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Wellen, Wind und Liebesworte
Das Krummhörner Wochenblatt will die Tradition des Briefeschreibens wieder aufleben lassen und hat seine männlichen Leser dazu aufgerufen, der Liebe ihres Lebens öffentlich zu schreiben. Gewonnen hat ein anonymer Liebesbrief, der so wundervoll romantisch ist, dass die ganze Gegend darüber spricht. Und alle sind sich einig: Merle ist diejenige, die dem mysteriösen Dichter das Herz gestohlen hat. Die hält das jedoch für Humbug. Wenn jemand ihr so zugetan wäre, wüsste sie schließlich davon! Oder etwa nicht?! Um auf Nummer sicher zu gehen, versucht sie, die Identität des Schreibers herauszufinden. Leider weigert sich Bastian, der attraktive Redakteur des Wochenblatts, Informationen herauszurücken. Er wittert nämlich eine herzergreifende Story und heftet sich bei Merles Suche ungefragt an ihre Fersen ...
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Über das Buch
Das Krummhörner Wochenblatt will die Tradition des Briefeschreibens wieder aufleben lassen und hat seine männlichen Leser dazu aufgerufen, der Liebe ihres Lebens öffentlich zu schreiben. Gewonnen hat ein anonymer Liebesbrief, der so wundervoll romantisch ist, dass die ganze Gegend darüber spricht. Und alle sind sich einig: Merle ist diejenige, die dem mysteriösen Dichter das Herz gestohlen hat. Die hält das jedoch für Humbug. Wenn jemand ihr so zugetan wäre, wüsste sie schließlich davon! Oder etwa nicht?! Um auf Nummer sicher zu gehen, versucht sie, die Identität des Schreibers herauszufinden. Leider weigert sich Bastian, der attraktive Redakteur des Wochenblatts, Informationen herauszurücken. Er wittert nämlich eine herzergreifende Story und heftet sich bei Merles Suche ungefragt an ihre Fersen …
Über die Autorin
Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman Wellenglitzern hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung.
Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.
MARIE MERBURG
Strandkorbbriefe
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2025 by Marie Merburg Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, BonnUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauEinband-/Umschlagmotiv: © Katerina Arts/Shutterstock; Pawel Kazmierczak/Shutterstock; Andy333/Shutterstock; flowersmile/Shutterstock; Thorsten Schier/Shutterstock; MM_photos/Shutterstock; schankz/ShutterstockeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-6093-5
luebbe.delesejury.de
Acht Monate zuvor
Ein Schicksalsschlag kam meist ohne Vorwarnung und veränderte von einer Sekunde auf die andere das Leben auf so dramatische Weise, dass nichts mehr war wie zuvor. So auch bei mir. Dabei war es ein Tag wie jeder andere gewesen …
Ich stand auf dem Parkplatz am Pilsumer Leuchtturm und hatte die Daumen am Gürtel meiner Uniform eingehakt.
»Hat mir deine neue Kollegin gerade unterstellt, ich würde die Polizei bestechen?«, fragte Siggi, der hier seinen Imbisswagen abgestellt hatte. »Mit einem Fischbrötchen?«
Er stand hinter der Theke, und sein Doppelkinn zitterte vor Empörung. Mit Ende sechzig besaß er kaum noch Haare, doch den Rest der weißblonden Strähnen hatte er liebevoll auf seinem Kopf verteilt und offenbar dort festgeklebt, denn sie bewegten sich keinen Millimeter.
Ich kannte Siggi schon ewig, und er verfügte über so viel kriminelle Energie wie eine laue Nordseebrise. Er war seit über dreißig Jahren verheiratet, hatte vier Kinder, war Schriftführer beim TV Greetsiel und hatte sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Deshalb war seine Entrüstung in gewisser Weise nachvollziehbar.
»Nimm dir das mal nicht zu Herzen! Antje meint es eigentlich nicht so«, entgegnete ich, obwohl ich es doch besser wusste.
Meine neue Kollegin Antje Voß hatte Siggis freundliche Essenseinladung gerade resolut abgelehnt und ihn in scharfem Ton darauf hingewiesen, dass es Beamten im Dienst nicht erlaubt war, Geschenke und Gefälligkeiten anzunehmen. Mit kerzengeradem Rücken und vorgerecktem Kinn marschierte sie nun zurück zum Polizeiwagen – ein Abbild wahrer Integrität und Rechtschaffenheit. Diese Frau liebte und lebte das deutsche Gesetz.
»Ich wollte doch nur nett zu ihr sein, Himmel noch mal!«, brummelte Siggi und drückte mir ein kostenloses Fischbrötchen in die Hand.
Ich schenkte ihm ein Lächeln. »Ich dank dir!«
Es war Anfang Oktober, und obwohl die Sonne schien, pfiff ein ungemütlicher Wind über die Ebene. Er legte sich wie ein kühler Schal in meinen Nacken und wirbelte eine Haarsträhne, die sich aus meinem Flechtzopf gelöst hatte, in mein Gesicht. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Herbststürme, die uns bevorstanden.
»Mich kannst du mit so viel Fischbrötchen bestechen, wie du willst, ich bleibe objektiv und vertrete ungeachtet persönlicher Sympathien das Gesetz«, sagte ich kauend und zwinkerte ihm zu. »Selbst, wenn du dich als Täter herausstellen solltest.«
Er schüttelte schnaubend den Kopf. »Also, ich hab die Fassade ja wohl ganz bestimmt nicht mit diesem riesigen Graffiti verunstaltet!« Er deutete hinauf zum Deich, wo in einiger Entfernung der Pilsumer Leuchtturm mit dem rot-gelben Anstrich stand, der durch die Werbung und den Film »Otto – der Außerfriesische« bekannt war.
»Das weiß ich doch!« Ich hob den Zeigefinger. »Allerdings handelt es sich um eine einzelne Zeichnung und somit um ein Graffito. Genauer gesagt um einen schlecht gesprayten Umriss eines männlichen Geschlechtsteils. Entweder wollte der Täter eine seltene medizinische Anomalie andeuten, oder er hat keine Ahnung von männlicher Anatomie. Ich tippe auf Letzteres.«
Er stutzte. »Du meinst, die Sprayer könnten Mädchen gewesen sein?«
»Warum nicht? Wir leben in Zeiten der Gleichberechtigung. Auch Mädels kommen im Teenageralter mal auf dumme Ideen.«
Da die Hauptsaison vorüber war und mittlerweile deutlich weniger Touristen in der Krummhörn Urlaub machten, vermutete ich, dass eine Gruppe Jugendlicher aus der Umgebung dahintersteckte. Antje und ich hatten den Fall jedenfalls vorschriftsgemäß dokumentiert und offiziell als Sachbeschädigung aufgenommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Täter erwischten, stufte ich jedoch als gering ein. Eine vielversprechende Spur wäre höchstens, die Zeichenlehrer in den ortsansässigen Schulen zu befragen, welche ihrer Schüler außergewöhnlich wenig Talent besaßen.
Während ich mit Siggi plauderte und mir das Fischbrötchen schmecken ließ, stand Antje mit verschränkten Armen vor unserem Wagen und scannte die Umgebung. Obwohl sie erst Anfang zwanzig war, hatte sie ihre Bad-Cop-Rolle schon perfekt einstudiert. Dabei war sie mit ihren 1,61 Meter und ihrer zierlichen Gestalt von elfenhafter Statur. Ihr autoritärer Blick sorgte in Verbindung mit ihrer Uniform jedoch dafür, dass sich die wenigen Touristen auf dem Parkplatz hastig zerstreuten.
»Diese Antje verjagt meine Kunden! Die guckt wie ein angriffslustiger Pitbull«, schimpfte Siggi. »Habt ihr die von der Hundestaffel übernommen?«
Ich hatte zwar ebenfalls Probleme mit meiner Kollegin, fühlte mich aber verpflichtet, sie zu verteidigen.
»Pass mal auf deine Wortwahl auf!«, ermahnte ich ihn. »Und sei ein bisschen nachsichtig. Antje ist gerade aus Nordrhein-Westfalen hergezogen und hat erst vor Kurzem ihre Ausbildung abgeschlossen. In ihrem Alter war ich auch übertrieben ehrgeizig.«
Das war noch eine Untertreibung. Ich hatte meinen Job derart ernst genommen, dass ich überall Verbrechen witterte, und leider war ich dabei einmal auch kräftig ins Fettnäpfchen getreten. Über den Vorfall war sogar in der Zeitung berichtet worden. Obwohl das schon elf Jahre zurücklag und ich mittlerweile eine erfahrene dreiunddreißigjährige Polizistin war, zogen meine Kollegen mich heute noch damit auf.
»Sie muss einfach etwas Erfahrung sammeln«, erklärte ich. »Dann wird sie auch lockerer. Antje braucht nur etwas Anleitung und Selbstsicherheit.«
»Wenn du meinst …«
»Ganz bestimmt sogar. Zeig ein bisschen Herz!«
Er seufzte ergeben. »Na schön, ich bin ja nicht nachtragend. Hoffentlich weiß deine Kollegin zu schätzen, dass sie ein Goldstück wie dich an ihrer Seite hat.«
»Logisch!«, erwiderte ich grinsend und verputzte den Rest des Fischbrötchens.
Mein Funkgerät knackte, und die Zentrale meldete sich, um einen Einsatz durchzugeben. Es handelte sich um einen Nachbarschaftsstreit, und als ich die Adresse hörte, stöhnte ich gequält auf. »Nicht schon wieder!«
»Alte Bekannte?«, fragte Siggi.
Ich nickte. »Ich sehe die beiden Streithähne im Durchschnitt einmal pro Woche.«
Nachdem ich der Zentrale durchgegeben hatte, dass wir auf dem Weg wären, verabschiedete ich mich von Siggi und ging zum Wagen. Antje wartete schon auf dem Beifahrersitz mit verschränkten Armen auf mich. Sie wirkte äußerst unzufrieden. War sie immer noch wegen des Fischbrötchens sauer? Obwohl ich Siggi gegenüber etwas anderes behauptet hatte, war Antje noch kein Fitzelchen lockerer geworden, seit ich sie unter meine Fittiche genommen hatte. Dass sie mich endlich beim Vornamen nannte, verzeichnete ich schon als gewaltigen Fortschritt. Zum Glück beschäftigte sie jedoch etwas anderes.
»Ich bin noch nicht lange hier, aber das ist schon das vierte Mal, dass wir dorthin gerufen werden«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Wenn Herr Kammelk und Herr Schluff sich aus Langeweile ständig streiten, ist das doch deren Sache. Uns jedes Mal zu rufen ist Verschwendung von Steuergeldern.«
»Aber was sollen wir machen? Wir werden gerufen – wir kommen.«
Ich fuhr los und nahm einige Abkürzungen über die Feldwege. Die beiden Bauernhöfe lagen außerhalb und sehr idyllisch auf einer Warft, eingerahmt von hochgewachsenen Bäumen und umgeben von Feldern und Wiesen. Weit und breit war kein anderer Nachbar zu sehen. Was wahrscheinlich eines der Grundprobleme der streitlustigen Männer darstellte. Herrn Schluffs Ehefrau war vor einigen Jahren verstorben, während sich Herrn Kammelks Frau vor zwei Jahrzehnten aus dem Staub gemacht hatte. Die Einsamkeit hier draußen tat den beiden nicht sonderlich gut.
Ich parkte den Wagen auf dem blank gefahrenen Kopfsteinpflaster zwischen den Höfen. Früher waren hier noch Kühe gehalten worden, doch inzwischen waren die Ställe verwaist. Die beiden Herren waren schon Ende siebzig, und keines ihrer Kinder hatte in ihre Fußstapfen treten wollen. Man sah den Gebäuden an, dass die betagten Besitzer sich kaum noch um die Instandhaltung kümmern konnten. Überall wucherte Unkraut, landwirtschaftliche Geräte rosteten ungenutzt vor sich hin, und am Eingang von Herrn Schluffs Scheune flatterte eine zerschlissene Plane. Auch sie war schon der Grund für einen Einsatz gewesen: Herr Kammelk hatte uns wegen nächtlicher Ruhestörung gerufen, da ihm das Geräusch der im Wind umherschlagenden Plane angeblich den Schlaf geraubt hatte.
Wir stiegen aus, und ich gab Antje letzte Instruktionen, während sie ihre Schutzweste zurechtrückte. »Wir machen es wie gehabt. Wir bleiben neutral und mischen uns nicht in den aktuellen Streitfall ein. Unsere Aufgabe ist es, zu deeskalieren und eine Situation zu schaffen, mit der beide Parteien leben können.«
Nachbarschaftsstreitigkeiten gehörten zu unserem Alltag. Ebenso wie Verkehrsverstöße, Tätlichkeiten, Trunkenheit, verschwundene Haustiere oder kleinere Diebstahlsdelikte. Schwerverbrechen kamen in unserer Gegend so gut wie nie vor.
Antje nickte mir zu. »Ich bin bereit.«
Sie hatte wieder ihre strenge Bad-Cop-Miene aufgesetzt, was ich in gewisser Weise nachvollziehen konnte. Als Frau musste man Autorität ausstrahlen, um als Polizistin ernst genommen zu werden. Auch ich verhielt mich in Uniform anders als privat. Ich legte alles Weibliche und Warme ab, meine Körperhaltung war straffer, und ich nahm durch den hüftbreiten Gang mehr Raum ein. Ich verwandelte mich in eine toughe Beamtin, die alles unter Kontrolle hatte, den Menschen hilfreich zur Seite stand und für Gerechtigkeit sorgte.
Genau deshalb liebte ich diesen Job. Schon seit meiner Kindheit hatte ich Polizistin werden wollen und meinen Berufswunsch gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt. Diese Widrigkeiten stellten in erster Linie meine Mutter dar, die mit allen Mitteln versucht hatte, mich davon abzuhalten. Noch heute machte sie mir ein schlechtes Gewissen, weil sie angeblich in permanenter Angst lebte, einen Anruf vom Revier zu erhalten, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass mir im Dienst etwas zugestoßen sei. Das war natürlich völlig abwegig. Wenn mir im Dienst etwas passieren würde, würden die Kollegen ganz sicher nicht anrufen, sondern persönlich bei ihr vorbeischauen.
»Wir müssen da lang!«, sagte ich und deutete in die Richtung, aus der zwei laute Stimmen zu hören waren.
Im Laufschritt setzten wir uns in Bewegung. Wie immer hatten wir keine Ahnung, welche Situation uns vor Ort erwartete, und Adrenalin durchströmte meinen Körper. Die Aufregung und der Nervenkitzel waren ein weiterer Grund, wieso ich diesen Job liebte.
Wir bogen um die Ecke und entdeckten die Männer an einem Zaun, hinter dem sich ein kleiner Nutzgarten mit Obstbäumen befand. Herr Kammelk, der sich mit gebeugtem Rücken auf seine beiden Gehstöcke stützte, blickte auf. Er hatte schütteres Haar, trug eine braune Strickweste über einem gemusterten Hemd und eine dunkelbraune Cordhose.
»Da sind Sie ja endlich!«, spie er aus. »Ich wurde bestohlen und habe den Dieb auf frischer Tat ertappt.«
Er fuchtelte mit einem der Gehstöcke in die Richtung seines Nachbarn und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Herr Schluff klammerte sich indes mit wütender Miene an seinem Rollator fest. Seine ausgeblichene blaue Arbeitslatzhose schlackerte um seinen ausgemergelten Körper, und eine schwarze Fischermütze verbarg seine Glatze.
»Ich hab überhaupt nichts geklaut«, rief er. »Die Äpfel sind über den Zaun gewachsen – und dann darf man sie sich nehmen!«
»Mundraub!«, keifte Herr Kammelk. »Das ist Mundraub.«
Ich verständigte mich mit Antje schweigend per Handzeichen, und jede von uns stellte sich an die Seite eines Mannes, um im Notfall eingreifen zu können. Ich übernahm Herrn Kammelk.
»Antje, wenn Herr Schluff nichts dagegen hat, dann wirf doch bitte mal einen Blick da rein!«, sagte ich und deutete auf die prall gefüllte Jutetasche, die am Rollator baumelte.
Mit sichtlichem Widerwillen nickte Herr Schluff, und meine Kollegin nahm die Tasche an sich.
»Das sind aber viele Äpfel, die über den Zaun gewachsen sind, Herr Schluff!«, stellte sie fest.
Herr Kammelk neben mir nickte eifrig. »Ja, und jetzt schauen Sie sich mal den Baum an!«
Wir nahmen den Tatort in Augenschein. Nur wenige Zweige wuchsen über den Zaun, doch rundherum baumelte kein einziger Apfel mehr an den unteren Ästen.
»Kann es sein, dass Sie sich Zutritt zum Grundstück Ihres Nachbarn verschafft haben, um seine Äpfel zu klauen, Herr Schluff?«, fragte ich streng und zeigte zum Gartentor, das breit genug war, um mit einem Rollator hindurchzupassen.
Der alte Mann blickte ertappt zur Seite und schwieg. Sein Verhalten war Antwort genug.
»Du bist überführt, du elender Dieb!«, rief Herr Kammelk triumphierend.
Ein trotziger Ausdruck erschien auf Herrn Schluffs faltigem Gesicht. »Das war mein gutes Recht. Schließlich hast du gestern meine Sonntagszeitung geklaut, das weiß ich genau! Außerdem lädst du dein Gerümpel immer an meiner Grundstücksgrenze ab, sodass ich den ganzen Tag deinen Müll angucken muss. Dafür steht mir eine Entschädigung zu!«
»Das ist ein Oldtimer, kein Gerümpel, du ignoranter Stoffel!«
Sein Nachbar schnaubte. »Pah, Oldtimer! Dass ich nicht lache. Das ist ein uralter Traktor, der nur noch vom Rost zusammengehalten wird.«
»Den hab ich noch von meinem Großvater. Wenn ich den erst mal restauriert habe, ist er viel Geld wert …«
Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. Wie Herr Kammelk in seinem körperlichen Zustand einen Traktor restaurieren wollte, war mir ein Rätsel.
»… Du kannst dich glücklich schätzen, so ein Sammlerstück jeden Tag ansehen zu dürfen. Von wegen Entschädigung! Die steht eher mir zu. Schließlich hast du mir erst letztens direkt vor meiner Haustür auf die Fußmatte …«
»Meine Herren, immer mit der Ruhe!«, unterbrach ich den Streit mit ruhiger Stimme. »So kommen wir doch nicht weiter.«
Ich wandte mich an Herrn Schluff. »Wie wäre es, wenn Sie die Äpfel zurückgeben und sich entschuldigen? Vielleicht wäre Herr Kammelk dann bereit, von einer Anzeige abzusehen. Das wäre schließlich in Ihrem eigenen Interesse …« Ich lächelte ihm aufmunternd zu.
Er presste die Lippen zusammen und mahlte mit den Zähnen. Ganz offensichtlich focht er einen inneren Kampf aus: Stolz und Trotz versus Vernunft und Moral.
Schließlich nahm er Antje die Jutetasche ab und pfefferte sie seinem Nachbarn vor die Füße. »Bitte schön, da hast du deine blöden Äpfel! Die schmecken eh total sauer.«
Um des lieben Friedens willen hob ich die Tasche auf und wollte sie Herrn Kammelk in die Hand drücken, scheiterte aber an dem Umstand, dass er sich an die Gehstöcke klammerte.
»Wissen Sie was? Behalten Sie die Äpfel!«, sagte er. »Für Ihre Mühen.«
Der alte Mann sah mich dabei mit so gönnerischer Miene an, als hätte er mir gerade einen Diamantring und nicht ein paar wurmstichige Mostäpfel geschenkt. Sie waren so klein und hart, dass man sie als Wurfgeschosse verwenden konnte. Schon wollte ich mit der willkommenen Begründung ablehnen, dass wir im Dienst keine Geschenke und Gefälligkeiten annehmen durften, biss mir dann aber auf die Zunge. Notfalls konnte ich die Dinger auf dem Heimweg aus dem Autofenster werfen.
»Okay, danke.« Ich räusperte mich. »So, Herr Schluff, jetzt zu der Entschuldigung!«
Er zog eine widerwillige Grimasse, öffnete jedoch gehorsam den Mund und holte tief Luft. Wir schauten ihn gespannt an und warteten. Und warteten. Doch da kam nichts. Schon befürchtete ich, dass er uns jeden Moment aus Sauerstoffmangel umkippen würde. Schließlich stieß er den angehaltenen Atem wieder geräuschvoll aus.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Ich kann nicht.«
»Sie können schon, aber Sie wollen nicht«, bemerkte Antje spitz.
Ich konnte ihren Unmut nachvollziehen und dachte an ihren Kommentar auf der Herfahrt. Sie hatte völlig recht, wir machten dieses Theater schon viel zu lange mit.
Ich nahm die beiden Streithähne ins Visier.
»So kann das nicht weitergehen, meine Herren! Unsere Dienststelle ist chronisch unterbesetzt, und wir müssen ständig Überstunden leisten. Und raten Sie mal, wo unser Haupteinsatzort ist? Bestimmt vermuten Sie, es wäre eine zwielichtige Spelunke oder ein leer stehendes Fabrikgebäude, in dem Obdachlose und Drogenabhängige Unterschlupf finden. Aber nein, es ist diese Warft, zu der meine überarbeiteten Kollegen und ich am häufigsten gerufen werden! Ist Ihnen das eigentlich klar?«
Es erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung, auf ihren faltigen Gesichtern sowohl Erstaunen als auch einen Anflug von Schuld zu entdecken.
»Meinen Sie, wir haben nichts Besseres zu tun, als uns um Ihre Nachbarschaftsstreitigkeiten zu kümmern?« Ich redete mich in Rage. »Ich bin schon mal einen Tag vor Weihnachten bei Eisregen hier rausgefahren, weil einer von ihnen behauptet hat, der andere hätte ihm den Vogel gezeigt, während der Betreffende uns versichert hat, er hätte sich nur am Kopf gekratzt.«
Herr Kammelk, der uns damals alarmiert hatte, schaute mit hochrotem Gesicht zur Seite.
Ich atmete tief durch, um wieder zu meiner professionellen Gelassenheit zurückzufinden. Die klare Luft roch nach Gras, Erde und einem Hauch von Meer.
»Deshalb schlage ich vor, dass wir endlich einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen eine dauerhafte Lösung für ein friedvolles Zusammenleben finden!«
Ich fing Antjes Blick auf. Zum ersten Mal, seit ich die junge Polizistin unter meine Fittiche genommen hatte, sah ich Bewunderung in ihren Augen aufblitzen.
»Sie sollten einen Schiedsmann einschalten«, fuhr ich fort. »Er kann Ihnen helfen, klare Regeln aufzustellen, um Streitigkeiten zu vermeiden. Ich habe Ihnen schon in der Vergangenheit die Nummer eines Schiedsmanns gegeben. Bitte geben Sie beide sich endlich einen Ruck und nehmen Kontakt zu ihm auf!«
Ich schaute eindringlich von einem zum anderen, um ihnen die Dringlichkeit der Situation bewusst zu machen.
»Sollte das nicht möglich sein, könnten Sie über einen Verkauf der Anwesen nachdenken. Wie wäre es, wenn Sie zum Beispiel in die Nähe Ihrer Kinder ziehen? Die könnten sich dann auch viel besser um Sie kümmern.« Ich holte tief Luft. »Fest steht, dass hier endlich Frieden einkehren muss! Sind Sie die permanenten Streitereien nicht auch leid? Wir haben es jedenfalls satt, andauernd hier rauszufahren. Deshalb sage ich Ihnen hier und heute mit allem Nachdruck: Herr Schluff, Herr Kammelk – das muss ein Ende haben!«
Ich stemmte die Hände in die Taille und wartete auf eine Reaktion.
Herr Kammelk stützte sich schwer auf seine Gehstöcke und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. Auch Herr Schluff blickte abwesend ins Leere.
»Das muss ein Ende haben …«, murmelte er. »Es muss endlich ein Ende haben.«
Ich nickte zufrieden. »Genau!«
Abrupt sah er auf. »Sie haben recht, das geht schon viel zu lange so«, sagte er mit brüchiger Stimme. Meine Worte hatten ihn sichtlich aufgewühlt. »All diese Streitereien, all der Ärger … Das ist doch kein Leben!«
Ohne ein weiteres Wort griff er in die Seitentasche seiner Arbeitshose und zog etwas Schwarzes, Metallisches daraus hervor. Ich blinzelte mehrfach hintereinander. Das war doch nicht etwa …?
Antje reagierte sehr viel schneller als ich.
»Waffe!«, brüllte sie alarmiert. Blitzschnell zog sie ihre Heckler & Koch SFP9 aus dem Halfter. »Legen Sie sofort die Pistole aus der Hand, Herr Schluff!«
In all den Jahren war ich im Dienst noch nie mit einer Schusswaffe konfrontiert worden. Baseballschläger, Schlagringe, ein abgeschlagener Flaschenhals – all das war schon vorgekommen. Einmal hatte mich eine geistig verwirrte Frau sogar mit einem Obstmesser bedroht, weil sie mich für die »Tochter Satans« gehalten hatte. Aber sie hatte dabei so stark gezittert, dass ihr das Messer von allein aus der Hand gefallen war. Keine Sekunde lang hatte ich mich damals ernsthaft in Gefahr gefühlt. Jetzt allerdings schon!
Herr Schluff klammerte sich mit einer Hand an seinem Rollator fest und richtete die Pistole auf seinen Nachbarn. Er hatte die Augen weit aufgerissen und bebte am ganzen Körper.
»Wir bringen das jetzt zu Ende. Hier und heute. Damit tue ich allen einen Gefallen.«
Obwohl Herr Kammelk das potenzielle Opfer darstellte, blieb er bemerkenswert ruhig. »Woher hast du denn die Waffe?«
Herr Schluff reckte stolz das Kinn. »Die hat mein Vater aus dem Krieg mitgebracht, und ich habe sie all die Jahre gepflegt. Deutsche Wertarbeit. Ich trage sie in letzter Zeit immer bei mir, weil ich dir nicht über den Weg traue.« Er fuchtelte beim Reden so viel mit der Waffe herum, dass mir abwechselnd heiß und kalt wurde. Offenbar hatte er keine Ahnung, wie schnell sich ein Schuss lösen könnte.
»Sie ist sozusagen auch ein Oldtimer.« Er kicherte nervös. »Aber deutlich praktischer als ein verrosteter Traktor.«
Es war eine alte Walther P.38, die Standardwaffe der deutschen Wehrmacht. Ich hatte sie schon auf Fotos gesehen. Insofern klang seine Geschichte glaubwürdig und erklärte auch, weshalb wir nichts davon gewusst hatten. Wenn Herr Schluff sich regelmäßig um das Erbstück gekümmert und die Pistole gereinigt hatte, war sie trotz des hohen Alters wahrscheinlich funktionstüchtig.
»Lassen Sie die Waffe sinken, Herr Schluff! Sofort!«, brüllte Antje. Sie war kalkweiß im Gesicht, und obwohl sie ihre Dienstwaffe vorschriftsgemäß mit beiden Händen hielt, konnte sie ihr Zittern nicht verbergen. »Sonst bin ich gezwungen zu schießen!«
Endlich riss ich mich aus meiner Erstarrung. Die Situation drohte jeden Moment zu eskalieren. Ich musste einschreiten und die Kontrolle zurückerlangen, sonst würde es womöglich Tote geben!
»Jetzt entspannen wir uns erst mal wieder«, sagte ich mit einer Ruhe, die ich innerlich ganz und gar nicht empfand. »Wir atmen tief durch und besinnen uns auf das Richtige!«
Betont langsam lief ich auf Herrn Schluff zu und zeigte ihm dabei meine Handflächen, um ihm zu signalisieren, dass ich keine Gefahr darstellte.
»Wir kennen uns jetzt schon lange, Herr Schluff, und ich weiß, dass Sie kein böser Mensch und schon gar kein Mörder sind. Trotz der negativen Gefühle, die Sie gegen Ihren Nachbarn hegen, sind Sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal handgreiflich geworden. Sie sind kein gewalttätiger Typ.«
Ich suchte seinen Blick und hielt ihn fest. Es war wichtig, dass er sich jetzt allein auf mich konzentrierte.
»Sie sind niemand, der einem Menschen das Leben nehmen könnte. Vor allem, wenn es andere Möglichkeiten gibt, Ihre komplizierte Beziehung zu Ihrem Nachbarn zu verbessern. Selbstjustiz und Mord sind ganz bestimmt keine Lösung.«
Nervös fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen, während mein Herz bis zum Hals schlug. Ich stand jetzt so nah vor ihm, dass ich ihn entwaffnen konnte. Da es bei einem Mann seines Alters um die Reaktionsschnelligkeit eher schlecht bestellt war, wäre ich notfalls klar im Vorteil. Trotzdem war es für alle Beteiligten sicherer, wenn er mir die Waffe freiwillig übergab.
»Denken Sie doch an Ihre Kinder!«, fuhr ich fort. »Und an Ihre verstorbene Frau! Hätte Sie es gutgeheißen, wenn Sie Ihr Seelenheil für Herrn Kammelk opfern?«
Da ich nicht wusste, wie nahe er seiner Frau gestanden hatte, verfehlte dieses Argument womöglich seine Wirkung. Aber ich hatte Glück.
»Nein, das hätte sie nicht.« Er schniefte. »Erika war eine friedliebende Frau. Voller Liebe … und Verständnis.«
»Das stimmt«, schaltete sich Herr Kammelk zu meinem Leidwesen ein. »Sie war …«
Ich warf ihm über die Schulter einen so bösen Blick zu, dass er seinen Satz nicht beendete. Ganz sicher wollte ich in dieser Situation nicht von ihm hören, dass Erika viel zu gut für Herrn Schluff gewesen war!
»Ihre Erika hätte nicht gewollt, dass Sie zum Mörder werden. Ehren Sie Ihr Andenken, und tun Sie das Richtige!« Vorsichtig streckte ich die Hand aus. »Geben Sie mir die Waffe!«
Er rang noch einige Augenblicke mit sich, dann nickte er. »Na schön …«
Der alte Mann atmete tief durch und schwenkte die Walther P.38 in meine Richtung. Im gleichen Moment löste sich ein Schuss.
Obwohl eine abgefeuerte Kugel schneller war als der Schall, hörte ich zuerst den ohrenbetäubenden Knall, ehe ich den Schmerz an meiner linken Seite wahrnahm. Stirnrunzelnd sah ich an mir herab.
Ich taumelte rückwärts, stolperte und fiel auf die Knie. Blitzschnell breitete sich warmes Blut auf meinem Oberkörper aus und tränkte den Stoff meiner Uniform. Mit fahrigen Fingern wollte ich meine Schutzweste abtasten, aber meine Hände gehorchten mir nicht mehr. Eine plötzliche Kraftlosigkeit lähmte meinen Körper, und ich sackte zur Seite. In diesem Moment ertönte ein weiterer Schuss. Herr Schluff gab einen erstickten Laut von sich und ging zwei Schritte von mir entfernt ebenfalls zu Boden. Die Walther P.38 hielt er immer noch fest umklammert.
Meine Kollegin Antje, die ihre Waffe gerade abgefeuert hatte, zitterte wie Espenlaub. Die Situation war vollkommen eskaliert. Ich hatte versagt.
Während ich blinzelnd in den blauen Oktoberhimmel starrte, trübte sich mein Blick, und Dunkelheit umspülte mich. Sie brachte Kälte und ein Gefühl der Einsamkeit mit sich. War dies das Ende? Mein Leben zog allerdings nicht an mir vorbei, und ich sah auch kein goldenes Licht am Ende eines Tunnels. Ich fühlte nichts als Angst.
Ich riss die Augen auf. Mein Herz raste, ich war schweißgebadet und rang nach Atem. Im Halbdunkeln nahm ich die Konturen meines Schlafzimmers wahr, und morgendliche Sonnenstrahlen blitzten durch die Schlitze des Rollladens wie goldene Morsezeichen, die mich nach draußen locken wollten. In meinem Fall vergeblich. Seit ich aus dem Krankenhaus und der Reha entlassen worden war, verließ ich die Wohnung nur ungern.
Ich setzte mich im Bett auf und fuhr mir übers Gesicht. Ehe ich die Erinnerung an den Albtraum abstreifen konnte, klopfte es, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Meine Mitbewohnerin und beste Freundin Clara streckte ihren Kopf herein.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie sanft.
Dass ihr Verständnis und Mitgefühl nach all der Zeit noch nicht aufgebraucht waren, glich einem Wunder. Ich an ihrer Stelle hätte wahrscheinlich längst die Geduld mit mir verloren.
»Habe ich geschrien?«, fragte ich schuldbewusst.
Sie machte das Licht an, trat ins Zimmer und setzte sich zu mir aufs Bett. »Nicht so schlimm wie noch vor ein paar Wochen. Wenn ich nicht schon wach gewesen wäre, hätte ich es nicht gehört.«
Zweifelnd sah ich sie an, weil ich die dumpfe Vermutung hatte, dass sie mich lediglich beruhigen wollte. Acht Monate waren vergangen, seit ich angeschossen worden war, aber ich konnte den Schrecken dieses Erlebnisses einfach nicht abstreifen.
Clara griff nach meiner Hand. »Das wird schon wieder, Merle! Du musst dir nur Zeit geben. Du bist schließlich keine Krimiheldin aus dem Fernsehen, die sich einen Tag nach einer Schießerei zurück ins Revier schleppt. Das hier ist die bittere Realität. Und in der echten Welt steckt man es eben nicht so leicht weg, wenn man angeschossen wird.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete ich lahm.
Geistesabwesend rieb ich mir über die Stelle direkt unterhalb der linken Schulter, an der mich der Schuss erwischt hatte. Zurückgeblieben waren eine Narbe und ein dumpfer Schmerz. Bis heute gelang es mir nicht, meinen Arm höher als bis zur Brust zu heben. Deshalb hatte ich zwei Mal die Woche Physiotherapie – ausgerechnet bei meiner ehemaligen Klassenkameradin Nicole Dittmer, mit der ich mich schon zu Schulzeiten nicht besonders gut verstanden hatte. Noch heute schien es Nicole Spaß zu machen, mich zu quälen. Aber man konnte wohl festhalten, dass sie mich nicht schonte und zum Äußersten antrieb.
»Draußen ist übrigens richtig tolles Wetter. Hast du heute denn schon was Schönes geplant?«, fragte Clara.
Ich stieß langsam die Luft aus. »Heute werde ich mir die Zähne putzen.«
Das war leider nicht so sarkastisch gemeint, wie es im ersten Moment klang. In den vergangenen Monaten hatte es Tage gegeben, in denen mich schon diese simple Tätigkeit überfordert hatte.
Ihr Blick wanderte demonstrativ zu meinen Haaren.
»Und vielleicht dusche ich auch noch«, ergänzte ich seufzend.
Sie tätschelte meinen Arm. »Es ist gut, dass du wieder Ziele hast im Leben«, zog sie mich grinsend auf. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du würdest nur noch in den Tag hineinleben und verwahrlosen.«
»Nein, nein! Ich muss mich ohnehin optisch vorzeigbar machen. Heute Nachmittag habe ich einen Termin bei Doktor Brain.« Mein abfälliger Tonfall war unüberhörbar.
Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Diese Therapiesitzungen sind wahrscheinlich der beste Weg, deine Albträume loszuwerden. Davon abgesehen weißt du, dass ich Anglizismen hasse. Wenn du schon abfällig über deinen Therapeuten reden musst, dann nenne ihn gefälligst Kopfdoktor. Oder Irrenarzt.«
Als Lehrerin für Deutsch und Geschichte hatte Clara sich die Rettung der deutschen Sprache zur Aufgabe gemacht. Man konnte sie leicht reizen, indem man englische Wörter beiläufig in einen Satz einflocht. In diesem Fall musste ich ihr jedoch entschieden widersprechen.
»Ich bin seine Patientin und werde Doktor Weigl deshalb ganz bestimmt nicht Irrenarzt nennen. Damit beschimpfe ich mich selbst mehr als ihn.«
Sie lachte. »Stimmt, das wäre kontraproduktiv.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie sich schon für die Schule fertiggemacht hatte. Clara trug ihr übliches Lehrerinnenoutfit, mit dem sie fast zehn Jahre älter und wahnsinnig konservativ aussah: schwarze Stoffhose, cremefarbene Bluse und ein taubengrauer Blazer, dazu Perlenohrringe und halbhohe schwarze Pumps. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Sie war der Meinung, dass ihr strenger Kleidungsstil dabei half, ihre Autorität durchzusetzen. Eigentlich war sie Lehrerin mit Leib und Seele, doch Schüler im Teenageralter hatten leider die Angewohnheit, ihre Grenzen auszutesten. Abends auf dem Sofa trug Clara dagegen am liebsten ihr altes Sponge-Bob-Shirt, eine ausgebeulte Jogginghose, und ihre Lockenmähne stand ungezähmt in alle Richtungen ab.
Ich schaute auf meinen Wecker. »Musst du nicht so langsam los?«
Sie folgte meinem Blick, und ihre Augen weiteten sich. »So spät schon? Ich hab in der ersten Stunde Vertretung in der Horrorklasse 9c. Die haben schon zwei Lehrer in die Berufsunfähigkeit getrieben. Wünsch mir Glück!«
Sie sprang auf, hielt auf dem Weg zur Tür jedoch noch mal inne. »Ach, ich habe es leider nicht mehr geschafft, mit Kalle rauszugehen. Könntest du das bitte übernehmen?«
Ich schnaubte. »Du weißt doch, dass du mich nicht jeden Morgen fragen musst! Natürlich mache ich das, safe.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Safe? Das hast du jetzt nicht ernsthaft gesagt!«
Ich grinste belustigt. »Na schön, ich korrigiere: Natürlich mach ich das, versprochen.«
Seit ich krankgeschrieben war, verbrachte ich so viel Zeit mit Claras Hund, dass wir ein eingeschworenes Team geworden waren. Auch wenn mich die täglichen Spaziergänge Überwindung kosteten, kümmerte ich mich gern um Kalle – ganz egal, ob Clara arbeiten musste oder am Wochenende mal wieder unterwegs zu einem Tinder-Date war, um den Mann ihres Lebens zu finden.
Sie warf mir zum Dank einen Handkuss zu. »Ich wünsch dir einen schönen Tag!«
»Danke, dir auch!«
Gleich darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss, und ich klopfte mit der flachen Hand auf mein Bett. »Kalle, kommst du?«
Nach nur zwei Sekunden sauste der Kleine in mein Zimmer und sprang in meine Arme. Dass er zu mir aufs Bett durfte, obwohl Clara es verboten hatte, war unser kleines Geheimnis. Kalle war ein fünf Kilo schwerer Malteser-Mischling mit schneeweißem Fell, seelenvollen Augen und einem bemerkenswerten Unterbiss. Seine Zahnstellung zauberte ihm jedoch stets ein gut gelauntes Lächeln ins Gesicht. Außerdem kuschelte er unglaublich gern, was ihm den Spitznamen Knuddel-Kalle eingebracht hatte.
»Langsam«, kicherte ich. »Nicht so stürmisch!«
Ich bot Kalle den Platz neben mir an. »Sollen wir noch ein bisschen kuscheln, mein Hübscher?«
Es war traurig, dass ich diesen Satz nur einem Hund gegenüber äußerte, denn mit einem Mann hatte ich schon ewig nicht mehr im Bett gekuschelt. Nachdem meine letzte Beziehung mit Olaf ein katastrophales Ende gefunden hatte und ich nur schwer über die Trennung hinweggekommen war, hatte ich den Männern endgültig abgeschworen.
Auch Kalle schien andere Pläne zu haben. Er sprang vom Bett und kam gleich darauf mit seinem geliebten Quietsche-Ei zurück. Das Teil war pastellrosa, und wenn Kalle darauf herumkaute, konnte der Ton, den es von sich gab, bei akustisch sensiblen Menschen einen Tinnitus auslösen. Schwanzwedelnd baute er sich damit vor meinem Kissen auf. Quietsch, quietsch.
Ich stöhnte. »Du willst heute offenbar voller Energie in den Tag starten, interpretiere ich das richtig?«
Quietsch, quietsch.
»Also soll ich jetzt aufstehen und duschen, damit du zu deinem Morgenspaziergang kommst?«
Quietsch, quietsch.
Gequält richtete ich mich auf. »Vor fünf Minuten hatte ich dich noch ganz doll lieb …«
Ich tapste ins Bad und putzte mir die Zähne. Damit hatte ich die Hälfte meines Tagespensums schon mal erledigt. Leider fiel mein Blick währenddessen in den Spiegel. Meine naturblonden langen Haare hingen schlapp herunter, und ein neuer Schnitt wäre mal wieder dringend nötig gewesen. Vor meiner Verletzung war ich sportlich gewesen und hatte viel Zeit im Freien verbracht, doch meine gesunde Bräune war inzwischen einer fahlen Blässe gewichen. Das herzförmige Muttermal, das seit meiner Geburt unübersehbar auf meiner Wange prangte, wirkte dadurch noch auffälliger. Außerdem hatten die nächtlichen Albträume für dunkle Ringe unter meinen blauen Augen gesorgt. Kein Wunder, dass sich kein Mann zum Kuscheln in mein Bett verirrte! Für einen quälenden Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als wieder die unbeschwerte und lebenslustige Merle von früher zu sein.
Ich duschte und wusch mir die Haare, was mit meiner verletzten Schulter nicht gerade leicht war. Als ich endlich fertig angezogen aus dem Badezimmer trat, wartete Kalle schon an der Wohnungstür auf mich.
»Weißt du eigentlich, wie geehrt du dich fühlen kannst, dass ich dir zuliebe auf meinen Morgenkaffee verzichte?«
Er bellte zur Antwort, ich leinte ihn an, und wir gingen nach unten. Als ich die Wohnungstür des Mehrfamilienhauses öffnete, empfing mich ein strahlender Junimorgen. Die Vögel zwitscherten, eine Hummel flog an mir vorbei zu unserem Blumenbeet, und irgendwo hämmerte ein Nachbar in seinem Garten. Doch anstatt nach draußen zu treten, blieb ich wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Kalle schaute ungeduldig zu mir auf.
»Gib mir einen Moment, Kleiner!«
Nervös ließ ich meinen Blick über die Straße schweifen. Clara und ich wohnten am Rande von Greetsiel in einer friedlichen Gegend mit gepflegten Gärten und netten Anwohnern. Hierher verirrten sich kaum Touristen. Ganz im Gegensatz zur Ortsmitte, wo man die historischen Giebelhäuser und den Hafen mit der bunten Krabbenkutterflotte bestaunen konnte.
Ein Auto fuhr gerade die Straße entlang, und Frau Hoferland von gegenüber putzte ächzend ihr Küchenfenster. Weit und breit keine erkennbare Gefahr. Auch kein harmlos wirkender Rentner mit Rollator, der heimlich in der Hosentasche eine Waffe aus dem Zweiten Weltkrieg mit sich führte. Nur leider sah mein rasendes Herz das anders. Nervös fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen, während Kalle winselte und begann, an der Leine zu ziehen.
»Gleich geht es los!«
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und ließ die Luft langsam aus mir herausströmen. Nachdem ich das drei Mal wiederholt hatte, fühlte ich mich besser.
»Gut, wir können!« Ich nickte Kalle zu, und wir machten uns auf den Weg.
Wir nahmen unsere übliche Route, die am Leyhörner Sieltief entlangführte. Dort konnte ich wunderbar Schiffe beobachten, während wir entlang der saftig grünen Wiesen liefen. Über uns spannte sich heute auch noch ein glasklarer blauer Morgenhimmel. Ein beglückendes Gefühl der Freiheit durchströmte mich, das Kalle ebenfalls zu empfinden schien. Er tollte herum, jagte vergeblich ein paar Vögel und bellte mich an, als ob er mich fragen wollte, ob ich auch so viel Spaß hätte. Die Natur, die Ruhe und die Bewegung taten mir gut, und inzwischen konnte ich unsere Spaziergänge genießen. Am Anfang, kurz nach der Reha, hatte mich dabei permanent ein schreckliches Gefühl der Angst begleitet. Oft hatte ich deshalb nach kurzer Strecke wieder umkehren müssen. Mittlerweile kämpfte ich nur noch am Hauseingang mit einer Panikattacke. Im Grunde war das natürlich als Erfolg zu werten, dennoch war ich unzufrieden mit mir. Warum ließ mich die Erinnerung an dieses traumatische Erlebnis nicht endlich los?
Mir war klar, dass Kalle in den vergangenen Monaten meine Rettung gewesen war, denn der Kleine sorgte dafür, dass ich mich Tag für Tag der Welt stellen musste. Ohne ihn hätte ich mich wahrscheinlich ständig im Haus verkrochen. Clara hatte keine Ahnung, wie wichtig ihr Hund für mich geworden war! Denn von den Panikattacken hatte ich niemandem erzählt. Ohnehin machten sich alle schon genug Sorgen um mich.
Als wir zurück in der Wohnung waren, füllte ich Kalles Napf und machte mir ein Müsli. Gemeinsam kuschelten wir uns aufs Sofa und streamten einen schrecklich kitschigen Liebesfilm. Dennoch seufzte ich am Ende neidisch auf.
»Ach, Kalle, vielleicht wartet die große Liebe auch noch auf uns, was meinst du?«
Er gab seinem Quietsche-Ei, das zwischen seinen Vorderpfoten lag, einen zärtlichen Stups. Anscheinend hatte er seine große Liebe schon gefunden.
»Ich freue mich, dass wenigstens einer von uns in einer erfüllten Partnerschaft lebt!«
Ich rappelte mich vom Sofa auf, um mich für die Therapie fertigzumachen. Diese Termine lagen mir wie ein Stein im Magen. Doktor Weigl war mir empfohlen worden, weil er schon häufiger traumatisierte Kollegen behandelt hatte, aber ich wurde mit dem Mann einfach nicht warm. Vielleicht lag es auch daran, dass er ständig äußerst unangenehme Themen ansprach, über die ich überhaupt nicht reden wollte.
Ich zog meine Schuhe an, schnappte mir die Handtasche und wollte gerade die Wohnungstür öffnen, als mein Blick auf Kalle fiel. Er hatte sich in die Ecke im Flur gedrückt, ließ die Ohren hängen, und in seinen Augen funkelte die reinste Verzweiflung. Er sah aus wie ein professionelles Hundemodel für Tiere in Not.
Ich seufzte. »Nein, Kalle, ich kann dich nicht mitnehmen! Du musst jetzt tapfer sein.«
Nun gab er traurige Wimmertöne von sich. Es zerriss mir das Herz, und ich fühlte mich elend.
»Nein, Kalle!«, wiederholte ich, dieses Mal jedoch deutlich weniger entschlossen. »Du bleibst hier.«
Jetzt legte er sich auch noch eine Pfote über die Augen. Mist!
»Sie haben einen Hund zur Therapie mitgebracht?«
Doktor Weigl alias Doktor Brain saß hinter seinem Schreibtisch und sah mich mit einem Ausdruck äußersten Missfallens an. Er war Ende fünfzig, hatte grau meliertes Haar und besaß eine beeindruckende Kollektion an Pullundern, die er stets mit farblich passender Fliege kombinierte.
Kalle saß auf meinem Schoß und war überglücklich, dass er und sein Quietsche-Ei hatten mitkommen dürfen.
»Das ist mein Therapiehund«, erklärte ich. »Er hilft mir, meine Ängste zu überwinden und besseren Kontakt zu meinen Emotionen herzustellen.«
Das war nicht gelogen. Insgeheim hatte ich sogar das Gefühl, dass Kalle mir bisher mehr geholfen hatte als die Sitzungen bei Doktor Weigl.
Er wedelte mit dem Schwanz und kaute gut gelaunt auf seinem Ei herum. Quietsch, quietsch.
Doktor Weigl zuckte bei dem durchdringenden Geräusch sichtlich zusammen und fasste sich an ein Ohr.
»Wie sind Sie eigentlich mit ihm an meiner Sekretärin vorbeigekommen? Sie weiß doch, dass Tiere in der Praxis verboten sind.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, Kalle ist mein Therapiehund.«
Davon abgesehen war Hannah, seine Sekretärin, sehr nett, und wir hatten uns in den vergangenen Monaten angefreundet. Ich brachte ihr immer Plunderteilchen vom Bäcker mit.
Kopfschüttelnd tippte Doktor Weigl mit der Kappe seines goldenen Füllers auf den Mahagonitisch. »Wir besprechen hier ernste Themen, Frau Muschelknautz, und Sie wollen doch Fortschritte machen, um wieder Ihren Dienst bei der Polizei antreten zu können. Ein hyperaktiver Hund ist bei Ihrer Genesung wenig hilfreich.«
Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Unmut auf freundliche Weise zu äußern. Ich hatte das Gefühl, der Mann konnte mich nicht leiden. Und Hunde mochte er anscheinend ebenso wenig.
»Also erstens ist Kalle nicht hyperaktiv. Sein Verhalten ist für einen jungen Hund völlig normal. Und zweitens verspreche ich, dass er mich nicht ablenken wird. Wir werden genauso gut vorwärtskommen wie immer!«
Doktor Weigl rang noch einen Moment mit sich, doch dann gab er nach und nickte knapp. Er zog meine Akte hervor, öffnete seinen Füller und musterte mich mit ernster Miene. Wie immer befragte er mich zu Anfang nach meinem Allgemeinbefinden und meinem derzeitigen Alltag. Anschließend wollte er über den Vorfall sprechen und ihn detailliert durchgehen.
»Muss das sein?«, sagte ich seufzend. »Ich erlebe diese Sache doch sowieso fast jede Nacht in meinen Albträumen.«
Er hob den Zeigefinger. »Das ist nicht das Gleiche! Denn bei Tag steuern Sie die Erinnerung. Außerdem haben wir Ihren Verstand mit an Bord. Das ist wichtig, denn Träume neigen dazu, sich von persönlichen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Eine starke Emotion wie Angst kann einen Traum so sehr verzerren, dass er mit der wahren Begebenheit nichts mehr zu tun hat. Nur wenn Sie in unseren Sitzungen bewusst die Erinnerung zulassen, lernen Sie mit der Angst umzugehen!«
Da war etwas Wahres dran. In meinen Träumen starben Herr Schluff und ich schließlich jedes Mal. Etwas, das in der Realität zum Glück nicht passiert war, denn Antjes Schuss hatte Herrn Schluff nur gestreift.
Ich gab meine Gegenwehr auf. Mit monotoner Stimme berichtete ich Doktor Weigl zum x-ten Mal, was sich auf dem Hof ereignet hatte, nachdem Antje und ich angekommen waren.
»Und wie haben Sie sich gefühlt, als plötzlich die Waffe im Spiel war?«, hakte er nach. »Bitte schließen Sie die Augen, und fühlen Sie sich ganz in die Situation ein!«
Reflexartig krallte ich mich in Kalles Fell fest. Ich schloss zwar wie geheißen die Augen, aber anstatt die Bilder in meinem Inneren heraufzubeschwören, blockte ich sie ab. Diese Szene noch einmal zu erleben war das Letzte, was ich wollte.
»Fassungslos. Ängstlich«, gab ich kurz angebunden zurück. Das war meine übliche Antwort an dieser Stelle.
Doktor Weigl seufzte tief. »Und als Sie angeschossen wurden – was haben Sie da empfunden?«
»Ich war noch fassungsloser und noch ängstlicher«, antwortete ich und stieß ebenfalls einen Seufzer aus.
Eine unangenehme Stille trat ein. Vorsichtshalber öffnete ich ein Auge. Mein Arzt rieb sich gerade mit gequältem Gesichtsausdruck die Schläfen. Er tat mir fast ein wenig leid.
»Hören Sie, Doktor Brai… ähm … Doktor Weigl, ich denke, andauernd über den Vorfall zu reden bringt mich nicht weiter«, erklärte ich. »Ich weiß ja, dass nichts Schlimmes passiert ist. Da zwei Schusswaffen abgefeuert worden sind, hatten Herr Schluff und ich großes Glück, dass wir nur leicht verwundet wurden.«
Er schien einzusehen, dass wir an dieser Stelle nicht weiterkamen.
»Apropos verwundet: Sprechen wir mal über Ihren verletzten Arm!«, sagte Doktor Weigl. »Sie waren letztens bei einem Spezialisten und haben mir die Erlaubnis erteilt, mir die medizinischen Unterlagen zusenden zu lassen. Ich habe daraufhin mit meinem Kollegen ein sehr aufschlussreiches Telefonat geführt.«
»Ah ja?«, entgegnete ich mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Ich setzte Kalle ab, der sogleich aufgeregt das Zimmer erkundete. »Und was war so aufschlussreich an diesem Telefonat?«
Er sah mich über den Rand seiner Brille hinweg an. »Ich denke, das wissen Sie. Schließlich hat mein Kollege mit Ihnen über seine Diagnose gesprochen.«
Er blätterte in meiner Akte. »Es gibt medizinisch jedenfalls keinen erkennbaren Grund für Ihre Beschwerden. Inzwischen ist alles bestens verheilt, und mein Kollege konnte keine muskulären, neurologischen oder funktionellen Schäden entdecken.«
Ich presste die Lippen zusammen. Der Termin bei dem Spezialisten lag schon zehn Tage zurück, und bisher hatte ich mit niemandem über die Diagnose gesprochen. Weder mit Clara, meiner Mutter oder dem Rest meiner Familie, denn ich ertrug schon jetzt kaum ihre mitleidigen Blicke. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie sie reagieren würden, wenn sie von dem ärztlichen Befund erfuhren. Davon abgesehen schämte ich mich. Wenn man seinen Arm nicht mehr richtig bewegen konnte, obwohl er eigentlich ganz normal funktionieren sollte, legte dies tatsächlich einen Besuch beim »Irrenarzt« nahe.
»Das wirft natürlich die Frage auf, wieso Sie Ihren Arm angeblich nicht höher als bis zur Brust heben können«, stellte Doktor Weigl fest.
Ruckartig sah ich auf. Hatte er gerade angeblich gesagt?
»Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich würde lügen? Und das alles nur vortäuschen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie wären nicht die Erste, die das versucht. Bei einer dauerhaften Dienstunfähigkeit haben Sie immerhin Anspruch auf ein Ruhegehalt nach dem Beamtenversorgungsgesetz.«
Empört schnappte ich nach Luft. »Sie vergessen wohl, dass ich noch relativ jung bin und sich dieses Gehalt nach den absolvierten Dienstjahren errechnet. Mit dem Geld kann ich mich bestimmt nicht zur Ruhe setzen. Außerdem liebe ich meinen Job und will nicht in Frührente gehen!«
»Ach, jetzt seien Sie doch mal ehrlich zu sich selbst!«, forderte Doktor Weigl. »Sie haben viel zu viel Angst, um wieder als Polizistin zu arbeiten. Schließlich könnten Sie jederzeit erneut angeschossen werden. Eine vorgetäuschte chronische Verletzung wäre die perfekte Entschuldigung Ihren Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern gegenüber, um nie mehr in den Dienst zurückkehren zu müssen.«
Es kostete mich große Mühe, meine Fassung zu wahren und nicht auszuflippen. Tag für Tag litt ich unter meinem steifen Arm, musste zur Physiotherapie bei der doofen Nicole Dittmer und war selbst für den kleinsten Fortschritt dankbar. Was Doktor Weigl mir unterstellte, war eine bodenlose Frechheit. Eine Ader an meiner Schläfe pulsierte im Takt meines rasenden Herzschlags.
»Ich bin keine Lügnerin!«, zischte ich. »Wenn ich mich nicht mehr dazu in der Lage fühlen sollte, als Polizistin zu arbeiten, würde ich die Konsequenzen ziehen: Ich würde kündigen und mir eine andere Beschäftigung suchen. Ich habe es ganz bestimmt nicht nötig, so einen armseligen Betrug am deutschen Staat abzuziehen, wie sie es mir gerade unterstellen!«
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie mein Therapiehund ein Bein hob und die Zimmerpflanze hinter Doktor Weigl anpinkelte. Oh, verdammt! Andererseits war ich gerade so genervt von meinem Therapeuten, dass ich Kalle gerne begeistert applaudiert hätte.
»Schön, dass wir das geklärt hätten!« Doktor Weigl lächelte mich zufrieden an. »Ihnen scheinen Moral und Anstand etwas zu bedeuten. Und es ist gut zu wissen, dass Sie im Ernstfall einen Berufswechsel in Betracht ziehen würden. Ich hatte schon einige Ihrer Kollegen hier, für die das niemals infrage gekommen wäre.«
Irritiert sah ich ihn an. Hatte er mich absichtlich provoziert, um mich zu testen? Ich hatte keine Ahnung, ob ich seine Therapiemethoden gutheißen konnte.
»Nur noch eine Sache … Setzen Sie sich doch bitte mal auf Ihre rechte Hand!«
Ich zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe, tat jedoch wie geheißen. »Und jetzt?«
Er zog eine Schublade an seinem Schreibtisch auf, griff hinein und mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hatte, warf er eine Mandarine nach mir. Reflexartig zuckte zwar mein linker Arm nach oben, aber nicht hoch genug, um das Wurfgeschoss abzuwehren. Die Mandarine knallte mir an die Stirn und fiel zu Boden, wo sie sofort von Kalle in Augenschein genommen wurde.
»Spinnen Sie jetzt?«, entfuhr es mir.
»Entschuldigen Sie! Ich wollte nur austesten, wie tief die Blockade sitzt«, erklärte er und machte sich sofort einige Notizen in meiner Akte.
Eigentlich war die Sitzung erst in fünf Minuten zu Ende, aber für heute hatte ich genug.
»Ich gehe jetzt besser«, verkündete ich.
Ich schnappte mir meinen Therapiehund, nahm ihm die Mandarine aus dem Maul und legte sie auf den Schreibtisch. Doktor Weigl betrachtete angewidert die von Kalle großzügig eingespeichelte Zitrusfrucht.
»Ihrem CO2-Abdruck zuliebe sollten Sie übrigens in dieser Jahreszeit auf Mandarinen verzichten«, fügte ich in kritischem Unterton hinzu.
Ich gab Kalle sein Quietsche-Ei, nahm meine Handtasche und marschierte kochend vor Wut hinaus.
»Bis nächste Woche, Frau Muschelknautz!«, rief mir Doktor Weigl ungerührt hinterher. »Und dann bitte ohne Hund!«
Im Vorzimmer blieb ich an Hannahs Schreibtisch stehen und übergab ihr den gesamten Inhalt meines Portemonnaies. Das waren sechzig Euro.
»Für die professionelle Teppichreinigung«, informierte ich sie. »Wenn es nicht reicht, zahle ich nächstes Mal den Rest.«
Hannah schaute erst fragend zu mir, dann richtete sich ihr Blick auf Kalle. Sie seufzte nachsichtig.
»Haben dich die negativen Schwingungen im Raum nervös gemacht, und du musstest den Druck loswerden?« Sie lehnte sich vor und kraulte ihn am Kinn, sodass er verzückt die Augen schloss.
»Da drin gab es negative Schwingungen bis zum Abwinken«, berichtete ich.
Hannah sah mich mitfühlend an. »Doktor Weigl hat nun mal seine ganz eigenen Methoden, seine Patienten aus der Reserve zu locken. Das ist nicht immer angenehm.«
»Das kann man wohl sagen.«
Ich atmete tief durch, und langsam ließ meine Anspannung etwas nach.
»Entschuldige bitte, dass ich dir wegen des Teppichs Unannehmlichkeiten bereite! Normalerweise ist Kalle stubenrein.«
»Kein Problem, wir haben einen professionellen Reinigungsdienst! Sie werden sich über das Trinkgeld freuen.«
»Okay, danke.« Ich nickte ihr zu. »Dann bis zum nächsten Mal!«
Als ich die Praxis verließ, klingelte mein Handy. Offenbar hatte ich vergessen, es während der Therapie abzustellen. Mein Unterbewusstsein boykottierte die Sitzungen bei Doktor Weigl anscheinend auf allen nur möglichen Ebenen.
»Luisa, was gibt es?«, fragte ich, nachdem ich abgenommen hatte.
Am anderen Ende der Leitung quiekte meine Cousine aufgeregt. »Merle, du musst sofort zu deiner Mutter kommen! Etwas ganz Tolles ist passiert.«
»Du bist schwanger«, tippte ich.
»Quatsch!«, erwiderte sie, und ich konnte Luisa förmlich vor mir sehen, wie sie die Augen verdrehte. »Es ist wegen dir. Du musst dir unbedingt etwas ansehen. Das wirst du nicht glauben!«
Ich stellte mein Auto daheim ab und ging mit Kalle zu Fuß zum Haus meiner Mutter, denn sie wohnte am Hafen mitten in Greetsiel. Das gute Wetter hatte jedoch noch mehr Touristen als üblich ins Dorf gelockt: Im strahlenden Sonnenschein standen überall Leute herum, schossen Fotos, kauften sich ein Eis und bewunderten die historischen Bürgerhäuser aus dem 18. Jahrhundert, das alte Sieltor und natürlich die Krabbenkutterflotte. Um schneller vorwärtszukommen, nahm ich Kalle auf den Arm und schlängelte mich durch die Touristentrauben.
Eigentlich hätte ich wegen Luisas ominöser Andeutung vor Neugier fast platzen müssen, aber einige Dinge, die Doktor Weigl gesagt hatte, beschäftigten mich noch immer. Würde ich es tatsächlich nicht mehr zurück in meinen Beruf schaffen? Bisher hatte ich nie angezweifelt, irgendwann wieder meinen Dienst antreten zu können. Meine Arbeit, mein Revier und meine Kollegen fehlten mir. Wenn ich meine Panikattacken und Schulterprobleme jedoch nicht endlich in den Griff bekommen würde, könnte ich sicher nicht mehr als Polizistin arbeiten. Wie würde meine Zukunft dann aussehen?
Nachdem ich das historische Amtmannshaus passiert hatte, wurde es ruhiger, und ich setzte Kalle wieder ab. Das Haus meiner Mutter lag ganz am Ende des schmalen Fußwegs neben dem Deich. Es hatte schon meinen Großeltern gehört, und mein Bruder Björn und ich waren dort aufgewachsen. Bis vor Kurzem war das Häuschen in einem ziemlich erbärmlichen Zustand gewesen, doch da meine Mutter vergangenes Jahr unverhofft zu Geld gekommen war, hatte sie es komplett renovieren lassen. Die alte Ziegelsteinfassade und das Dach waren saniert worden, ebenso die Sprossenfenster und der Holzzaun. Jetzt erinnerten nur noch die grün lackierte Haustür, der Hortensienbusch und die Kletterrosen an frühere Zeiten. Natürlich hatte sich auch im Inneren des Hauses einiges zum Positiven verändert.
Gerade als ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel kramen wollte, wurde auch schon die Tür aufgerissen. Die Wangen meiner Cousine waren gerötet.
»Da bist du ja endlich!«, stieß sie atemlos aus.
Wer Luisa und mich nicht kannte, hätte uns wahrscheinlich für Schwestern gehalten. Wir waren beide hochgewachsen, hatten blonde Haare, die gleichen hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Bei genauerem Hinsehen hatte Luisa jedoch dunklere Augen und einen kleinen Höcker auf der Nase, während ich durch den Sport einen athletischeren Körper besaß. Jedenfalls bevor ich angeschossen worden war. In den vergangenen Monaten waren mein straffer Bauch und die strammen Waden immer mehr verschwunden. Davon abgesehen hatte Luisa seit ihrer Kindheit eine gezackte Narbe auf der Wange. Die tragische Geschichte dahinter fand ich weitaus schlimmer als ihr eigentliches Aussehen, denn für mein Empfinden war die Narbe kaum sichtbar. Aber für Luisa war sie ein Makel, den sie ständig zu kaschieren versuchte.
Sie zog mich zur Begrüßung in eine herzliche Umarmung. Zwar hatten wir uns erst vor einem Jahr kennengelernt, aber wir waren sofort auf einer Wellenlänge gewesen. Unsere Mütter hatten sich in jungen Jahren zerstritten, denn sie hatten sich unglücklicherweise in denselben Mann verliebt, meinen späteren Vater. Als er sich für meine Mutter entschieden hatte, war Tante Marianne so enttäuscht und wütend gewesen, dass sie ihre Koffer gepackt und Greetsiel verlassen hatte. Erst letzten Sommer hatte sie sich ein Herz gefasst und war zusammen mit Luisa zurückgekehrt, um mit ihrer Schwester Frieden zu schließen. Tante Marianne war auch der Grund, weshalb meine Mutter plötzlich zu Geld gekommen war.
Ungeduldig zog Luisa mich ins Haus. »Komm, wir sitzen im Garten!«
Bereitwillig folgte ich ihr. Als wir durch die Hintertür traten, entdeckte ich meine Mutter und Tante Marianne unter dem Kirschbaum bei Tee und Kuchen. Die Pfingstrosen standen noch in voller Blüte, Insekten summten in den Staudenbeeten, und über uns krächzten ein paar Möwen. Wie üblich befanden sich unsere Mütter in einer hitzigen Diskussion. Den Großteil des Tages waren sie damit beschäftigt, miteinander zu streiten – dennoch verbrachten sie jede freie Minute miteinander. Die Schwestern waren wie Feuer und Wasser, aber genauso schnell wie die Streitigkeiten aufflammten, schlossen die beiden auch wieder Frieden.
»… die Wettervorhersagen im Internet ist völlig unzuverlässig«, verkündete meine Mutter gerade. »Ich habe dir gestern gesagt, dass heute die Sonne scheint, und jetzt sieh dir diesen strahlend blauen Himmel an! Das habe ich in den Knochen gespürt. Und das schöne Abendrot gestern war ebenfalls ein eindeutiger Hinweis. Wie heißt die alte Bauernregel: Abendrot gut Wetterbot’, Morgenrot schlecht Wetter droht.«
Meine Tante schnaubte abfällig. Wie immer trug sie ihren geliebten Perlenschmuck, war perfekt geschminkt, und jede Strähne ihrer goldblonden Kurzhaarfrisur saß an Ort und Stelle. Im ersten Moment wirkte sie wie eine unnahbare erfolgsverwöhnte Geschäftsfrau, aber mittlerweile wusste ich, dass sie das Herz am rechten Fleck hatte.
»In den Knochen gespürt, dass ich nicht lache! Ich glaube an die Wissenschaft, Helga. Das ist so typisch für dich, dass du lieber schlecht gereimte Bauernsprüche zitierst, anstatt dich der modernen Welt zu öffnen.«
»Das sind überlieferte Weisheiten unserer Vorfahren«, keifte meine Mutter. »Aber wenn man so lange in der Schickimicki-Gesellschaft von Hamburg gelebt hat wie du, ist man sich wohl zu fein für solche Dinge.«
Im Gegensatz zu ihrer Schwester gab sie nicht viel auf Äußerlichkeiten. Meistens trug meine Mutter eine bequeme Stoffhose oder Jeans, ein T-Shirt und darüber ein weiches Hemd. Sie hatte es auch schon lange aufgegeben, ihre Haare zu färben, und stand zu ihrem altersbedingten Grau.
»Oh, ich kenne sehr wohl einige althergebrachte Sprüche«, entgegnete Tante Marianne. »Zum Beispiel: Trinkt der Bauer zu viel Rum, werden alle Furchen krumm. Oder: Fällt der Pastor in den Mist, lacht der Bauer, bis er pisst.« Sie brach in ein gackerndes Gelächter aus, das ihre seriöse Aufmachung Lügen strafte. In ihr steckte eben immer noch das ostfriesische Mädel vom Dorf.
Meine Mutter verdrehte kopfschüttelnd die Augen. »Ich weigere mich, auf diesem Niveau eine Unterhaltung zu führen.«
In diesem Moment bemerkte mich meine Tante. »Moin, Merle, du kommst wie gerufen! Jetzt sag mal: Sollte der Deutsche Wetterdienst sich in Zukunft lieber auf die Knochen deiner Mutter verlassen anstatt auf meteorologische Fakten?«
»Ähm …« Ich fing einen warnenden Blick von Luisa auf, mich keinesfalls in den Streit einzumischen. Dabei konnte man nur verlieren.
»Wie kommt ihr denn auf dieses Thema?«, fragte ich.
»Wir wollten heute eigentlich einen Ausflug nach Baltrum zu einer alten Freundin machen«, erklärte meine Mutter. »Aber Marianne hat darauf bestanden, ihn zu verschieben, weil die Wettervorhersage schlecht war. Obwohl ich ihr zig Mal gesagt habe, dass wir fahren können, weil die Sonne scheinen wird.« Mit einem triumphierenden Lächeln deutete sie gen Himmel.
»Ihr könnt den Ausflug ja nachholen«, erwiderte ich diplomatisch und setzte mich. »Wieso sollte ich eigentlich herkommen?«
»Hast du schon die neue Ausgabe des Krummhörner Wochenblatts gelesen?«, fragte Luisa und schob die Zeitung zu mir über den Tisch, doch ich schob sie umgehend zurück.
»Nein, danke, das lese ich nicht! Darin stehen nur schlecht recherchierte Artikel und haltlose Gerüchte. Dieser schreckliche Journalist Koslowski hat den Ruf unserer Familie in den Dreck gezogen und dafür gesorgt, dass Björn und ich als Kinder ausgegrenzt und schikaniert worden sind.« Ich sah vorwurfsvoll zu meiner Mutter. »Wie kannst du nach allem, was geschehen ist, dieses Schmierblatt überhaupt in deiner Nähe dulden?«
»Ach, Merle, daran erinnert sich doch mittlerweile kein Mensch mehr!« Meine Mutter winkte ab. »Außerdem ist die Zeitung viel besser geworden, seit dieser neue Redakteur sie letztes Jahr übernommen hat. Er schreibt richtig interessante Artikel, auch über problematische Themen, die die Menschen hier in der Region bewegen«, erzählte sie, während sie mir Tee einschenkte und ungefragt ein riesiges Stück ostfriesischen Butterkuchen auf den Teller schaufelte. Ehe ich mich wehren konnte, verschwand der Kuchen einen Augenblick später unter einem großen Berg Sprühsahne. Ich seufzte. So bekam ich meine athletische Figur garantiert nicht zurück!
Kalle bellte auffordernd. Meine Mutter lächelte ihn verzückt an, schüttelte die Dose erneut und sprühte unter dem Tisch Sahne aufs Gras. Begierig stürzte er sich darauf.
»Mama!«, ermahnte ich sie. »Er darf eigentlich nur sein teures Hundefutter essen. Clara dreht schon durch, wenn ich ihm ein Stück Wurst gebe.«
»Ach, so ein bisschen Sahne schadet dem Kleinen doch nicht!« Sie winkte ab und kam stattdessen zurück zum Thema: »Auf alle Fälle versucht dieser neue Redakteur Bastian Everts sehr engagiert, den Ruf des Krummhörner Wochenblatts zu verbessern. Kürzlich hat er den Wettbewerb ›Strandkorbbriefe‹ ausgeschrieben, in dem er die Männer in der Region dazu aufgefordert hat, die Tradition des Briefeschreibens wiederzubeleben. Sie sollten einen Liebesbrief verfassen, an die Zeitung schicken, und die Leser konnten einen Sieger küren. Und der hier hat gewonnen …« Sie deutete auf die Zeitung.
Notgedrungen überflog ich den Artikel, jedoch ohne wirkliches Interesse, schließlich hatte ich andere Sorgen. Das Krummhörner Wochenblatt bedankte sich bei den Männern für die überraschend zahlreichen Einsendungen. Anscheinend waren die Briefe im Auricher Rathaus im Rahmen einer Ausstellung ausgehängt worden, und man hatte dort für seinen Favoriten abstimmen können. Danach folgte eine Abschrift des prämierten Briefes.
Ich blickte auf. »Ja, nette Aktion. Und wieso soll mich das kümmern?«
»Jetzt lies doch endlich den Brief!«, forderte Luisa mich auf.