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An der Nordsee wartet das Glück
Luisas große Leidenschaft ist das Kochen, doch beruflich steht ihre Zukunft seit jeher fest: Sie soll die Leitung der Kosmetikfirma ihrer Mutter übernehmen. Als ihre Mutter eine erschreckende Diagnose erhält, bittet sie Luisa, mit ihr nach Ostfriesland zu fahren.
Im idyllischen Fischerdorf Greetsiel warten jedoch nicht nur Sonne und Meer auf die beiden, sondern auch so einige Geheimnisse, die ihre Mutter bisher vor Luisa geheim gehalten hat. Dadurch gerät Luisa in einen Wirbelsturm der Gefühle, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Noch komplizierter wird es, als sie den attraktiven Restaurantbesitzer Holger kennenlernt, der dringend eine neue Köchin sucht. Obwohl in Hamburg Luisas Verlobter wartet, würde sie am liebsten für immer bleiben. Doch dann geschieht etwas, das nicht nur das Lebenswerk ihrer Mutter bedroht ...
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
II
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
III
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Nachwort
Über das Buch
An der Nordsee wartet das Glück
Luisas große Leidenschaft ist das Kochen, doch beruflich steht ihre Zukunft seit jeher fest: Sie soll die Leitung der Kosmetikfirma ihrer Mutter übernehmen. Als ihre Mutter eine erschreckende Diagnose erhält, bittet sie Luisa, mit ihr nach Ostfriesland zu fahren.
Im idyllischen Fischerdorf Greetsiel warten jedoch nicht nur Sonne und Meer auf die beiden, sondern auch so einige Geheimnisse, die ihre Mutter bisher vor Luisa geheim gehalten hat. Dadurch gerät Luisa in einen Wirbelsturm der Gefühle, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Noch komplizierter wird es, als sie den attraktiven Restaurantbesitzer Holger kennenlernt, der dringend eine neue Köchin sucht. Obwohl in Hamburg Luisas Verlobter wartet, würde sie am liebsten für immer bleiben. Doch dann geschieht etwas, das nicht nur das Lebenswerk ihrer Mutter bedroht …
Über die Autorin
Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman Wellenglitzern hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung.
Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.
MARIE MERBURG
Nordseesterne
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, BonnLektorat: Karin SchmidUmschlaggestaltung: Kirstin OsenauEinband-/Umschlagmotiv: © flowersmile/Shutterstock; MM_photos/Shutterstock; Pawel Kazmierczak/Shutterstock; Katerina Arts/Shutterstock; Katerina Arts/Shutterstock; Yolande de Kort/Trevillion ImageseBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-4223-8
luebbe.delesejury.de
Mit klopfendem Herzen faltete ich das Papier auf. Nur eine Sekunde später verzog ich angewidert den Mund. Currywurstkuchen, igitt!
Neugierig schielte ich auf den Zettel meiner Freundin Katja. Die Glückliche hatte das Gericht Chilipeitschen auf Spinat aus dem Lostopf gezogen – da blieb immerhin Spielraum für kreative Interpretationen.
Wir hatten die Follower unseres Kochkanals auf YouTube dazu aufgerufen, uns die schlimmsten Rezepte aus dem Internet zu schicken, damit wir daraus vor der Kamera spontan etwas Schmackhaftes zauberten. Aus den Einsendungen hatte unser Freund Piet fünf Rezepte herausgesucht und uns die wichtigsten Zutaten besorgt.
»Das wird nicht einfach«, stellte ich seufzend fest.
»Sprich bitte nur für dich!« Katjas Lippen kräuselten sich siegessicher. Sie reckte die Faust in die Höhe und strahlte in die Kamera. Ihre kastanienroten Locken wippten aufgeregt. »Damit werde ich die finale Challenge gewinnen, liebe Freunde!«
Wie immer stellte Piet uns auch seine Restaurantküche zur Verfügung – ohne seine Unterstützung wäre der Erfolg unseres Kanals Die Schaumschläger nicht möglich gewesen. Leider ging heute unsere gemeinsame Zeit nach sechs tollen Jahren zu Ende.
»Nicht so schnell!«, bremste ich Katjas Enthusiasmus und drehte mich ebenfalls zur Kamera. Ganz automatisch nahm ich dabei eine Pose ein, die meine Schokoladenseite zeigte. Diejenige ohne Narbe auf der Wange. »Wie ihr alle wisst, wachse ich an meinen Aufgaben. Das wird der beste Currywurstkuchen, den die Welt je gesehen hat!«
Normalerweise spuckte ich nicht so große Töne, aber das gehörte nun mal zur Show. Außerdem machte es Spaß, vor der Kamera in eine andere Rolle zu schlüpfen. Denn in meinem echten Leben musste ich angepasst, pflichtbewusst und zielstrebig sein. Meine Mutter erinnerte mich stets daran, dass ich bald viel Verantwortung zu tragen hätte und meiner Rolle gerecht werden müsste. Bei unseren Drehs blühte ich jedoch regelrecht auf und fühlte mich lebendig, denn das Kochen war meine große Leidenschaft.
Ich kniff die Augen zusammen. »Wenn du dich daran erinnerst, habe ich beim letzten Mal mit meiner Interpretation des Salzstangenauflaufs ebenfalls gewonnen.«
»Ja, ja, träum du nur von deinem vergangenen Sieg!« Katja machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber das Heute zählt. Am Ende wird unser Juror entscheiden, welches Gericht besser schmeckt.«
Sie deutete auf Piet, der hinter uns auf seinem Stuhl neben der Schwingtür saß und ein Nickerchen hielt. Das tat er bei unseren Drehs immer. Dabei hatte er die Hände vor seinem beleibten Bauch gefaltet, sein Kopf hing nach vorne, und ein leises Schnarchen war zu hören. Piet war Ende fünfzig und ein echtes Hamburger Original. Zu seinen Eigenheiten gehörte es, dass er in seinen arbeitsfreien Phasen auf Kommando einschlafen konnte – egal, wo er sich gerade befand. Unsere Follower liebten ihn. Einige hatten sich sogar ihre Kochschürze mit seinem schlafenden Konterfei bedrucken lassen.
»Dann auf in den Kampf!«, verkündete ich und deutete auf unsere selbst gebastelte Trophäe. »Der Goldene Schneebesen wartet auf die Siegerin.«
»Los geht’s!« Katja hob die Hand, und wir klatschten ab. Umgehend wuselten wir in der Küche umher und suchten unsere Zutaten zusammen, wobei wir abwechselnd das Reden übernahmen – schließlich wollten unsere Zuschauer erfahren, was für einen Plan wir verfolgten.
Ich liebte diese Momente. Wenn wir anfingen zu kochen, wurde aus der kühlen Restaurantküche ein Raum der eifrigen Betriebsamkeit, der klappernden Töpfe und verheißungsvollen Düfte. Die Hitze der Öfen verströmte Gemütlichkeit, Röstaromen erfüllten die Luft, und Gasflammen zuckten erwartungsvoll hin und her. Allein durch die Gerüche konnte sich dieses nüchterne Laboratorium der Kochkunst in jeden Ort der Welt verwandeln. Köchelte man pralle, von der Sonne verwöhnte Tomaten, würzte sie mit Oregano, Thymian und Rosmarin und gab noch einen Schuss Chianti dazu, fühlte man sich unwillkürlich in ein uriges italienisches Bauernhaus versetzt. Mit dem Duft von Curry, Kurkuma, Kardamom und Kreuzkümmel reiste man nach Indien und mit einer kräftig gewürzten Fischsuppe an die Küste.
In einer Küche konnten sogar die Gesetze der Zeit außer Kraft gesetzt werden, denn der Geruch von knusprig gebratenem Gänsefleisch, Klößen und Apfelrotkraut sorgte selbst im August für ein so intensives Heiligabend-Gefühl, dass man unwillkürlich ein Weihnachtslied summte. Auch ein unbeteiligter Beobachter erkannte in solchen Momenten: In diesem Raum wurde gezaubert.
Katja und ich standen dabei vor der Herausforderung, nicht nur etwas Leckeres auf den Teller zu bringen, sondern auch die Kamera im Blick zu haben und unsere Zuschauer zu unterhalten. Mittlerweile waren wir jedoch ein eingespieltes Team und konnten uns blind aufeinander verlassen. Intuitiv wussten wir, wann die andere sich aufs Kochen konzentrieren musste. Notfalls konnten wir die weniger gelungen Sequenzen später immer noch herausschneiden, aber heute übertrugen wir einen Livestream, denn es war ein denkwürdiger Anlass: Wir drehten unsere allerletzte Folge, da Katja im siebten Monat schwanger war. Mit Zwillingen. Wie sie es schaffte, sich mit dem riesigen Bauch ungehindert in der Küche zu bewegen, war mir ein Rätsel.
Genau wie ich war meine beste Freundin Mitte dreißig. Vergangenes Jahr hatte sie ihren langjährigen Freund Tom geheiratet und war überraschend schnell schwanger geworden. Überraschend deshalb, weil Katja gelesen hatte, dass in unserem Alter die Fruchtbarkeit schon deutlich abgenommen hatte und man sich unter Umständen auf eine »Übungszeit« von ein bis zwei Jahren einstellen musste. Beim Absetzen der Pille war sie deshalb davon ausgegangen, dass ihr bis zu einem positiven Schwangerschaftstest genügend Zeit bleiben würde, um ihre Marketingfirma, die sie zusammen mit ihrem Mann gegründet hatte, in Hamburg zu etablieren.
Tja, offenbar traf die Sache mit der nachlassenden Fruchtbarkeit nicht auf alle Frauen Mitte dreißig zu! Gleich im zweiten Probemonat hatte es geklappt. Dass es dann gleich Zwillinge werden würden, hatte sie vollends aus der Bahn geworfen. Über eine Woche hatte Katja sich an meiner Schulter ausgeheult und immer wieder geschluchzt, dass sie das alles niemals unter einen Hut kriegen und total verbocken würde. Mantraartig hatte ich ihr versichert, dass sie in all das hineinwachsen und ganz bestimmt großartig hinbekommen würde – so wie alles, was sie anpackte. Zum Glück hatte sie mir irgendwann geglaubt, und seither freuten Tom und sie sich auf ihr neues Leben.
Dass Katja für unseren Kanal unter diesen Umständen keine Zeit mehr finden würde, stand außer Frage. Ich bewunderte meine Freundin, dass sie den Mut besessen hatte, sich für Ehe und Kinder zu entscheiden. Davon war ich noch weit entfernt. Ich konnte lediglich einen Freund vorweisen. Wobei diese Bezeichnung wahrscheinlich schon leicht übertrieben war. Das mit Erik und mir war … kompliziert. Heirat und Familie standen für mich jedenfalls noch lange nicht zur Debatte.
»… neu interpretieren«, drang Katjas Stimme an mein Ohr. »Im Originalrezept sind mit Chilipeitschen natürlich die geräucherten Würste aus Schweinefleisch gemeint, doch ich werde rote Chilischoten für mein Gericht benutzen. Leute, ich verspreche euch, diese Chilipeitschen knallen richtig!«
Ich schüttelte über ihren Wortwitz grinsend den Kopf. Himmel, ich würde diese Drehs mit ihr unglaublich vermissen!
»Pass nur auf, dass es nicht zu scharf wird!«, warnte ich sie. »Du weißt, Piet mag es nicht, wenn seine Zunge von der Schärfe taub wird und er die unterschiedlichen Aromen nicht mehr herausschmecken kann.«
Katja winkte ab. »Kein Problem! Selbst wenn ich zu viele Chilis erwische, kann ich dagegen noch etwas tun.« Sie wandte sich an die Kamera. »Denn das Capsaicin der Chilischote ist fettlöslich. Gibt man – je nach Gericht – Kokosmilch, Sahne oder Crème fraîche dazu, mildert das die Schärfe ab, und es besteht keine Gefahr mehr, dass eure Gäste …«
Ich ließ sie weiterreden und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Bisher war ich noch nicht weit gekommen. Der heutige Tag ließ mich ganz gefühlsduselig werden! Normalerweise schlug ich nicht so ein lahmes Tempo an. Ich straffte die Schultern und zog mein T-Shirt zurecht, auf dem eine grinsende Karotte aufgedruckt war.
Im Rezept aus dem Internet wurde der Currywurstkuchen aus fertigem Hefeteig, einer Flasche Curryketchup, Gelatine und acht Bratwürsten gemacht. Eklig! Das bedeutete, dass ich – genau wie Katja – eine komplett neue Richtung einschlagen musste. Eine vage Idee begann sich in mir zu formen, und ich lächelte. Ich würde mit dem Currywurstkuchen in Richtung Kartoffeltortilla gehen! Optisch würde das durchaus als Kuchen durchgehen, und geschmacklich passten Kartoffeln und Currywurst sehr gut zusammen.
Hastig machte ich mich ans Werk, während Katja die nächsten Schritte ihres Rezepts erklärte. Sie war beim Kochen schon bedeutend weiter als ich.
Ich signalisierte ihr mit einer Geste, dass ich so weit war, wieder die Moderation zu übernehmen.
»Die Currywurst kommt ja angeblich aus Berlin«, erzählte ich den Zuschauern. »Im Original wird übrigens keine Bratwurst, sondern Brühwurst ohne Haut verwendet. Daran halte ich mich auch heute. Aber zuerst muss ich mich um die Kartoffeln kümmern, da sie deutlich mehr Zeit benötigen.«
Ich schälte eine Zwiebel und ein paar Kartoffeln, hackte die Zwiebel klein und schnitt die Kartoffeln in kleine Würfel.
»Die Kartoffelwürfel kommen jetzt in eine Pfanne mit viel heißem Öl – sie sollten komplett damit bedeckt sein«, erklärte ich. »Auf mittlerer Hitze werden sie jetzt fünfzehn Minuten gebraten, und so habe ich Zeit, mich um den Rest zu kümmern. Denn im Gegensatz zum Rezept aus dem Internet werde ich die Würste nicht roh in meine Kartoffeltortilla geben. Um das typische Röstaroma zu bekommen, brate ich die Wurstscheiben in einer Pfanne, zusammen mit der klein geschnittenen Zwiebel.«
Nachdem alles eine schöne goldbraune Farbe angenommen hatte, nickte ich zufrieden. »Ich streue noch etwas Currypulver darauf, damit die Wurst den typischen Geschmack annehmen kann – und jetzt kann das Ganze erst mal abkühlen.«
Verzweifelt suchte ich einen freien Platz für meine Pfanne. Mein Arbeitsbereich war allerdings schon jetzt total chaotisch. Keine Ahnung, wie Katja es immer schaffte, während des Kochens gleichzeitig für Ordnung zu sorgen! Piet hatte mir schon mehrfach gesagt, dass er mich hochkant rauswerfen würde, wenn ich bei ihm angestellt wäre. Ich dagegen liebte mein kreatives Chaos. Und Kreativität war genau das, was ich jetzt brauchte! Denn wie ersetzte ich nun diesen doofen Ketchup? Im Kopf ging ich schnell mehrere Varianten durch und fällte meine Entscheidung aus dem Bauch heraus.
»Wie im spanischen Originalrezept für Kartoffeltortilla verquirle ich jetzt vier Eier mit dem Schneebesen und würze das Ganze mit Salz und Pfeffer«, brüllte ich in die Kamera, denn Katja pürierte gerade den Blattspinat im Mixer. »Dazu gebe ich allerdings noch ein wenig Tomatenmark, geschnittene getrocknete Tomaten, Rosenpaprika und Chiliflocken. Ihr seht schon, dass sich die Farbe ändert und wir durch das Tomatenmark ein schönes Rot bekommen … Nun kann ich auch schon die angebratenen Wurstscheiben dazugeben, die mir das nötige Curryaroma liefern.«
Ich nahm einen Teelöffel und probierte. Das war immer der Moment, in dem mir das Herz bis zum Hals klopfte. Wenn ich Pech hatte, war mein Experiment misslungen!
»Und?«, fragte Katja, die mich gespannt beobachtete.
»Nicht schlecht.« Ich wiegte den Kopf hin und her. »Natürlich ist das Ei noch nicht gebraten, aber man schmeckt schon jetzt das Curryaroma, und die Tomatenmasse macht es schön fruchtig. Aber mir fehlt noch was! Ich verfeinere es mit ein wenig Honig.«
»Etwas Süße ist in einer Currywurstsoße essenziell«, stimmte sie mir zu, während sie einen dünnflüssigen Teig in die heiße Pfanne gab. Anscheinend bereitete sie Crêpes zu.
Oh, verflixt! Das war Katjas Spezialität. Meine Chancen auf einen Sieg hatten sich gerade deutlich verschlechtert. Ich musste mir sofort etwas einfallen lassen, um meinem Gericht das gewisse Etwas zu verleihen!
»Ich werde auch noch rote Mitsuba hinzufügen«, platzte es ohne weiteres Nachdenken aus mir heraus. »Die hab ich vorhin bei Piet im Kühlraum gesehen.«
Den Zuschauern erklärte ich: »Mitsuba ist japanische Petersilie, die geschmacklich an Kerbel, Sellerie und Nelken erinnert. Sie hat rote Blätter und wird ganz wunderbar in meine Masse passen.«
»Ernsthaft?«, fragte Katja erstaunt. »Du fährst heute aber volles Risiko.«
»Du weißt, ich liebe das Risiko!«, behauptete ich draufgängerisch und warf meine blonden Haare zurück.
»Dass ich nicht lache«, erwiderte sie schnaubend. »Dir bricht schon der Angstschweiß aus, wenn du im Auto hundert Meter ohne Sicherheitsgurt fahren musst!«
Damit hatte sie leider recht. Normalerweise ging ich eher selten ein Wagnis ein. So hatte ich mich vor Jahren zum Beispiel entgegen meinen persönlichen Interessen für ein trockenes BWL-Studium mit dem Schwerpunkt Marketing entschieden, genau wie meine Mutter es damals von mir erwartet hatte. Für mich als zukünftige Geschäftsführerin unserer Naturkosmetikfirma Natürlich schön war dieser Studiengang schließlich am sinnvollsten gewesen.
»Vielleicht ist das ja der Beginn von etwas Neuem«, entgegnete ich mit gerecktem Kinn. »Womöglich bin ich ab sofort risikofreudiger?«
Katja zwinkerte mir zu. »Ich finde, etwas mehr Verrücktheit würde dir gut stehen.«
Ich erwiderte ihr Lächeln, aber schon einen Moment später wurde mir das Herz schwer: Das gemeinsame Kochen vor der Kamera und unser unbeschwertes Geplänkel würden mir unfassbar fehlen! Nur hier hatte ich das Gefühl, wirklich ich selbst zu sein. Vielleicht war es mir deshalb so wichtig, den Goldenen Schneebesen zu gewinnen. Nicht nur als kostbare Erinnerung, sondern auch als Mahnung, dass es noch eine andere Luisa Steinbeck gab, die ich nicht vergessen durfte.
Piet ließ sich Zeit mit seinem Urteil. Gespannt beobachteten Katja und ich, wie er von jedem Gericht kostete und dabei andächtig kaute. Wie ein Bär ragte er mit seinen breiten Schultern zwischen uns auf, und sein buschiger Vollbart wackelte eindrucksvoll bei jedem Bissen.
Katja hatte fantastische Spinat-Crêpes gezaubert mit einer Füllung aus Lachs, Gurken, Feta und Crème fraîche. Dazwischen blitzten sowohl als optisches als auch gustatorisches Highlight die klein geschnittenen Chilischoten hervor.
»Isa, du hattest eindeutig das schwierigere Gericht«, sagte Piet. »Die Vorgabe mit dem Currywurstkuchen war schwer umzusetzen, aber du hast das Beste daraus gemacht. Deine Kartoffeltortilla ist großartig!«
Er probierte noch mal ein Stück. »Da sind die Kartoffeln, die Eimasse mit dem Tomatenaroma, die mit Curry gewürzte Wurst … Eine gewagte Kombination, die trotzdem lecker schmeckt! Aber wir kochen hier auf hohem Niveau – und die japanische Petersilie …« Er hielt inne und seufzte.
Ich verzog das Gesicht. »Etwas zu viel des Guten?«
Er nickte. »Die Idee mit der Kartoffeltortilla spricht für deine Kreativität. Das Gericht hätte das Potenzial gehabt, genial zu werden, aber manchmal ist weniger einfach mehr. Du hättest wissen müssen, dass Mitsuba bei längerer Hitze ein leicht bitteres Aroma annimmt.«
Ich musste mir Mühe geben, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Das hatte ich nun von meiner Risikobereitschaft.
»Und was ist mit mir?« Katja hatte vor Aufregung gerötete Wangen.
»Die gerollten Spinat-Crêpes mit der Füllung sind optisch …«, er hielt den Teller in die Kamera, »… ein absolutes Highlight. So wie du es angerichtet hast, würde ich es jederzeit in meinem Restaurant servieren.«
»Höre ich da ein ›aber‹ mitschwingen?« Sie zog eine Schnute und strich in kreisenden Bewegungen über ihren Babybauch.
Piet nickte. »Der Geschmack hält leider nicht, was die Optik verspricht. Es ist offen gestanden etwas fad, denn du hast zu wenig Chilischoten genommen – und gerade die sollten doch diesem Gericht einen gewissen Kick geben.«
Ausgerechnet heute hatte meine mutige Freundin anscheinend das Risiko gescheut und stattdessen auf meine übliche Zurückhaltung gesetzt. Beim großen Finale hatten wir offenbar die Rollen getauscht.
»Dabei hast du dich mit deiner Interpretation sowieso weit vom Original entfernt«, fuhr Piet kritisch fort. »Während Isa sich an das Konzept eines Currywurstkuchens gehalten hat, hat dein Gericht mit Chiliwürsten auf Spinat nichts mehr zu tun.«
»Ich hab das Thema verfehlt?« Sie blickte mit hochgezogenen Augenbrauen in die Kamera. »Da fühlt man sich wieder wie in der Schule, Leute!«
Katja versuchte zwar, es zu überspielen, aber ich sah ihr ihre Enttäuschung deutlich an.
Piet strich sich über seinen Bart. »Deshalb würde ich sagen, dass euer Kochduell unentschieden ausgefallen ist«, verkündete er diplomatisch.
»Ernsthaft?«, entfuhr es mir überrascht.
Piet war ein begnadeterer Koch, und seine Kritik an unseren Gerichten war absolut gerechtfertigt. Dass er jedoch keine Favoritin hatte, kaufte ich ihm nicht ab. In all den Jahren hatte es noch nie ein Unentschieden gegeben. Ich vermutete, dass er es einfach nicht übers Herz brachte, eine von uns als finale Siegerin zu küren. Dann musste ich das wohl übernehmen!
»Also, ich habe ebenfalls von beiden Gerichten gekostet und für mich ist das Ergebnis eindeutig …«
Ich nahm den Goldenen Schneebesen in die Hand und überreichte ihn Katja. »Du hast dir diesen Sieg verdient! Meine Currywursttortilla kann mit deinen Spinatcrêpes nicht mithalten.«
Katja drückte sich die Trophäe gerührt an die Brust. »Wirklich? Bist du sicher?«
Ich nickte nachdrücklich. »Nimm sie! Bei dir ist sie besser aufgehoben.«
Als ich Katjas strahlendes Lächeln sah, wusste ich, dass mein Entschluss richtig war. Ihr stand mit ihrem Mann, den Zwillingen und dem Job eine stressige Zeit bevor, die bestimmt nicht immer leicht werden würde. Vielleicht konnte dieses Erinnerungsstück sie in schwierigen Augenblicken aufmuntern und ihr neue Kraft verleihen. Und mit der Trophäe im Regal konnte sie ihren Kindern irgendwann davon erzählen, dass sie früher einmal im Internet zahlreiche treue Fans gehabt hatte und wir zusammen viele lustige Geschichten erlebt hatten. Das war ein schöner Gedanke! Bestimmt würde ich auch ohne den Goldenen Schneebesen einen Weg finden, diesen Teil meines Ichs nicht zu vergessen. Jedenfalls hoffte ich das.
Mit belegter Stimme fügte ich hinzu: »Es war mir eine Ehre, mit dir zu kochen und diesen Kanal zu führen.«
Katja schniefte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Danke, du bist die Beste!«
Sie konnte nicht mehr an sich halten. Vor laufender Kamera fiel sie mir laut schluchzend in die Arme, und auch ich musste weinen.
Es hieß immer, dass ein Abschied gleichzeitig auch der Beginn von etwas Neuem war. Aber heute tröstete mich das nicht im Mindesten. Ich hatte lediglich das Gefühl, dass etwas wirklich Schönes für immer zu Ende gegangen war.
»So, fertig!«, verkündete ich, schlug den Kofferraumdeckel meines roten Minis zu und wischte mir über die Stirn.
Um Katja eine Pause zu gönnen, hatte ich nach dem Dreh allein unsere Utensilien abgebaut und Piets Küche geputzt. Dass sie nicht dagegen protestiert hatte, war ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ziemlich erschöpft war.
Von Piet hatten wir uns schon verabschiedet, und jetzt standen wir abfahrbereit in dem kleinen Hinterhof des Restaurants.
»Bist du sicher, dass ich unser technisches Equipment übernehmen soll?«, fragte ich Katja und deutete zum Kofferraum.
Sie nickte vehement. »Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass du ohne mich weitermachst. Gib dir endlich einen Ruck, und such einen Ersatz für mich!«, bettelte sie. »Es würde mir den Abschied leichter machen, wenn es mit unserem Kanal weitergeht. Wir haben so viel Zeit und Arbeit reingesteckt!«
Ich seufzte. »Tut mir leid, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, mit jemand anderem vor der Kamera zu stehen. Die Schaumschläger sind wir beide. Ohne dich wäre es einfach nicht mehr dasselbe.«
Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. An ihrer Stelle wäre es mir wohl ähnlich ergangen.
»Aber ich werde mich immerhin um den Blog kümmern«, versprach ich, denn mit dem Koch-Blog hatte damals alles angefangen. »Rezepte und Restaurantempfehlungen zu posten, werde ich auch allein schaffen. Ich finde, das ist ein guter Kompromiss.«
Sie schien zwar anderer Meinung zu sein, aber Katja wusste mittlerweile, dass jede weitere Diskussion sinnlos war. »Na schön!«
Sie fasste sich an den Rücken und zog eine schmerzerfüllte Grimasse.
Ich musterte sie besorgt. »Hast du dich überanstrengt?«
Die letzten Tage hatte ich unablässig gefragt, ob sie sich den stundenlangen Dreh in ihrem Zustand wirklich zutraute.
»Alles in Ordnung«, beruhigte sie mich. »Nur mein Rücken tut weh.«
»Du musst dich ausruhen!«, befahl ich.
Ich riss die Beifahrertür auf und schob sie auf den Sitz. »Soll ich dir was bringen? Ein Glas Wasser vielleicht? Oder soll ich aus der nächsten Physiopraxis einen attraktiven Masseur entführen?«
Sie grinste. »Ich bin schwanger, Isa. Das haben schon Millionen Frauen vor mir überstanden.« Sie seufzte. »Ich weiß allerdings nicht, ob meine Wirbelsäule das auch so entspannt sieht. Gib mir einfach ein paar Minuten, ja?«
Ich ging neben ihr in die Knie. Da ich keine Geschwister hatte und meine Familie lediglich aus meiner Mutter bestand, war Katja wie eine Schwester für mich. Seit ich als Teenager nach Hamburg gezogen war, waren wir befreundet und teilten nicht nur unsere Leidenschaft für raffinierte Rezepte. Wir waren durch dick und dünn gegangen, hatten uns gemeinsam durch Schule und Studium gekämpft und jedes noch so kleine Geheimnis miteinander geteilt.
Mit einem dankbaren Seufzen machte sie es sich auf dem Autositz bequem. »Erzähl mal, wie läuft es mit Erik? Speichelt er immer noch seine Augenbrauen ein?«
»Ja«, brummte ich, ohne weiter darauf einzugehen.
In einem schwachen Moment hatte ich ihr von Eriks Marotte erzählt, seinen kleinen Finger mit Spucke anzufeuchten und damit seine Augenbrauen glatt zu streichen. Seither hatte sie sich an dem Thema festgebissen, denn sie hielt diesen Tick bezeichnend für seinen Charakter.
»Wolltest du nicht schon längst mit Ken Schluss machen?«, bohrte sie weiter.
Ich verzog das Gesicht. »Du sollst ihn nicht so nennen! Das ist gemein. Außerdem: Wenn er Ken ist, bin ich Barbie. Und ich will nicht Barbie sein!«
Katja lachte. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Erik für den Falschen für mich hielt. Er war ihr zu ehrgeizig und oberflächlich. Ihrer Meinung nach waren wir wie Honig und Maggikraut: Beides waren für sich gesehen gute Zutaten, aber eben nicht kompatibel. Ich wusste zwar nicht, wer in ihrem Vergleich das Maggikraut darstellen sollte, aber ich hoffte insgeheim, dass ich der Honig war.
»In letzter Zeit haben wir uns sowieso nur in der Firma gesehen. Ich denke, ich lasse unsere Beziehung einfach einschlafen«, gestand ich ihr. »Vielleicht versteht Erik den Wink mit dem Zaunpfahl.«
Wieso hatte ich mich nur auf eine Affäre mit einem Kollegen eingelassen? Das war ein großer Fehler gewesen. Besonders, da ich die Tochter der Chefin und er der stellvertretende Geschäftsführer war. Es gab einfach keinen eleganten Weg, das Ganze zu beenden, ohne dass es die gemeinsame Arbeit beeinflusste.
Katja schnaubte. »Subtile Botschaften erreichen das Männerhirn leider viel seltener, als Frauen gerne hätten. Ich schätze, du wirst um eine offene Aussprache nicht herumkommen, Süße!«
Ich rieb mir stöhnend übers Gesicht. In solchen Dingen war ich noch nie besonders gut gewesen, aber wahrscheinlich hatte sie recht. Wenn Erik mich in letzter Zeit zum Essen oder zu einer Vernissage eingeladen hatte, war ich um eine Schwindelei nicht herumgekommen und hatte unter absolut fadenscheinigen Ausreden abgesagt. Das konnte so nicht weitergehen. Ich musste mich endlich wie eine Erwachsene verhalten!
Leider gab es einige plausible Argumente, die mich bisher genau davon abgehalten hatten. Zum einen die Tatsache, dass Erik eigentlich kein schlechter Kerl war. Mit ihm Schluss zu machen wäre um einiges leichter gewesen, wenn er sich als richtig übler Mistkerl entpuppt hätte. Für ihn sprach ebenfalls, dass meine Mutter ihn liebte – das hatte bis jetzt noch keiner meiner Freunde geschafft. Normalerweise mäkelte sie an jedem Kerl in meinem Leben herum und machte ihn mir madig. Außerdem waren Erik und ich bei der Arbeit ein Spitzenteam. Das hatte mich unglücklicherweise zu der Annahme verleitet, dass wir auch privat gut miteinander harmonieren könnten. Es hatte sich jedoch schnell herausgestellt, dass das nicht der Fall war. Das begann schon mit meiner kleinen gemütlichen Wohnung in Altona mit dem knarrenden Dielenboden, dem Gitarrenspiel des Musikstudenten nebenan und dem Kindergetrappel von Familie Schlüter über mir. Erik fand es inakzeptabel, dass ich immer noch in der »schäbigen Bude« lebte, die ich schon zu Studentenzeiten bewohnt hatte – damals noch gemeinsam mit Katja. Er dagegen besaß eine schicke, moderne Penthousewohnung mit der kühlen Gemütlichkeit eines Eisbergs und war der Meinung, dass ich ebenfalls in eine »standes- und altersentsprechende Wohnung« ziehen sollte. Mit meinen vier Wänden verband ich jedoch schöne Erinnerungen und unbeschwerte Zeiten. Da ich als Kind oft mit meiner Mutter hatte umziehen müssen, war die schnucklige Wohnung mit der altersschwachen Heizung für mich zu meiner Heimat geworden. Zu meinem Hafen. Nur hier konnte ich zur Ruhe kommen und abschalten. Außerdem traf ich in der Kneipe um die Ecke oft Freunde oder lud sie spontan zu mir zum Essen ein. Ich wollte diesen Teil meines Lebens nicht aufgeben.
Katja grinste süffisant. »Oder hält dich vielleicht der Sex davon ab, mit Erik Schluss zu machen?«
»Hm«, machte ich wortkarg und wich ihrem Blick aus. Mein Sexleben wollte ich jetzt wirklich nicht auf Piets Hinterhof erörtern.
»Wobei es für Frauen heutzutage ja genügend befriedigende Hilfsmittel gibt.« Sie gackerte amüsiert. Anscheinend lenkte sie dieses Thema ganz hervorragend von ihren Rückenschmerzen ab. »Nur deswegen braucht man sich eigentlich nicht den Stress einer freudlosen Beziehung anzutun.«
Im Prinzip stimmte das zwar, doch selbst die besten Orgasmen, die durch besagte Hilfsmittel hervorgerufen wurden, konnten nicht die Nähe eines Mannes ersetzen. Genau dieses Gefühl der Einsamkeit hatte mich überhaupt erst in Eriks Arme getrieben. Denn wie jeder Mensch benötigte ich menschliche Wärme und Zärtlichkeiten.
Zugegeben, es hatte mir auch geschmeichelt, dass er an mir Interesse gezeigt hatte. Immerhin war er der Schwarm der weiblichen Belegschaft. Erik war hochgewachsen, dank seines Personal Trainers muskulös, und seine Gesichtszüge wirkten wie von einem Bildhauer gemeißelt. Dazu trug er elegante Anzüge, und seine dunklen Haare lagen immer tadellos. Das war eine weitere unüberbrückbare Differenz zwischen uns: Erik war von Kopf bis Fuß perfekt und ich … eben nicht. Automatisch hob ich meine Hand, um zu kontrollieren, ob meine Haare noch meine rechte Wange bedeckten. Doch mitten in der Bewegung fing Katja meine Finger auf.
Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten. »Denkst du etwa, dass du nicht hübsch genug für Erik bist?«, fragte sie besorgt. »Willst du deshalb mit ihm Schluss machen?«
»Quatsch!«, widersprach ich, aber ich klang nicht so überzeugt, wie es mir lieb gewesen wäre.
Sie hob skeptisch die Augenbrauen, und ich seufzte.
»Nun, wenn du meine Einschätzung als Presse und Marketingexpertin hören willst: Ihn könnte man jederzeit als männliches Model für Mode und Kosmetik einsetzen, während ich höchstens Werbung für eine Narbencreme machen könnte«, sagte ich sarkastisch.
Die Narbe in meinem Gesicht zog sich von der Mitte meiner Wange bis zum Ohr, machte dort einen Knick und endete unter meinem Auge. Über die Jahre hinweg war sie zum Glück verblasst, doch als sie noch frisch und leuchtendrot gewesen war, hatten mich die Kinder auf dem Schulhof immer Frankenstein gerufen. Für mich war das damals fast so schlimm gewesen wie der Unfall selbst. Beides hatte Narben hinterlassen – sichtbare und unsichtbare.
»Das ist absoluter Blödsinn, Isa!«, sagte sie streng. »Du bist ein großartiger Mensch – intelligent, loyal, ehrlich und mitfühlend. Schon allein dafür muss man dich lieben. Davon abgesehen bist du auch wunderschön mit deinem schicken blonden Bob, den schokoladenbraunen Augen und vollen Lippen.«
Ihre eigenen Lippen presste sie nun missbilligend zusammen. »Ich hasse es, wenn du dich auf diese doofe Narbe reduzierst. Dabei fällt sie kaum auf. Mit deinem Haarschnitt und dem Make-up verdeckst du sie perfekt. Aber das hab ich dir alles schon hundert Mal gesagt …«
»Tut mir leid!«, sagte ich reumütig.
Es war nicht so, dass ich die Narbe nicht akzeptiert hätte – mittlerweile gehörte sie zu mir und war Teil meines Ichs. Nur bei einem Typen wie Erik, der morgens im Bad doppelt so lang brauchte wie ich und einmal pro Woche zur Maniküre ging, krochen meine alten Komplexe aus Kindertagen aus ihrem Versteck hervor und redeten mir Minderwertigkeitsgefühle ein. Allerdings nur in schwachen Momenten – und eigentlich war dieser Punkt auch sekundär …
»Bevor du weiter rumrätselst: Der wahre Grund, wieso ich die Beziehung einschlafen lassen will, hat nichts mit Sex, meinem Aussehen oder unterschiedlichen Lebensweisen zu tun«, erklärte ich. »Mir fehlen einfach die Schmetterlinge im Bauch, wenn ich mit Erik zusammen bin.«
Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein verträumtes Lächeln auf mein Gesicht schlich. »Ich will Herzklopfen kriegen, wenn der Mann meiner Träume mich ansieht. Wenn wir den Abend nicht zusammen verbringen können, möchte ich Sehnsucht nach ihm haben. Und wenn er mich berührt, sollte es ein sehnsuchtsvolles Kribbeln auslösen.« Ich seufzte. »Beides trifft auf Erik und mich leider nicht zu.«
In Katjas Augen trat ein amüsiertes Funkeln. »Ich wusste ja schon immer, dass in dir eine schnulzige Romantikerin steckt!«
»Das ist überhaupt nicht schnulzig!«, widersprach ich und reckte das Kinn vor. »Aber zu der Romantikerin stehe ich.«
Wir mussten beide lachen. Für meinen Geschmack hatten wir jedoch lange genug mein Liebesleben erörtert. Ich klatschte in die Hände.
»Themenwechsel!«, verkündete ich und richtete mich auf, da mir so langsam die Knie wehtaten. »Ich brauche deinen Rat wegen meiner Mutter. Du kannst dich doch immer so gut in sie hineinversetzen.«
Katja blinzelte vom Beifahrersitz zu mir auf. »Schieß los! Was hast du für ein Problem mit der eisernen Lady?«
Anders als der Spitzname vermuten ließ, hatten die beiden ein gutes Verhältnis zueinander. Katja hatte großen Respekt vor meiner Mutter und bewunderte sie für ihren Erfolg. Das ging mir nicht anders. Mit ihren dreiundsechzig Jahren war sie eine energische, willensstarke Frau, die sich von niemandem etwas sagen ließ. Sie hatte Natürlich schön als alleinerziehende Mutter aus dem Nichts heraus aufgebaut und jedem Sturm in ihrem Leben standhaft getrotzt. Doch nun machte ich mir zum ersten Mal ernsthaft Sorgen um sie. In letzter Zeit war meine Mutter oft unkonzentriert und wirkte erschöpft. Sie hatte mir gegenüber zwar zugegeben, schlecht zu schlafen, aber zum Arzt wollte sie wegen solcher »vorübergehenden Kleinigkeiten« trotzdem nicht gehen. Ihre Sturheit brachte mich noch zur Verzweiflung.
»Irgendwas stimmt mit ihr nicht! Sie ist superleicht reizbar und hat keinen Appetit mehr«, berichtete ich. »Bei den Konferenzen wirkt sie geistig oft völlig abwesend. Und letztens hat sie unseren Lieferanten für Kosmetiköle am Telefon übel zusammengestaucht, weil er angeblich die falsche Menge geliefert hatte. Er konnte zum Beweis allerdings eine Mail vorlegen, in der sie selbst die Bestellung kurzfristig geändert hatte. Aber sie konnte sich partout nicht mehr daran erinnern. Dabei hat sie ansonsten ein Gedächtnis wie ein Elefant.«
Nie würde ich den Gesichtsausdruck meiner Mutter vergessen, als ihr ihr Fehler bewusst geworden war. Sie hatte völlig schockiert auf die Mail gestarrt, als würde sie die Welt nicht mehr verstehen. Ich hatte in ihrer Miene etwas gesehen, das ihrem Wesen eigentlich zuwiderlief: Selbstzweifel und Angst.
»Vielleicht ist sie überarbeitet?«, entgegnete Katja. »Aber du kennst sie: Das würde die eiserne Lady niemals zugeben.«
Ich nickte und blickte kritisch über den winzigen Hinterhof des Restaurants. Es war Mitte Juni, angenehm warm, und eine laue Brise ließ die Blätter einer kümmerlichen Platane rauschen. Ansonsten gab es hier hinten nur Mülltonnen, rissigen Asphalt und wuchernden Löwenzahn.
»Womöglich ist es mehr als das? Irgendwie … wirkt sie verändert.« Ich zog die Schultern in die Höhe. »Mir ist schon klar, dass sie älter wird und der Stress ihr stärker zusetzt. Aber mir wäre einfach wohler, wenn sie sich mal von einem Arzt durchchecken ließe.«
Bedauernd verzog Katja den Mund. »Du kannst sie leider nicht zwingen. Könnt ihr sie nicht wenigstens ein bisschen entlasten?«
Ich schnaubte. »Erik würde liebend gern mehr Verantwortung übernehmen, schließlich ist er der stellvertretende Geschäftsführer. Aber meine Mutter ist ein Kontrollfreak. Und da ich für die Presse- und Marketingabteilung verantwortlich bin, komme ich dafür nicht in Frage.«
Dass ich nach dem Studium nicht die rechte Hand meiner Mutter geworden war, lag nicht an ihr, sondern war mein eigener Wunsch gewesen. Ich fühlte mich noch nicht bereit für so viel Verantwortung. Im letzten Jahrzehnt hatte es auf dem Naturkosmetikmarkt einen gewaltigen Boom gegeben, und unsere Firma war rasant gewachsen. Jede Entscheidung der Geschäftsleitung betraf somit zahlreiche Mitarbeiter und Existenzen. Ein Gedanke, der mich regelrecht lähmte.
»Schick deine Mutter doch in die Ferien!«, schlug Katja vor. Einen Moment später verzog sie allerdings das Gesicht und schlug sich an die Stirn. »Blöder Vorschlag, tut mir leid! Ich hatte vergessen, dass sie davon nichts hält. Was sagt sie immer?«
»Leute, die sich nach Urlaub sehnen, haben die falsche Arbeitseinstellung«, zitierte ich Mutters Lieblingsspruch und verdrehte die Augen.
»Immerhin habe ich für sie die unangenehme Aufgabe übernommen, mich bei unserem Lieferanten zu entschuldigen«, erzählte ich. »Der war nach dem Anschiss meiner Mutter nämlich tödlich beleidigt.«
Katja verzog das Gesicht. »Hui, das stelle ich mir unangenehm vor! Wie bist du vorgegangen??«
»Als symbolische Geste habe ich persönlich für ihn gebacken und ihm gestern per Express einen großen Geschenkkorb mit all unseren Produkten geschickt. Das hat ihn versöhnlich gestimmt.«
»Lass mich raten: Du hast ihm Macarons gemacht?« Reflexartig fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.
»Stimmt! Du kennst mich eben.«
»Ich weiß nicht, wie du die immer so perfekt hinkriegst. Sie zergehen im Mund!«, schwärmte sie. »Die Kruste ist außen glatt und knusprig, innen sind sie weich wie eine Wolke, und deine Cremes sind einfach göttlich.« Katja schmatzte andächtig. »Ich schwöre, meine Rückenschmerzen wären vergessen, wenn ich jetzt nur ein Macaron essen könnte!«
Ihr Kopf fuhr ruckartig herum. »Du hast nicht zufällig ein paar übrig?«
Ich grinste. »Es könnte sein, dass ich daheim noch ein paar habe …«
Plötzlich kam Bewegung in Katja. Sie hatte sich trotz ihres Bauchs schneller angeschnallt, als ich gucken konnte.
»Los, steig ein, und drück aufs Gas!«, befahl sie. »Du hast eine Schwangere mit Heißhunger an Bord. Das ist ein Notfall!«
Ich lachte. Dass ich meiner besten Freundin mit ein paar Macarons so eine Freude machen konnte, ließ ein warmes Glücksgefühl in mir aufsteigen. Dabei war ich davon ausgegangen, dass ich nach unserem letzten Dreh stundenlang Trübsal blasen würde. Manchmal waren es jedoch gerade die einfachsten Dinge im Leben, die einem den Tag retteten.
Am nächsten Morgen saß ich gleich zu Arbeitsbeginn an meinem Schreibtisch in der Firma und zwang meinen Blick auf die Zahlenkolonnen vor mir. Es war der neueste Quartalsbericht, und meine Mutter verlangte von mir, dass ich ihn ebenfalls durchging und abzeichnete. Gott, war das öde! Mein rechtes Bein wippte unter dem Tisch unruhig auf und ab. Ich war nun mal lieber in Bewegung und einfach nicht der Typ, der gern stundenlang am PC saß. Mit den Händen zu arbeiten wie beim Kochen und das Ergebnis meines Tuns umgehend vor Augen zu haben lag mir deutlich mehr. Nachher musste ich auch noch meine Mutter zu einem Geschäftstermin mit unserer Hausbank begleiten, weil es unter anderem um die Finanzierung einer neuen Werbekampagne ging. Dort müsste ich bestimmt ebenfalls endlos herumsitzen, um mäßig spannende Unterhaltungen zu führen. Es war einer dieser Tage, an dem man sich gleich nach dem Aufstehen wünschte, man könnte sich per Knopfdruck in den Abend beamen.
Es klopfte, und Yuki, meine Stellvertreterin, trat ein. »Morgen!«, trällerte sie und hielt mir einen Kaffee vor die Nase. »Hier, das Lebenselixier für Morgenmuffel!«
»Du bist meine Rettung, vielen Dank!«, stöhnte ich und griff hastig nach der Tasse. Ehe ich trank, warf ich ihr noch einen strengen Blick zu. »Aber du weißt, dass du das nicht für mich tun musst.«
»Ich versuche nur schamlos, mich bei meiner Vorgesetzten einzuschleimen«, entgegnete sie grinsend. »Wirkt es denn?«
Ich erwiderte ihr Grinsen. »Definitiv.«
Yuki war etwas jünger als ich, hatte mandelförmige Augen und eine Haut wie Alabaster. Ihre fast hüftlangen schwarzen Haare trug sie meist zu einem Zopf geflochten. Man durfte sich von ihrem schönen, zarten Äußeren und ihrer guten Laune jedoch nicht täuschen lassen: Yuki war eine Karrierefrau und ein Genie, wenn es um neue Marketingstrategien ging. Ich konnte mich glücklich schätzen, sie an meiner Seite zu haben.
Sie legte mir eine Mappe auf den Schreibtisch. »Das sind die Marketingvorschläge, die du für unseren Adventskalender haben wolltest.«
»Du bist schon fertig?«
Ich stellte die Tasse beiseite und blätterte ihre Entwürfe durch. Dieses Jahr würde Natürlich schön zum ersten Mal einen eigenen Adventskalender herausbringen. Exklusiv mit unseren Produkten bestückt und in limitierter Auflage. Adventskalender mit Schönheitsprodukten waren in den letzten Jahren immer beliebter geworden, und es hatte mich viel Mühe gekostet, meine Mutter von der Idee zu überzeugen.
Ich stutzte, als mein Blick an der internen Produktauflistung hängen blieb. »Wieso ist denn der Gua-Sha-Stein hier noch aufgeführt? Wir hatten uns doch dagegen entschieden, um unser Image zu schützen.«
Die flachen Edelsteine zur Gesichtsmassage gehörten eigentlich nicht zu unserem Sortiment, aber da sie so populär waren, hatten wir sie eine Zeitlang als Hauptgeschenk an Weihnachten vorgesehen. Bis ich herausgefunden hatte, dass der Edelsteinabbau unter menschenverachtenden Bedingungen stattfand. Selbst angeblich zertifizierte Steine boten uns keine Sicherheit für eine einwandfreie Herkunft.
Yukis Lächeln wurde eine Spur schwächer, und sie kratzte sich verlegen am Hals. »Deine Mutter hat darauf bestanden. Und du weißt ja, dass sie das letzte Wort hat.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber ich hab ihr extra die Informationen über die Abbaubedingungen zusammengestellt. In Afrika und Südamerika werden oft kleine Kinder in die Minen geschickt, die unter Lebensgefahr die Edelsteine bergen müssen. Selbst Erwachsene tragen von dieser Arbeit auf Dauer gesundheitliche Schäden davon – und das«, ich tippte mit dem Finger kopfschüttelnd auf die Seite, »für ein doofes Gadget, das angeblich Falten wegmassieren soll.«
Betreten hob Yuki die Schultern. Sie konnte natürlich nichts für diese Entscheidung. Es war mir ein Rätsel, wieso meine Mutter meine ausdrückliche Warnung in den Wind geschlagen hatte. Sonst predigte sie immer, dass wir unseren guten Ruf unter allen Umständen schützen mussten. Wenn wir unsere Glaubwürdigkeit in Sachen Umweltbewusstsein und Fairtrade verlieren würden, wären wir unsere Kunden los. Das war nun schon der zweite Vorfall innerhalb weniger Tage, bei dem ich mir ihr Verhalten nicht erklären konnte. Was war nur mit ihr los?
Entschlossen klappte ich die Mappe zu. »Ich rede mit ihr! Und danach sehe ich mir in Ruhe deine Vorschläge an, ja?«
Yuki wirkte erleichtert, dass ich mich der Sache annahm. »Geht klar!«
Sie wandte sich zum Gehen, machte an der Tür jedoch kurz Halt. »Feiern wir heute eigentlich einen wichtigen Geburtstag oder ein Jubiläum?«, wollte sie wissen.
Ich durchforstete mein Gehirn. »Nicht, dass ich wüsste. Wieso?«
»Frau Klein ist vorhin mit Luftballons und einer Kiste Champagner an mir vorbeimarschiert.«
Frau Klein war die persönliche Assistentin meiner Mutter und für die Organisation der Firmenfestivitäten zuständig. Offenbar hatte ich verpasst, ein wichtiges Event in meinem Kalender einzutragen. Ein Grund mehr, mit meiner Mutter zu sprechen!
Sobald Yuki die Tür hinter sich zugezogen hatte, griff ich zum Hörer und rief sie auf dem Handy an. Morgens war meine Mutter meist im Haus unterwegs und stattete den diversen Abteilungen einen Besuch ab.
»Ja?«, meldete sie sich nach dem zweiten Klingeln.
»Guten Morgen, Mama! Wie geht’s dir heute?«
»Kopfschmerzen«, brummte sie.
Besorgt richtete ich mich auf. »Schon wieder?«
»Ich habe gerade zwei Tabletten genommen. Bestimmt wird es gleich besser.« Sie holte tief Luft. »Was gibt’s?«
»Du willst für den Adventskalender diesen Massagestein haben, obwohl ich dir ausdrücklich davon abgeraten habe?«, fragte ich ohne Umschweife. »Soll die Firma etwa mit lebensgefährlicher Kinderarbeit in Verbindung gebracht werden?«
»Wieso Kinderarbeit? Was hat die denn mit dem Massagestein zu tun?« Im Tonfall meiner Mutter schwang völlige Ahnungslosigkeit mit.
Eine düstere Ahnung ergriff mich. »Aber wir … wir haben doch darüber geredet! Wir sind die Mappe mit den Informationen über die Abbaubedingungen zusammen durchgegangen«, erzählte ich. »Du warst schockiert und hast mir gedankt, dass ich die Firma vor einem Shitstorm bewahrt habe. Weißt du das nicht mehr?«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung sprach Bände. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Genau wie bei dem Eklat mit dem Lieferanten vor ein paar Tagen.
Nach einem weiteren Augenblick qualvollen Schweigens räusperte sie sich. »Ich denke noch mal darüber nach«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber nicht heute. Schließlich ist heute ein besonderer Tag.«
Mir fiel Yukis Beobachtung wieder ein. Allerdings waren mir irgendwelche Feierlichkeiten in der Firma gerade herzlich gleichgültig.
»Mama, ich mache mir Sorgen um dich! Du solltest unbedingt zum Arzt und dich durchchecken …«
»Lass meine Gesundheit meine Sorge sein«, fiel sie mir scharf ins Wort. »Mir geht es gut! Konzentriere dich lieber auf die Arbeit – und freu dich auf das Schöne, das dich erwartet. Bis später!«
»Auf was soll ich mich denn freuen?«, entgegnete ich erstaunt.
Aber sie hatte schon aufgelegt. Irritiert blickte ich auf den Hörer, als könnte er mir eine Erklärung für die ominöse Andeutung meiner Mutter liefern.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube versuchte ich, mich wieder auf den Quartalsbericht zu konzentrieren, aber mir gingen zu viele Dinge durch den Kopf. Mittlerweile war ich mir sicher, dass mit meiner Mutter etwas nicht stimmte. Nur was?
Ich zuckte zusammen, als ohne Vorwarnung die Tür aufgerissen wurde und Erik in mein Büro kam. Seit Beginn unserer Affäre hielt er es nicht mehr für nötig, anzuklopfen.
»Guten Morgen, Luisa!«
»Morgen«, erwiderte ich deutlich weniger energiegeladen.
Er blieb vor meinem Schreibtisch stehen, zupfte seinen dunkelblauen Anzug zurecht und warf mir ein breites Zahnpastalächeln zu.
Genau wie Ken, flüsterte mir Katjas imaginäre Stimme ins Ohr. Nur, dass ich nicht Karriere-Barbie war und mich lieber an das Motto unserer Firma Natürlich schön hielt. Morgens legte ich in Rekordzeit Lipgloss und ein bisschen Wimperntusche auf, bürstete meine Haare und kaschierte meine Narbe mit etwas Make-up. Auch bei meiner Businesskleidung war ich wenig kreativ und trug fast immer Pumps, Anzughose und Bluse. Alle Teile meines Kleiderschranks waren miteinander kombinierbar, sodass ich auch im Halbschlaf blind hineingreifen und trotzdem angemessen gekleidet zur Arbeit erscheinen konnte.
»Wie war dein Tag gestern?«, wollte Erik wissen.
Der Duft seines herben Herrenparfums nebelte mich so sehr ein, dass ich mich im Stuhl zurücklehnte. »Schön! Es hat Spaß gemacht, aber es war auch traurig, weil es der letzte Dreh war.«
Eriks Blick war gleich nach seiner Frage abgeschweift und an den Prototypen für neue Cremedosen hängen geblieben, die auf meinem Schreibtisch standen.
»Was für ein Dreh?«, fragte er zerstreut und nahm ein Döschen in die Hand.
»Na, für unseren YouTube-Kanal! Ich habe dir doch erzählt, dass Katja wegen der Schwangerschaft aufhören muss.«
Endlich schien Erik sich wieder zu erinnern. »Ach so, du meinst euer kleines Hobbyprojekt …«
Es war eigentlich idiotisch, aber seine Bemerkung versetzte mir einen kleinen Stich. Für mich war unser Koch-Kanal viel mehr als ein »kleines Hobbyprojekt« gewesen. Ich hatte mein ganzes Herzblut reingesteckt.
Er legte den Prototypen beiseite und schenkte mir wieder seine Aufmerksamkeit. »Sieh es doch mal positiv: Immerhin hast du jetzt mehr Zeit für die Firma. Und auch für mich«, sagte er mit einem charmanten Lächeln. »Schließlich habt ihr andauernd gedreht.«
»Ähm … ja.« Hitze stieg mir in die Wangen.
Womöglich hatte ich in der Vergangenheit den ein oder anderen zusätzlichen Dreh als Ausrede erfunden, um einem Treffen mit Erik aus dem Weg zu gehen. Was ihm hätte auffallen können, wenn er sich auch nur ein einziges Mal unseren Kanal angesehen hätte! Für ihn existierte allerdings nur die Arbeit. Er träumte davon, Natürlich schön zu einer Weltmarke zu machen. Daheim in seinem Bücherregal standen ausnahmslos Sachbücher über Selbstoptimierung, Management und Personalführung. Dementsprechend fühlte sich ein Date mit Erik meist wie ein abendliches Geschäftsmeeting an. Zudem machte mir sein brennender Ehrgeiz ein echt schlechtes Gewissen. Im Gegensatz zu ihm hatte ich nämlich keine hochtrabenden Zukunftspläne und hing eher wie ein Faultier am Baum der Selbstzufriedenheit herum. Mir leuchtete einfach nicht ein, wieso ich unzählige Überstunden machen und mich zu Tode schuften sollte, wenn ich mit der jetzigen Größe der Firma voll und ganz zufrieden war. Wieso waren in der Wirtschaft alle ständig von permanentem Wachstum und Expansion besessen?
»Ich hatte letzte Woche übrigens das Treffen mit dem Produktentwickler Dr. Marcel Eichler«, berichtete er, während er sich mit verschränkten Armen an meinen Schreibtisch lehnte. »Leider konnte ich ihn nicht für einen Posten in unserer Firma gewinnen. Er meinte, die Beschränkung auf Naturkosmetik würde seine Kreativität im Keim ersticken.«
»Im Klartext: Wir haben ihm zu wenig Geld geboten«, schlussfolgerte ich.
»Wahrscheinlich.« Er seufzte und verzog bedauernd das Gesicht. »Er hat mir etwas für dich mitgegeben. Ein Produkt, das er mitentwickelt hat und in ein paar Wochen auf den Markt kommt.«
Er griff in sein Jackett, holte eine unscheinbare Probendose hervor und drückte sie mir in die Hand. »Eine Camouflage, deren Farbe sich dem Hautton angleicht und die durch spezielle Lichtpigmente unschöne Narben im Gesicht so gut wie unsichtbar macht. Er meinte, ihnen wäre eine Art Wunderrezeptur gelungen, und dein Teint wird damit makellos.« Er lächelte mir aufmunternd zu.
Für einen Moment blieb mir die Spucke weg. Sprachlos starrte ich von Erik auf die Probe. Seit wir uns kannten, hatte er kein einziges Wort über meine Narbe verloren. Er hatte nicht mal gefragt, wie es dazu gekommen war. Was ich offen gestanden etwas merkwürdig fand. An seiner Stelle wäre ich wenigstens ein bisschen neugierig gewesen. Im besten Fall konnte man Erik unterstellen, dass ihm die Narbe nicht aufgefallen war, weil er nichts auf Äußerlichkeiten gab. Leider war er dafür jedoch nicht der Typ – sie war ihm garantiert aufgefallen! Und jetzt schenkte er mir einfach diese Wunderprobe, weil er wie selbstverständlich davon ausging, dass ich diesen Makel loswerden wollte?
Ich knirschte mit den Zähnen. »Danke«, presste ich hervor. »Sehr nett, dass du dabei gleich an mich gedacht hast.«
Mein Sarkasmus prallte an Erik jedoch einfach ab. Wahrscheinlich, weil er gerade damit beschäftigt war, seinen kleinen Finger mit Spucke anzufeuchten und damit über seine Augenbrauen zu fahren, um sie zu glätten. Igitt!
In diesem Moment knallte etwas im Flur, und leises Stimmengeschwirr drang durch die geschlossene Tür. Ich lauschte stirnrunzelnd, doch es war nichts mehr zu hören.
»Erik, ich muss weiterarbeiten! Ich habe heute einen straffen Zeitplan«, versuchte ich, ihn abzuwimmeln.
Er nickte und richtete sich auf. »Apropos Zeit! Meine Assistentin hat den Terminplan mit unseren gemeinsamen Meetings bis Ende des Monats fertig.« Er zog sein Handy aus seiner Anzugtasche. »Ich schicke dir die Daten!« Er tippte auf dem Display herum, und wenige Sekunden später vibrierte mein Handy auf dem Tisch.
»Danke! Wenn sonst nichts mehr ist …« Mit einem entschuldigenden Lächeln deutete ich auf den Quartalsbericht.
Doch Erik blieb wie angewurzelt stehen. Er räusperte sich und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Vielleicht solltest du mal kurz checken, ob einige der Termine mit deinen kollidieren«, schlug er vor.
»Ähm … Okay.«
Ich griff nach dem Handy und scrollte mich durch die Einträge. Im Grunde waren es die üblichen Besprechungen, die wir regelmäßig abhielten. Plötzlich stutzte ich. Was war das denn? Er hatte mir für Dienstag in drei Wochen einen Termin übermittelt, den ich absolut nicht einordnen konnte.
»Erik und Luisa, Vorbesprechung Standesamt«, las ich vor. Ich ließ das Handy sinken. »Was hat denn die Firma mit dem Standesamt zu tun?«
»Es geht nicht um die Firma, sondern um uns beide, Luisa«, erwiderte er mit der gleichen feierlichen Miene, mit der er letztes Jahr die Weihnachtsfeier eröffnet hatte.
Standesamt? Erik und ich? Mir rutschte das Herz in die Hose. Oh nein! Er hatte doch nicht etwa das vor, was ich befürchtete? Nein, nein, nein!
Panisch sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Leider hielt es der vernünftige Teil in mir für kindisch, laut kreischend aufzuspringen und mit wedelnden Armen aus dem Büro zu rennen. Allerdings hätte ich genau das gern getan. Oh Gott, Katja hatte ja so recht gehabt! Ich hätte mich mit Erik schon längst aussprechen sollen, anstatt die bescheuerte Taktik zu verfolgen, unsere Beziehung einschlafen zu lassen.
Erik kam um den Tisch herum, und ich versteifte mich reflexartig.
»Ich finde, wir sind bereit für den nächsten Schritt in unserem Leben«, teilte er mir in nüchternem Tonfall mit. »Das ist meine Art, um deine Hand anzuhalten, Luisa.«
Mit einer Terminübermittlung übers Handy? Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich klammerte mich mit beiden Händen an den Stuhllehnen fest, sodass meine Knöchel weiß hervortraten. Wie kam Erik nur auf die Idee, dass wir heiraten sollten? Wir hatten schließlich nur eine zwanglose Affäre – und der Sex war dafür noch nicht mal sonderlich gut. Das konnte unmöglich nur mir aufgefallen sein, um Himmels willen! Wir harmonierten ungefähr so gut miteinander wie … Honig und Maggikraut! Katja hatte es absolut auf den Punkt gebracht.
Endlich riss ich mich aus meiner Erstarrung. »Aber … aber geht das nicht etwas zu schnell? Das mit uns läuft doch erst seit ein paar Monaten«, wandte ich ein.
Er winkte ab. »Das ist unerheblich, wenn man sich sicher ist. Deine Mutter meint auch, dass es an der Zeit ist, Nägel mit Köpfen zu machen.«
Mir wich das letzte bisschen Blut aus dem Gesicht. Meine Mutter wusste von Eriks Antrag? Aber wieso hatte sie mich dann nicht vorgewarnt? Oder mich vorher wenigstens unauffällig nach meiner Meinung zu diesem Thema befragt? Dann wäre uns allen diese unangenehme Situation erspart geblieben.
Okay, tief durchatmen! Es war schließlich noch nichts passiert. Ich musste nur einen mitfühlenden und sensiblen Weg finden, aus dieser Sache herauszukommen. Wenn ich Erik zu sehr vor den Kopf stieß und er aus gekränktem Stolz seinen Job kündigte, wäre das für die Firma eine Katastrophe. So einen guten und engagierten stellvertretenden Geschäftsführer würden wir nie wieder finden. Am Ende würde meine Mutter vielleicht sogar verlangen, dass ich seinen Posten übernahm? Ach du meine Güte! Allein beim Gedanken daran wurde mir ganz übel. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederholte: Es war wirklich eine ganz dumme Idee, mit einem Arbeitskollegen etwas anzufangen!
»Aber wir wohnen nicht mal zusammen«, brachte ich hervor.
Er hob den Zeigefinger. »Was nicht an mir liegt. Du kannst jederzeit zu mir ins Penthouse ziehen. Dann kommst du auch endlich aus deiner alten Bude raus. Aber sobald wir verheiratet sind, werden wir uns nach etwas Größerem umsehen. Ich habe sogar schon ein paar Objekte im Auge. Du siehst, ich habe schon alles geplant!«
Natürlich hatte er das! So war Erik nun mal. Er überließ nichts dem Zufall. Fieberhaft suchte ich nach einem weiteren hieb- und stichfesten Gegenargument, aber mir wollte partout nichts mehr einfallen. Dass Erik in diesem Moment eine Schmuckschatulle aufklappen ließ und vor mir auf dem Schreibtisch platzierte, machte es nicht besser.
»Gefällt er dir?«
»Äh …«
Ich starrte auf den gewaltigen Diamantring. Wenn ich überhaupt Schmuck trug, dann bevorzugte ich einen schlichten, dezenten Stil. Aber mit diesem monströsen Ring würde ich abends beim Greifen nach der Fernbedienung wahrscheinlich den Glastisch spalten! Ich schluckte mehrmals und fasste mir an den Bauch.
Es brachte nichts, es noch länger hinauszuzögern. Ich schob die Schatulle ein Stück von mir weg und räusperte mich. »Ja, also, Erik, du bist wirklich ein toller Mann, und die Frau, die dich mal heiraten …«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und meine Mutter platzte herein. »Habe ich da soeben ein Ja vernommen?«, fragte sie enthusiastisch.
Erschrocken sah ich sie an. Wie immer war sie mit einem beigefarbenen Kostüm, aufwendigem Make-up und ihrem Perlenschmuck tadellos zurechtgemacht. Schon aus der Entfernung sah man ihr die erfolgreiche Hamburger Unternehmerin an. Genau wie ich war meine Mutter hochgewachsen und schlank, nur ihre blonden Haare trug sie in einem eleganten Kurzhaarschnitt. Oft wurde sie für deutlich jünger als dreiundsechzig Jahre gehalten, und sie behauptete dann stets, das läge an unseren Natürlich schön-Produkten. Nur ich und ihr Schönheitschirurg wussten, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Mit Adleraugen entdeckte sie sofort den Diamantring auf meinem Schreibtisch. Glücklich lächelnd fasste sie sich an die Brust.
»Wie schön, ich komme genau richtig! Ich habe es vor der Tür einfach nicht mehr länger ausgehalten.« Sie eilte auf mich zu und griff voller Stolz nach meinen Händen. »Ihr beide seid das perfekte Traumpaar. Du ahnst nicht, wie sehr mich eure Verlobung freut!«
»Also eigentlich habe ich gar nicht …«, versuchte ich einzuwenden, doch meine Worte wurden im selben Augenblick von ihrer energischen Stimme übertönt.
»Ihr könnt reinkommen!«, rief sie in Richtung Flur. »Wir können auf unser zukünftiges Brautpaar anstoßen.«
Keine Sekunde später kam Frau Klein herein und schob einen Wagen mit Sektgläsern, Champagnerflaschen und Häppchen vor sich her. Ihr auf dem Fuß folgten unser Vertriebsleiter Herr Rossi, unser Buchhalter Herr Nowak, Frau Diaz aus der Logistik und sämtliche Leute aus meiner Abteilung. Passend zum Anlass hielten sie Heliumballons in glänzendem Rotmetallic in Händen. Bestimmt spiegelte sich in einem der Ballons gerade mein schockiertes Gesicht. Mein Blick fiel auf meine Assistentin Yuki, die irritiert auf die Rosenblätter starrte, die Frau Klein ihr gerade reichte. Ihrer Miene nach zu urteilen, hatte sie bis vor wenigen Minuten nichts von alldem gewusst – genau wie ich. Immer noch saß ich wie versteinert in meinem Stuhl und hatte das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Wie gern hätte ich mich jetzt stattdessen mit dem langweiligen Quartalsbericht beschäftigt!
Frau Klein zählte leise vor: »Eins, zwei, drei …«
»Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung!«, riefen die Versammelten unisono aus und warfen Rosenblätter in die Luft.
»Danke, danke!«, rief Erik mit jovialem Lächeln. Er zog mich in die Höhe und drückte mich an seine Seite. »Bitte nehmt euch vom Champagner und stoßt mit uns an!«
Ich blickte in strahlende Gesichter. Bestimmt dachten sie, dass ich mich glücklich schätzen konnte, einen Antrag von Erik bekommen zu haben. Dass ich ihn gar nicht heiraten wollte, schien für die Anwesenden undenkbar zu sein – allen voran Erik. War ihm überhaupt aufgefallen, dass ich seinen Antrag nicht angenommen hatte? Und dass ich den Verlobungsring nicht angezogen hatte?