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Nach einer Lebenskrise zieht Eva mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter an die Ostsee, um sich dort ihren Traum zu erfüllen und neu zu starten. Doch ihr Optimismus wird auf eine harte Probe gestellt, denn ihre Teenagertochter scheint Probleme magisch anzuziehen, und die Übernahme des örtlichen Cafés läuft alles andere als rund. Besonders der brummige Standesbeamte Jakob sieht die Neuzugänge im Ort kritisch. Dabei benötigt Eva für das Café dringend die Hochzeitsempfänge, um Geld in ihre Kasse zu spülen. Erst als Eva Jakob näher kennenlernt, erkennt sie, wie es gelingen könnte, seine harte Schale zu knacken. Aber dann geschieht etwas, das nicht nur Evas Herz ein weiteres Mal zu brechen droht ...
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
Epilog
Nachwort
Über das Buch
Nach einer Lebenskrise zieht Eva mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter an die Ostsee, um sich dort ihren Traum zu erfüllen und neu zu starten. Doch ihr Optimismus wird auf eine harte Probe gestellt, denn ihre Teenagertochter scheint Probleme magisch anzuziehen, und die Übernahme des örtlichen Cafés läuft alles andere als rund. Besonders der brummige Standesbeamte Jakob sieht die Neuzugänge im Ort kritisch. Dabei benötigt Eva für das Café dringend die Hochzeitsempfänge, um Geld in ihre Kasse zu spülen. Erst als Eva Jakob näher kennenlernt, erkennt sie, wie es gelingen könnte, seine harte Schale zu knacken. Aber dann geschieht etwas, das nicht nur Evas Herz ein weiteres Mal zu brechen droht …
Über die Autorin
Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman Wellenglitzern hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung.
Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.
Marie Merburg
Leuchtturmsommer
Ostsee-Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, MindhouseTitelillustration: © Flora Press/flora production; © Sundra; winyuu; ThomBal; Alex Stemmers; Macrovector; mapman; Pawel Kazmierczak; Eisfrei; HikaruD88; Bplanet/shutterstockUmschlaggestaltung: Kirstin OsenaueBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-2805-8
luebbe.delesejury.de
Meine Ankunft in Liebwitz hatte ich mir ganz anders vorgestellt – schöner, freundlicher und vor allem sonniger.
Erschöpft von der langen Autofahrt und zitternd vor Kälte stand ich auf der Aussichtsplattform des Leuchtturms neben Bürgermeister Dirk Jansen, der merklich schlechte Laune hatte. Eigentlich kein Wunder bei dem Wetter. Die bedrohlich dunklen Wolken hingen so tief am Himmel, als würde eine schwere Last sie in Richtung Meer drücken. Die aufgewühlte Ostsee sah aus wie ein Eimer Dreckwasser nach dem Frühjahrsputz, und unter uns brandeten die Wellen wütend ans Ufer der Landzunge. Der Anblick war trist und deprimierend. Ob das ein schlechtes Omen war? Immerhin begann für meine Tochter Nele und mich heute ein neues Leben. Nach allem, was hinter uns lag, war unser Umzug nach Liebwitz ein bedeutender Moment. Von nun an sollte es wieder aufwärtsgehen!
In diesem Augenblick wirbelten kraftvolle Böen meine Haare umher, und ein unangenehmer Graupelschauer setzte ein. Die kleinen Körner pickten wie Nadeln auf meiner Haut. Na toll! Ich kniff schützend die Augen zusammen und trat einen Schritt von der Brüstung zurück unter das schmale Vordach. Laut Statistik gab es an der Ostseeküste die meisten Sonnenstunden im Jahr, aber ausgerechnet heute war davon nichts zu sehen. Die Halbinsel Darß-Fischland-Zingst schien über die Ankunft seiner neuen Bewohnerin nicht sonderlich erfreut zu sein.
Natürlich wusste der rationale Teil in mir, dass solche Interpretationen von Naturereignissen völliger Blödsinn waren. Trotzdem nährte das garstige Wetter meine ohnehin schon schwelenden Zweifel. Denn mir war durchaus klar, dass man Schwierigkeiten nicht dadurch entkam, indem man seine Sachen packte und ans andere Ende des Landes zog. Allerdings floh ich damit nicht nur vor meinen eigenen Problemen: Um dem Schrecken ihrer Vergangenheit zu entkommen, brauchte Nele dringend eine neue Umgebung. Davon war ich überzeugt. Leider sah sie selbst das völlig anders. Nele war nicht sonderlich glücklich über den Umzug – und das war noch milde ausgedrückt. Kaum jemand konnte einem das Leben so schwer machen wie ein fünfzehnjähriger bockiger Teenager. Dagegen war eine Armee von Orks eine harmlose Kuscheltruppe.
Wo steckte Nele eigentlich schon wieder? Ich blickte mich suchend um. Gerade eben war sie noch hinter mir gewesen.
Dirk Jansen stand wie angewurzelt neben mir. Er schien den Regen nicht mal zu bemerken, obwohl sein schütteres Haar schon nass am Kopf klebte. Der Bürgermeister war ungefähr zehn Jahre älter als ich und ging auf die fünfzig zu. Mit entrückter Miene starrte er aufs Meer hinaus, während er sich mit einer Hand über den massigen Bauch strich. Immerhin war er mit seinem Regenmantel, den er über seinem Anzug trug, besser gegen das schlechte Wetter geschützt als ich. Meine dünne Strickweste über meiner weißen Bluse und meine Chinos passten deutlich besser zu dem warmen Sonnenschein am Tegernsee, wo wir bisher gelebt hatten.
»Ist so ein Sturm normal für Mai?«, rief ich, doch der Wind schien mir meine Worte einfach von den Lippen zu reißen und davonzutragen.
Herr Jansen hatte mich trotzdem gehört, denn er wandte mir den Kopf zu. Da wir bisher nur telefoniert oder geskypt hatten, war dies unser erstes persönliches Treffen. Bei unseren früheren Gesprächen war er überaus charmant und jovial gewesen – eben ein typischer Politiker, der ohne Punkt und Komma reden konnte. Heute war er jedoch äußerst schweigsam und wirkte gereizt. Um ihn aus der Reserve zu locken, schenkte ich ihm ein freundliches Lächeln. So etwas bewirkte bei schlecht gelaunten Menschen oft Wunder!
Doch die erhoffte Reaktion blieb aus. Seine Mundwinkel zeigten nach wie vor nach unten, und seine Miene drückte pure Unzufriedenheit aus. »Was für ein Sturm?«
Wortlos deutete ich mit dem Zeigefinger nach oben zum wolkenverhangenen Himmel, während meine umherpeitschenden kastanienroten Locken ein Eigenleben zu entwickeln schienen. Ich kam mir vor wie Medusa aus der griechischen Sage.
»Ach, das bisschen Regen?« Er winkte ab. »Das ist doch nichts. Ruckzuck scheint wieder die Sonne.«
Das bezeichnete er als nichts? Für Insulaner wie Herr Jansen war es offenbar erst dann ein Sturm, wenn die Touristen vom Wind durch die Gassen gekegelt wurden und sich panisch an die Laternenpfähle klammerten.
Er beäugte mich misstrauisch. »Das müsste Ihnen eigentlich bekannt sein. Ich dachte, Sie waren schon oft an der Ostsee?«
»Stimmt, aber ich war immer nur im August hier«, erwiderte ich. Wehmut überkam mich. Ich spürte, wie ich bei der Erinnerung an diese Zeiten lächeln musste. Eigentlich war es für mich als Hotelchefin ein No-Go gewesen, in der Hochsaison selbst Urlaub zu machen, aber diese zwei Wochen mit meinem Ehemann und meiner Tochter waren mir immer heilig gewesen.
»Im Hochsommer war das Wetter nie so schlecht wie heute«, fuhr ich fort. »Anscheinend hatten wir immer Glück. Ich war mit meiner Familie oft auf Rügen. Besonders in Glowe.«
»Ach, Rügen …« Er zog ein Gesicht, als würde es sich bei der Insel um einen Erzrivalen handeln. »Jeder Doofe fährt nach Glowe.«
Irritiert sah ich ihn an. »Wie bitte?«
Er räusperte sich. »Nur so ein alter Spruch aus früheren Zeiten, vor der Wende.« Er strich sich über die Stirn, um ein paar Regentropfen beiseitezuwischen. »Aber Sie müssen sich bewusst sein, dass es etwas völlig anderes ist, hier Urlaub zu machen oder hier zu leben. Die Arbeit ist genauso anstrengend wie an Land, und auch bei uns hat der Stress Einzug gehalten. Am Strand findet man uns Insulaner nur selten.«
Ich nickte. »Das kann ich mir denken. Immerhin komme ich ebenfalls aus einer Urlaubsregion und war im Tourismusbereich tätig. Die Gastronomie ist nur was für die Harten. Das hat mein Großvater immer gesagt.«
Meine Bemerkung schien ihn wieder daran zu erinnern, weshalb ich hier war. Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig.
»Deshalb sind wir auch so froh, dass wir Sie für unser Café am Leuchtturm gewinnen konnten, Frau Huber«, versicherte er mir. »Eine Frau mit Ihrer Erfahrung und Reputation ist für uns Gold wert. Immerhin haben Sie jahrelang ein renommiertes Hotel mit Restaurant geführt. Wird Sie unser kleines Café da überhaupt ausfüllen?«
Diese Frage stellte er mir nicht zum ersten Mal. Für einen Außenstehenden musste es befremdlich wirken, dass ich ein großes Hotel, das schon in der dritten Generation in Familienbesitz gewesen war und den allerbesten Ruf genoss, aufgegeben hatte, um ein kleines Café an der Ostseeküste zu übernehmen. Doch über dieses Thema sprach ich nur ungern.
»Ich finde den Gedanken eher beruhigend, nicht mehr so viel Verantwortung tragen zu müssen«, sagte ich ausweichend. »Einen Betrieb mit so vielen Gästen und Angestellten am Laufen zu halten, kann sehr belastend sein.«
Ich zögerte kurz. Es würde mich wohl nicht umbringen, wenn ich Herrn Jansen einen kleinen Teil der Wahrheit gestand. »Außerdem habe ich eine unschöne Trennung hinter mir.«
Prompt glätteten sich die Falten auf seiner Stirn. »Aha! Für Sie beginnt hier ein neuer Lebensabschnitt, ich verstehe.«
Er setzte sich in Bewegung, um den Rundgang fortzusetzen. Ein Glück! Noch etwas länger, und ich wäre an Ort und Stelle festgefroren. Trotz des Wetters war er bei unserer Ankunft nicht davon abzubringen gewesen, uns den Leuchtturm zu zeigen. Anscheinend war er der ganze Stolz des Bürgermeisters.
»Seit der Turm vor zwei Jahren instandgesetzt worden ist, zieht er zahlreiche Gäste an«, berichtete er. »Er ist zum Wahrzeichen unseres Dorfs geworden. Und auch immer mehr Heiratswillige kommen her, um sich hier oben trauen zu lassen. Davon kann natürlich auch Ihr Café profitieren.«
Ich nickte. Gleich bei unserem ersten Telefonat hatte er mir von seinem Marketingkonzept erzählt. Da im Dorfnamen das Wort Liebe zu finden war, vermarktete sich Liebwitz seit zwei Jahren als Dorf der Liebe. Denn hier lebte das älteste Ehepaar Deutschlands – Else und Heinz Jahnke. Die Namen hatte ich deshalb so gut im Kopf, weil mir Herr Jansen erst vor wenigen Minuten im Erdgeschoss eine Art Ehrenaltar der Jubilare mit einer Fotocollage und den Lebensdaten gezeigt hatte. Für Liebwitz sprach ebenfalls, dass es eine der niedrigsten Scheidungsraten an der Ostseeküste vorzuweisen hatte. Für Brautpaare, die sich im Leuchtturm das Jawort geben wollten, war das ein gutes Omen. Jedenfalls behauptete das der Bürgermeister.
Wir erreichten wieder die Tür der Plattform und trafen dort auf meine Tochter Nele. Ihr hübsches Gesicht war zu einer verärgerten Fratze verzogen, und schon der Anblick ihres bauchfreien Oberteils jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich kämpfte gegen das dringende mütterliche Bedürfnis an, ihr meine Strickweste überzuwerfen. Aber das hätte nur zu einem Eklat geführt. Schlimmstenfalls hätte sie mich mit den Ärmeln meiner Jacke erdrosselt. Mittlerweile war meine Tochter größer als ich und überragte mich um einige Zentimeter – eine Tatsache, die meiner Autorität nicht sonderlich zuträglich war.
»Fuck! Wir sind hier am Arsch der Welt«, motzte sie. Kopfschüttelnd sah sie auf das kleine Dorf zu unseren Füßen. »In dieser scheiß Einöde werde ich noch zum Hinterwäldler-Lauch.«
»Nele!«, zischte ich schockiert.
Mittlerweile war ich mit ihrer Jugendsprache ein wenig vertraut. Deshalb wusste ich, dass mit Lauch nicht das Gemüse, sondern eine schlanke, hochgewachsene Person mit wenig Esprit gemeint war. Meine Tochter war tatsächlich so erschreckend schlank, dass ich stets bemüht war, sie mit ihren diversen Lieblingsessen zur Nahrungsaufnahme zu bewegen. Aber selbst das nahm sie mir übel. Regelmäßig warf sie mir vor, dass ich sie mästen wolle.
Ich warf dem Bürgermeister ein entschuldigendes Lächeln zu, denn ein gutes Verhältnis zum Verpächter konnte essenziell sein. Zwar hatte ein Hotelbesitzer in Ahrenshoop den Bau des Cafés finanziert, doch dieser hatte alles Organisatorische der Gemeinde übertragen. Bis auf die Gewinnbeteiligung und einen recht sonderlichen Zusatz im Pachtvertrag wollte der Investor nichts mit dem Café in Liebwitz zu tun haben.
»Guck mal, wie winzig das Dorf ist!«, fuhr Nele vorwurfsvoll fort. »Reetdachhäuser, Kopfsteinpflaster, Natur. Sonst gibt es hier nix, verdammt noch mal!« Sie lehnte sich ein Stück weiter über die Brüstung, als könnte sie mit etwas mehr Anstrengung doch noch ein Kino, ein Freibad oder einen coolen Club ausmachen.
Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag, und meine Hand schnellte vor, um Nele am Arm zu packen. »Vorsicht!«, sagte ich mit gepresster Stimme. Meine Angst um sie lauerte ständig unter der Oberfläche.
Nele rollte genervt mit den Augen. »Himmel, Mama, jetzt chill mal! Der Wind wird mich schon nicht über die Brüstung pusten. Du bist echt so peinlich …«
Ich war peinlich? Ich? Wer zog denn hier unsere neue Heimat im Beisein des Bürgermeisters in den Dreck? Ich atmete tief durch, ermahnte mich zur Ruhe und erinnerte mich daran, dass für Nele dieser Umzug alles andere als leicht war. Schon in Tegernsee hatte sie von einem Leben in der »City« geträumt. Und was machte ich? Ich entriss sie ihrem Zuhause und schleppte sie auf eine Halbinsel im Norden in ein winziges Dorf.
»Es wird bestimmt nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst«, redete ich ihr gut zu. »Hier gibt es auch andere Teenager, die genauso sind wie du.«
»Ach ja?«, entgegnete sie gereizt. »Und weißt du auch, was die am Wochenende machen, um Spaß zu haben? Am Elektrozaun an der Weide lecken?«
»Na, na, junge Dame!«, mischte sich Herr Jansen ein. »Es gibt bei uns jede Menge Vereine, Feste und Wassersportaktivitäten. Wir haben auf der Insel sogar Wasserbüffel, stell dir vor! Zur Landschaftspflege, denn sie fressen Schilf, Binsen und Sauergräser. Wenn du so eine Herde siehst, denkst du, du wohnst in Fernost.«
»Wasserbüffel«, wiederholte Nele bar jeder Begeisterung und schüttelte fassungslos den Kopf. Sie wandte sich wieder an mich. »Das ist so übel, Mama! Ich wette, das Internet ist hier auch oberkacke.«
Ich spürte, wie mir Hitze in die Wangen stieg. Nele hatte ein Händchen dafür, mich in unangenehme Situationen zu bringen.
»Tut mir leid, Nele meint das nicht so«, sagte ich zu Dirk Jansen.
»Natürlich meint Nele das so!«, blaffte sie mich an. Meine Tochter wusste offenbar nicht, wohin mit ihrer Wut, und ballte die Fäuste. Für einen Moment blitzte echte Verzweiflung in ihren Augen auf, ehe sie ausrief: »Fuck! Fuck! Fuck!«
Der Bürgermeister musterte meine Tochter sichtlich schockiert. Dann glättete sich seine Stirn schlagartig, als würde ihm ein Licht aufgehen.
Er beugte sich zu mir. »Tourette-Syndrom?«, fragte er mich im Flüsterton. »Darüber habe ich im Fernsehen erst letzte Woche einen Bericht gesehen. Schlimme Sache.«
Natürlich hatte Nele kein Tourette. Erst seit einem hässlichen Vorfall vor etwas über einem halben Jahr fluchte sie wie ein Kesselflicker, wenn sie ihrem Ärger Luft machen wollte. Das Erlebnis hatte sie völlig verändert. Da Tourette jedoch eine ernst zu nehmende und in der Regel unterschätzte Krankheit war, wollte ich das Missverständnis umgehend aufklären. Gerade als ich den Mund öffnete, verließ ein weiterer Schwall Schimpfwörter Neles geschwungene Lippen.
»Das kotzt mich alles an. Verdammter Regen! Verficktes Meer! Scheiß Dorf!«
Mit diesem Schlusswort warf sie ihre regenfeuchten Haare zurück, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand nach drinnen in den Trauungsraum.
Vor Scham über ihr Verhalten brannte mein Gesicht. Bis zum Eintritt der Pubertät war meine Tochter ein Sonnenschein gewesen. Das beste Kind, das man sich wünschen konnte – brav, folgsam und höflich. Mit Nele hatte es kein Geschrei an der Supermarktkasse gegeben, sie hatte nicht ohne Erlaubnis ferngesehen und war immer pünktlich nach Hause gekommen. Wenn ich ihr etwas verboten hatte, war es für sie Gesetz gewesen. Aber das würde mir Herr Jansen wohl kaum glauben.
Aufgrund seiner Diagnose nahm er Neles Auftritt jedoch recht gelassen. »Arme Lütte!«, sagte er mitfühlend. »Dabei ist sie so ein hübsches Mädchen. Das muss schlimm für sie sein … wenn man all diese schrecklichen Wörter sagen muss, obwohl man es überhaupt nicht will.«
Ich schluckte schwer. »Ja, also … Eigentlich hat sie kein Tourette«, gestand ich ihm kleinlaut. »Sie befindet sich lediglich in einer schwierigen Lebensphase, und der Umgang mit ihr gestaltet sich nicht ganz einfach.«
»Oh.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. Offenbar war ich in seiner Achtung gerade gesunken. Dass man sein Kind so wenig unter Kontrolle haben konnte, schien ihm unvorstellbar.
»Sollen wir auch reingehen?«, wechselte ich hastig das Thema. »Ich würde mir jetzt gern das Café anschauen. Ich habe es bisher ja nur auf Fotos gesehen. Und vom Gastraum haben Sie mir gar kein Bild geschickt.«
Unter anderen Umständen hätte ich niemals einen Pachtvertrag unterzeichnet, ohne das Objekt persönlich besichtigt zu haben. Doch die Entfernung war einfach zu groß gewesen, und die Zeit hatte gedrängt. Laut dem Bürgermeister hatte es noch zahlreiche weitere Interessenten gegeben.
Er nickte knapp. »Sicherlich halten Sie die Spannung kaum noch aus«, sagte er seltsam gepresst.
Wir verließen die Aussichtsplattform und gingen zurück in den Trauungsraum, der recht klein war. Wie mir Herr Jansen erklärt hatte, durften aus Sicherheitsgründen neben dem Standesbeamten und dem Brautpaar maximal sechs Gäste an der Zeremonie teilnehmen. Der Rest musste wohl oder übel unten warten. Für Leute, die bei ihrer Hochzeit Wert auf Pomp und Protz legten, war diese Location aber ohnehin nicht gedacht. Mir persönlich gefiel der Raum: Der Dielenboden war auf Hochglanz poliert, die gepolsterten Stühle waren mit rotem Samt bezogen, und ein hübscher Schreibtisch aus Nussbaum stand für den Standesbeamten bereit. Die Wände waren geschmückt mit maritimer Dekoration wie einer Schiffsglocke und einem Anker. Sofort ins Auge fielen allerdings die beiden Gemälde, die hinter dem Tisch des Standesbeamten hingen. Sie verliehen dem Raum Stil und Atmosphäre. Fasziniert blieb ich davor stehen.
Auch Herr Jansen hielt inne. »Gefallen Ihnen die Bilder? Hannah Bradhering hat sie gemalt. Sie stammt aus Liebwitz und ist mittlerweile eine international gefeierte Künstlerin«, erzählte er.
»Sie sind wirklich wunderschön.« Ich deutete auf das linke Gemälde. »Ist das der Darßwald mit dem berühmten Weststrand?«
Einen Großteil der Leinwand nahm ein ursprünglicher, verwilderter Wald ein. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wurde jedoch geschickt auf das Ende des Trampelpfads gelenkt, denn dort öffnete sich unvermittelt das dichte Grün und gab den Blick frei auf das strahlende Blau der Ostsee und einen herrlichen Sandstrand, der an die Karibik erinnerte. Der Kontrast zwischen tiefstem Wald und offenem Meer wirkte fast surreal, aber gerade das machte den Darßwald so einzigartig.
Er nickte. »Ich würde Ihnen eine Wanderung dorthin empfehlen. Das muss man mit eigenen Augen gesehen haben.« Er zeigte auf das andere Bild. »Das hier sind die Steilklippen in Ahrenshoop. Beides Motive von unserer Halbinsel.«
Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Wahrscheinlich kann ich mir kein Bild von Hannah Bradhering fürs Café leisten, oder?«
Er lachte. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
Ich zuckte zusammen, denn in diesem Moment schwang wie von Geisterhand die Tür zur Aussichtsplattform wieder auf, und eine kalte Böe wehte herein.
Herr Jansen stöhnte genervt und zog sie mit Nachdruck wieder ins Schloss. »Sie zickt manchmal und entwickelt ein unliebsames Eigenleben. Unser Leuchtturm hat eben schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel.«
Wir gingen die Treppe hinunter in einen Raum, der den zukünftigen Ehepaaren als Wartebereich diente. Es gab einige Tischchen und ein cremefarbenes Sofa, das sich über das halbe Rund des Turms erstreckte. Mit der indirekten Beleuchtung und den Blumenarrangements sah das Zimmer richtig schick aus.
Wir liefen weiter nach unten zum Ausgang, wo Nele uns schon erwartete. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie an der Tür und starrte missmutig nach draußen.
»Es regnet immer noch«, informierte sie mich vorwurfsvoll, als wäre ich höchstpersönlich für das schlechte Wetter verantwortlich. Immerhin hatte sie dieses Mal einen Satz ohne Schimpfwörter von sich gegeben.
»Die paar Schritte bis zum Café werden wir schon schaffen«, entgegnete ich optimistisch.
»Hier, nehmen Sie einen von denen!« Herr Jansen deutete auf einen fast vollen Schirmständer unter der Treppe. »Die werden andauernd vergessen.«
Dankbar zog ich einen Regenschirm heraus, der groß genug für uns beide war.
Das Café Liebesbrise befand sich in direkter Nähe des Leuchtturms. Seite an Seite liefen Nele und ich durch den Regen auf unser neues Zuhause zu: ein hellblaues Holzhaus mit weißen Sprossenfenstern und Reetdach. Von den Fotos wusste ich, dass es hinten eine überdachte Terrasse gab, auf der man die Gäste im Sommer auch bei schlechtem Wetter bewirten konnte. Herr Jansen übernahm die Führung und lotste uns zum Seiteneingang, sodass wir als Erstes in der Küche landeten.
»Hier können Sie Ihrer Kochleidenschaft freien Lauf lassen, Frau Huber.« Er deutete auf die fast neuen Gerätschaften.
Für ein kleines Café ließ die Küche tatsächlich keine Wünsche offen. Ich atmete tief durch und sah mich um. Das war also ab sofort mein Reich! Nun war ich dankbar, dass meine Eltern mich während meiner Ausbildung auch in der Hotelküche hatten schuften lassen. Zwar war deshalb aus mir keine Meisterköchin geworden, doch ich beherrschte die Grundlagen und konnte mit dem unvermeidlichen Stress umgehen. Außerdem kochte ich gern, und meine neue Aufgabe reizte mich. Im Hotel hatte ich fast den ganzen Tag am Telefon oder PC verbracht.
Ich strich mit den Fingerspitzen über die blank polierte Edelstahlplatte. Alles sah genauso aus wie auf den Fotos.
»Sehr schön!« Ich nickte Herr Jansen lächelnd zu. »Gehen wir jetzt in den Gastraum?«
»Nein!«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Zuerst … schauen wir uns Ihre Wohnung im Obergeschoss an.« Er eilte zu der Tür mit der Aufschrift Privat.
»Na schön …«
Wir stiegen eine steile fensterlose Treppe nach oben. Auch im Hotel hatten wir im Dachgeschoss gelebt. Unser neues Zuhause bestand aus einer Küche, Bad, zwei Schlafzimmern und einem Wohn- und Essbereich mit einer herrlichen Aussicht. Ich blieb am Fenster stehen und schaute auf die wogende Ostsee. Eine sich ständig veränderte Landschaft aus Tälern und Bergen, deren Wellenkämme mit einem weißen Saum aus Gischt verziert waren. Hier drin im Warmen löste das schlechte Wetter eher ein heimeliges Gefühl in mir aus. Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon auf meinem gemütlichen Lesesessel sitzen, mit einer Tasse Tee in der Hand und eingekuschelt in eine Decke.
Nele stellte sich neben mich. »Das große Schlafzimmer gehört mir. In dem anderen ist kaum Platz.«
Ich legte keinen Widerspruch ein und nickte ergeben. Mir war klar, dass ich wegen des Umzugs Buße tun musste. Außerdem reichte mir auch das kleine Zimmer, denn ich würde nach der Arbeit ohnehin nur müde ins Bett fallen. Da ich noch an meiner gescheiterten Ehe zu knabbern hatte, sah meine Lebensplanung fürs Erste keinen Männerbesuch vor.
»Außerdem müssen wir streichen«, befand meine Tochter nach einem Blick auf die Wohnzimmerwände.
»Absolut.« In diesem Fall waren wir einer Meinung. Die Pächter vor uns hatten die Raufasertapete per Schwammtechnik in der Farbe »flammendes Rot« marmoriert. Die weiß-rote Kombination erinnerte an die Haut eines Engländers nach zwei Tagen Strandurlaub am Mittelmeer. Nichts, das man sich auf Dauer ansehen wollte. Nun ja, Menschen hatten nun mal unterschiedliche Geschmäcker!
Ich wandte mich an Herrn Jansen, der seinen Regenmantel mittlerweile ausgezogen hatte. Schon wieder strich er sich gedankenverloren über den Bauch. Vielleicht hatte er Magenprobleme? Oder Blähungen?
»Sie haben gesagt, dass die Pächter vor mir recht jung waren?«, fragte ich.
Er nickte. »Elke und Erik Völler. Ein Ehepaar Mitte zwanzig. Ich dachte, sie seien aufgrund ihres Alters ideale Ansprechpartner für die Paare, die im Leuchtturm heiraten wollen«, erzählte er. »Außerdem stammen sie aus der Gegend. Für die Beratung der Hochzeitspaare war das ideal.« Er stieß einen Seufzer aus. »Die beiden hatten nur leider keine Erfahrung im Gastronomiebereich. Gleich im ersten Winter nach der Eröffnung hatte das Café eine Flaute, und, wie sich herausstellte, besaßen die Völlers keinerlei finanzielle Reserven.«
Neueinsteiger in der Gastronomie vergaßen leider oft, bei ihrer betriebswirtschaftlichen Planung die einkommensschwachen Monate zu bedenken. Ich gab es ungern zu, aber auch mein Finanzpolster war nicht üppig. Das hatte ich meinem Noch-Ehemann zu verdanken. Damit ich über den nächsten Winter kam, musste das Café in den anstehenden Sommermonaten ordentlich Gewinn abwerfen.
Herr Jansen seufzte erneut. »Es hat uns kalt erwischt, dass sie nach nur einem Jahr schon wieder aufgeben mussten. Dabei ist das Café ein wichtiger Bestandteil unseres Marketingkonzepts. Seit der Schließung konnten wir den Brautpaaren nur die Hälfte unseres Service anbieten. Da die meisten nicht von hier stammen, sind sie bei der Organisation der Festlichkeiten auf unsere Hilfe vor Ort angewiesen.«
»Das war sicher für alle Beteiligten äußerst bedauerlich«, sagte ich mitfühlend.
Die Gemeinde warb auf ihrer Website mit einem Rundum-Service für die zukünftigen Eheleute. Damit hielt mein neuer Job – abgesehen vom ungewöhnlichen Standort am Leuchtturm – eine weitere Besonderheit für mich bereit: Als Betreiberin des Cafés Liebesbrise zählte es zu meinen Aufgaben, gemeinsam mit dem Standesbeamten die Brautpaare zu betreuen. Durch diesen zusätzlichen Verantwortungsbereich fiel die monatliche Pacht erfreulich niedrig aus.
Dabei konnte ich von der Zusammenarbeit ebenfalls profitieren. Mit etwas Geschick würde ich die Paare davon überzeugen, ihre Sektempfänge in meinem Café zu buchen, was eine verlässliche Einnahmequelle bedeuten konnte. Ich musste mich nur ein wenig in das Thema einarbeiten, denn mit der Hochzeitsbranche hatte ich wenig Erfahrung. Im Hotel hatten es wir es hauptsächlich mit Touristen und Tagungsgästen zu tun gehabt. Und meine eigene Hochzeit lag schon siebzehn Jahre zurück. Mir schwante, dass heutzutage etwas mehr Aufwand betrieben wurde. Dennoch freute ich mich auf diese Herausforderung. Trotz meiner anstehenden Scheidung glaubte ich nämlich immer noch an die Liebe.
Ich klatschte tatkräftig in die Hände. »Nun sollten wir uns endlich das Herzstück des Cafés ansehen!«
Er nickte mir sichtlich widerstrebend zu. »Na gut …«
Sogar Nele fiel sein seltsames Verhalten auf. Sie musterte den Bürgermeister stirnrunzelnd, und in ihrer Miene zeichnete sich dasselbe Misstrauen ab, das auch ich empfand.
Schweigend folgten wir ihm die Treppe hinunter und liefen durch die Küche. Vor der Schwingtür hielt er kurz inne.
»Sie können den Gastraum natürlich nach Ihren eigenen Vorstellungen umgestalten«, sagte er und lächelte gezwungen.
Mit diesen Worten versetzte er der Schwingtür einen Stoß, und wir betraten das CaféLiebesbrise.
Nele sog hinter mir zischend die Luft ein.
»Ach, du meine Güte!«, hauchte ich fassungslos.
»Fuck! Das sieht aus wie ein Puff«, sagte Nele in die Stille hinein.
Ausnahmsweise hatte ich an ihrer Wortwahl nichts auszusetzen, denn damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Wobei ich den Betreibern von Erotik-Etablissements auch nicht unrecht tun wollte, denn wahrscheinlich legten sie mehr Geschmack und Stil an den Tag.
Die Inneneinrichtung des Cafés war an Kitsch nicht zu überbieten. Pink, Rot und Rosa waren die hervorstechenden Farben. Überall hingen barocke Putten in unterschiedlichen Größen – mal mit, mal ohne Amorpfeil. Einige schwebten sogar engelsgleich von der Decke. Gänzlich unpassend dazu blinkte als Eyecatcher ein großes Love-Neonschild an der Wand. Der Rest des Raumes war mit Dekoherzen in allen möglichen Formen und Farben geschmückt.
Am schlimmsten fand ich jedoch die Bistrotische und -stühle aus Metall, die es oft in Bahnhofscafés gab. Wahrscheinlich war auch meinen Vorgängern aufgefallen, dass das wenig einladend wirkte, denn sie hatten Hussen aus pinkfarbenem Plüsch über die Stühle gezogen. Fassungslos zupfte ich an den länglichen Fusseln herum.
»Das ist … das ist …«, stammelte ich. Mir fehlten die Worte.
»Wir haben den Pächtern bei der Inneneinrichtung freie Hand gelassen«, erklärte Herr Jansen. »Sie hatten nur die Vorgabe, das Marketingkonzept von Liebwitz umzusetzen, also das Thema Liebe.«
Er schlug genervt einen Amor beiseite, der von der Decke baumelte. »Dabei sind sie womöglich etwas zu enthusiastisch vorgegangen«, gab er zu. »Die Völlers meinten, durch diesen extravaganten Stil hätte das Café das Potenzial zu einer In-Location.«
Individualität war in Großstädten tatsächlich gefragt. Dort gab es Vintage-Bars im Stil der 50er-Jahre oder Szenekneipen, in denen man auf Kloschüsseln anstatt Stühlen saß. Aber Liebwitz war nun mal ein kleines Dorf, und Studenten, Trendsetter oder Künstler würden sich nur selten hierher verirren. Für eine In-Location war der Einrichtungsstil für meinen Geschmack auch nicht cool genug. Mein Herz blutete, als ich bemerkte, dass die Holzpfeiler und Querbalken, die die Fläche des Cafés optisch aufteilten, mit rosa Lackfarbe verunstaltet worden waren. Kopfschüttelnd betrachtete ich das grob behauene Holz, das im naturbelassenen Zustand sicherlich wunderschön gewesen war und eine warme Atmosphäre geschaffen hatte.
»Wie gesagt, machen Sie damit, was Sie wollen!«, meinte Herr Jansen lapidar, als würde es sich bei diesem Liebesinferno um eine Kleinigkeit handeln. »Aber denken Sie daran, dass Sie mir versprochen haben, das Café in spätestens sieben Tagen zu eröffnen. Die Zeit drängt!«
»Wie bitte?« Ich fuhr zu ihm herum. »Das Versprechen habe ich Ihnen gegeben, bevor ich wusste, wie es hier aussieht. Dieser Raum muss völlig umgestaltet werden. Das Café benötigt ein neues Konzept. Ich denke nicht, dass das in einer Woche zu schaffen ist.«
»Jetzt überdramatisieren Sie bitte nicht!« Er schlenderte zum Tresen und wedelte mit der Hand in der Luft. »Hängen Sie einfach die Hälfte von dem Kitsch ab, und streichen Sie die Wände weiß. Dann sieht der Rest gleich nicht mehr so schlimm aus. Für unser Standesamt ist es wichtig, dass das Café geöffnet ist. Die Optik ist sekundär.«
Erst jetzt nahm ich den Tresen richtig wahr. Er war aus gemauertem Ziegelstein mit eingearbeiteten Balken. Darauf lag eine schön gemaserte Holzplatte, bei der die natürliche Baumkante in einer sanften Wellenlinie verlief. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die seidenglatte Oberfläche.
»Der Tresen ist wunderschön!«, entfuhr es mir bewundernd.
»Beim Bau des Cafés hatte der Architekt schon die gemauerte Bar und die dazu passende Theke eingeplant«, erklärte er. Dabei starrte er sehnsüchtig auf ein Schälchen Karamellbonbons, das dort jemand zurückgelassen hatte. »Ihre Vorgänger waren deshalb kreuzunglücklich und lagen mir immer damit in den Ohren, sie abreißen zu dürfen.«
Immerhin hatte er das verhindert! Jetzt musste ich nur noch den Rest der scheußlichen Einrichtung loswerden.
In diesem Augenblick ertönte aus Herrn Jansens Brusttasche ein durchdringendes Schiffshorn. Hastig zog er sein Handy hervor und stellte das Alarmsignal aus. Erleichterung zeichnete sich auf seinen Zügen ab.
»Endlich!«, murmelte er. »Der Herr sei gepriesen.«
Mit der anderen Hand griff er beinahe zeitgleich in die Schüssel mit Karamellbonbons. In Windeseile steckte er sich eins in den Mund. Hatte er es überhaupt ausgepackt?
»Ich muss los!«, sagte er kauend. »So weit ist ja alles geklärt. Falls Sie hier etwas verändern, vergessen Sie nicht, unser Liebwitzer Liebesthema umzusetzen! Bei weiteren Fragen wenden Sie sich einfach an unseren Standesbeamten Jakob Thiel.«
»Aber … aber …«, stammelte ich überrumpelt. Er wollte mich mit diesem Schlamassel doch nicht etwa allein lassen?
»Und lassen Sie sich von seiner Art bitte nicht abschrecken«, fuhr er ungerührt fort. »Herr Thiel meint es nicht so.«
Ich stutzte. »Wie bitte? Was ist denn mit dem Standesbeamten?«, fragte ich verdattert.
»Nehmen Sie sich einfach nicht alles zu Herzen, was er von sich gibt. Den Fehler haben Ihre Vorgänger schon gemacht.« Er schnappte sich das nächste Bonbon. »Der Ordner mit den Kontaktadressen für die Hochzeitspaare liegt unter dem Tresen. Sie wissen schon – Fotograf, Florist, Konditor, Stylist und so weiter. Arbeiten Sie sich in die Thematik ein, bevor Sie die ersten Gespräche führen!«
Er drückte mir die Schlüssel fürs Café in die Hand und wandte sich zum Gehen.
»Moment mal, Herr Jansen!«, versuchte ich, ihn mit entschlossener Stimme aufzuhalten. »Wir sind hier noch nicht fertig. Ich bin nicht glücklich, wie das alles gelaufen ist. Über das Datum der Wiedereröffnung müssen wir unbedingt noch mal …«
»Keine Zeit!«, fiel er mir ins Wort und eilte zur Tür. »Ich muss nach Hause. Tschüssing, Frau Huber! Oder wie man bei Ihnen sagt: Pfiat di!«
Und weg war er. Mein Blick fiel auf meine Tochter, die die Szene mit vor der Brust verschränkten Armen verfolgt hatte. Sie schüttelte geringschätzig den Kopf. Ihrer Meinung nach war ich offenbar meiner Vorbildfunktion in Sachen Frauenpower und Durchsetzungsfähigkeit nicht mal ansatzweise gerecht geworden.
*
Nach einem erneuten Rundgang durch meine neue Heim- und Wirkungsstätte erlaubte ich mir, mich erst mal hinzusetzen und etwas Trübsal zu blasen. Wenn etwas katastrophal schieflief, konnte man selbst als optimistisch eingestellter Mensch davor nicht die Augen verschließen. Dann durfte man ruhig ein paar Minuten in Selbstmitleid versinken. Das befreite ungemein. Wichtig war jedoch, mit dem Jammern und Klagen wieder aufzuhören. Dann hieß es: Nach vorn schauen und sich nicht unterkriegen lassen! Glück und Zufriedenheit im Leben hatten nichts mit Schicksal zu tun – es war eine Entscheidung. Mal ehrlich: Es gab immer ein Haar in der Suppe. Immer etwas, das besser laufen könnte. Man durfte sich jedoch nicht auf die negativen Aspekte fixieren.
Na schön, mein Café hatte sich als die wahrgewordene Liebeshölle herausgestellt, aber es hatte Potenzial. Es war ein wunderschönes Reetdachhaus mit großen Sprossenfenstern, und der Ausblick auf die Ostsee war unbezahlbar. Daraus konnte man etwas machen!
Deshalb begann ich auch umgehend damit, die kitschige Dekoration zu beseitigen. So konnte ich immerhin die Zeit nutzen, bis der LKW mit unseren Möbeln eintraf.
Nele kam in den Gastraum geschlurft und war offensichtlich schlecht gelaunt. Also alles wie immer. Ich war beruhigt. Sie setzte sich auf einen Barhocker und sah mir beim Arbeiten zu. Anscheinend fühlte sie sich nicht in Stimmung, mit anzupacken. Als Teenager musste man sich die offenbar spärlichen Energiereserven einteilen und durfte sie nicht fürs Putzen, Aufräumen oder für anderweitige niedere Tätigkeiten verschwenden.
»Du hast uns ganz schön in die Scheiße geritten, Mama«, stellte sie fest. »Das Café ist der absolute Horror.«
Ich stand gerade auf einer Trittleiter, die ich in der Abstellkammer gefunden hatte, und angelte mit den Fingerspitzen nach dem Band eines Liebesengels aus Pappmachee.
»Man kann aus diesem Raum richtig viel machen. Die Deko abzuhängen ist nur der erste Schritt.«
»Aber du hast nur sieben Tage Zeit«, erinnerte sie mich. »Das hat jedenfalls dieser Jansen gesagt.«
Ich stöhnte genervt, weil sich der Knoten am Band des Amors nicht lösen ließ. »Wolltest du nicht draußen warten und Bescheid geben, wenn der LKW mit unseren Sachen kommt?«
Nele zuckte mit den Schultern. »Wir merken auch so, wenn die Möbelpacker eintrudeln. Selbst in diesem Kaff besitzen die Häuser eine Türklingel. Aber das war wohl auch die letzte moderne Errungenschaft, die hier Einzug gehalten hat.«
Hätte sie sich in Gegenwart des Bürgermeisters nicht so gewählt ausdrücken können? Denn das konnte Nele sehr wohl. Sie war gut in der Schule und hatte schon als Kind viel gelesen.
»Endlich!«, stieß ich erleichtert aus. Es war mir gelungen, den verflixten Amor abzubekommen. Ich stieg von der Leiter und pfefferte ihn mit einer wüsten Verwünschung in die Mülltüte, in die schon der andere Kitsch gewandert war.
»Na, na!«, sagte Nele und grinste zum ersten Mal an diesem Tag. »Anscheinend lässt du dich von mir inspirieren. Schön, dass du ein paar meiner Schimpfwörter in dein Vokabular aufgenommen hast.«
Ich trat ans Fenster. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, und goldene Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken. Genau wie Herr Jansen prophezeit hatte, war die Schlechtwetterfront abgezogen. Ich öffnete die Terrassentür, trat nach draußen und atmete tief ein. Ohne die kühlen Böen war die Temperatur deutlich angenehmer. Rechter Hand konnte man den Sandstrand und einige unerschrockene Touristen ausmachen, die schon jetzt im Mai den Uferbereich bevölkerten. Etwas weiter draußen auf dem Meer schaukelten Boote auf den Wellen, und eine Fähre zog an der Insel vorbei. Das Möwengeschrei und das Rauschen der Brandung erinnerten mich an unsere früheren Urlaube und entspannte Tage im Strandkorb mit der Familie. Vielleicht hatte es mich auch deshalb an die Ostsee gezogen, weil wir hier immer glücklich gewesen waren? Aber natürlich hatte Herr Jansen recht: Als alleinerziehende Mutter und Pächterin eines Landcafés warteten auf mich in Liebwitz einige Herausforderungen.
Ich nahm die überdachte Terrasse näher in Augenschein. Nach dem Winter und der Kündigung der Völlers war sie noch unbestuhlt und ohne Dekoration, was offengestanden eine wahre Wohltat war. Beim Bau war auf Holzbalken und Naturstein gesetzt worden, was wirklich hübsch aussah. Nur ein paar lebendige Farbtupfer fehlten noch. Sofort hatte ich vor Augen, wie sich Blauregen, wilder Wein und Klematis am Holz emporrankten. Dann würden hier zufriedene Gäste sitzen, ihren Urlaub genießen und von mir Kaffee und leckeren Kuchen serviert bekommen …
Nele, die hinter mich getreten war, riss mich leider aus meiner schönen Zukunftsvision. »Dein Verhalten vorhin war echt traurig«, fuhr sie fort, mich zu kritisieren. »Der Bürgermeister hätte dir sagen müssen, wie schrecklich das Café aussieht, bevor du den Pachtvertrag unterschrieben hast. Ich an deiner Stelle hätte dem Dickerchen die Meinung gegeigt und ihn rundgemacht.«
Ich seufzte und drehte mich zu ihr um. »So einfach ist das nicht. Auch wenn ihm das Café nicht gehört, ist er offiziell mein Verpächter. Ich bin auf seine Gunst angewiesen.«
»Wieso denn?«
»Falls hier mal was kaputtgeht, es Probleme im Café gibt oder ich schnell Hilfe brauche«, erklärte ich.
Oder falls ich im kommenden Winter die Pacht erst mit ein, zwei Wochen Verspätung zahlen konnte, weil ich genau wie die Völlers kein üppiges Finanzpolster hatte. Aber davon wusste Nele nichts. Um sie zu schonen, hatte ich ihr unsere finanzielle Zwangslage verschwiegen. Es reichte, wenn ich deshalb schlaflose Nächte hatte.
»So eine linke Tour lässt man sich nicht gefallen«, beharrte sie. »Das hat auch etwas mit Selbstachtung zu tun. Dass du mal ein großes Hotel geleitet hast, ist kaum zu glauben!«
Ihr Vorwurf schmerzte. Hatte ich früher tatsächlich mehr Biss an den Tag gelegt? Es ließ sich wohl nicht leugnen, dass die letzten zwölf Monate Spuren bei mir hinterlassen hatten: Ich hatte mich von dem Mann, den ich geliebt und geheiratet hatte, ausnutzen, belügen und über den Tisch ziehen lassen. Mein Hotel, das seit Generationen in Familienbesitz gewesen war, hatte ich verloren. Und als Mutter hatte ich wohl ebenfalls versagt, denn es war mir nicht gelungen, Nele vor Unheil und Schaden zu bewahren. Mit meinem Selbstbewusstsein stand es sicherlich nicht zum Besten. Doch in diesem speziellen Fall hatte meine Tochter unrecht.
»Ich kenne Männer wie Jansen. Solche Typen glauben, dass sie unfehlbar sind, und ohne Beweise streiten sie jede Anschuldigung schamlos ab. Wenn ich wegen des Cafés ausgeflippt wäre, hätte er mich nur als hysterische Kuh dastehen lassen.« Ich bedachte sie mit einem mütterlichen Blick. »Manchmal ist es besser, sich auf die Zunge zu beißen. Es gibt Momente im Leben, da lohnt es sich nicht, in den Krieg zu ziehen, weil man dadurch nichts gewinnen kann.«
Wie zu erwarten hatte ich sie damit kein bisschen überzeugt. Nach wie vor sprach Unverständnis aus ihrer Miene. Also ging ich wieder hinein und fuhr fort, die kitschige Deko abzuhängen. Leider folgte sie mir auf dem Fuße.
»Ich will ein neues Handy!«, wechselte sie unvermittelt zu ihrem derzeitigen Lieblingsthema. »Durch den Verkauf des Hotels hast du doch genug Geld.«
»Nicht schon wieder, Nele«, stöhnte ich. »Bitte nicht heute.«
Doch sie kannte keine Gnade. »Denk mal an mein Image! Wenn ich in meiner neuen Klasse mit diesem Schrottteil auftauche, bin ich sofort unten durch. Das Ding ist uralt und kann nix. Das ist kein Handy, das ist ein … ein Babyphone.«
Sie hielt mir demonstrativ mein altes Handy vor die Nase, das sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte.
Ich schob die Leiter an eine Wand, die mit Herzen in sämtlichen Größen und Farben behängt war. »Du weißt genau, wieso du kein neues bekommst«, erwiderte ich. »Damit will ich dich nur schützen.«
Sie schnaubte abfällig. »Du übertreibst total. Das Ganze ist schon ewig her, und mir geht es gut. Abgesehen von der Tatsache, dass du mich gezwungen hast, in dieses Kuhkaff zu ziehen – nur um deine Midlife-Crisis auszuleben. Dafür bist du mir ein neues Handy schuldig!«
Während ich die ersten Herzen abhängte, meldete sich mein schlechtes Gewissen. Hatte sie vielleicht recht? Übertrieb ich es mit meiner Fürsorge? Doch allein beim Gedanken daran, sie ohne Aufsicht durchs Internet surfen zu lassen, krampfte sich alles in mir zusammen.
»Reden wir vor deinem Geburtstag noch mal über ein neues Handy, ja?«, schlug ich vor. »Jetzt ist dafür wirklich kein guter Zeitpunkt.«
»Mein Geburtstag ist erst im November«, fauchte sie und zitterte dabei vor Empörung.
Wenn sie, wie heute, ihre langen blonden Haare offen trug und mich mit ihren großen schokoladenbraunen Augen ansah, erinnerte sie mich so sehr an das kleine süße Mädchen von früher.
»Das weiß ich doch.« Ich beugte mich auf der Leiter zu ihr hinunter, um ihr liebevoll über die Wange zu streicheln, aber sie zuckte zurück. Bedauernd ließ ich die Hand sinken. »Du bist noch nicht so weit, Nele.«
Sie funkelte mich wütend an. »Papa würde das nie machen. Er versteht mich nämlich und vertraut mir. Ich hasse dich, Mama. Dich und dieses scheiß Kaff!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte davon. Das obligatorische Türknallen entfiel, da die Schwingtür sie der Möglichkeit beraubte, ein finales akustisches Ausrufezeichen zu setzen. Aber die Botschaft war trotzdem angekommen.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Mein erster Tag in Liebwitz war die reinste Katastrophe.
»Und, was hast du in der ersten Nacht im neuen Zuhause geträumt?«, tönte Monas unbeschwerte Stimme aus dem Handy.
Wie immer war meine Schwester bereits in aller Frühe topfit. Das hatte ich schon als Kind nicht an ihr leiden können. Keine zwei Minuten nach dem Aufstehen hätte man Mona dazu überreden können, zu einer Expedition zum Mount Everest aufzubrechen. Ich dagegen brauchte in der Regel eine halbe Stunde und einen schönen heißen Kaffee, bis ich mich in der Lage fühlte, den Tag in Angriff zu nehmen.
Ich gähnte und schlurfte den Flur entlang. »Ich habe kaum geschlafen. Deshalb hab ich auch nichts geträumt«, antwortete ich, während ich mich an einem Umzugskarton vorbeiquetschte. »Obwohl ich todmüde war, ist mir zu viel durch den Kopf gegangen.«
Die Tür zu Neles Zimmer war geschlossen, und ich ging davon aus, dass sie noch schlief. Nachdem gestern der LKW mit unseren Sachen vorgefahren war, hatten wir bis spät in die Nacht Möbel aufgebaut und Kartons ausgeräumt.
»In unserem Alter steckt man einen Umzug nicht mehr so leicht weg«, entgegnete Mona. »Besonders wenn er noch mit derart unliebsamen Überraschungen daherkommt …« Sie senkte die Stimme und flüsterte dramatisch: »… wie dem Café des Grauens.«
Ich hatte ihr gestern noch Fotos des Gastraums geschickt. Mona war nicht nur meine ältere Schwester, sondern auch meine engste Vertraute. Sie lebte schon seit vielen Jahren in Leipzig, aber wir telefonierten fast täglich miteinander und sahen uns so oft wie möglich. Deshalb hatten Nele und ich auch auf dem Weg nach Liebwitz bei ihr und ihrem Mann Anton haltgemacht und dort übernachtet. Die beiden hatten sich während des Studiums kennen- und lieben gelernt und leiteten gemeinsam ein Architekturbüro. Mona hatte es nie bereut, ihrer süddeutschen Heimat den Rücken gekehrt zu haben – und ich hoffte, mir würde es genauso ergehen.
Ich stöhnte. »Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.«
Sie lachte. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du ohne Koffein im Blut die Energie aufgebracht hast, meinen Anruf entgegenzunehmen«, spöttelte sie.
Ich überlegte kurz, mir meinen Bademantel überzuwerfen. Aber da ich keine Ahnung hatte, in welcher Kiste er sich befand, verzichtete ich darauf und ging im Schlafshirt hinunter in die Küche.
»Ich habe mir die Fotos noch mal angesehen«, sagte Mona und klang nun ganz wie die professionelle Architektin.
»Der Grundschnitt des Raums ist gut, und das Café hat Potenzial. Du musst dir nur schnell darüber klar werden, welches Konzept du umsetzen möchtest. Für Sektempfänge und kleine Hochzeitsfeiern könnte eine exklusivere Einrichtung im festlichen Stil vielversprechend sein.«
»Schon, aber das hört sich teuer an«, wandte ich ein. »Das kann ich mir nicht leisten.«
Ich stieß die Schwingtür auf und steuerte das Ziel meiner morgendlichen Wanderung an: die Presto Grande 2000. Die beste Kaffeemaschine der Welt. Sie stammte aus dem Frühstücksraum unseres Hotels, und ich hatte sie gestern umgehend hinter dem Tresen aufgestellt. Sie war das zukünftige Herzstück des Cafés, denn es gab wohl kaum eine bessere Visitenkarte als einen frischgebrühten aromatischen Kaffee. Dem neuen Hotelbesitzer gegenüber hatte ich behauptet, dass die Maschine kaputtgegangen sei. Er hatte meine Zwangslage schamlos ausgenutzt und einen unverschämt niedrigen Preis für das Hotel bezahlt. Von dem eingesparten Geld konnte er sich unzählige Presto Grande 2000 zulegen, deshalb hielt sich mein schlechtes Gewissen wegen meiner Lüge in Grenzen. Ich hoffte inständig, dass meine Eltern nie erfuhren, zu welchem Spottpreis ich mich von unserem Hotel getrennt hatte. Zum Glück lebten sie schon seit acht Jahren auf Teneriffa und hatten von dem ganzen Drama nur die Hälfte mitbekommen.
»Hast du Geldprobleme?«, fragte Mona alarmiert. Die kleine Andeutung hatte offenbar genügt, um sie aufhorchen zu lassen.
»Nein, natürlich nicht«, behauptete ich und lachte so unbeschwert wie möglich.
Die Presto Grande 2000 brummte, ein cremiger Strahl ergoss sich in meine Tasse, und ein verlockender Kaffeeduft stieg mir in die Nase.
So leicht ließ sich Mona nicht abwimmeln. »Eva, ich weiß doch, dass Thomas, diese linke Bazille, dich über den Tisch gezogen hat«, bohrte sie weiter. Ich sah richtig vor mir, wie meine Schwester die Stirn krauszog und ihre Hornbrille mit dem Zeigefinger nach oben drückte. »Wenn du knapp bei Kasse bist, leihe ich dir gern etwas. Du kannst es mir ja zurückzahlen, sobald dein Café läuft. Ich weiß ohnehin nicht, was ich mit meinem Anteil am Hotelverkauf anstellen soll.«
Ihr Angebot rührte und schmerzte mich zugleich. Denn auch Mona hatte keine Ahnung, zu welch lachhaftem Preis ich das Hotel verscherbelt hatte. Unsere Eltern hatten es uns zu gleichen Teilen überschrieben, und ich hatte den Gedanken unerträglich gefunden, dass meine Schwester unter dem Schlamassel, den ich verbockt hatte, leiden musste. Deshalb hatte ich mich bei der Auszahlung ihres Anteils am marktüblichen Verkaufswert orientiert. So war am Ende – abzüglich der Schulden – für Nele und mich kaum noch etwas übrig geblieben.
Ich lief mit meinem Kaffee zum vorderen Fenster des Cafés und blickte auf den leeren Parkplatz des Leuchtturms. Um diese Uhrzeit war weit und breit kein Mensch zu sehen. Nele und ich hatten die Landzunge für uns allein. Was für ein ungewohntes Gefühl. Ich war im Hotel aufgewachsen und zu jeder Tages- und Nachtzeit von Menschen umgeben gewesen.
»Ich habe wirklich keine Geldprobleme.« Die Lüge ließ meine Kehle eng werden. Ich atmete tief durch. »Aber es wäre einfach unklug, sich allein auf die Hochzeitspaare zu fixieren. Den Fehler haben schon meine Vorgänger gemacht. Ohne Kundschaft aus dem Dorf und die normalen Tagestouristen werde ich nicht über die Runden kommen.«
»Stimmt, das klingt logisch.« Mona seufzte. »In der Gastronomie kennst du dich besser aus. Immerhin haben Mama und Papa dich perfekt auf den Job vorbereitet.«
Die Erwähnung unserer Eltern versetzte mir einen Stich. Gerade jetzt fehlten sie mir mehr, als ich mir eingestehen wollte. Ich räusperte mich. »Hast du mal wieder mit ihnen gesprochen?«
»Ähm, ja«, gab sie nach kurzem Zögern zurück.
Da sie nichts mehr hinzufügte, wusste ich, dass sie mir nichts Positives berichten konnte.
»Die beiden sind immer noch sauer auf mich …«, sagte ich in die Stille hinein.
»Sie werden dir schon bald verzeihen«, meinte sie in betont zuversichtlichem Tonfall. »Gib ihnen einfach etwas Zeit. Was passiert ist, war für sie ein herber Schlag. Sie dachten, unser Hotel wäre bei dir in besten Händen und sie könnten ihren Ruhestand in Teneriffa unbeschwert genießen.«
Unser Hotel. Ich konnte meinen Eltern nicht übel nehmen, dass sie den Verlust nicht so leicht überwinden konnten.
Niedergeschlagen schlurfte ich zum Tresen zurück und setzte mich auf einen Barhocker. »Ich bin froh, dass wenigstens du mir nicht böse bist.«
Mona schnaubte, als wäre alles andere abwegig. »Wie könnte ich? Mit dem Hotel konnte ich noch nie etwas anfangen. Schon allein die Arbeitszeiten sind der Horror. Für nichts auf der Welt hätte ich deinen Job machen wollen.«
»Trotzdem danke«, entgegnete ich.
»Ich liebe dich, das weißt du«, sagte Mona, während ich im Hintergrund das Klappern einer Tastatur hörte. Wahrscheinlich saß sie schon an ihrem Schreibtisch und ging nebenher ihre Mails durch. »Ich wünsche mir, dass es für dich wieder aufwärtsgeht. Ich will endlich wieder meine nervige Gute-Laune-Schwester zurück!«
»Okay, ist notiert.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
»Apropos Laune: Wie geht es meiner schlecht gelaunten Patentochter?«, fragte sie. »Hat Nele sich mit ihrem schrecklichen Schicksal abgefunden?«
»Frag besser nicht!« Ich konnte mir ein gequältes Stöhnen nicht verkneifen. »Es gibt Augenblicke, da finde ich es äußerst klug von dir und Anton, dass ihr euch einen Hund gekauft habt. Der kann wenigstens nicht reden.«
Meine Schwester war noch nie der mütterliche Typ gewesen, und sie und ihr Mann hatten sich bewusst gegen Kinder entschieden. Dafür hatten sie sich einen Labrador zugelegt – und den Rest ihrer Fürsorge steckten sie in ihre Patentochter, die sie über alles liebten.
»Sie hat sich gestern allergrößte Mühe gegeben, mich bis auf die Knochen zu blamieren.« Ich berichtete Mona von unserer Ankunft und dass der Bürgermeister die Vermutung angestellt hatte, Nele hätte das Tourette-Syndrom. Ein Umstand, der bei Mona zu einem ungenierten Heiterkeitsausbruch führte.
»Da wäre ich gern dabei gewesen«, sagte sie lachend.
»Schön, dass du das witzig findest«, knurrte ich.
Mona beruhigte sich wieder. »Tut mir leid! Für dich war das bestimmt nicht angenehm. Aber du hast es selbst in der Hand, sie auf deine Seite zu ziehen. Sag ihr endlich, was los ist! Sie ist alt genug, um die Wahrheit zu verkraften. Thomas hat es nicht verdient, dass du ihn schützt.«
Ich stützte mich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab. Mein Blick fiel auf den Spiegel hinter der Bar, und ich erschrak. Oh Gott, sah ich fertig aus! Unter meinen grünen Augen lagen dunkle Ringe, ein Stresspickel blühte auf meiner Stirn, und meine Locken standen in alle Richtungen ab. Selbst ein Wischmopp wirkte dagegen wie frisch frisiert.
»Thomas ist ihr Vater«, entgegnete ich matt. »Ich will Nele nicht mit den Dingen belasten, die zwischen ihm und mir vorgefallen sind. Wenn ich ihr alles erzähle, hat sie womöglich das Gefühl, dass sie sich für eine Seite entscheiden muss. Das will ich nicht! Sie hat schon genug durchmachen müssen.«
Mona sah das offensichtlich anders. »Sie ist kein kleines Kind mehr und stärker, als du denkst. Nele rebelliert doch nur gegen dich, weil sie von dir wie eine Erwachsene behandelt werden möchte. Du darfst sie nicht in Watte packen!« Die Sanftheit in ihrer Stimme nahm ihrer Forderung die Schärfe.
Ich seufzte. »Kennst du nicht noch andere Leute, denen du mit deinen Lebensweisheiten auf die Nerven gehen …« Ich kam nicht weiter, denn ein Klopfen an der Tür ließ mich innehalten.
Anscheinend war jemand der Meinung, dass das Geschlossen-Schild nicht für ihn galt. Mein erster Impuls war, das Klopfen einfach zu ignorieren. Mein Aufzug war ohnehin nicht dazu geeignet, einer fremden Person gegenüberzutreten. Deshalb zwang ich mich, regungslos am Tresen sitzen zu bleiben und mich gar nicht erst umzudrehen. Obwohl mich der Besucher durch den Fensterglas-Einsatz in der Eingangstür mit Sicherheit sehen konnte. Vielleicht hatte ich Glück, und er verstand die nonverbale Botschaft?
Wohl eher nicht. Es klopfte erneut, und dazu ertönte eine gedämpfte männliche Stimme: »Hallo? Machen Sie mal auf? Ich weiß, dass Sie mich hören!«
Ich fluchte leise und drehte mich auf dem Hocker um. Durch die Scheibe sah ich einen hochgewachsenen Mann Anfang vierzig mit breiten Schultern und dunklen Haaren.
»Ist was?«, drang Monas Stimme an mein Ohr. »Wieso atmest du denn plötzlich so schwer?«
»Vor der Tür des Cafés steht ein ziemlich attraktiver Mann«, flüsterte ich.
»Worauf wartest du dann noch? Bitte ihn rein und vernasch ihn!« Ihre Stimme klang amüsiert. »Hast du mir nicht erzählt, dass dich schon seit einer Ewigkeit niemand mehr angefasst hat? Und dass du deshalb schon erotische Gefühle kriegst, wenn dir morgens im Bad der nasse Duschvorhang am Hintern kleben bleibt?«
Das hatte ich gesagt? Nun ja, im Großen und Ganzen traf das wohl zu. Schon vor der Trennung von Thomas war bei uns im Bett nicht mehr viel gelaufen.
»Du hast ja keine Ahnung, wie ich gerade aussehe!«, zischte ich. »Dein Anruf hat mich aus dem Bett geholt. Ich trage nur Hauspuschen und ein altes Schlafshirt.«
»Perfekt für ein Sexabenteuer! Du bist schon so gut wie nackt«, entgegnete sie pragmatisch.
Der Typ wirkte von meinem Zögern sichtlich genervt. Er verdrehte die Augen, hob sein Handgelenk und tippte mit dem Zeigefinger demonstrativ auf seine Uhr. Mir blieb wohl keine andere Wahl, als ihm zu öffnen.
»Mona, ich muss Schluss machen!«
Sie kicherte. »Beim nächsten Anruf erwarte ich sämtliche dreckige Einzelheiten!«
Ich drückte sie weg, ohne ihre Bemerkung mit einem Kommentar zu würdigen. Mit klopfendem Herzen ging ich zur Tür und öffnete. »Ähm … Guten Morgen!«
»Das wurde auch Zeit«, entgegnete er, ohne meinen Gruß zu erwidern.
»Tut mir leid, aber das Café hat noch nicht geöffnet«, informierte ich ihn, während ich peinlich berührt am Saum meines Schlafshirts herumzog, um es auf eine noch schickliche Länge zu ziehen.
»Weiß ich! Ich bin Jakob Thiel, der Standesbeamte. Sie sind die Neue?«
Bei genauerem Hinsehen war dieser Mann doch nicht so attraktiv, wie ich im ersten Moment geglaubt hatte. Sein Gesicht hatte zwar ansehnliche männliche Züge, allerdings eliminierte seine griesgrämige Miene diesen positiven Eindruck vollständig. Auch seine vollen Lippen hätten verführerisch sein können, wenn er sie nicht genervt zusammengepresst hätte. Und in seinen blauen Augen konnte ich keine Spur von Freundlichkeit entdecken.
»Der Bürgermeister schickt mich«, fuhr er ungeduldig fort. »Wegen Ihres neuen Jobs. Ich soll Sie in die Thematik einführen und die anstehenden Termine mit Ihnen absprechen.«
Für einen Standesbeamten war er ziemlich leger gekleidet. Er trug eine beigefarbene Cargohose mit unglaublich vielen Taschen, ein weißes eng sitzendes T-Shirt und schwarze Boots.
»Jetzt schon?«, quiekte ich. »Ich bin doch gestern erst angekommen, und das Café ist … ist …« Ich stockte und deutete demonstrativ ins Innere, wodurch mein Schlafshirt noch ein wenig höher rutschte.
Sein Blick glitt an mir herab – über meine nackten Beine bis hin zu meinen rosa Plüschpantoffeln. Von dort wanderten seine Augen wieder nach oben – nur um dort an meiner explodierten Haarpracht hängen zu bleiben.
Hastig ließ ich die Arme wieder sinken und zog den Saum des Shirts zurück auf meine Oberschenkel. Hoffentlich hatte er nicht meinen Slip mit dem Kartoffelrosen-Aufdruck gesehen! Selbstverständlich besaß ich auch hübsche Dessous, aber für den Alltag zog ich bequeme Unterwäsche vor. Insbesondere seit ich Single war.
»Potthässlich«, sagte er tonlos.
»Mein Slip?«, entfuhr es mir entgeistert.
Er verdrehte die Augen. »Das Café – das ist potthässlich.« Er seufzte. »Sie haben Ihren Satz nicht beendet.«
»Ach so, stimmt …« Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten. »Ja, es ist potthässlich. Die Umgestaltung wird wohl einige Zeit in Anspruch nehmen und könnte teuer werden.«
»Das hätten Sie sich vielleicht überlegen sollen, bevor Sie den Pachtvertrag unterschrieben haben«, sagte er ohne jegliches Mitgefühl. »Auf uns wartet Arbeit, Frau Huber. Jeden Tag kommen mehr Trauungsanfragen herein, und wir müssen gemeinsam die Vorgespräche führen.«
Himmel, war dieser Kerl unhöflich! Und mit dem sollte ich in Zukunft zusammenarbeiten? Obwohl uns ein Abstand von vier Schritten trennte, fühlte ich, wie sich seine negative Stimmung auf mich übertrug. Moment mal … Hatte der Bürgermeister mich nicht vor ihm gewarnt? Und mir den Tipp gegeben, dass ich mir nicht alles zu Herzen nehmen sollte, was er von sich gab? Das war leichter gesagt als getan.
»Ich bin gern bereit, mit Ihnen meine zukünftigen Aufgaben zu besprechen, aber jetzt passt es mir gerade überhaupt nicht«, versuchte ich, ihn abzuwimmeln.
»Wieso? Haben Sie etwa schon einen anderen Termin?«
»Nein, das nicht gerade …«, gab ich zu und seufzte. »Können wir uns nicht später treffen? Ich würde jetzt wirklich gern duschen und mich umziehen.«
»Nein, das geht nicht.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nämlich sehr viel zu tun.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Mir von diesem Typen Faulheit unterstellen zu lassen, kam nicht infrage.
»Oh, dafür habe ich natürlich Verständnis!«, gab ich bissig zurück. »Es ist schließlich eine allseits bekannte Tatsache, dass deutsche Beamte einen äußerst stressigen Beruf ausüben. Insbesondere Standesbeamte sollen ja regelmäßig in Burn-out-Kliniken landen.«
Hoffentlich hatte er den Sarkasmus in meinen Worten auch wahrgenommen! Es war mir ein Rätsel, wieso dieser grummelige Kerl, der so viel Lebensfreude wie ein plattgefahrener Igel am Straßenrand ausstrahlte, ausgerechnet diesen Beruf ergriffen hatte und verliebte Paare am schönsten Tag ihres Lebens begleitete.
Er kniff die Augen zusammen. »Ja, ich bin tatsächlich gestresst. Denn ich bin nicht nur der einzige Standesbeamte in Liebwitz, sondern habe auch noch einen anderen Job zu erfüllen. Davon abgesehen ist das Aufgabenfeld eines Standesbeamten bedeutend umfangreicher, als viele denken. Ich kümmere mich zum Beispiel auch um Todesfälle.«
»Das passt wiederum«, murmelte ich.
Er runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Ach nichts.«
Durch meine Arbeit im Hotel wusste ich zum Glück mit schwierigen Menschen umzugehen. Als Chefin war es mein Job gewesen, unzufriedene Gäste zu besänftigen, die sich über schlechtes Wetter, Stechmücken im Sommer oder Sexgeräusche aus dem Nachbarzimmer beschwert hatten.
Ich setzte ein freundliches Lächeln auf. »Da Ihnen der frühe Morgen offenbar gut passt, schlage ich vor, Sie kommen morgen um dieselbe Uhrzeit wieder vorbei«, bot ich an. »Bis dahin kann ich mich mit den Unterlagen meiner Vorgänger befassen und mich entsprechend vorbereiten. Und wenn Sie wollen, kriegen Sie dann einen leckeren Kaffee von mir. Ist das ein Angebot?«
Seine Miene blieb ausdruckslos. »Ich mag keinen Kaffee.«
Mein Lächeln unverändert beizubehalten kostete Kraft. »Dann mach ich Ihnen einen schönen Tee.«
»Pfff«, stieß er wenig begeistert aus.
Ansonsten kam keine weitere Reaktion seinerseits. Von einem Kompromiss schien er noch nie etwas gehört zu haben. So langsam hatte ich wirklich genug! Da tauchte dieser Kerl ohne Vorankündigung hier auf und erwartete, dass ich ihm umgehend und ohne Widerrede zur Verfügung stand. Jakob Thiel wurde mir von Minute zu Minute unsympathischer. Gutes Aussehen hin oder her: Ein Arsch blieb ein Arsch.
»Welche Laus ist Ihnen eigentlich über die Leber gelaufen?«, fragte ich ihn geradeheraus. »Ich habe Ihnen nichts getan. Oder sind etwa alle Liebwitzer so unhöflich? Schon Herr Jansen war gestern schrecklich gereizt.«
»Der Jansen war Ihnen gegenüber gereizt?« Nun zeigte sich zum ersten Mal die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht, allerdings hatte es eine triumphierende Note. »Ich glaube, dafür kenne ich den Grund.«
»Ach ja?«, entfuhr es mir mit unverhohlener Neugier. »Und verraten Sie ihn mir auch?«
»Könnte ich.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber nur, wenn wir jetzt gleich die anstehenden Termine besprechen.«
Zugegeben, ich haderte kurz. Aber so wichtig war es mir dann doch nicht. Auch ich hatte meinen Stolz.
»Für Erpressung bin ich nicht offen«, informierte ich ihn. »Das sollten Sie sich für die Zukunft merken.«
»Ist notiert, Frau Huber.« Er seufzte und nickte mir zu. Offenbar gab er sich geschlagen.
Jakob Thiel wandte sich zum Gehen. »Bis morgen früh dann, selbe Uhrzeit.«
Ich konnte mir nicht verkneifen, ihn ein wenig zu ärgern. »Ich freue mich schon!«, rief ich ihm in süßlichem Tonfall hinterher.
Er hielt kurz inne und musterte mich irritiert – dann lief er weiter in Richtung Leuchtturm. Ich sah ihm hinterher. Mit diesem grummeligen Kerl würde ich also ab sofort zusammenarbeiten. Na, das konnte ja heiter werden!
Während ich duschte und mich anzog, ging ich in Gedanken noch mal das Zusammentreffen mit Jakob Thiel durch. Ohne Frage war es nicht optimal verlaufen. Aber auch wenn er auf den ersten Blick kein besonders zugänglicher Mensch sein mochte, hatte er bestimmt auch seine guten Seiten. Die hatte doch jeder, oder? Er schien zum Beispiel seinen Job ernst zu nehmen, gewissenhaft und pünktlich zu sein. Außerdem war kein Mensch auf Dauer schlecht gelaunt und unhöflich. Wir mussten uns nur etwas besser kennenlernen, dann würde er auftauen und umgänglicher werden. Ich würde diese Nuss schon knacken, da war ich mir sicher!
Als ich aus dem Bad kam, tönte aus Neles Zimmer laute Musik. Da Pfingstferien waren, blieb ihr noch eine Gnadenfrist bis zu ihrem ersten Tag an der neuen Schule. Wie viele Mädels ihrer Generation war Nele glühender K-Pop-Fan, und gerade wummerte der Bass eines »BTS«-Songs durch die Wohnung. Offengestanden gefielen mir einige Lieder der koreanischen Boyband richtig gut. Allerdings war ich feinfühlig genug, dies Nele gegenüber nicht zu erwähnen, und behauptete stattdessen, dass mir von diesem überfröhlichen Popgejaule die Ohren bluteten. Sonst hätte ihr jugendlicher Trotz sie noch dazu gezwungen, verzweifelt nach einem anderen Musikstil zu fahnden, den ich unerträglich fand.
Ich klopfte an ihre Tür. »Guten Morgen, Schatz! Ich geh ins Dorf zum Einkaufen. Willst du mit? Oder soll ich dir was vom Bäcker mitbringen?«
Als Antwort erhielt ich nur ein genervtes »Geh weg!«.