meist at work, Theo in sein day care centre. Zu Hause wir holen Asian food, manchmal burgers oder Pizza. Am Wochenende manchmal Christoph kocht und ich backe eine Kuchen.“ „Aha!“, sagte Gasperlmaier. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Die Christine hatte heute asiatisches Hühnerfleisch mit viel Gemüse und Reis gekocht, in der Hoffnung, dass es für den Theo nicht allzu exotisch sein würde.

„It’s delicious!“, lobte die Richelle das Gericht. Gasperlmaier freute es, dass sie gerne ein Glas Bier zum Essen akzeptierte, und auch das schien ihr zu schmecken. Obwohl es natürlich alkoholfrei war. Als er seinen Teller gerade erst zur Hälfte geleert hatte, läutete es an der Haustür. „Wer kann denn das jetzt sein?“ Gasperlmaier stand auf, um zu öffnen. Als er sah, wer vor der Tür stand, blieb ihm der Mund offen stehen. „Hallo, Papa!“ Die Katharina und die Stefanie lächelten ihn verlegen an. „Kommen wir ungelegen?“ Gasperlmaier räusperte sich. Hinter ihm war die Christine aufgetaucht, die schneller reagierte als er. „Willst du sie draußen im Schneegestöber frieren lassen? Kommt rein, esst was mit uns, und dann erzählt ihr! Es gibt zwar Fleisch, aber es ist genug Reis und Gemüse für euch da.“ Gasperlmaier nickte. Zu erzählen musste es etwas geben, denn erst vorgestern hatten sie mit den beiden telefoniert, die ihnen ausführlich von einer geplanten Silvesterparty mit Freunden und Kolleginnen erzählt hatten. Was da dazwischengekommen war, interessierte natürlich auch Gasperlmaier.

Glücklicherweise bemerkte die Katharina Richelles Jacke mit dem Pelzkragen nicht, obwohl sie fast unübersehbar an der Garderobe hing. „Habt ihr Hunger? Es ist genug da! Setzt euch hin!“ Während sich die Frauen mit viel Hallo, Umarmungen und Küsschen begrüßten, der Theo geherzt und hochgenommen wurde, holte Gasperlmaier ein paar Bier aus dem Kühlschrank, denn die Stefanie und die Katharina waren in dieser Hinsicht keine Kostverächterinnen. Obwohl, wenn er gewusst hätte, dass die beiden kamen, hätte er Biobier gekauft. Man würde sehen, ob sie sein Bier für trinkbar erklärten.

„Wo ist eigentlich der Christoph?“, fragte die Katharina. „Der Herr Doktor? Wo versteckt er sich denn?“ Sie sah fragend um sich. Die Christine fasste sich als Erste und erklärte die Umstände, die dazu geführt hatten, dass der Christoph in seiner Klinik Nachtdienst schob, anstatt sich in Bad Aussee die neue Ordination anzusehen. „Und?“, fragte die Kathi die Richelle. „Übersiedelst du jetzt allein ins Häusl? Oder wartest du, bis der Christoph da ist?“ „Ich glaub, zuerst seid ihr uns eine Erklärung schuldig“, mahnte die Christine. Die Katharina nickte und schenkte sich ein Glas Bier ein.

Gasperlmaiers Sorgen bezüglich des Biers stellten sich als unnötig heraus, die beiden aßen und tranken, als hätten sie seit Tagen gehungert. Die Christine musste sogar noch Brot und Käse auf den Tisch bringen, damit alle satt wurden. Die Katharina und die Stefanie sahen ein wenig besorgt, wenn nicht gar verhärmt aus, fand Gasperlmaier. Er platzte fast vor Neugier, hielt sich aber zurück. Die beiden würden schon erklären, warum sie so urplötzlich bei ihnen aufgetaucht waren. Jetzt stellte es sich fast als Glücksfall heraus, dass der Christoph nicht gekommen war – so hatte man für alle leichter Platz.

Nach dem Essen wurde noch der Theo zu Bett gebracht, was trotz der fremden Umgebung nach einigem Hin und Her und ein paar Tränen letztendlich gelang, und schließlich musste Gasperlmaier auch noch eine Runde Schnaps herausrücken, bevor man sich um den Wohnzimmertisch zusammensetzen konnte.

„Also!“, sagte die Katharina. „Bitte jetzt nicht erschrecken. Es ist wirklich nichts passiert, gar nichts. Aber wir sind auf Anraten der Polizei aus Wien abgereist.“ Einen Moment lang blieb es still. „Polizei?“, hauchte die Christine. „Aber …“ Die Stefanie unterbrach sie. „Ihr wisst ja, dass wir bloggen. Das ist mittlerweile mehr als ein Hobby. Wir verdienen auch Geld damit. Und seit einiger Zeit gibt es einen Hassposter …“ „Eigentlich mehrere“, ergänzte die Katharina. „Es gibt viele, vor allem Männer, die sehr untergriffige Kommentare abgeben, zu uns und unserer Arbeit, in den sozialen Netzwerken.“ Die Richelle nickte. „Ich hab gelesen. Aber es wird Gott sei Dank meist schnell wieder entfernt.“ Gasperlmaier wunderte sich. Die Richelle verfolgte die Internetaktivitäten seiner Tochter? Er selber wusste nur wenig davon. Nur, was ihm die Christine gelegentlich erzählte. Die Stefanie und die Katharina bloggten im Internet zu vielen Themen, hauptsächlich rund um den Bereich Nachhaltigkeit. Also woher Kleidung und Essen kamen, was für Verbrechen bei deren Produktion begangen wurden, wie Mensch und Natur gnadenlos ausgebeutet wurden. So in dieser Richtung etwa. Und das, so wusste auch Gasperlmaier, hörten manche Zeitgenossen nicht gerne. Und wiederum manche von diesen ließen ihrem Unmut gerne freien Lauf.

„Es gibt besonders einen, der mich persönlich bedroht. Und in den letzten Tagen sind die Drohungen so konkret geworden, dass die Kriminalpolizei zu ermitteln begonnen hat.“ Die Stefanie übernahm, weil die Katharina einen Schluck Bier nahm. „Er kennt unsere Adresse, er weiß, in welchen Lokalen wir verkehren. Er hat sogar unsere Telefonnummern veröffentlicht, damit andere Hassposter uns auch persönlich am Telefon beschimpfen können.“ „Und deswegen“, fuhr die Katharina fort, „hat uns die Polizei geraten, für einige Zeit aus Wien zu verschwinden, bis sie den Täter gefunden haben. Sie halten die Drohungen für ernstzunehmend.“ „Welche denn eigentlich?“, fragte Gasperlmaier. Die Katharina räusperte sich, die Stefanie sprach es aus. „Er hat uns mit Vergewaltigung gedroht, er hat andere dazu aufgerufen, uns zu vergewaltigen, wenn sie uns sehen, er droht generell mit allen Formen von Gewalt, sogar mit dem Tod.“ „Und die Polizei weiß noch nicht, wer es ist?“ Die Christine hatte vor Schreck eine Hand vor den Mund geschlagen. Die Stefanie schüttelte den Kopf. „Es ist natürlich auch vieles dabei, das sich generell gegen Homosexuelle richtet. In unserem Blog machen wir kein Geheimnis daraus, dass wir ein Paar sind. Deswegen möchte er uns aufhängen und danach Raubtieren zum Fraß vorwerfen.“ Am Tisch herrschte nun Schweigen. Gasperlmaier konnte und wollte sich gar nicht vorstellen, dass ein solcher Irrer tatsächlich auf seine Tochter losgehen wollte. Das, so schwor er sich, würde er zu verhindern wissen. Wenn er denn den Halunken jemals in die Finger bekam … Die Richelle fand als Erste wieder Worte. „Da bist du hier ja gut aufgehoben. Wo Dad doch bei der Polizei ist.“ Gasperlmaier stand auf, um aus dem Keller eine Flasche Rotwein zu holen. Der Abend würde wohl länger dauern, und man würde gewiss noch mehr zu trinken brauchen.

„Wir werden vorläufig von hier aus arbeiten, wenn ihr uns aufnehmt. Und es sollen möglichst wenige Leute wissen, dass wir da sind. Leider werden wir daher nur wenig rausgehen können.“ Die Katharina seufzte. „So ernst ist es?“ Die Christine hatte wieder eine sehr tiefe senkrechte Falte auf der Stirn. „Macht euch keine Sorgen!“, beruhigte Gasperlmaier. „Wir werden halt ein wenig zusammenrücken. Und gut aufeinander aufpassen.“ „Ja, und morgen schauen wir uns euer neues Haus an“, sagte die Christine. „Warst du überhaupt schon einmal drinnen?“ Die Richelle schüttelte den Kopf. „Ich hab die Oma nur bei euch getroffen.“ „Vielleicht können wir euch helfen, beim Herrichten, und beim Einziehen! Wir können uns ja nicht wochenlang hinter dem Vorhang in unserem Zimmer verstecken!“ Die Katharina konnte schon wieder lachen. „Ja, und ich hoffe, dass es nur ein paar Tage dauert, bis die Polizei herausgefunden hat, wer uns bedroht“, fügte die Stefanie hinzu.

2

Gasperlmaier traf noch vor der Manuela auf dem Posten ein. Irgendwer musste schließlich auch zu Silvester Dienst tun, und er war froh, dass er den Abend und den morgigen Feiertag frei bekommen hatte. Die Manuela würde den nächtlichen Bereitschaftsdienst übernehmen. „Morgen!“, begrüßte sie ihn mit ein wenig verquollenen Augen. „Was schaust du so?“, fragte sie. Gasperlmaier hatte sie aufmerksam gemustert. „Wir haben halt gestern gefeiert. Weil ich doch heute Bereitschaft habe.“ Er nickte verständnisvoll. „Ja. Danke auch.“ Die Manuela war seit Jahren schon seine Mitarbeiterin auf dem Posten in Altaussee, und er hoffte, das würde sie auch noch lange bleiben. Zwar hatte sie schon allerhand Kurse besucht, die sie eigentlich für höhere Aufgaben qualifizierten, aber sie war mit einem Altausseer verheiratet, und das war wohl der Hauptgrund dafür, dass sie ihm noch nicht abhandengekommen war.

„Rechnen wir mit Problemen, heute Nacht?“, fragte sie. Gasperlmaier seufzte. Die Neujahrsnacht war leider eine, in der man als Polizist immer wieder mit unangenehmen Einsätzen rechnen musste, denn mit den Angetrunkenen zu verhandeln, wenn sie sich etwa anschickten, direkt im Ortszentrum schwere Böller zu zünden, war oft mühsam. „Es gibt schon ein paar Vereine, die es heute Nacht ordentlich krachen lassen wollen“, meinte er. „Auf die Fußballer musst du halt … da tät ich schon aufpassen!“, warnte er. „Ja, ja!“, meinte die Manuela. „Wo die jungen Männer zusammenkommen, da gibt’s oft Ärger. Warst du eigentlich auch so ein wilder Hund, früher?“ „Ach geh!“, winkte Gasperlmaier ab, ohne näher auf die Frage einzugehen. Tatsächlich war er auch als Jugendlicher eher ruhig gewesen, es war ihm nicht so leichtgefallen, irgendwo Anschluss zu finden. Mit den Mädchen, da war es in seiner Jugend sowieso nicht so gut gelaufen, er war schüchtern gewesen, hatte sich zu dünn und zu unsportlich gefunden, und die Unterhaltungen, die sich in Burschenkreisen hauptsächlich um Autos, Fußball und Mädchen gedreht hatten, waren ihm auch nicht wirklich gelegen.

Die Manuela nahm das Telefon gleich nach dem ersten Läuten ab, als es klingelte. „Polizei Altaussee?“ Sie zog die Augenbrauen hoch und flüsterte Gasperlmaier tonlos „Einsatz!“ zu, während sie gleichzeitig zuhörte. Er konnte den Gesprächspartner nicht verstehen, meinte aber mitzukriegen, dass der nicht besonders aufgeregt klang. Die Manuela legte auch gleich wieder auf. „Der Doktor Neuper war’s“, sagte sie. „Er ist zu einem Unfall gerufen worden, ein Treppensturz. Der Patient war leider schon tot, als er ankam. Wir sollen uns das sicherheitshalber einmal anschauen, meint er.“ „Wo denn? Wer denn?“, fragte Gasperlmaier. „Grafenfeld. Der alte Grafenfeld, hat er gesagt. Kennst du den?“ Gasperlmaier nickte. „Kein Altausseer. Ein Wiener. Aber die haben schon seit Generationen ein Haus hier. Ich glaub, die haben eine Schokoladefabrik, oder Pralinen, oder sowas.“ Die Manuela stieg auf der Fahrerseite ein. „Wie alt?“, fragte sie, als sie den Wagen startete. „Sehr alt. Glaub ich“, antwortete Gasperlmaier. Er musste an seine Mutter denken. Auch der hatte er immer wieder geraten, doch im freien Zimmer im Erdgeschoß zu schlafen, anstatt jeden Tag mehrere Male die schmale, steile Stiege zu benutzen. Sie war ja in ihren letzten Jahren auch nicht mehr so sicher auf den Beinen gewesen. „Da ist ein Treppensturz nicht gerade unwahrscheinlich“, sagte die Manuela und bog in die Straße ein, in der das grafenfeldsche Haus lag. „Schauen wir einmal!“, bekräftigte Gasperlmaier.

Vor dem Haus standen bereits zwei Autos, ein Rettungswagen und der Kombi des Doktor Neuper. Blöd war das, dass ausgerechnet der heute hergekommen war. Hoffentlich kam das Gespräch nicht auf die Geschichte mit seiner verspäteten Praxisübergabe, Gasperlmaier hätte nicht recht gewusst, was er dazu sagen sollte.

Das Haus der Grafenfelds war alt und im typischen Altausseer Stil errichtet, der obere Stock aus Holz, mit einer vorgebauten Veranda. „Schaut jetzt nicht nach reichen Leuten aus!“, bemerkte die Manuela. Tatsächlich sah das Haus ein bisschen verkommen aus, die Fensterläden hingen teils schief in den Angeln und schienen morsch, im Vorgarten wucherten hohe Büsche, der Lack der Haustür war abgeblättert. „Soviel ich weiß“, sagte Gasperlmaier, „hat der allein hier gewohnt, seit er sich aus seiner Firma zurückgezogen hat.“ Drinnen herrschte im engen Vorhaus Gedränge. „Servus!“, sagte ein Sanitäter zu Gasperlmaier, als er eintrat. „Ich glaub, wir fahren dann auch gleich wieder. Können eh nichts machen!“ Er zuckte mit den Schultern und trat vor die Haustür, um den beiden Polizisten Platz zu machen. „Pfüat euch!“ Der zweite Sanitäter schlug Gasperlmaier kurz auf die Schulter, als er das Haus verließ. Im Vorhaus standen jetzt nur noch eine Frau in Kittelschürze, die in ein Taschentuch schniefte, das sie sich vor Nase und Mund hielt, und der Doktor Neuper. „Guten Morgen!“, sagte der und schüttelte Gasperlmaier und der Manuela die Hand. „So haben wir ihn vorgefunden. Zuerst die Hauskrankenpflege vom Roten Kreuz, die hat mich gerufen, und dann ist die Frau Krenn dazugekommen.“ Er deutete auf die schluchzende Frau. Zwischen ihnen auf dem Boden lag der Herr Grafenfeld in seltsam verkrümmter Stellung. Blut war keines zu sehen. Der rechte Fuß steckte noch in einem Schlapfen, der linke war auf der untersten Treppenstufe hängen geblieben, der Schlapfen lag ein paar Stufen weiter oben. Der Herr Grafenfeld, so stellte Gasperlmaier fest, hatte löchrige Socken getragen. Graue Strähnen waren über das kahle Haupt frisiert gewesen, jetzt hingen sie zu Boden.

„Oh Gott, oh Gott!“, jammerte die Frau Krenn. „Der arme Herr Doktor!“ „Wieso ist der arm?“ Gasperlmaier war verwirrt und nahm an, sie sprach über den Doktor Neuper, dem er auch einen etwas ratlosen Blick zuwarf. „Doch nicht er! Er!“, schluchzte die Frau Krenn und deutete auf den am Boden Liegenden. „Der Herr Doktor Grafenfeld!“ Gasperlmaier räusperte sich. „Woran ist er denn …?“, fragte die Manuela, ohne ihren Satz zu vollenden. „Ich vermute Genickbruch, Schädelbruch, Genaueres kann ich nicht sagen. Da muss man … also, ich würde schon vorschlagen, dass man zur Klärung der Todesursache eine Obduktion …“ Auch er ließ seinen Satz ausklingen. Gasperlmaier nickte.

„Also, einmal ganz von vorne!“, versuchte er, Ordnung in die Abläufe zu bringen. „Die Hauskrankenpflege hat ihn gefunden? Warum ist die nicht mehr da?“ „Die hat einen engen Dienstplan, wenn sie hier herumsteht, wird sie nie fertig. Die hat ja Klienten, die warten!“ Der Doktor Neuper schien fast entrüstet über Gasperlmaiers Frage. „Haben wir einen Namen?“, fragte er dennoch. Der Doktor Neuper nickte. „Martha Gressl, ihre Adresse finden Sie sicher über das Rote Kreuz.“ „Nicht nötig“, antwortete Gasperlmaier. „Die Martha kenn ich. Erstens ist sie mit mir in die Schule gegangen, und zweitens war sie auch bei meiner Mutter.“

Das zu arrangieren war mühsam gewesen. Wenigstens einmal pro Woche, hatte er vorgeschlagen, sollte eine Pflegerin nach der Mutter sehen. Damit regelmäßig jemand vor Ort war, der sachkundig ihren Gesundheitszustand beurteilen konnte. Und baden sollte sie auch nicht mehr allein, dazu war sie, wie er fand, zu gebrechlich. Schließlich hatte die Mutter zugestimmt, aber nur, weil sie die Martha Gressl kannte, und auch nur, wenn die selber kam. Die Martha war übrigens während der Schulzeit eine von Gasperlmaiers heimlichen Lieben gewesen. Am Ende der 4. Klasse Hauptschule hatte er sich in sie verliebt, die Martha aber hatte nie etwas davon gewusst. Dunkle Haare hatte sie gehabt, ebenso dunkle Augen und eine stolze, lange Nase. Frauen mit langen Nasen hatten ihm später immer wieder gefallen, obwohl das nicht dem gerade gängigen Schönheitsideal entsprach. Die Manuela riss ihn unsanft aus seinen Träumereien.

„Wann ist er denn gestorben?“, fragte sie. „Also, aufgrund der Körpertemperatur würde ich sagen, irgendwann gestern Abend. So zwischen sechs und zehn. Dann wäre er ungefähr zehn, zwölf Stunden tot. Das müsste hinkommen. Die Leichenflecken weisen auch darauf hin, dass er seit seinem Tod nicht mehr bewegt wurde.“ Der Doktor zeigte mit dem Kugelschreiber auf den Unterarm des Toten, wo Gasperlmaier den Rand einer blauen Verfärbung wahrnehmen konnte. Er wandte sich an die Frau Krenn. „War er allein, gestern Abend? Oder war jemand bei ihm?“ „Ich war um sechs da, ich hab ihm ein Abendessen gerichtet. Er hat ja so gern seinen Liptauer …“ Sie begann wieder zu schluchzen und drückte ihr Taschentuch gegen die Augen. „Wann sind Sie gegangen?“ „Um halb sieben, ungefähr. Da war er dann allein im Haus. Und ich hab auch niemanden gesehen. Ich wohn ja gleich daneben!“ Sie deutete auf das Nachbarhaus. Gasperlmaier nickte. „Sind Sie den ganzen Abend zu Hause gewesen?“, fragte er. „Wieso? Ach so, ja. Nein. Ich hab ja Strickrunde gehabt, gestern. Aber um elf, wie ich wieder heimgekommen bin, da war alles ruhig!“ „Könnte also schon wer da gewesen sein!“, schlussfolgerte Gasperlmaier.

„Eine Bestattung werden wir verständigen müssen. Und die Angehörigen auch“, sagte der Doktor Neuper. Gasperlmaier fiel ein, dass er sich noch gar nicht erkundigt hatte, warum die Frau Krenn gleich aufgetaucht war, nachdem der Doktor vorgefahren war. „Wie stehen Sie … ich meine, warum sind Sie hier?“, fragte er, möglicherweise etwas schroff. Die Frau Krenn schluchzte heftiger. „Ja, wie ich die Rettung gesehen hab, da bin ich gleich herüber. Man fühlt sich doch verantwortlich, irgendwie. Ich hab ihm halt den Haushalt … ich hab ihm eingekauft und ein bissl geputzt, was er halt gebraucht hat.“ „Nachbarschaftshilfe!“, half der Doktor Neuper aus, damit Gasperlmaier nicht etwa auf die Idee kam, hier wegen Schwarzarbeit einzuschreiten. Doch der hatte das ohnehin nicht vor. „Was hat er oben gemacht?“ „Da war sein Schlafzimmer. Er ist noch gut mit der Stiege zurechtgekommen. Anhalten hat er sich halt müssen. Im Haus hat er das Gehwagerl nicht gebraucht.“ Die Frau Krenn deutete auf einen blauen Rollator, der zusammengeklappt in einer Ecke stand. „Er war noch ganz gut beisammen. Trotz seiner 85 Jahre.“

„Verdacht auf Fremdverschulden?“, fragte die Manuela. Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Sehr unwahrscheinlich. Solche Unfälle sind häufig bei älteren Menschen, Gott sei Dank enden sie meist glimpflich. Oberschenkelhalsbruch, oder so. Man muss ja nicht gleich auf den Kopf fallen. Und den Oberschenkel, den haben wir mittlerweile gut im Griff! Sogar 90-Jährige bekommen wir innerhalb weniger Tage wieder mobil!“ Er deutete mit dem Daumen nach oben. „Na ja“, sagte die Manuela. „Ihn nicht mehr. Leider!“ Die Frau Krenn schluchzte auf.

„Ich muss dann auch!“, sagte der Doktor und drückte Gasperlmaier den Totenschein in die Hand. „Gibst den Schein dem Bestatter weiter. Ich ruf auf der Bezirkshauptmannschaft an, wegen der Obduktion. Die sollen dann dem Bestatter Bescheid geben, wo er untersucht werden kann. Pfüat euch!“ Er drückte sich an Gasperlmaier und der Manuela vorbei. „Sein letzter Tag heute!“, sagte die Manuela. „Und er fängt schon ungut an!“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Er arbeitet noch drei Monate weiter! Und der Christoph muss warten!“ Bevor Gasperlmaier der Manuela die ganze Geschichte erklärte, schickte er noch die Frau Krenn nach Hause. „Und geben Sie mir bitte gleich Ihren Schlüssel für das Haus.“ Die Frau Krenn nickte, konnte Gasperlmaier aber wegen ihres anhaltenden Schluchzens nicht antworten. Sie drückte ihm einen Schlüsselbund in die Hand und folgte dem Doktor Neuper.

„Der Christoph muss noch zwei Monate in Kanada bleiben“, berichtete Gasperlmaier schließlich. „Aber seine Frau und der Theo sind schon da. Ein ganz schöner Schlamassel.“ Und während sie auf den Bestatter warteten, erzählte er der Manuela alles. „Wir müssen sie einmal einladen, die Richelle!“, sagte die Manuela, nachdem sie alles gehört hatte. „Damit sie sich nicht allein gelassen fühlt. Und schließlich muss sie ja auch Einheimische kennenlernen!“ Gasperlmaier nickte. „Fahr auf den Posten zurück!“, sagte er dann. „Ich komm hier schon zurecht.“ Die Stille, die sich einstellte, als er mit der Leiche des Herrn Grafenfeld allein war, war bedrückend. Unterbrochen wurde sie nur durch das Knallen von Böllern. Viele konnten es nicht erwarten, bis es Mitternacht wurde, und schossen ihre Raketen schon bei Tageslicht ab. Sogar am Vormittag. Gasperlmaier holte sein Handy hervor. Es war sicher eine gute Idee, ein paar Fotos von der Leiche zu machen. Man konnte nie wissen. Vielleicht ergab die Obduktion irgendwas, wo man sich dann fragte, wie er zu liegen gekommen war. Er durfte allerdings nicht vergessen, die Fotos auf dem Posten auf den Computer zu laden und sie danach gleich wieder von seinem Handy zu löschen. Nicht auszudenken, wenn der Theo an seinem Handy herumspielte und die Fotos der Leiche in die Finger bekam.

Gasperlmaier sah die Stiege hinauf. Wenn das Schlafzimmer oben war, dann musste der Herr Grafenfeld beim Hinaufgehen gestürzt sein, als er ins Bett wollte. Rücklings die Stiege hinunter. Und deswegen war er mit dem Kopf aufgeschlagen. Irgendwie ein trauriges Ende, so ganz allein. Zuerst hatte er noch den Liptauer von der Frau Krenn gegessen, vielleicht ein Glas Bier dazu getrunken. Und dann hatte er auf der obersten Stufe wohl das Gleichgewicht verloren, als er das Stiegengeländer loslassen hatte müssen. So schnell konnte es gehen. Der Todesfall würde zu den Akten wandern, sobald der Bestatter die Leiche abgeholt hatte.

Gasperlmaier hielt es nicht länger bei der Leiche im düsteren Vorhaus aus und lugte durch die offene Tür in den Raum, der der Stiege am nächsten war. Die Küche. Mit einem Esstisch. Tatsächlich stand ein leeres Glas auf der Anrichte, daneben ein Teller mit einem Messer darauf. Der Herr Grafenfeld hatte also zu Abend gegessen und danach sein Geschirr ordentlich neben die Abwasch gestellt. Gasperlmaier wurde warm, deswegen öffnete er die Haustür, um etwas frische Luft zu schnappen. Im gleichen Moment stieß der Leichenwagen rückwärts in die Einfahrt. Geräumt war die nicht worden, das merkte Gasperlmaier erst jetzt. Doch so viel Schnee lag noch nicht, dass der Leichenwagen hätte steckenbleiben können. Allerdings war es ein alter Mercedes mit Hinterradantrieb. Im Notfall würde er ihn beim Wegfahren anschieben müssen. Gasperlmaier sah zum Himmel, von dem schon wieder einzelne Flocken tanzten.

„Servus, Gasperlmaier!“ Aus dem Wagen stieg der Aschauer Otto, der Angestellte der örtlichen Bestattung. Der Otto hatte schon wieder eine brennende Zigarette im Mundwinkel hängen, ohne die sah man ihn fast nie. Er nahm sie meist nur dann aus dem Mund, wenn ihn ein Hustenanfall schüttelte. „Heut musst mir helfen, der alte Strnad ist über Silvester zu seiner Schwester gefahren, er kommt erst am Zweiten wieder. Musst mit anpacken!“ Der Strnad, das war der Chef der Bestattung. Er hatte die Beerdigung von Gasperlmaiers Mutter organisiert. Der Otto öffnete die Heckklappe des Leichenwagens und zog einen Metallsarg heraus, der auf Schienen lief. „Da, die Griffe!“, zeigte er Gasperlmaier. Der war wenig erfreut darüber, dass er helfen musste, den Herrn Grafenfeld in den Sarg zu heben.

Im Vorhaus war so wenig Platz, dass sie die Haustür gar nicht zumachen konnten, als sie den Sarg abstellten. Der Otto beugte sich über den Leichnam. „Der alte Grafenfeld“, sagte er, mit einem Anflug von Bedauern im Ton. Er zog seine Kappe und hielt sie gegen die Brust. „Armer Teufel. War gar nicht so ungut. Allein war er halt viel. Komisch, der hat zwei Kinder. Aber die haben sich anscheinend nicht für das Haus interessiert. Oder für Altaussee. Magst einen Schnaps?“ Gasperlmaier nickte. Wenn er eine Leiche anfassen musste, war es vielleicht gar keine so schlechte Idee, sich vorher mit einem Schnaps zu stärken. Der Otto zog einen Flachmann aus seiner Jackentasche und hielt ihn Gasperlmaier hin. Der tat einen guten Schluck. Das Zeug war bei weitem nicht so wohlschmeckend wie die Schnäpse seines Nachbarn, des Doktor Altmann, der ein pensionierter Richter und zudem Feinschmecker war. Es brannte heftig bis in den Magen.

„Soda!“, sagte der Otto, nachdem er den Flachmann wieder verstaut hatte. „Packen wir’s! Du bei den Füßen!“ Der Otto drehte den Herrn Grafenfeld auf den Rücken und zog ihn ein Stück von der Stiege weg, sodass er ihn der Länge nach hinlegen konnte. Routiniert drückte er dem Leichnam die Augen zu und das Kinn nach oben. So sah der Herr Grafenfeld gleich viel friedlicher aus, fand Gasperlmaier. „Hopp!“, kommandierte der Otto, als er den Herrn Grafenfeld unter den Schultern gepackt hatte. Gasperlmaier war froh, dass ihm die andere Seite des Toten zugeteilt worden war. Trotzdem schnaufte er heftig, als der Leichnam in seinem Sarg endlich im Leichenwagen stand. Gasperlmaier warf noch einen Blick auf den Platz, an dem der Grafenfeld gelegen war, bevor sie ihn aufgehoben hatten. Irgendwas glitzerte da. Aber es war nur ein Stück glänzendes Einwickelpapier, von einem Zuckerl vielleicht, oder von etwas, das sich der Grafenfeld von seinem Christbaum heruntergeholt hatte. Gedankenverloren steckte er es ein, um es später wegzuwerfen. So schnell ging das, ein letztes Abendessen, ein letztes Zuckerl, und wenig später lag man im Sarg. „Pfüat di!“ Der Otto setzte sich hinters Steuer, und tatsächlich drehten die Hinterräder durch, als er losfahren wollte. Er hatte viel zu viel Gas gegeben, und die Räder hatten sich im Schnee eingegraben. „Schiebst mir ein bissl an?“, rief der Otto durchs heruntergekurbelte Fenster. Gasperlmaier nickte und schob. Zum Glück stellte sich der Otto jetzt geschickter an, und nach ein paar Versuchen kam der Wagen frei.

Als Gasperlmaier sich auf den Rückweg machte, knirschte der Schnee unter seinen Sohlen, und der Schneefall war bereits wieder dichter geworden. Es würde eine schöne Silvesternacht werden, ganz, wie es sich gehörte. Von Zeit zu Zeit krachten Böller, und eigentlich hätte er nachschauen und die Verursacher zurechtweisen müssen, aber dazu hatte er jetzt gar keine Lust. Worauf er Lust hatte, das war eine Jause, zusammen mit der Manuela, auf dem Posten. Auch wenn die lieber einen Avocadosalat als eine ordentliche Wurstsemmel hatte.

„Ich hab seine Kinder schon aufgespürt. Und verständigt“, sagte sie und rückte vom Computer ab, als Gasperlmaier, Jausensackerl in der Hand, den Posten betrat. Er schüttelte sich. „Kalt ist es. Und schneien tut’s schon wieder. Hoffentlich ist halbwegs eine Ruh, heut Nacht. Damit du nicht ausfahren musst.“ Er setzte die Jause auf dem Schreibtisch der Manuela ab. Wieder krachte es draußen. In unmittelbarer Nähe. Nicht einmal vor der Polizei hatten die Rotzbuben noch Respekt. „Der Sohn heißt Manfred, ist 43 Jahre alt und leitet die Süßwarenfirma der Familie. Die Tochter Nicole ist ein paar Jahre älter, sie hat mit dem Familienunternehmen nichts zu tun und ist Lehrerin in Wien. Englisch und Geographie.“ „Und?“, fragte Gasperlmaier. „Wie haben sie’s aufgenommen?“ Die Manuela zuckte mit den Schultern. „Der Sohn ist gerade in Kitzbühel, er will zu irgendeiner Promi-Party. Und anscheinend geht ihm der Tod seines Vaters nicht so nahe, dass er auf die Party verzichten will. Er hat ziemlich ungehalten gefragt, ob er da wirklich gebraucht wird.“ „Hat er Familie?“, fragte Gasperlmaier. „Wie man’s nimmt“, sagte die Manuela. „Es gibt eine Frau. Oder Lebensgefährtin. Ich kenn sie sogar, sie ist recht nett, vorigen Sommer wollte sie bei unserer Theatergruppe mitmachen. Sie war aber dann doch nicht oft genug in Altaussee. Bernadette heißt sie.“ „Und die Tochter?“, erkundigte sich Gasperlmaier. „Die wollte gleich kommen, hat zu weinen begonnen. Sie hat noch einen Buben, der ist zehn, und den kann sie heute nicht alleine lassen, sonst wär sie sofort hergefahren. Ich hab sie beruhigt, hab ihr gesagt, dass sie heute ohnehin nichts tun kann, weil der Vater zur Obduktion geschickt wird.“

Hoffentlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, würden sich, wenn er starb, seine Kinder um ihn kümmern. Immer öfter suchten ihn in letzter Zeit solche Gedanken heim. Man musste die Kinder gut behandeln, dass sie einem nicht fremd wurden und immer wieder nach Hause fanden. Momentan war allerdings kein Mangel an heimkehrendem Nachwuchs. „Na ja“, sagte er, „ich könnt nicht feiern, wenn mein Vater gerade gestorben wär. Bei uns wird’s auch ein wenig gedämpft zugehen, wegen der Mama.“ Er biss in seine Wurstsemmel. „Ich glaub, ich schau noch zur Martha. Der Vollständigkeit halber. Schließlich hat sie ihn ja gefunden. Da wär’s schon sehr nachlässig, wenn …“ „Geh nur!“, sagte die Manuela. „Und wenn das erledigt ist, dann geh gleich nach Hause!“ Sie stand auf. „Und ein gutes neues Jahr noch!“ Sie umarmte Gasperlmaier und drückte ihm Küsse auf beide Wangen. Der fühlte sich überrumpelt und erwiderte die Umarmung etwas steif, was die Manuela aber nicht kommentierte. „Ebenfalls!“, sagte er. „Und wenn du was brauchst … ich werd heute Abend eh nicht so viel trinken!“ „Schon gut!“, lächelte die Manuela.

Auf dem Heimweg rief Gasperlmaier beim Roten Kreuz an, um herauszukriegen, wo er die Martha Gressl finden konnte. Er erfuhr, dass sie noch im Dienst war, aber wo genau, das wusste der Diensthabende nicht zu sagen, er gab ihm drei Adressen, an denen sie sein konnte. Das war unangenehm, denn Gasperlmaier war zu Fuß unterwegs. Doch er hatte Glück – auf dem Weg zur ersten Adresse kam ihm die Martha in ihrem VW Polo mit dem roten Kreuz drauf entgegen. Er winkte ihr, um sie zum Anhalten zu bewegen, und bedeutete ihr, das Fenster herunterzulassen. „Kann ich kurz mit dir reden, wegen dem Grafenfeld?“, fragte er. „Steig ein!“ Die Martha lachte. „Ich hab’s eilig. Ich muss noch ein paar Patienten abarbeiten. Und es schneit auch schon wieder!“ Gasperlmaier quetschte sich in den Beifahrersitz. Beim Einsteigen war ihm die Dienstkappe vom Kopf gestoßen worden, die hielt er nun in Händen. Das Auto war ein wenig eng.

Die Martha fuhr an. „Ist dir was aufgefallen, wie du hingekommen bist, zum Grafenfeld? War vielleicht noch jemand im Haus, oder so?“ Die Martha schüttelte den Kopf. Gasperlmaier sah zu ihr hinüber. Sie hatte sich gut gehalten, dunkle, lockige Haare standen ein wenig wirr vom Kopf ab, ihre Nase hatte nichts an Anziehungskraft verloren, und die Falten in ihrem Gesicht schienen eher dem Lachen als dem Ärger geschuldet. „Nichts Auffälliges. Außer, dass drinnen das Licht gebrannt hat. Er dreht es sonst immer ab, ist ein Sparefroh. Nah am Geiz.“ Gasperlmaier nickte. „Das sieht man dem Haus auch an!“ „Ich hab den Schlüssel aus dem Schlüsselsafe genommen“, fuhr die Martha fort, „hab aufgesperrt, und da hab ich ihn liegen sehen. Bin natürlich mordsmäßig erschrocken.“ Sie schwieg einen Moment, weil sie an einer Kreuzung angekommen waren, und ließ einen Radfahrer passieren. „Gefährlich, das Radlfahren, bei dem Schnee!“, merkte sie an. „Weißt“, sagte sie dann, „es ist ja nicht das erste Mal, dass ich einen Toten seh. Bei mir gehört das irgendwie zum Geschäft. Aber man ist dann doch jedes Mal …“ Sie schüttelte den Kopf. Gasperlmaier meinte, in ihren Augenwinkeln Tränen glitzern zu sehen. „Aber dann siegt die Routine. Atemkontrolle, Pulskontrolle. Ich hab sofort gewusst, dass er tot ist. Er war ja schon ganz kalt.“ „Spuren im Schnee, vor dem Haus?“, fragte Gasperlmaier. „Hab ich ehrlich nicht darauf geachtet. Werden schon Spuren da gewesen sein, weißt eh, Post, und Müllabfuhr, und so.“ „Wie oft warst du denn bei ihm? Und wie war er beieinander?“, fragte Gasperlmaier. „Dreimal die Woche, ich hab ihm bei der Körperpflege geholfen, auch manchmal beim An- und Ausziehen. Und ich hab auch der Frau Krenn gesagt, was zu tun ist. Das war ihm lieber so. Heute war eine Ausnahme – ich meine, dass ich am Vormittag schon komme. Weil ich halt dann am Abend frei habe.“ Sie hielt an. „Da weiß ich nie genau, wo ich parken soll!“, schimpfte sie. „Und noch dazu mit dem Schnee!“ „Keine Sorge“, beruhigte Gasperlmaier. „Ein Auto vom Roten Kreuz schreiben wir bei uns in Altaussee nie auf. Wir wissen ja, dass ihr es eilig habt!“ Die Martha schenkte ihm ein Lächeln, dass ihm warm wurde.

„Noch eins!“, fragte er. „Mit der Stiege. War er da noch sicher, ich mein, ist es schon öfter passiert, dass er gestürzt ist?“ Die Martha schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht, er war so noch ganz fit. Natürlich hat er lang gebraucht über die Stiege, vor allem herunter. Aber mit dem Geländer und der Krücke, da ist das ganz gut gegangen. Und blaue Flecken hat er auch nicht gehabt.“ „Blaue Flecken?“, fragte Gasperlmaier nach. „Ja, wenn alte Leute stürzen, gibt es oft blaue Flecken. Viele verheimlichen mir das, weil sie halt meinen, sie dürfen nicht zugeben, dass es ihnen schlecht geht.“ „So ist das!“, sagte Gasperlmaier. „Und meine Mama? Hat die blaue Flecken …?“ Die Martha schüttelte erneut den Kopf. „Schon traurig, gell? Sie hätt noch ein paar schöne Jahre haben können. Jetzt mit dem Urenkerl, und so …“ Gasperlmaier nickte. „Eins noch: Kennst du die Kinder?“ Die Martha nickte. „Der Sohn ist ein Arschloch, die Tochter sehr nett und bemüht. Sie hat ihn öfter besucht, sie wollte auch, dass er in eine betreute Wohnung in ihrer Nähe zieht, oder in ein Heim. Sie hat sich sehr um ihn gekümmert. Soweit das halt möglich ist, wenn man drei Stunden entfernt wohnt.“ „Und der Sohn?“, fragte Gasperlmaier noch. „Der lebt auf großem Fuß, seiner Firma geht’s wohl sehr gut. Aber er ist ein Unsympathler, ein Angeber, wie er im Buche steht.“ „Dank dir schön!“, sagte Gasperlmaier. „Ich mach mich dann auf den Weg.“ Er stieg aus und ging um den Polo herum, um der Martha noch ein gutes neues Jahr zu wünschen. Ehe er es sich versah, hatte auch sie ihn umarmt und auf die Wangen geküsst. „Ein gutes neues Jahr! Und schön, dass wir uns einmal wiedergesehen haben!“ Schon war sie samt ihrem Koffer auf dem Weg zur Haustür. Gasperlmaier hatte ein warmes Gefühl im Bauch, denn die Martha war warm gewesen. Und weich.

Als er nach Hause kam, dämmerte es bereits. Vor dem Haus stand der Bob, den er kurz vor Weihnachten extra für den Theo noch im Lagerhaus erstanden hatte. Das war schön. War also jemand dazu bereit gewesen, mit dem Theo auf eine Wiese hinter dem Haus zum Bobfahren zu gehen. „Schön, dass du da bist“, begrüßte ihn die Christine. „Wir werden heute ein wenig früher essen, damit der Theo auch noch dabei sein kann.“ Die Richelle kam aus dem Wohnzimmer. Sie hatte rote Wangen und strahlte übers ganze Gesicht. „Der Theo hat solchen Spaß gehabt, mit eure Bob! Ich bin ganz kaputt, ich habe ihn immer hinaufziehen müssen, und dann sind wir zusammen abgefahren, again and again! Er ist gerade auf dem Sofa eingeschlafen, so müde ist er von dem Winter!“ Gasperlmaier freute sich, dass die Richelle guter Laune war, es hätte ja auch anders kommen können, wenn man so plötzlich irgendwie entwurzelt war und noch dazu auf den Partner verzichten musste. Letztendlich waren die Christine und er doch noch nahezu Fremde für sie. „Und, wie war’s heute?“, fragte die Christine, als er in die Küche trat. „Einen Todesfall haben wir gehabt, einen Treppensturz. Der alte Grafenfeld“, berichtete er. „Und? Warum haben sie euch geholt? War was verdächtig?“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Er hat schon einen Rollator gebraucht. Aber die Stiege in sein Schlafzimmer, da ist er immer noch jeden Tag hinauf. Sagt die Frau Krenn, die ihm den Haushalt macht. Und gefunden hat ihn die Martha. Die sagt etwa das Gleiche.“ „Unsere Martha? Die Martha Gressl?“, fragte die Christine erstaunt. „Die auch bei der Mama war?“ „Genau die!“, nickte Gasperlmaier. „Gibt’s bald was zu essen?“

„Fondue, wie immer!“, erklärte die Christine und deutete auf die Schälchen mit mehrerlei Soßen, die sie schon hergerichtet hatte. „Es gibt Gemüsefondue in Gemüsesuppe!“ Gasperlmaiers Mundwinkel sanken. „Aber auch das Übliche, du kriegst schon dein Fleisch!“ Er war erleichtert und hoffte, dass das Essen ohne Belehrungen seitens der Katharina verlaufen würde, sie konnte da manchmal recht penetrant sein, obwohl die Christine mit ihr ein Stillschweigeabkommen ausverhandelt hatte, was die Ernährung ihrer Eltern betraf.

Gasperlmaier hätte gern gefragt, ob man den Verfasser der Drohbotschaften an die Katharina und die Stefanie schon ermittelt hatte, mit Rücksicht auf den Theo wollte er aber beim Essen das Gespräch nicht darauf bringen. Die Christine hatte zwei Töpfe bereitgestellt. In dem einen war heißes Öl, im anderen Gemüsesuppe. „Du tauchst zum Beispiel ein Stück Paprika zuerst in den Backteig, dann ein wenig abtropfen lassen, und dann hinein ins Öl!“, erklärte die Katharina. Gasperlmaier bediente sich zuerst beim Fleisch, musste aber dann doch anerkennen, dass auch das gebackene Gemüse ausgezeichnet schmeckte. Den gekochten Champignons aus der Gemüsesuppe konnte er eher wenig abgewinnen. Trotz der Sorgen, die alle am Tisch Anwesenden belasteten, wurde viel gekichert. Der Theo rieb sich bald die Augen, und als die Richelle mit ihm nach oben ging, um ihn zu Bett zu bringen, wagte sich Gasperlmaier an das Thema heran, über das er schon den ganzen Tag nachgegrübelt hatte.

„Haben sie in Wien schon herausgefunden, wer euch bedroht? Und, gibt es auch … ich meine, hat er es wieder getan?“ Die Katharina schwieg, die Stefanie aber nickte. „Ja, und ja. Wir haben die Mitteilung erhalten, dass der Täter identifiziert worden ist, mehr aber auch nicht. Verhaftet werden sie ihn wohl noch nicht haben, denn heute sind weitere Postings online gegangen.“ Die Katharina schluckte und griff nach ihrem Bierglas. Gasperlmaier konnte unschwer erkennen, dass die Situation sie belastete. Mehr noch als die Stefanie. „Und ihr, habt ihr weiter … ich meine, macht ihr jetzt mit diesem Blogging weiter, oder haltet ihr euch erst einmal zurück?“ Die Katharina setzte ihr Bierglas etwas heftig ab. „Meinst du, wir sollen kuschen, was? Das wäre es ja, was solche Leute bezwecken. Uns mundtot machen! Dann hätte er ja sein Ziel erreicht, wenn wir ab sofort brav den Mund halten!“ Genau das hatte Gasperlmaier sich aber eigentlich erhofft. Dass die beiden – online zumindest – ihren Mund hielten, bis die Sache geklärt war. Da war wohl jede Hoffnung vergeblich. Er seufzte und nahm einen Schluck Bier. Das schien ihm nach diesem Tag zur Entspannung dringend notwendig und höchst angebracht.

„Hier gibt es auch einiges, das nicht gerade nachhaltig läuft!“, warf die Stefanie ein. „Ihr habt es mit Übertourismus zu tun, mit vielen leerstehenden Ferienwohnungen reicher Leute, mit unbezahlbaren Wohnkosten für Einheimische, mit Verkehr, und, und, und! Da gibt es für uns auch einiges zu tun.“ Gasperlmaier wurde das Gespräch unangenehm. Das fehlte gerade noch, dass sich die beiden in Altausseer Angelegenheiten einmischten. „Als Polizist sollte man in solchen Debatten niemals Partei ergreifen“, erklärte er mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Wir sind für alle da, egal, woher sie kommen und welche Meinungen sie haben. Und welche Religion. Wir müssen schauen, dass die Gesetze eingehalten werden. Da sollte man keine politischen Standpunkte …“ „Aber eine Meinung wirst du ja wohl haben? Man kann doch nicht einfach in den Tag hineinleben, ohne einen klaren Standpunkt …“ „Wir sollten über angenehmere Dinge reden!“, fuhr die Christine dazwischen. „Prost!“ Sie hob ihr Weinglas. Gasperlmaier war das nur recht, und er prostete ihr gerne zu. Natürlich hatte er Standpunkte, wenn sie auch, was deren Festigkeit betraf, immer öfter und immer heftiger ins Wanken gerieten. Vor ein paar Jahren noch hätte er jedem den Vogel gezeigt, der ihm erklärt hätte, dass Männer auch Männer und Frauen auch Frauen heiraten könnten. Heute dagegen würde er das Recht der Katharina und der Stefanie, als Ehepaar zusammenzuleben, mit Zähnen und Klauen verteidigen – gegen jeden, der es ihnen streitig machen wollte. Diesen Hassposter zum Beispiel. Vielleicht musste er nach den Feiertagen einmal mit der Frau Doktor Kohlross telefonieren. Möglich, dass sie dabei helfen konnte, dass zumindest er die Identität des Hassposters erfuhr. Allein schon, um die Mädchen besser gegen ihn schützen zu können, schien ihm das notwendig.

„So!“, sagte die Richelle, als sie wieder herunterkam. „Theo schläft. Und er wird hoffentlich erst im nächsten Jahr wieder aufwachen!“ Sie lachte, was die Stimmung am Tisch ein wenig löste. „Sag doch mal“, fragte die Stefanie. „Wie geht es bei euch denn weiter? Hast du dir das Haus schon angeschaut?“ Die Richelle nickte. „Ich war heute Vormittag mit Mum dort.“ Sie nickte mit dem Kinn in Richtung Christine. „Es sieht sehr hübsch aus. Wie ein altes Cottage, oder eine Lodge in Kanada. Ein bisschen. Vielleicht wir werden bauen eine Extension oder ein Conservatory, wie sagt man das auf Deutsch?“ „Zubau. Oder Wintergarten“, half die Katharina aus. „Wintergarden?“, fragte die Richelle überrascht. „Ja, weil man auch im Winter einen Garten hat. Hinter Glas halt!“, erklärte die Christine. „Eine nette Idee. Du kannst ja schon einmal Pläne zeichnen, wenn du Lust hast!“