Wellenglitzern - Marie Merburg - E-Book
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Wellenglitzern E-Book

Marie Merburg

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Beschreibung

Frisch getrennt kommt Sophie nach Rügen, um sich einen Traum zu erfüllen: Segeln lernen. Doch sowohl ihr Noch-Ehemann als auch der Segelkurs machen ihr ganz schön zu schaffen. Wie soll sie denn auch ihr nicht vorhandenes Segeltalent ausbauen, wenn sie gleichzeitig ihrem Ex am Telefon erklären muss, dass sie nicht mehr für die Beschaffung seiner Lieblingsleberwurst zuständig ist? Zum Glück findet Sophie auf der idyllischen Ostseeinsel neue Freundinnen, die ihr unter die Arme greifen. Und auch ihr attraktiver Segellehrer gibt seine Katastrophenschülerin nicht so schnell auf ...

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Epilog

Über die Autorin

Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman »Wellenglitzern« hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung. Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.

Marie Merburg

WELLEN-GLITZERN

Ein Ostsee-Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieMichael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2017 by Marie Merburg und Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © getty-images/Arnt Haug/LOOK-Foto;© shutterstock/alexnika; © shutterstock/EisfreiUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3094-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

Es war schrecklich, einfach schrecklich.

Vor mir lag die pure Idylle: Ein romantisches Bauernhaus mit Reetdach und weißen Sprossenfenstern, die Vögel zwitscherten, Rosensträucher und Sanddorn rahmten den Garten ein. In Kübeln neben dem Kiesweg zur Haustür blühten Margeriten und Hortensien, ein Windspiel gab glöckchenartige Töne von sich, und im Licht der Abendsonne lud ein blau-weiß gestreifter Strandkorb zum Ausruhen ein. Eine geschnitzte Holztafel neben dem Gartenzaun hieß mich herzlich willkommen in der Pension ›Meeresruh‹.

Ich fuhr über meine geschwollenen Augenlider, putzte mir die Nase und zupfte meine widerspenstigen Haare zurecht. Es änderte nichts – ich war hier so fehl am Platz wie ein Furunkel an Heidi Klums Hintern. Ein verheulter Trauerkloß inmitten dieses wundervollen Paradieses. Irgendwie fühlte ich mich durch die schöne Umgebung nur noch schlechter. Ich schniefte.

Der Taxifahrer, der mich vom Bahnhof zur Pension gefahren hatte, warf mir einen mitleidigen Blick zu und tätschelte meine Schulter.

»Wird schon wieder!«, murmelte er.

Da ihm während der Fahrt kein einziges Wort über die Lippen gekommen war, wandte ich mich überrascht zu ihm um. Es musste schlimm um mich stehen, wenn selbst ein zurückhaltender Inselbewohner sich zu einer Äußerung des Mitgefühls hinreißen ließ.

»Danke!«, erwiderte ich hastig, doch er war schon wieder eingestiegen und fuhr davon.

Da stand ich nun mutterseelenallein mit meinem Koffer im hübschen Vorgarten einer Pension in Glowe, einem Dorf im nordöstlichen Zipfel der Insel Rügen. Mein Leben lag zerstört hinter mir, und meinen Kater Prinz Charles hatte ich in der Obhut meines Mannes dem sicheren Tod überlassen. Ich war ein schreckliches Frauchen, ach was, ein schrecklicher Mensch, durch und durch egoistisch, herzlos, unberechenbar und …

Mein Handy klingelte, und ich zuckte erschrocken zusammen. Eigentlich hatte ich gehofft, die Errungenschaften der modernen Technik wären noch nicht bis in dieses entlegene Dörfchen vorgedrungen, aber mein Handy zeigte einwandfreien Netzkontakt an. Das hatte zwar den Vorteil, dass ich meine depressive Stimmung notfalls mit wahllosem Internetshopping verbessern konnte, doch wenn ich für alle erreichbar war, würde mein Versuch, vor allen Problemen zu fliehen, sehr viel schwieriger werden.

Meine beste Freundin Annika hielt sich gar nicht erst mit einer Begrüßung auf. »Sophie, ich wette, dass du dich gerade im Selbsthass suhlst und dir einredest, du wärst der schlechteste Mensch, den die Welt je gesehen hat, stimmt’s?«, fragte sie in besserwisserischem Tonfall. »Und als wäre das noch nicht schlimm genug, bist du vermutlich immer noch gänzlich ungeschminkt und hast zwei verschiedene Paar Socken an.«

Ich kontrollierte schnell meine Socken. Verflixt, Annika hatte tatsächlich recht!

»Lässt du mich etwa durch einen Privatdetektiv überwachen?«

Ich blickte mich unwillkürlich nach allen Seiten um. Annika traute ich alles zu. Was Verrücktheiten anbelangte, konnte ihr keiner das Wasser reichen.

»Ich weiß, wie du in sämtlichen Lebenslagen aussiehst, Schatz! Schließlich kennen wir uns seit fast vierzig Jahren«, erinnerte sie mich. »Außerdem warst du heute Morgen, als ich dich zum Bahnhof gefahren habe, schon völlig durch den Wind.«

Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Das erklärte immerhin ihr Wissen über meine missglückte Socken-Auswahl.

»Im Moment bist du ein Bild des Jammers mit fahlem Teint, rotgeweinten Glubschaugen, und deine Haare stehen vor lauter Schock über deine mutige Tat in alle Richtungen ab.«

Ich seufzte gequält auf und stapfte mit dem Handy am Ohr auf die Eingangstür der Pension zu, wobei ich meinen Rollkoffer über den Kiesweg zerrte, was die beschauliche Ruhe rund um die Pension ›Meeresruh‹ unangenehm störte.

»Du findest das, was ich getan habe, mutig? Momentan halte ich es eher für überstürzt, total verrückt und hysterisch.«

Immerhin hatte ich gerade meinen Ehemann verlassen, weil er sich partout geweigert hatte, mit mir einen romantischen Urlaub auf Rügen zu verbringen und bei dieser Gelegenheit unseren schon seit Jahrzehnten gehegten Traum, den Segelschein zu machen, endlich in die Tat umzusetzen. Anscheinend handelte es sich dabei jedoch nur noch um meinen eigenen Traum, und wie sich gestern Abend herausgestellt hatte, gab es auch sonst nicht mehr viel, was Felix und mich miteinander verband.

»Du wirst es dir doch jetzt nicht anders überlegen?«, kreischte Annika, offenbar ehrlich schockiert. »Dann wärst du meiner Meinung nach tatsächlich verrückt. Mal ehrlich, diese Trennung war längst überfällig. Nein, nein, das war alles absolut richtig so.«

»Wenn du meinst …«, murmelte ich unsicher.

Immerhin sprachen wir von einer fast fünfundzwanzigjährigen Ehe, die ich gerade von einem Tag auf den anderen für unerträglich befunden und weggeschmissen hatte – und zwar ohne moralisch triftigen Grund. Ich hatte meinen Mann Felix weder mit einer vollbusigen Blondine im Bett erwischt, noch war er mir gegenüber gewalttätig geworden. Ebenso wenig hatte er hinter meinem Rücken unser Vermögen verspielt oder mir schweren Herzens gestanden, dass er eigentlich auf Männer stehe und mein latenter Damenbart seine Fantasie einfach nicht mehr genügend anrege.

»Natürlich meine ich das!«, beharrte Annika. »Schon allein, wenn ich die sexuelle Komponente eurer Beziehung betrachte, dann ist es erschreckend – nein, was sage ich – unzumutbar, was er …«

»Sei mir nicht böse, Annika«, unterbrach ich sie und fuhr mir erschöpft über das Gesicht. »Aber mir fehlt heute wirklich die Energie, um mich mit einer sexuellen Komponente zu befassen.«

Ich zerrte meinen Koffer das letzte Stück bis zur Tür der Pension, ließ ihn dann kurzerhand dort stehen und schleppte mich so schwerfällig zum blaugestreiften Strandkorb, dass selbst eine gichtgeplagte Achtzigjährige neben mir wie eine grazile Leistungsturnerin ausgesehen hätte. Aber immerhin hatte ich eine durchwachte Nacht und eine neunstündige Bahnfahrt hinter mir.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, gemeinsam mit Felix in diesem Strandkorb zu sitzen und harmonische Stunden mit meinem Gatten zu verbringen, denn noch vor zwei Tagen hatte ich voller Enthusiasmus Pläne für unsere Zukunft geschmiedet. Ich hatte wirklich gehofft, dass zwischen uns wieder alles so werden könnte wie früher – bis zu jenem fatalen romantischen Abendessen gestern Abend.

Immerhin war Annika dazu bereit, von der Analyse meines Sexuallebens abzusehen. »Hast du dich schon im Internet in allen gängigen Partnerschaftsportalen angemeldet?«, fragte sie stattdessen.

»Natürlich nicht!«, entgegnete ich empört. »Schließlich habe ich mich heute erst von Felix getrennt.«

»Aber du wirst auch nicht jünger, Sophie. Es dauert, bis man einen neuen Partner gefunden hat, und deshalb darfst du keine Zeit verlieren!«

Ich atmete einmal tief durch, um nicht loszubrüllen. Herrgott noch mal, ich hatte mich heute – h-e-u-t-e – erst von meinem Mann getrennt, da war ich nun wirklich noch nicht bereit, über einen neuen Partner nachzudenken.

»Ich will aber gar keine neue Beziehung!«, gab ich scharf zurück.

»Du hast recht«, lenkte Annika zu meiner Überraschung sofort ein. »Such dir erst mal was zum Poppen! Danach kannst du immer noch an eine Beziehung denken. Oft genug vernebelt einem die Lust den Verstand, und ehe du dich versiehst, bist du mit einem Idioten verheiratet, und das nur, weil du wuschig warst.«

Bei jedem anderen hätte ich spätestens an dieser Stelle wortlos aufgelegt. Doch ich kannte Annika genauso gut wie sie mich und wusste, dass dieser ganze Unsinn, den sie von sich gab, nur lieb gemeint war. Es war ihre eigene, ganz spezielle Art, mich zu unterstützen und von meinem Kummer abzulenken.

Manchmal fragte ich mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns am Einschulungstag in der ersten Klasse nicht nebeneinandergesetzt hätten. Bestimmt um einiges langweiliger. Sie hatte mich damals mit ernster Miene angesehen und mir mitgeteilt, dass sie Annika sei und ich ab sofort ihre beste Freundin, weshalb ich meine Haare umgehend rot färben und zu zwei hochstehenden Zöpfen flechten sollte. Ich entgegnete, dass die Sache mit der besten Freundin für mich grundsätzlich okay sei, aber ich nie und nimmer mit lächerlichen Pippi-Langstrumpf-Zöpfen zur Schule gehen würde. Da ich im Gegensatz zu ihr blond war und sie einen deutlichen Rotstich in den braunen Haaren hatte, schlug ich vor, dass wir die Rollen einfach tauschen könnten. Aber natürlich hatte Annika keine Ruhe gegeben. Am Ende hatten wir schlimmen Ärger mit unseren Müttern und beide hässliche Kurzhaarfrisuren, weil wir uns rote und gelbe Plakafarben in die Haare geschmiert hatten. Seither waren wir durch dick und dünn gegangen, hatten uns bei Schularbeiten geholfen, bei Liebeskummer getröstet, Hochzeiten geplant und Schwangerschaften überstanden.

Mit einem Stich im Herzen stellte ich fest, dass ich jetzt sehr viel lieber bei Annika in der Küche anstatt allein in einem fremden Strandkorb sitzen würde.

»Ich wünschte, du wärst bei mir«, sagte ich schniefend.

»Ich weiß, Schätzchen, ich weiß«, entgegnete sie mit belegter Stimme. »Wenn ich könnte, würde ich sofort zu dir kommen.«

Während um mich herum leise die Hummeln brummten und in der Ferne das Geschrei der Möwen zu hören war, krachte es bei Annika laut im Hintergrund, und zwei Kinder begannen sich im übelsten Teenager-Jargon anzubrüllen. Annika hatte sich mit dem Kinderkriegen Zeit gelassen, und während mein Jüngster kürzlich das heimische Nest zum Studieren verlassen hatte, plagte sie sich noch mit Elternabenden, schlechten Noten und Pubertätsakne herum.

»Warte mal einen Moment, Sophie!«

Während Annika die Hand vor den Hörer hielt, um ihrerseits die beiden Streithähne anzuschreien, kam mir ein unangenehmer Gedanke. Was würden wohl meine beiden Jungs von meinem Entschluss und meiner Flucht nach Rügen halten? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Für meine Söhne musste es den Anschein haben, dass ich ihren Vater ohne triftigen Grund verlassen hatte und nun einen Egotrip durchzog. Ob Felix die beiden wohl darüber informierte? Allerdings gehörte mein Ehemann eher zu der schweigsamen Sorte Mensch, und heute früh hatte er nicht den Eindruck gemacht, dass eine Welt für ihn zusammenbrechen würde, nur weil ich mit gepackten Koffern im Flur stand und ihm sagte, dass ich in unserer Beziehung zutiefst unglücklich war und mich von ihm trennen wollte. Auf der einen Seite war ich erleichtert darüber gewesen, dass er mir keine Szene gemacht hatte und mich einfach ziehen ließ, aber ein kleiner Teil von mir hatte eigentlich gehofft, dass er mir bei dieser Gelegenheit endlich seine Gefühle offenbaren würde – egal, ob sie nun positiver oder negativer Natur gewesen wären. Aber anscheinend bedeutete ich ihm noch weniger, als ich vermutet hatte. Er hatte meine Entscheidung einfach schulterzuckend hingenommen, als würde in seinem penibel geführten Terminplaner der Tagesordnungspunkt ›Von Frau verlassen werden‹ gleich unter ›Neue Fußmatten fürs Auto kaufen‹ stehen, und beides ließe sich genauso problemlos abhaken.

Auf alle Fälle hatte Felix wohl Besseres zu tun, als die ganze Familie darüber zu informieren, dass ich gerade komplett durchgeknallt war und ihn als armes Opfer allein zu Hause zurückgelassen hatte. Nein, beschloss ich, mit unseren Söhnen über die ganze Sache zu sprechen, hatte eindeutig noch Zeit!

»So, jetzt bin ich wieder für dich da«, riss Annikas Stimme mich aus meinen Gedanken. »Sag mal, wann fängt eigentlich dein Segelkurs an?«

»Morgen Nachmittag«, antwortete ich, dankbar um den Themenwechsel. »Ich freue mich schon auf den Unterricht, und die Ausfahrten werden bestimmt klasse. Am Telefon klang der Segellehrer ganz nett, er hat eine sympathische Stimme.«

»O-ho, o-ho!«, stieß Annika in einem melodischen Singsang aus. »Das fängt doch schon vielversprechend an.«

Ich schüttelte lachend den Kopf und erschrak eine Sekunde später selbst darüber. Noch vor fünf Minuten hätte ich geschworen, dass ich für die nächsten zwei Wochen keinen einzigen Laut zustande bringen würde, der einem Lachen auch nur ähnlich klang.

»Mir sind schon einige Segellehrer begegnet«, erklärte ich Annika meine Erheiterung. »Nicht zuletzt, als ich damals den Sportbootführerschein gemacht habe. Entweder sind die Typen grün hinter den Ohren oder steinalt oder es zieht sie nur deshalb hinaus aufs Wasser, weil sie an Land keine Freunde haben und die Schüler an Bord nicht davonlaufen können.«

Doch meine Freundin war eine Optimistin durch und durch. »Abwarten und Tee trinken!«, gab sie fröhlich zurück. »Vielleicht ist er die große Ausnahme von der Regel? Bis zum Beginn des Kurses solltest du die Zeit jedenfalls nutzen und etwas für dich tun, meine Liebe! Dank deines latenten Helfersyndroms hast du dich jahrelang für Felix und deine Söhne aufgeopfert, und die drei testosterongesteuerten Faulsäcke haben das keine Sekunde lang gewürdigt. Jetzt bist du mal an der Reihe, Sophie!«

Ob ich tatsächlich an einem Helfersyndrom litt, konnte ich nicht beurteilen – mein Beruf in der Krankenpflege sprach jedenfalls dafür. Doch Annikas Vorschlag klang durchaus verlockend, denn ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, was ich früher in meiner Freizeit gerne unternommen hatte. In den letzten Jahren waren all meine Tage mit Terminen, Arbeiten und Pflichten gefüllt gewesen.

Gerade als ich überlegte, ob ich als Mutter und Noch-Ehefrau dazu verpflichtet war, mir die Bezeichnung ›testosterongesteuerte Faulsäcke‹ für meine Familie zu verbieten, krachte es bei Annika im Hintergrund erneut. Dieses Mal klang es nach einer Tür, die mit Schmackes zugeworfen worden war, danach setzte umgehend das Geschrei wieder ein.

»Tut mir leid, Sophie, aber ich muss mich um meine zwei Nervensägen kümmern, bevor sie sich gegenseitig umbringen.«

Ich wollte spontan vorschlagen, dass sie sich genau deshalb noch ein paar Minuten Zeit lassen sollte – ich würde ihr bei der Polizei auch ein spitzenmäßiges Alibi liefern –, klappte dann jedoch den Mund wieder zu. Wenn es um das Thema Erziehung ging, sollte sich selbst die beste Freundin mit Ratschlägen zurückhalten. Das hatte ich spätestens ab dem Zeitpunkt gelernt, als ich Annika ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer ältesten Tochter vorsichtig fragte, ob sie ihr krabbelndes Baby nicht davon abhalten sollte, weiter vom Hundefutter zu kosten – der Hund guckte nämlich schon ganz sauer. Danach hatte Annika mir einen halbstündigen Vortrag darüber gehalten, dass man Kindern ihre Freiheiten lassen musste und sie nur auf diese Weise aus ihren Fehlern lernen konnten. In Erziehungsfragen vertraten wir radikal unterschiedliche Ansichten, was ein schönes Beispiel dafür war, dass es keine neunundneunzigprozentige Übereinstimmung geben musste, um ein perfekter Partner beziehungsweise eine perfekte Freundin zu sein.

»Könntest du dich bitte trotzdem wie abgesprochen um Prinz Charles kümmern und ihm etwas zu fressen geben?«, fiel mir in diesem Moment zum Glück noch ein. »Auch wenn Felix jetzt zu Hause geblieben ist. Ich glaube, er weiß nicht einmal, dass wir überhaupt einen Kater haben.«

»Das ist kein Kater, sondern ein Hase mit einem ungewöhnlich langen Schwanz.« Annika stieß ein abfälliges Schnauben aus.

Solche Frotzeleien musste ich mir ständig anhören. Prinz Charles hatte seinen Namen nämlich aufgrund seiner erstaunlich großen Ohren erhalten.

»Aber natürlich schaue ich nach ihm, keine Sorge! Ich habe ja euren Ersatzschlüssel, und wenn ich Felix mit einer Geliebten im Ehebett erwische, mache ich gleich ein paar schöne Fotos für deinen Scheidungsanwalt. Tschüssi!« Und weg war sie, wie üblich, ohne auf meine Verabschiedung zu warten.

Ich steckte das Handy ein und ließ mich zurücksinken. Felix im Bett mit einer anderen Frau? Da ich ihn verlassen hatte, könnte ich ihm wohl kaum einen Vorwurf machen. Ich versuchte, mir die Szene bildlich vorzustellen und dabei meine Gefühle auszuloten. Spürte ich da einen kleinen Stich von Eifersucht? Nein, es handelte sich wohl eher um verletzten Stolz bei dem Gedanken, so schnell ersetzt zu werden. Bedeutete das nicht, dass meine Entscheidung richtig gewesen war? Andererseits … konnte man Eifersucht einfach so in der Theorie abrufen? War es nicht eher die Art von Gefühl, das einen erst dann mit überwältigender Kraft erfasste, wenn die Situation tatsächlich eingetreten war?

Eine Windböe, die den frischen, salzigen Geruch des Meeres mit sich trug, strich über mein Gesicht, und ich beschloss, noch heute an den Strand zu gehen. Bestimmt würde sich das Chaos in meinem Kopf wie von allein ordnen, wenn ich das Meer und den weiten Horizont der Ostsee vor Augen hatte. Schon seit ich ein Kind war, konnte ich Stunden damit verbringen, im weichen Sand zu sitzen und dem gleichmäßigen Singsang der Wellen zu lauschen. Das Meer wirkte einfach beruhigend – ganz egal wie schlecht es mir auch ging. Sicherlich würde mir das auch heute helfen! Ich putzte mir noch einmal die Nase und stand auf.

Die Pension trug ihren Namen ›Meeresruh‹ tatsächlich zu Recht, denn bisher war mir weder vor dem Haus noch im Garten jemand begegnet. Ich hätte wohl keinen besseren Ort finden können, um mein bisheriges Leben zu überdenken und herauszufinden, wie ich mir meine Zukunft vorstellte. Ich ging ein paar Schritte in den Garten hinein und entdeckte schräg hinter dem Haus einen großen, mit Schilf bewachsenen Teich, über dem Libellen schwirrten. Am gegenüberliegenden Ufer machte sich gerade eine kleine Entenfamilie auf den Weg ins Wasser. Immer wieder stieß die Entenmama einen Lockruf aus und achtete darauf, dass keines ihrer Kinder den Anschluss verlor. Ein herzerwärmender Anblick. So ganz anders als eine Mutter, die ihre Familie aus rein egoistischen Gründen verließ.

Und schon schniefte ich wieder.

Diese perfekte Idylle machte mich wirklich fertig!

2. Kapitel

Im Eingangsbereich der Pension lag ein Geruch in der Luft, der mich an meine Kindheit und an die Besuche bei meiner Großmutter erinnerte, doch es dauerte einen Moment, ehe ich ihn zuordnen konnte.

»Bohnerwachs!«, entfuhr es mir erstaunt.

Kein Wunder, dass der Dielenboden so gepflegt glänzte. An den Wänden hingen stimmungsvolle Bilder der Insel zu verschiedenen Jahreszeiten, und auf einer Kommode lagen Muscheln, Schneckenhäuser und kleine Bernsteinstücke, während am Fenster ein gemütlicher Schaukelstuhl zum Entspannen einlud.

Erst durch ein gedämpftes Murmeln wurde ich auf die in einem fröhlichen Sonnengelb gestrichene Nische aufmerksam, die wohl die Rezeption darstellte. Dahinter entdeckte ich ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen mit langen braunen Haaren und dem obligatorischen Smartphone am Ohr.

»Ich sage es dir doch«, raunte sie im Verschwörertonfall, während sie gleichzeitig ihre Fingernägel in einem aparten Metallicgrün lackierte. »Die beiden sind nicht mehr zusammen, das hat mir heute Morgen Katharina aus der Elften erzählt, und die muss es schließlich wissen, da …«

»Entschuldigung?«, wagte ich zu unterbrechen.

Der genervte Blick, den ich mir daraufhin einfing, gab mir zu verstehen, dass mein aufdringliches Verhalten mich sofort zur Persona non grata degradiert hatte.

»Wart mal kurz, Tine, da ist ein Gast, der etwas von mir will!« Das Mädchen schraubte die Nagellackflasche zu und befreite mit spitzen Fingern ihr Handy aus der Ohr-an-Schulter-Position. »Ja?«

»Ich habe ein Zimmer auf den Namen Sophie Lehmann reserviert.«

Seufzend kontrollierte sie das Buch mit dem recht übersichtlichen Zimmerbelegungsplan, bis sie mit dem Zeigefinger auf einen Namen tippte. »Hier ist Ihre Reservierung – Lehmann, Sophie. Aber Sie haben für zwei Personen gebucht.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl, sodass sie an mir vorbeischauen konnte. Vielleicht vermutete sie, dass sich mein Ehemann hinter meinem Rücken versteckt hielt.

»Das ist richtig, aber ich bin allein gekommen«, entgegnete ich mit belegter Stimme. Ich räusperte mich und fügte in normalerem Ton hinzu: »Die andere Person hatte keine Lust, mit mir in Urlaub zu fahren.«

Das Mädchen sah aus, als könne es das voll und ganz nachvollziehen. Sie machte gelangweilt eine Notiz im Reservierungsbuch und pfefferte danach einen Schlüssel und ein Anmeldeformular auf den Tresen.

»Bitte ausfüllen! Das Zimmer und den Frühstücksraum zeigt Ihnen meine Mutter. Sie will die neuen Gäste immer persönlich begrüßen.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf, als hielte sie das für völlig schwachsinnig.

»Dabei nimmst du doch die Neuankömmlinge so herzlich in Empfang«, murmelte ich leise vor mich hin.

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Das war sarkastisch gemeint, oder?«

Aha, vermerkte ich in Gedanken, sie war unfreundlich, aber nicht blöd. Und hatte gute Ohren.

Da es mir etwas peinlich war, dass sie mich gehört hatte, und ich mich wohl besser nicht mit der Tochter meiner Gastgeber anlegte, ruderte ich zurück. »Nein, nein, ganz und gar nicht. Du machst das super!« Okay, so ganz glaubwürdig klang das nicht.

»Wenn Ihnen meine Art nicht passt, können Sie sich gerne beschweren.« Sie deutete auf ein Holzkästchen mit der Aufschrift ›Kritik&Anregungen‹.

Ich zuckte unverbindlich mit den Schultern. Eigentlich konnte ich die Arbeitsunlust des jungen Mädchens durchaus nachvollziehen, schließlich war ich auch einmal in ihrem Alter gewesen. Bestimmt musste sie ihre Nachmittage unentgeltlich in der elterlichen Pension absitzen, während ihre Freundinnen ins Kino oder shoppen gingen. Das konnte einem als Teenager die Laune ganz schön vermiesen.

Für mich hatte das Ganze auch etwas Positives, denn zumindest verflog langsam das Gefühl, in einer surrealen Idylle gelandet zu sein.

»Mamaaa!«, rief das Mädchen über ihre Schulter hinweg in Richtung einer geschlossenen Tür mit der Aufschrift ›Privat‹.

Keine Antwort. Niemand kam.

»Mamaaa!«

Immer noch keine Reaktion. Das Mädchen wandte sich wieder ihrem Handy zu und nahm das Gespräch mit ›Tine‹ wieder auf.

Fünf Minuten später kannte ich den Aufsteller mit den überraschend günstigen Wellness-Angeboten auswendig, hatte meine persönlichen Angaben im Anmeldeformular drei Mal kontrolliert und die i-Punkte zu kleinen Ufos ausgemalt. Ob ein Psychologe dies als weiteres Anzeichen für meinen Wunsch zur Flucht aus der Ehe interpretiert hätte?

Die Tochter der Pensionsinhaber hatte mich anscheinend komplett vergessen. Dafür wusste ich nun, dass sich ein gewisser Motorrad fahrender Finn gestern Abend von der doofen Inken getrennt hatte und sämtliche Mädels der Umgebung im Alter zwischen vierzehn und achtzehn in heller Aufregung über diesen Glücksfall waren – insbesondere die Pensionstochter.

Doch auch mein Verständnis für ausgebeutete Teenager hatte irgendwann ein Ende, schließlich hatte ich noch wichtige Dinge zu erledigen: Ich musste duschen, ans Meer und mich noch mehrere Stunden mit Selbsthass geißeln. So eine Trennung setzte einen ziemlich unter Stress.

»Entschuldigung?«, wagte ich noch einmal zu unterbrechen.

»Was denn?«, wurde ich entnervt angeblafft.

»Weißt du, das Praktische an diesen Handys ist ja, dass man beim Telefonieren aufstehen und herumlaufen kann. Vielleicht könntest du deine Mutter suchen gehen? Ich würde nun wirklich gerne mein Zimmer beziehen.«

Ohne das Gespräch zu unterbrechen oder mich eines weiteren Blickes zu würdigen, stand sie auf und verschwand in den Privaträumen.

Das würde wohl noch einige Zeit dauern! Ich lehnte mich an den Tresen und formulierte in Gedanken schon einmal meine Beschwerde für den ›Kritik & Anregungen‹-Kasten, irgendetwas in die Richtung ›Selbst von einer giftigen Qualle würde der Gast mit mehr Begeisterung empfangen werden‹, ›Habe beim Warten vor der Rezeption Staub angesetzt‹ oder ganz gemein: ›Finn + Inken in love forever‹.

Doch schon zwei Minuten später wurde schwungvoll die Tür aufgestoßen, und eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm kam freudestrahlend auf mich zu.

»Frau Lehmann? Herzlich willkommen in unserer Pension ›Meeresruh‹! Wie schön, dass Sie hier sind. Ich bin Jutta Plümer, aber Sie können gerne Jutta zu mir sagen.«

»Vielen Dank! Ich bin Sophie.«

Sie hob den etwa zweijährigen Jungen ein Stück höher auf die Hüfte, um mir die Hand zu schütteln. »Ich freue mich, Sophie!«

Ich brachte nur ein knappes Lächeln zustande, weil ich etwas perplex über Jutta Plümers überschwängliche Begrüßung war, die überraschenderweise überhaupt nicht aufgesetzt wirkte. Das widersprach nicht nur dem Ruf der zurückhaltenden Inselbewohner, sondern passte auch so gar nicht zum mürrischen Auftreten ihrer Tochter.

Jutta Plümer musste etwa Mitte dreißig sein und trug ihre rotblonden Haare in einem aparten Kurzhaarschnitt. Irgendwie hatte sie das Wunder fertiggebracht und ihre Leinenhose und die geblümte Bluse von dem nutellaverschmierten Mund und den ebenso schokoladigen Händen ihres Sohnes ferngehalten.

So hatten meine Jungs damals auch immer ausgesehen, wenn sie geübt hatten, allein zu essen. Ein Anflug von Wehmut ergriff mich. War das tatsächlich schon so lange her? In meiner Erinnerung schienen seither erst wenige Jahre vergangen zu sein.

»Oh, passen Sie …« Doch es war schon zu spät. Der Junge putzte sich seine Hand an der schönen Bluse seiner Mutter ab und hinterließ einen schokoladenbraunen Abdruck. Anscheinend hatte auch Jutta Plümer kein Geheimrezept gegen schmutzige Kinderhände gefunden.

Sie sah mit einem leisen Seufzer an sich herab. »Jonas, du wolltest wohl nicht länger warten, dass ich dich abwasche, oder?« Sie warf ihm einen ernsten Blick zu. »Das nächste Mal sagst du vorher was, okay?«

Jonas stülpte reumütig die Unterlippe vor. »Ja, Mama«, sagte er nuschelnd.

Jutta strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus und gehörte wohl zu den wenigen Menschen, die sich nur über die wirklich wichtigen Dinge aufregten. Wahrscheinlich würde die Pensionsbesitzerin erst dann einen Anflug von Nervosität zeigen, wenn ein Ostsee-Tsunami direkt auf sie zuraste.

Das machte sie mir sofort sympathisch, denn in meinem Job im Krankenhaus musste ich mich bei all den Beschwerden und Streitigkeiten, die ich zu regeln hatte, auch stets gelassen und beherrscht geben. Dabei war es eben nicht immer leicht, es allen Parteien recht zu machen und zwischen dem Personal und der Klinikleitung zu vermitteln. Wobei Annika angemerkt hatte, dass meine Art von Ruhe weniger natürlich, sondern eher gezwungen wirkte.

»Wenn du von der Arbeit kommst«, so hatte sie mir erklärt, »spürt man immer, dass es tief in dir drin brodelt. Du schluckst deinen ganzen Ärger nämlich einfach runter, aber das geht auf Dauer nicht gut, mein Schatz.«

Anscheinend hielt mich meine beste Freundin für eine potentielle Amokläuferin. Womit sie nicht mal ganz unrecht hatte, denn meine Flucht nach Rügen war schon so was wie ein Amoklauf, nur statt mit Waffen mit Rotz und Schnodder.

Jutta Plümer räusperte sich. »Für das Verhalten meiner Tochter Leonie muss ich mich entschuldigen«, sagte sie, während sie von irgendwo hinter dem Tresen ein Feuchttuch hervorzog und mit routinierten Bewegungen begann, den nutellaverschmierten Jonas zu säubern. »Ich weiß zwar nicht, wie sie sich dir gegenüber benommen hat, aber aus leidvoller Erfahrung muss ich davon ausgehen, dass der Empfang frostig ausgefallen ist.« Sie blickte mich mit fragender Miene an und schien in echter Sorge zu sein.

»Ach nein, Leonie war ganz nett und zuvorkommend«, log ich reflexartig.

Jutta blinzelte erst ungläubig, dann breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Das ist toll! Ich spanne sie zwar nur ungern in der Pension ein, aber wenn ich zu viel um die Ohren habe, lässt es sich leider nicht vermeiden.«

»Ach, Arbeit hat noch keinem geschadet!«, erwiderte ich fröhlich und hätte mich im nächsten Moment für diesen dämlichen Spruch am liebsten selbst geohrfeigt. Wie alt war ich denn, siebzig? Mit den vielen Tränen, die ich während der Zugfahrt vergossen hatte, musste ich wohl auch ein paar Gehirnzellen rausgeheult haben.

Jutta warf einen Blick aufs Anmeldeformular. »Oh, du kommst aus dem sonnigen Süddeutschland. Es ist ein ganz schön weiter Weg von Freiburg bis hierher. Ich hoffe, du hattest eine gute Anreise?«

»Danke, alles bestens«, log ich erneut. Allerdings konnte man der Deutschen Bahn für meinen instabilen Gemütszustand nun wirklich keinen Vorwurf machen.

Sie beugte sich tiefer über das Formular. »Was sind denn das für i-Pünktchen?«, fragte sie irritiert. »Ufos?«

»Ähm … schön, dass man es erkennt.« Ich hüstelte verlegen. »Könnte ich bitte mein Zimmer sehen? Ich würde mich wirklich gerne frisch machen.«

»Natürlich, entschuldige bitte! Du bist bestimmt erschöpft von der Reise. Du kannst deinen Koffer hierlassen, mein Mann bringt ihn dir nachher aufs Zimmer. Komm mit, ich zeige dir alles!«

Sie kam mit dem inzwischen sauberen Jungen hinter dem Tresen hervor und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir liefen einen Flur entlang, in dem bemalte Steingutvasen mit getrockneten Gräsern standen und die Sprossenfenster hinaus auf den Vorgarten zeigten. An der Wand hingen alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die den Hof und seine Bewohner zu früheren Zeiten zeigten.

»Wir haben das Anwesen von meinen Schwiegereltern übernommen, weil ihnen die Arbeit zu viel geworden ist und sie auf ihre alten Tage noch etwas von der Welt sehen wollen«, erzählte Jutta. »Für sie als waschechte Insulaner bedeutet das allerdings, dass sie lediglich ein bisschen öfter aufs Festland fahren. Momentan machen sie gerade eine Gruppenrundreise durch Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist der Frühstücksraum!«

Sie blieb an der Tür zu einem geräumigen Zimmer stehen, in dem sechs Tische mit bequemen Rattanstühlen standen. Die hintere Wand war von breiten Panoramafenstern durchbrochen, sodass man einen wunderschönen Ausblick auf den Teich hatte.

»Wie schön«, entfuhr es mir bewundernd.

»Danke!« Sie warf mir einen erfreuten Blick zu. »Die Umbauten hat mein Mann Mattes ganz allein gemacht. Ein Handwerker wäre zwar schneller fertig gewesen, aber das hätte unser Budget gesprengt.«

Das konnte ich mir vorstellen. Eine kleine Pension wie diese warf bestimmt nicht viel ab, besonders die Wintermonate mussten für die Familie schwierig sein.

»Neben der Pension und dem Garten haben wir noch einen Stall mit vier Pferden und einen Fahrradverleih. Und ein bisschen Landwirtschaft betreiben wir auch. Wenn du die Insel bei einem Ausritt erkunden willst, musst du nur etwas sagen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, mit Pferden habe ich es nicht so. Aber was das Fahrrad betrifft, komme ich gerne auf das Angebot zurück.«

Wir liefen weiter, und Jutta führte mich in den ersten Stock. »Du kannst jederzeit in den Garten gehen, überall stehen Liegestühle und Strandkörbe zur freien Verfügung – und natürlich bringe ich dir auch gerne einen Kaffee oder ein kühles Getränk raus. Schließlich sollst du dich hier entspannen!«

Bei den Plümers erhielt man wirklich eine Rundumglücklich-Versorgung. Mehr konnte ich mir eigentlich nicht wünschen. Hätten sie jetzt noch eine Gruppentherapie à la ›Frisch getrennt und trotzdem fröhlich‹ angeboten, wäre mein Glück perfekt.

Jutta blieb schließlich vor einer der Türen stehen, öffnete sie und machte eine einladende Handbewegung. »Hier bitte, dein Zimmer! Ich hoffe, es gefällt dir.«

Es war mit hellen Möbeln gemütlich eingerichtet, die beiden Sprossenfenster gingen ebenfalls auf den Garten hinaus, und die Vorhänge waren meerblau mit kleinen Leuchttürmen und Möwen. Der Geruch von frischer Wäsche und Lavendel stieg mir in die Nase. Ich starrte auf das große Doppelbett mit den himmelblauen Bezügen, in dem ich eigentlich mit Felix hatte schlafen wollen. Doch statt bei diesem Gedanken wieder loszuheulen, wurde mir plötzlich klar, dass der gemeinsame Urlaub, den ich mir ausgemalt hatte, in der Realität längst nicht so romantisch gewesen wäre. Das liebende Ehepaar, das sich auf die Zeit zu zweit freute, existierte schon lange nicht mehr.

»Dann muss ich’s mir wohl allein gemütlich machen«, entfuhr es mir, den Blick immer noch auf das großzügige Doppelbett gerichtet.

»Leonie hat erzählt, dass dein Mann dich nicht wie geplant begleitet hat. Das tut mir leid!«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Man muss es positiv sehen: So habe ich beim Schlafen wenigstens viel Platz, und ich muss keine Angst haben, nachts aus dem Bett zu fallen. Das ist mir schon zwei Mal passiert. Anscheinend verliert mein Unterbewusstsein in fremden Betten leicht die Orientierung.«

Sie grinste verständnisvoll. »So ähnlich geht es mir auch, wenn ich woanders übernachte. Nur suche ich dann schlaftrunken unser Badezimmer und finde es partout nicht.«

Ihrem Sohn Jonas wurde es wohl langsam zu langweilig, denn das bisher vorbildlich ruhige Kind begann auf ihrem Arm unruhig auf und ab zu wippen. »Quak, quak«, sagte er. »Quak, quak.«

»Er ist völlig vernarrt in die Entenküken«, erklärte Jutta, »und ich habe ihm vorhin versprochen, dass er sie heute noch besuchen darf.«

Sie nickte mir noch einmal mit einem Lächeln zu, ehe sie das Zimmer verließ. »Melde dich, wenn du etwas brauchst!«

Als ich allein war, ließ ich mich mit ausgestreckten Armen aufs Bett fallen und genoss das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Durch das gekippte Fenster hörte ich leises Stimmengemurmel im Garten und das Zwitschern der Vögel. Ich war froh, dass ich mich für diese kleine Pension und nicht für irgendeine anonyme Bettenburg entschieden hatte. Die Pensionswirtin Jutta Plümer war mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn ich mich eben vermutlich nicht besonders offen und zugänglich verhalten hatte. Aber ich hatte auch zwei harte Tage hinter mir und war sowohl körperlich als auch seelisch nicht gerade auf der Höhe. Bei der nächsten Begegnung würde ich mich zusammenreißen und etwas mitteilsamer sein.

Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und kuschelte mich richtig ins Bett. Wie auf Kommando wurden meine Augenlider schwer. Kein Wunder, da ich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen und die Anreise ewig gedauert hatte. Ich war schon dabei, wegzudösen, als mich ein Klopfen wieder hochschrecken ließ.

»Frau Lehmann?«, fragte eine volltönende Männerstimme.

Ich rollte mich ächzend aus dem Bett und ging zur Tür. Meine Hand fuhr automatisch zu meiner Frisur, um sie zurechtzuzupfen, doch ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass das auf die Schnelle ohnehin hoffnungslos war.

»Ja, bitte?«

»Moin, moin!« Der Mann war Ende dreißig, trug saubere Arbeitskleidung, und sein hellbraunes Haar lichtete sich bereits über der Stirn. Seiner wettergegerbten Haut sah man an, dass er viel im Freien arbeitete, und seine breiten Schultern verrieten, dass er ordentlich zupacken konnte. Da er meinen Koffer bei sich hatte, schloss ich messerscharf, dass es sich um Mattes Plümer handeln musste.

»Willkommen in unserem trauten Heim«, begrüßte er mich in einem plattdeutsch eingefärbten Akzent. »Tut mir leid, dass ich es nicht eher geschafft habe, den Koffer hochzubringen.«

Ich winkte ab. »Kein Problem. Es hatte keine Eile.«

»Ich soll Sie von meiner Frau fragen, ob Sie noch etwas brauchen. Und ich soll schauen, ob sie auch nicht vergessen hat, den Obstkorb und das Wasser auf den Tisch zu stellen.«

Ich warf einen demonstrativen Blick über die Schulter. »Alles da! Sie können ihr ausrichten, dass das Zimmer wunderbar ist. Ihre Frau ist wirklich sehr fürsorglich und herzlich!«

Er nickte, und in seine Augen trat ein Strahlen. »Meine Jutta ist eine wahre Perle. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun würde!«

Zum Abschied tippte er sich mit den Fingern an eine imaginäre Mütze, drehte sich um und verschwand die Treppe hinunter, während ich immer noch die Türklinke in der Hand hielt, reglos wie eine Statue. In diesen zwei Sätzen, die Mattes Plümer gerade gesagt hatte, schwang so viel tief empfundene Zuneigung und Liebe zu seiner Frau mit, dass es mich tief berührte. Wie kam es, dass ich bei einem mir völlig fremden Mann mehr echte Gefühle wahrnehmen konnte als bei meinem eigenen Ehemann? Ob Felix anderen Menschen gegenüber je so von mir geschwärmt hatte? Ich versuchte ihn mir vorzustellen, wie er mit diesem Strahlen in den Augen sagte: »Meine Sophie ist eine wahre Perle!«. Doch es ging nicht. Das Bild wollte sich einfach nicht einstellen.

Felix war der lebende Beweis dafür, dass nomen est omen nicht immer zutreffend war, denn obwohl sein Name übersetzt ›der Glückliche‹ bedeutete, hatte ich ihn in diesem Gemütszustand relativ selten erlebt. Nur, wenn er seinem liebsten Hobby frönte und mit seinen Kollegen im Club eine Partie Golf spielte, blitzte so etwas wie Zufriedenheit in seinen Augen auf. Selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase erinnerte mich Felix’ Gesichtsausdruck eher an jemanden, der gerade einen üblen Wadenkrampf losgeworden war. Laut meiner Erinnerung jedenfalls, denn unser ›letztes Mal‹ war schon so lange her, dass mir mein Unterbewusstsein vorgaukelte, es wäre richtig guter Sex gewesen. Man kannte das ja: Je länger ein Ereignis zurücklag, umso schöner kam es einem vor.

Die mangelnde Initiative meines Ehemannes war ein schwerer Schlag für mein weibliches Selbstwertgefühl gewesen. Annika hatte versucht, mich aufzubauen, indem sie erklärte, dass es lediglich auf die richtige Sichtweise ankam. Sie war beispielsweise überglücklich, dass ihr Gatte Henning sie nicht mehr mit seinen Annäherungsversuchen behelligte. Laut Annikas Aussage war das eheliche Liebesspiel mit Henning nämlich so langweilig wie ein vierstündiger Vortrag über Verbrennungsmotoren, nur komprimiert auf fünf Minuten. Kein Wunder, denn angeblich hatte man nach fünfzehn Jahren Beziehung im Durchschnitt schon beachtliche zweitausend Mal miteinander geschlafen – und sowohl Annika als auch ich waren schon bedeutend länger mit unseren Partnern zusammen. Das sei einfach zu viel des Guten, meinte Annika. »Spätestens wenn du im heimischen Schlafzimmer gähnend am selbstgebastelten Andreaskreuz hängst, weißt du, dass die Luft raus ist«, hatte sie noch seufzend hinzugefügt. Annika machte das Beste aus ihrer eingeschlafenen Beziehung, vor allem natürlich den Kindern zuliebe.

Insgeheim war ich etwas neidisch, weil Felix und ich leider nie das Stadium erreicht hatten, in dem wir gemeinsam in der Garage SM-Möbel zusammengezimmert hätten, aber im Grunde hatte Annika recht: So lange wie Felix und ich schon ein Paar waren, konnte man wohl kaum erwarten, dass er sich vor Leidenschaft nach mir verzehrte. Dummerweise hatte diese Einsicht nicht die Stimme in mir zum Verstummen gebracht, die immer wieder fragte, ob ich auf diese Art und Weise tatsächlich den Rest meines Lebens verbringen wollte.

Früher, als wir uns ineinander verliebt hatten, war Felix ganz anders gewesen. Begeisterungsfähig, voller Träume, mitteilsam und immer auf der Suche nach Nähe. Was war nur geschehen, dass wir uns als Paar derart verändert hatten? War ich eine so schreckliche Ehefrau und Partnerin? Immerhin wäre dies eine plausible Erklärung dafür gewesen, weshalb Felix sich von mir zurückgezogen und seine Zeit anstatt mit mir lieber in der Kanzlei oder auf dem Golfplatz verbracht hatte. Ehe ich diese Überlegung weiterspinnen konnte, zog mich das Brummen meines Handys zurück in die Gegenwart. Es war eine Nachricht von Annika, und wie üblich hatte sie ein fast schon unheimliches Gespür für meine düsteren Grübeleien: »Hör sofort damit auf, die Schuld bei dir zu suchen! Stell das Handy aus, genieße die Zeit und finde dich selbst!! PS: Hast du dich endlich frisch gemacht und dir die Trauermiene abgewaschen? Dicker Drücker, Annika«.

Mit einem Schmunzeln steckte ich das Handy weg, nicht jedoch, ohne vorher ihren Ratschlag zu beherzigen und es auszustellen. Also, ab unter die Dusche und dann ans Meer!

3. Kapitel

Das Dörfchen Glowe war klein und beschaulich, doch es gab alles, was man zum Leben brauchte – einen Bäcker, Supermarkt, Friseur und natürlich einige Gästehäuser, Kneipen, Restaurants und Eiscafés. Viele der reetgedeckten Häuser hatten klangvolle Namen, die auf einem Stück Treibholz prangten oder in geschwungenen Buchstaben direkt neben dem Hauseingang aufgemalt worden waren – wie ›Inselwind‹, ›Klabautermann‹, ›Seestern‹ oder ›Kliffkieker‹. Ich entdeckte schöne Villen im Stil der Bäderarchitektur, einen Kurpark, und die lange Strandpromenade lud zu einem gemütlichen Spaziergang ein. Auf Anhieb fühlte ich mich hier wohl.

Die meisten Urlauber hatten sich schon vom Strand verzogen oder waren gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken und mit ihren Taschen, Luftmatratzen und Kühlboxen davonzustapfen.

Ich setzte mich ein paar Meter vom Wassersaum entfernt auf mein Handtuch, schlug meine Hosenbeine hoch und bohrte wie ein kleines Kind meine Füße in den Sand. Er war herrlich warm, fein und hell, und das Meer leuchtete in Blau und Türkis wie in der Karibik. Ich konnte kaum glauben, dass ich mich noch in Deutschland befand. Weshalb war ich nur nicht schon viel früher hierhergekommen?

Das Kindergeschrei, die Musik und das unstete Stimmengemurmel nahmen mit der Zeit immer weiter ab, bis nur noch ich, das Rauschen der Wellen und ein paar Spaziergänger übrig blieben. Die Möwen kreisten über mir und suchten laut kreischend nach essbaren Überresten. So hungrig wie sie sich gaben, konnte ich nur hoffen, dass sie nicht anfingen, an mir herumzupicken.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, und einige Segelboote drehten eine letzte Runde, ehe sie für die Nacht zum Hafen zurückkehrten. Die Ostsee und der weite Himmel lagen vor mir, und ich wartete auf die Entspannung, das Einswerden mit dem Meer und die Ausgeglichenheit. Doch Pustekuchen – dieses Mal wollte sich nichts davon einstellen. Stattdessen verspürte ich eine beklemmende Ruhelosigkeit, die mich kaum still sitzen ließ. Ich zwang mich immer wieder dazu, tief durchzuatmen, mich auf das Geräusch der Wellen zu konzentrieren und ›mich selbst zu finden‹, so wie Annika es mir geraten hatte. Doch schon wenige Minuten später ertappte ich mich dabei, wie ich in Gedanken wieder zu Felix und unserer Trennung zurückkehrte.

Um mich abzulenken, lockte ich schließlich sogar mit dem Rest eines Schokoriegels, den ich in meiner Handtasche gefunden hatte, eine Möwe zu mir. Für einen Vogel war das ernährungstechnisch vermutlich bedenklich, aber immerhin hatte ich jetzt einen Freund.

»Na, bleibst du bei mir?«, fragte ich, während die Möwe immer zutraulicher wurde und sich näher an mich heranwagte. »Du könntest mein zweites Haustier sein. Was hältst du davon?«

Die Möwe hüpfte auf mich zu und stieß einen Schrei aus, was ich als Zustimmung wertete.

»Dann taufe ich dich hiermit auf den Namen Camilla Parker Bowles, passend zu meinem Kater Prinz Charles. Äh … das ist wirklich nicht beleidigend gemeint, und hat auch nichts mit deinem Aussehen zu tun«, beteuerte ich.

Camilla, die auf dem ansonsten schneeweißen Kopf einen ungewöhnlichen schwarzen Fleck besaß, starrte mich lange und vorwurfsvoll an, ehe sie das letzte Stück des Riegels verputzte. Kaum hatte sie jedoch begriffen, dass bei mir nichts mehr zu holen war, verlor Camilla schlagartig das Interesse an ihrem neuen Frauchen und erhob sich in die Lüfte. Undankbares Viech!

Nun gut, dann konnte ich mich wenigstens wieder der Meditation und inneren Einkehr widmen. Ich starrte so lange auf das Meer hinaus, bis meine Augen tränten. Verdammt, es half einfach nichts. Ich fühlte mich einsam und verloren, und hier allein im Sand zu sitzen machte das nur noch schlimmer. Wenn ich darüber nachdachte … Ich war tatsächlich noch nie allein im Urlaub gewesen. Immer nur mit meinen Eltern, Annika oder meiner Familie. War das zu fassen?

Meine Mutter hatte einmal behauptet, sie hätte nur deshalb ein zweites Kind bekommen, weil ich es nicht ertragen konnte, ein Einzelkind zu sein. Ständig hätte ich um eine kleine Schwester oder einen Bruder gebettelt, bis meine bemitleidenswerten Eltern sich schließlich meinem Willen fügten. Ich hielt das für eine unverschämte Lüge. Seit ich zurückdenken konnte, ging mir meine Schwester auf die Nerven, und ich hatte jede Gelegenheit ergriffen, um sie loszuwerden. Unsere Streitereien erreichten jedes Jahr ihren Höhepunkt auf Sylt, wo wir mit unseren Eltern den Sommer verbrachten. Wir stritten uns um das bequemere Bett, den besten Platz zur Errichtung einer Sandburg, die größere Schippe und später um den bestaussehenden Jungen am Strand, obwohl wir den selbstverständlich nur aus der Ferne anschmachteten. Man konnte allerdings sagen, was man wollte – langweilig waren unsere Urlaube nie gewesen. Das Highlight war immer, wenn Papa am Ende des Urlaubs ein Segelboot mietete und wir für einen Tag in See stachen. Ich liebte den Wind in den Haaren, die Geschwindigkeit, mit der das Boot durch die Wellen pflügte, und wie die Gischt zu beiden Seiten in die Höhe spritzte, während Papa hinter dem Steuerrad wie ein Fels in der Brandung stand und lachte. Damals hatte ich mir fest vorgenommen, selbst den Segelschein zu machen, und als ich Felix zu Beginn unserer Beziehung davon erzählte, war er von der Idee begeistert. Wir schlossen sogar den Pakt, irgendwann einmal gemeinsam mit unserem eigenen kleinen Boot die Weltmeere zu erkunden. Doch bis heute war es nur ein gemeinsamer Traum geblieben, und als ich heimlich den Segelkurs auf Rügen gebucht hatte, um Felix damit zu überraschen, wollte ich an diese früheren Zeiten anknüpfen. Auch hatte ich mich ganz bewusst gegen Sylt und für die Ostsee entschieden. Ich wollte keine Reise in meine Vergangenheit unternehmen – Rügen sollte ein Neuanfang für uns werden! Dass er so radikal werden würde, hatte ich natürlich nicht geahnt.

Meine Gedanken schweiften zum gestrigen Abend. Gott, was war das für eine Katastrophe gewesen.

Felix hatte mich über den feierlich gedeckten Tisch wütend angefunkelt und immer wieder den Kopf geschüttelt. »Erwartest du wirklich, dass ich mich über diese sogenannte Überraschung freue, Sophie? Ich hoffe, du hast eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen, damit wir wenigstens einen Teil des Geldes zurückbekommen.«

Seine graublauen Augen schienen mit den Jahren ihre Farbe verloren zu haben, und sein wässriger Blick kam mir fast schon gespenstisch vor. Wegen seiner Geheimratsecken hatte Felix sich die Haare komplett abrasiert, und da er weder eine Brille noch einen Bart trug, glich er einer sehr konservativen und deutlich weniger aufregenden Version von Bruce Willis im Steuerberater-Anzug. Allein die leichte Bräune, die Felix durchs Golfspielen bekam, zauberte etwas Leben in sein Gesicht.

»Überleg es dir bitte noch mal!«, flehte ich. »Erinnerst du dich nicht an unseren Pakt? Wir wollten gemeinsam den Segelschein machen und die Weltmeere mit unserem eigenen Boot befahren.«

Ich hatte alles bis ins kleinste Detail vorbereitet, und Thomas König, der mit Felix zusammen die Kanzlei für Steuerrecht leitete, hatte sogar zugesagt, für die nächsten zwei Wochen die Termine von Felix zu übernehmen.

Er zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe. »In so einer kleinen Nussschale aufs offene Meer hinauszufahren, ist wirklich das Letzte, was ich will.«

»Aber jetzt, wo Max zum Studieren ausgezogen ist, kann das für uns ein Neubeginn sein. Wir können doch nicht einfach so weitermachen und nebeneinanderher leben! Ich kenne dich überhaupt nicht mehr.«

»Ich bin der Gleiche, den du geheiratet hast«, entgegnete er verständnislos. »Nein, du musst die Reise sofort canceln! Wir bleiben hier.«

Er machte sich nicht einmal die Mühe, mir zuzuhören! Insgeheim hatte ich gehofft, dass Felix seinen Gefühlspanzer endlich ablegte und ich ihm auf Rügen helfen konnte, wieder mit seinen Emotionen in Kontakt zu treten. Dass die Spezies Mann allerdings durchaus damit zufrieden war, in diesem gleichbleibend neutralen Gemütszustand vor sich hin zu vegetieren, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen!

Mich beschlich die Ahnung, dass ich in dieser Ehe die Einzige war, die litt. Felix sehnte sich überhaupt nicht nach einer Veränderung, denn für ihn war alles gut so, wie es war. Und wenn ich jetzt den Mund hielt und tat, was er sagte, würde unsere Beziehung bis zum Rest unseres Lebens in genau dem gleichen Schema verlaufen.

»Nein, ich storniere die Reise nicht«, brachte ich zwischen bebenden Lippen hervor.

Doch Felix reagierte überhaupt nicht und tippte ungerührt auf seinem Handy herum.

Ich begann am ganzen Körper zu zittern, und die Wut, die ich so lange unterdrückt hatte, kochte in die Höhe. Ehe ich mich versah, hatte ich eine Silbergabel in der Hand und pfefferte sie an Felix’ Kopf. Gezielt hatte ich natürlich auf das Handy, aber was die Treffsicherheit beim Werfen anbelangte, erfüllte ich leider voll und ganz das weibliche Klischee. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mein Wurfgeschoss wie üblich mindestens einen Meter am Ziel vorbeiflog.

Mit einem Schmerzenslaut ließ Felix das Handy fallen und fasste sich an die Stirn, wo sich schon einige Blutstropfen sammelten. »Spinnst du, Sophie?«

Endlich hatte ich seine Aufmerksamkeit, und mit klopfendem Herzen stellte ich die alles entscheidende Frage: »Felix, liebst du mich überhaupt noch?«

»Du hast mir gerade eine Gabel an den Kopf geworfen«, bemerkte er unnötigerweise.

»Ja, das habe ich, und es tut mir aufrichtig leid. Aber ich möchte jetzt und hier von dir wissen, ob du mich noch liebst.«

»Ich blute, Herrgott noch mal!«

Obwohl es in Wahrheit schon längst wieder aufgehört hatte zu bluten und die Wunde wirklich winzig war, warf ich ihm meine Serviette zu. Sie verfehlte Felix um knapp einen Meter und fiel auf den Boden. Wie hieß es so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel.

»Ich entschuldige mich in aller Form, es war ein Unfall«, beteuerte ich. »Aber bitte beantworte meine Frage: Liebst du mich?«

Schon glaubte ich, mein Ehemann würde sich weiterhin in Schweigen hüllen, doch dann sah ich es: Felix wich meinem Blick aus und zuckte mit den Schultern. Die Antwort war ein Schulterzucken!

Dabei war er ansonsten nie um eine Bemerkung verlegen. Man musste nicht Psychologie studiert haben, um diese Geste richtig zu interpretieren.

Zwischen uns gab es nichts mehr wiederzubeleben oder zu retten, denn plötzlich wurde auch mir etwas klar. »Den Mann, der gerade vor mir sitzt, liebe ich auch nicht mehr«, sagte ich leise.

Mein Traum von einem gemeinsamen Neubeginn platzte wie eine Seifenblase. Ich hatte es erzwingen wollen, wegen unserer Familie und den vielen gemeinsamen Jahren, die wir Seite an Seite verbracht hatten. Ohne das Vorhandensein von Liebe fühlten sie sich leer und vergeudet an.

Und nun saß ich hier allein im Sand, ohne meinen Mann, und nicht einmal Camilla Parker Bowles leistete mir noch Gesellschaft. Was hatte ich eigentlich vorzuweisen? Meine Jugend lag hinter mir, meine Kinder waren erwachsen, und ich hatte in einer Klinik eine leitende Position als Fachwirtin für Krankenpflege. Was leider besser klang, als es war. Tagein, tagaus saß ich hinter meinem Schreibtisch, organisierte Dienstpläne, bearbeitete Beschwerdeformulare des Pflegepersonals, stritt mit den Krankenkassen herum und musste Urlaubsanträge ablehnen.

Hmpf! So viel zum Thema ›mich selbst finden‹. Ich warf Camilla, die am Himmel ihre Kreise zog, noch einen bösen Blick zu und ging zurück in die Pension.

4. Kapitel

Ugh! Als ich am nächsten Morgen aufwachte, klebte meine Zunge am Gaumen, und im Mund hatte ich den Geschmack von alten Socken. Ich lag komplett angezogen quer über dem Bett, und mein Magen begrüßte mich mit einem hungrigen Grummeln. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es sieben Uhr morgens war und ich fast elf Stunden geschlafen hatte. Kein Wunder, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment zu verhungern!

Ich fuhr mir über die Augen, setzte mich auf und stellte dankbar fest, dass ich meine Haare am Abend zuvor noch zu einem Zopf geflochten hatte. Ansonsten hätten sie jetzt wahrscheinlich einem zersausten Vogelnest aus Haarknoten geglichen. Nachdem ich vom Strand zurück in die Pension gekommen war, hatte ich mich nur kurz ausruhen wollen, ehe ich mich auf den Weg zu einem Restaurant fürs Abendessen machte. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, da ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Dafür fühlte ich mich aber auch deutlich frischer und erholter.

Ich putzte mir die Zähne, schminkte mich und zog frische Sachen an, während mein Magen immer lauter knurrte. Meine Gedanken wanderten zum Segelkurs, der heute Nachmittag beginnen würde. Wer wohl die anderen Kursteilnehmer waren? Ich hoffte inständig, dass außer mir noch andere Frauen dabei waren und ich nicht nur von Männern umgeben sein würde, die wahrscheinlich schon Wochen vorher alle Fachbegriffe auswendig gelernt hatten. Na ja, immerhin kannte ich mich dank meines Vaters ebenfalls ein wenig mit dem Segeln aus. Ob der Lehrer Ole Jansen tatsächlich so sympathisch war, wie er am Telefon geklungen hatte?

Obwohl mein Magen mich lautstark dazu drängte, in den schönen Frühstücksraum hinunterzugehen, mir einen Platz am Panoramafenster zu sichern und das Buffet zu plündern, hielt ich kurz inne und schaltete mein Handy wieder an. Ein aufgeregtes Vibrieren war die Folge, und mir wurden neun Kurzmitteilungen und dreizehn verpasste Anrufe angezeigt. O Gott! War einem meiner Söhne etwas zugestoßen? Doch dann atmete ich tief durch. In einem solchen Fall hätten Felix oder Annika direkt in der Pension angerufen. Somit hatte ich beim Öffnen der ersten Nachricht wenigstens noch das Gefühl, dass im Vergleich dazu alles nur halb so schlimm sein konnte. Einen irrwitzigen Moment lang hoffte ich sogar, dass es sich um Gratulationen handeln könnte, in denen mir unsere Bekannten Glückwünsche zur Trennung aussprachen und mich für meinen Mut lobten. Immerhin war es nicht einfach, sich nach fast fünfundzwanzig Jahren das Scheitern einer Beziehung einzugestehen und wieder ganz von vorne anzufangen. Besonders als Frau in deinem Alter, flüsterte mir eine fiese Stimme in meinem Kopf zu.

Die erste Nachricht stammte von Maximilian, meinem Jüngsten: »Habe versucht, dich zu erreichen. Stimmt das, was Papa erzählt hat? Er meint, du bist hysterisch geworden und hättest ihn verlassen. Ruf mich an! LG, Max«

Verdammt, fluchte ich innerlich. Felix hatte also doch umgehend zum Telefon gegriffen und unsere Kinder informiert. Da hatte ich meinen Gatten wohl völlig falsch eingeschätzt.

Die nächste Nachricht stammte von Bastian, meinem Erstgeborenen. Sie klang schon deutlich vorwurfsvoller: »Wie konntest du Papa das nur antun? Hast du ihn wirklich mit einer Gabel verletzt? Er ist ganz außer sich. Warum gehst du nicht ans Telefon???«

Ich biss mir schuldbewusst auf die Unterlippe. Dass mich die Sache mit der Gabel noch verfolgen würde, hatte ich irgendwie schon geahnt. Beim besten Willen konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, dass Felix wegen der Trennung ›ganz außer sich war‹. Allerdings schien mir mein Ehemann im Allgemeinen völlig fremd zu sein. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass er so wenig Stolz besaß und seinen Kindern gegenüber das arme Opfer mimte. Unglücklicherweise war mein Verhältnis zu Bastian schon immer etwas schwierig gewesen. Er war Papas Liebling und auf dem besten Weg, sich in eine jüngere Version seines Vaters zu verwandeln.

Es folgten noch drei weitere Mitteilungen meiner Söhne mit ähnlichem Inhalt, dann hatte mir zur Abwechslung Annika geschrieben. Meine Hoffnungen, dass sie sich lediglich nach meinem Befinden erkundigte, wurden leider enttäuscht, denn auch bei ihr ging es um die neuesten Vorkommnisse an der Heimatfront: »Dein Arsch von Ex hat mich aus dem Haus geschmissen, als ich nach dem Hasen schauen wollte. Dieser Mistkerl hat mir den Schlüssel abgenommen und Hausverbot erteilt. HAUSVERBOT! Kannst du dir das vorstellen? Stehe neben seinem Angeber-Mercedes und lasse ihm jetzt die Luft aus seinen scheiß Reifen. DD, Annika«.

Das Problem bei Annika war, dass man nie sagen konnte, ob sie es ernst meinte oder lediglich einen Scherz machte.

Hastig schrieb ich zurück: »Das hast du doch nicht tatsächlich getan, oder?? Dicker Drücker zurück, Sophie. PS: Prinz Charles ist immer noch ein Kater!«

Zu meiner Überraschung stammten die nächsten beiden Nachrichten von meiner Schwiegermutter – und das war wirklich eine gewaltige Überraschung, schließlich hatte ich, als Felix und ich ihr ein Smartphone geschenkt hatten, unter meinem Namen extra eine falsche Handynummer abgespeichert. Die erste Nachricht enthielt die gängigen Vorwürfe und abfälligen Bemerkungen über meinen Charakter, die in solch einer Situation für eine Schwiegermutter üblich waren. In der nächsten stand lediglich: »Ich verlange umgehend meine goldene Folklorebrosche zurück, die ich dir in meiner Gutmütigkeit geschenkt habe!«

Das war mal eine gute Neuigkeit – endlich wurde ich dieses hässliche Ding wieder los. Es war das Broschenäquivalent zu dem Bild ›Der röhrende Hirsch‹ und bestimmt das einzige Schmuckstück auf der Welt, das durch die verwendeten Diamanten, die in die Tieraugen und Blumen eingelassen waren, sogar noch hässlicher wurde. Maximilian hatte mir einmal mit zehn Jahren zu Weihnachten eine Kette mit einem riesigen selbstgebastelten Spongebob-Schwammkopf-Anhänger geschenkt, aber vor die Wahl gestellt, hätte ich in der Öffentlichkeit lieber diese Kette getragen.

Schon deutlich optimistischer öffnete ich die letzte Nachricht. Sie kam wieder von Bastian und war um 0:47 Uhr verschickt worden. Da er immer früh zu Bett ging, um seinen Biorhythmus nicht durcheinanderzubringen, musste ihn diese Sache ernsthaft beschäftigen. Seine Worte klangen so kalt und brutal, dass mir vor Schreck fast das Herz gefror: »Papa meint, du hättest wohl einen Geliebten. Wenn das stimmt, dann bist du für mich gestorben.«

Langsam ließ ich das Handy sinken. Ich schluckte mehrmals hintereinander, um meine aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Eigentlich hätte ich wütend auf Felix sein müssen, weil er diese völlig aus der Luft gegriffene Lüge über mich verbreitete, doch ich fühlte nur einen tiefen, stechenden Schmerz. Immer wieder hallte der letzte Satz in meinem Kopf nach: … dann bist du für mich gestorben.

Wie konnte Bastian nur so etwas schreiben? Ich war doch seine Mutter, und er hatte sich meine Seite der Geschichte nicht einmal angehört!

Nun hatten mich die Folgen meines Tuns unwiderruflich eingeholt. Selbstverständlich war ich nicht so naiv gewesen zu glauben, dass meine Söhne sich freuten, aber mit solch einer heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Genauso wenig hatte ich geahnt, dass Felix die Trennung zum Anlass nahm, seine Gleichgültigkeit abzulegen und sich anderen gegenüber zu öffnen. Als ich mit meinem Koffer das Haus in Richtung Rügen verlassen hatte, schien er so gefasst, ja beinahe gelangweilt gewesen zu sein. Was hatte er wohl unseren Söhnen und seiner Mutter alles erzählt?

Ich schüttelte, verärgert über mich selbst, den Kopf. Gott, war ich naiv gewesen. Niemals hätte ich den Fehler begehen dürfen, mein Handy auszuschalten.

Obwohl sich mein Hunger inzwischen verflüchtigt hatte und mir stattdessen speiübel war, stand ich auf und verließ mein Zimmer. Wie in Trance lief ich die Treppe hinunter zum Frühstücksraum und ließ mich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Erst als Jutta Plümer mich ansprach, bemerkte ich, dass sie neben meinem Tisch stand und mich besorgt musterte. Bis auf ein älteres Ehepaar, das in ein Gespräch vertieft am Panoramafenster saß, schienen die anderen Gäste noch zu schlafen.

»Entschuldige bitte«, murmelte ich. »Ich war gerade in Gedanken.«

»Eigentlich wollte ich wissen, ob ich dir Kaffee oder Tee bringen soll. Du siehst mir jedoch eher danach aus, als könntest du einen Schnaps vertragen.«

Ich lächelte matt. »So wie mein Morgen begonnen hat, sogar einen doppelten. Ich hätte mein Handy für den Rest des Urlaubes besser ausgeschaltet gelassen.«

»Schlechte Nachrichten?«

Ich nickte und stützte kraftlos meine Ellbogen auf den Tisch, wobei ich das Gedeck verschob. »Das kann man wohl sagen!«

»Warte, ich bring dir etwas zur Stärkung der Lebensgeister«, versprach sie und verschwand.

Ich fuhr mir über die Augen und massierte meine Schläfen, da sich in meinem Kopf ein unangenehmes Spannungsgefühl aufbaute. Wahrscheinlich verschmierte ich dabei das leichte Make-up, das ich für den Tag aufgelegt hatte, aber das war mir gleichgültig.

Jutta kam mit zwei gefüllten Schnapsgläsern wieder zurück. »Sanddornlikör«, erklärte sie. »Hat mein Schwiegervater selbst angesetzt. Wenn wir Glück haben, werden wir davon nicht blind.«

Noch nie hatte ich um diese Uhrzeit Alkohol getrunken, aber dies war wohl der richtige Moment, um damit zu beginnen. Wenn ich schon Kopfschmerzen bekam, dann war Alkoholkonsum eindeutig der angenehmere Grund.

»Na dann, Prost!«, sagte ich. »Viel schlimmer kann’s nicht mehr werden.«

Jutta erhob ihr Glas. »Nich’ lang schnacken, Kopp in’n Nacken!«

Todesmutig kippten wir den Sanddornlikör hinunter und verzogen beide hustend das Gesicht, sodass wir unwillkürlich lachen mussten. Das ältere Ehepaar unterbrach sein Gespräch und musterte uns mit hochgezogenen Augenbrauen.

Jutta erklärte ihnen grinsend: »Ein Notfall! Wir mussten dringend Frau Lehmanns Kreislauf in Schwung bringen.«

Die beiden rümpften synchron die Nase, und der Mann sagte: »Meine Frau trinkt dann immer ein Glas Cola.«

»Dagegen ist Frau Lehmann allergisch«, behauptete Jutta schlagfertig und wandte sich mir wieder zu. »Und? Siehst du mich noch?«

»Ja, klar und deutlich.«

»Dann ist dein Morgen zumindest nicht so schlimm, wie er hätte sein können«, meinte sie und zwinkerte mir aufmunternd zu. »Immerhin hast du den Likör meines Schwiegervaters überlebt!«

Leider konnte ich ihr Lächeln nicht erwidern, und meine Schultern sackten sogar noch tiefer herab. »Tod durch Schnaps wäre nicht mal die schlechteste Option. Mein Leben ist das reinste Chaos.«

Dann passierte es. Alles, was in den letzten Tagen geschehen war, sprudelte einfach so aus mir heraus. Vielleicht lag es am Sanddornlikör oder daran, dass ich ganz allein auf Rügen war, doch ich erzählte Jutta Plümer von meinem ganzen Leben, angefangen bei meiner Familie, über meine wachsende Unzufriedenheit, bis hin zu der geplanten Überraschung mit dem Segelkurs, Felix’ Schulterzucken, meiner Abreise und sogar – ich konnte es selbst kaum glauben – meinem seit Jahren nicht mehr existenten Sexleben. Dabei war das eigentlich gar nicht meine Art, schließlich kannte ich Jutta kaum. Doch sie hörte mir aufmerksam zu, und wenn neue Frühstücksgäste den Raum betraten, verließ sie mich zwar kurz, kam dann aber so schnell wie möglich an meinen Tisch zurück.

»Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich auf mein Herz gehört und mich von meinem Mann getrennt habe?«, fragte ich sie schließlich. »Im Grunde stimmt es ja, dass Felix nichts falsch gemacht hat. Kein Wunder, dass meine Söhne so wütend auf mich sind.«

»Aber die kennen nur die Version deines Mannes, und du darfst nicht vergessen, dass er ihnen sogar eine handfeste Lüge aufgetischt hat. Außerdem haben deine Jungs bestimmt keine Ahnung davon, dass du schon seit Jahren unglücklich bist und leidest.«