Leute wie wir - Diana Evans - E-Book
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Leute wie wir E-Book

Diana Evans

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Beschreibung

"Ich muss einfach jedem von diesem Buch erzählen – es ist so gut, dass es mir den Atem geraubt hat." Dolly Alderton Ein bittersüßer Roman über die Liebe und das moderne Familienleben unter den Zwängen des Alltags Es ist nicht lange her, dass Melissa und Michael, von ihren Freunden liebevoll M&M genannt, das allseits bewunderte Paar waren. Doch jetzt ist ihre Ehe so einsturzgefährdet wie das Einfamilienhaus im Süden Londons. Melissa ist gerade Mutter geworden, aber statt Erfüllung empfindet sie Überforderung und sucht Trost bei den nigerianischen Eintöpfen und Zaubern ihrer Mutter. Das macht Michael nur noch unzufriedener, der sich ein aufregendes Leben ohne Kinder zurückwünscht. Und da gibt es noch ein anderes Paar: Damian und Stephanie – und ihre drei Kinder. Damian kommt mit dem Verlust seines Vaters nicht zurecht er und sehnt sich mehr als denn je nach … Melissa.  

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Seitenzahl: 553

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Diana Evans

Leute wie wir

Roman

Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt

Atlantik

Ein Haus aus Glas erbaute ich

In ungezählten Tagen.

Einst war ich stolz, nun wünschte ich

Man würde es zerschlagen.

 

Doch seine Pracht ist eine Last

Kein Nachbar wirft den Stein

Aus Mietshaus oder Glaspalast

In dem er weilt, allein.

 

Edward Thomas

1M & M

Anlässlich Obamas Wahl zum Präsidenten veranstalteten die Brüder Wiley eine Party in ihrem Haus im Londoner Stadtteil Crystal Palace, um seinen Sieg zu feiern. Sie wohnten in der Nähe des gleichnamigen Parks, in dem ein Sendemast in den Himmel ragt wie eine kleinere Version des Eiffelturms, streng und stählern bei Tag, rot und leuchtend bei Nacht; er blickt auf die umliegenden Stadtbezirke und die Landkreise dahinter und beherbergt zu seinen Füßen die Überbleibsel des ehemaligen Kristallpalastes in der grünen Landschaft: den See, den Irrgarten, die ramponierten griechischen Statuen, die erodierten Steinlöwen und die nach dem einstigen Wissenschaftsstand rekonstruierten Dinosaurier.

Ursprünglich stammten die Wileys von der Nordseite des Flusses, doch der Süden hatte sie mit seiner kreativen Energie und dem Charme der Armut gelockt (sie waren sich ihrer Privilegien wohlbewusst und wollten sich als spirituell darüber erhaben darstellen). Bruce, der ältere der Brüder, war ein erfolgreicher Fotograf, sein Studio auf der Rückseite des Hauses ein Labyrinth aus Licht und Dunkelheit. Sein jüngerer Bruder, Gabriele, war Ökonom. Sie waren in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil: Bruce war kräftig, Gabriele dünn, Bruce trank, Gabriele nicht, Bruce besaß keinen einzigen Anzug, Gabriele trug nichts anderes – doch Partys organisierten sie mit vereintem Einsatz und voller Hingabe. Als Erstes befassten sie sich immer mit der Gästeliste, auf der alle wichtigen, erfolgreichen und schönen Leute standen, die sie kannten, darunter Anwälte, Journalisten, Schauspieler und Politiker. Je nach Größe der Veranstaltung wurden weniger wichtige Gäste anhand einer Skala ausgewählt, die nach Rang, Beziehungen, Aussehen und Persönlichkeit gestaffelt war und die von den Brüdern in ihrem Wintergarten durchgegangen wurde, in dem sie den Großteil ihrer abendlichen Besprechungen abhielten. Zu dem speziellen Anlass würden sie mehr Leute einladen als gewöhnlich, denn es sollte ein rauschendes Fest werden. Nachdem die Gästeliste fertig war, verschickte Gabriele die Einladungen per SMS.

Als Nächstes organisierten sie die drei wesentlichen Zutaten: Getränke, Speisen und Musik. Die Party war für den Samstag unmittelbar nach der Wahl angesetzt, also blieb ihnen nicht viel Zeit. Sie kauften Champagner, Macadamianüsse, Chickenwings und mit Paprikapaste gefüllte Oliven, während sie immer wieder die Highlights ihrer schlaflosen Dienstagnacht Revue passieren ließen, in der sie Zeuge geworden waren, wie die blauen Staaten die roten geschluckt hatten, wie Jesse Jackson im Grant Park die Tränen übers Gesicht gelaufen waren und wie die vier Obamas hinter einer schusssicheren Glaswand siegreich die Bühne betreten hatten. Und dann dieses Wetter am nachfolgenden Tag, so klar und blau, und das im November, und die Leute – Fremde – blickten sich offen an, lächelten und grüßten einander, in London! Als sie ihre Playlist für den DJ zusammenstellten, malten sie sich aus, wie die Klänge von Jill Scott, Al Green und Jay-Z aus dem Weißen Haus heraushallten. Zur Schalldämmung und zum Schutz der Möbel schoben sie im Wohnzimmer Spanplatten vor die Bücherregale aus Metall und bedeckten das Nussbaumparkett mit ausrangierten Teppichen. Das Chris-Ofili-Gemälde ließen sie an der mittleren Wand hängen, das Sofa mit den Wurfkissen darunter blieb ebenfalls stehen, aber die meisten Möbel räumten sie beiseite. Gabriele heftete einen Zettel an den Badezimmerspiegel, der die Gäste freundlich darauf hinwies, dass dies ein privates Haus sei und kein Nachtclub.

Dann trafen die Gäste ein. Sie strömten von überall herbei, aus den Ortschaften jenseits der Themse und den Wohnblocks an der A205, aus den Außenbezirken und den umliegenden Straßen. Sie trugen Kunstfellmäntel zu Skinny Jeans, Glitzersandalen und auffällige Hemden vom Oxford Circus. Auch sie waren am Dienstagabend lange wach geblieben, um zu sehen, wie Blau Rot schluckte und wie die Obama-Töchter in ihren kurzen, maßgeschneiderten Kleidern und festlichen Schuhen die Bühne betraten, und ihr Anblick hatte bei vielen Zuschauern die Erinnerung an die vier kleinen Mädchen wachgerufen, die fünfundvierzig Jahre zuvor in einer Kirche in Alabama bei einem vom Ku-Klux-Klan verübten Bombenanschlag ums Leben gekommen waren. Vielleicht war das der Auslöser für Jesse Jacksons Tränen gewesen: dass Obamas Töchter in die brennenden Fußstapfen jener Mädchen traten – und es war unmöglich, diesen Fortschritt in der Geschichte mitzuerleben, ohne zugleich die alten, entsetzlichen Bilder vor Augen zu haben, weshalb die Feier zugleich eine große Wehklage war. In jener Nacht fanden in ganz London Partys statt, in Dalston, Kilburn, Brixton und Bow. Der Verkehr rauschte in beiden Richtungen über die Themse hinweg, und von oben betrachtet erschien der Fluss wie von schnellen Lichtstreifen durchzogene Schwärze. Afros wurden mit Gloss zum Glänzen gebracht und Kinnbärte getrimmt. Wolken aus Parfum und Haarspray hingen verloren unter den Zimmerdecken, als nach und nach die Gäste eintrafen, ihre Autos im Schatten des Sendeturms parkten, ihre Oyster Card vor die Ticket-Schranken der Haltestelle Crystal Palace hielten und, beladen mit Malbec-, Merlot-, Whiskey- und Rumflaschen, zum Haus schlenderten. Gabriele nahm sie mit seinen schlanken Händen in der von Spotlights erleuchteten Küche entgegen, die einem Bienenstock glich. Bruce stand an der Tür und empfing die Gäste so lange, bis er sich den Freuden des Trinkens hingab. Immer mehr Gäste strömten herbei, gut gelaunte Männer in schicken Sneakers, Frauen mit verschiedenen Variationen künstlicher Haarpracht, deren Locken, Zöpfchen oder lange glatte Strähnen ihnen über den Rücken wallten, während sie wie eine Schar Beyoncés in die Musik hineinschritten.

Ein Paar, Melissa und Michael, kam in einem roten Toyota Saloon vorgefahren. Sie kannten die Brüder aus dem Medienumfeld, Michael hatte Bruce beim Studium an der SOAS kennengelernt. Michael war groß und kräftig, hatte ein schmales, stoppliges Kinn und schöne Augen, sein von Natur aus dickes und glänzendes Haar, das er irgendeinem fernen indischen Vorfahren verdankte, war so knapp über dem Schädel geschoren, dass es fast verschwand. Er trug eine weite schwarze Jeans, ein elegantes graues Hemd und hippe Sneaker, deren weiße Sohlen beim federnden Gang immer wieder aufblitzten und verschwanden, dazu eine kastanienbraune Lederjacke. Melissa trug ein malvenfarbenes Seidenkleid mit schwingendem Boho-Saum, limettengrüne Riemchensandalen mit Keilabsatz und einen schwarzen Cordmantel mit Umschlagkragen. Sie hatte ihren Afro vorn zu schräg verlaufenden Cornrows geflochten, das übrige Haar trug sie offen, hatte es aber mit etwas S-Curl-Gel gebändigt. Ihre Frisur umrahmte ein kindlich anmutendes Gesicht mit einer hohen Stirn und Augen, die verschmitzt-verletzlich in die Welt blickten. Zusammen boten sie ein Bild vertrauter, vergänglicher Schönheit – sie waren ein Paar, nach dem sich die Köpfe umwandten, doch aus der Nähe betrachtet offenbarten ihre Gesichter Schatten, stumpfe, unebenmäßige Zähne und die ersten Falten. Sie waren am äußersten Ende ihrer Jugend angelangt, an dem Punkt in ihrem Leben, an dem sich der Verfall des Alters schrittweise zu offenbaren beginnt, die Beschleunigung der Zeit, das Anhäufen von Jahren. Sie beharrten auf ihrer Jugend. Sie krallten sich mit beiden Händen daran fest.

Jetzt mischten sie sich ins Wiley-Getümmel, wo Gabrieles schwangere Verlobte Helen ihnen die Mäntel abnahm, die von zwei jugendlichen Neffen in Hosen mit Bügelfalten in ein Zimmer im Obergeschoss weiterbefördert wurden. Die Obamas hatten das Handabklatschen salonfähig gemacht, und die Stimmung war entsprechend klatschfreudig. Schultern wurden geklopft, Wangen getätschelt und küsst, immer wieder wurde über den Dienstagabend gesprochen und über die Tage, die seitdem vergangen waren, wie anders die Welt jetzt war und dabei genau wie vorher. Währenddessen wummerte die Musik laut von der Tanzfläche herüber: »Love Like This« von Faith Evans, »Breathe and Stop« von Q-Tip. Der Erfolg einer Party lässt sich häufig an der Wirkung von Kris Kross’ »Jump« auf die Gäste ablesen – ob und wie lange sie während des Refrains mithüpfen. Auf dieser Party wurde alles gegeben, der DJ ermutigte die Leute zum Hüpfen, wenn im Song »jump« gerufen wurde, oder ihr Feuerzeug zu schwenken, wenn ein anderes Stück dazu aufforderte, und dazwischen rief er immer wieder »Obama!«, manchmal zum Takt der Musik. Daraus entwickelte sich ein Rede-und-Antwort-Spiel, die Menge wiederholte den Namen, sobald sie ihn hörte, und falls dem DJ danach war, wiederholte er ihn nochmals oder rief »Barack!«, woraufhin ihm von der Tanzfläche die entsprechende Antwort entgegenschallte. Bei alldem war eine subtile Stimmung der Ernüchterung spürbar, ein Kontrast zwischen dem glanzvollen Augenblick und den Problemen der Realität, denn dort draußen gab es junge Männer, die anderswo Obamas hätten sein können, sich hier aber gegenseitig erschossen, und Mädchen, aus denen Michelles hätten werden können.

Die Hitze staute sich, während die Nacht voranschritt. Körper lehnten sich hilflos überhitzt aneinander, und das Einzige, was zu existieren schien, war die wogende Dunkelheit, die Musik. Ein Stück begann mit Mariah Careys Lachen und einer Diskussion mit Jay-Z darüber, an welcher Stelle eingesetzt werden sollte, ein anderes mit einem Gespräch zwischen Amy Winehouse und Mark Ronson, in dem sie sich für ihr Zuspätkommen entschuldigt. Dann folgte Michael Jackson, die schrillen Riffs in »Thriller«, seine honigsüßen Klänge in »P.Y.T.«, und an diesem Punkt ging der Tanz in einen synchronen Twostepp über, bei dem dreimal die Richtung gewechselt wurde, bevor man durch Anheben des linken Fußes zur Ursprungsposition zurückkehrte. Das war der Höhepunkt des Abends. Schließlich schaltete die Musik einen Gang herunter, wurde langsamer, die Menge dünnte sich aus, ermöglichte raumgreifenderes Tanzen oder versunkenes Wiegen zu inneren Rhythmen am Rand der Tanzfläche. Die Neffen liefen wieder die Treppen hinauf und hinunter und trugen die Mäntel in die andere Richtung. In einem langen nächtlichen Exodus kehrten die Leute in die Stadt zurück, die Stimme heiser gebrüllt, die Haut nass geschwitzt, die Ohren vom Bass betäubt. Nachdem sich das Haus geleert hätte, würde Bruce, wie gewöhnlich, mit dem Trinken fortfahren, bis er bei Morgengrauen das Bedürfnis verspürte, sich augenblicklich hinzulegen, und auf dem Küchenboden einschlief oder auf dem Sofa unter dem Ofili, und falls Gabriele frühmorgens die Treppe herunterkam, um ein Glas Wasser für Helen zu holen, schob er ihm ein Kissen unter den Kopf, deckte ihn zu, versetzte ihm einen kleinen Tritt und freute sich schon darauf, die Highlights ihrer Party mit ihm durchzugehen und zu überlegen, wer definitiv weiterhin auf ihrer Gästeliste stehen würde.

 

Gibt es eine bessere Gelegenheit für Liebe in den frühen Morgenstunden als eine wild durchtanzte Nacht? Überfällige Liebe. Küsse, Berührungen, die den elterlichen Pflichten inzwischen fast vollständig zum Opfer gefallen sind, dem kleinen Jungen, der ständig aufwacht, dem kleinen Mädchen mit seinen unzumutbaren Forderungen nach Cheerios-Frühstücksflocken in aller Herrgottsfrühe. Gibt es eine dringendere Verpflichtung, wenn das Haus endlich leer ist, eine ganze lange Nacht lang, dank der großmütigen Großeltern auf der anderen Seite des Flusses, als die, leidenschaftlich und wie von Sinnen zu kopulieren und einander daran zu erinnern, dass man mehr ist als Partner im mühseligsten Wortsinn, dass man immer noch – hoffentlich – ein Paar ist, ein Liebespaar? Die Dringlichkeit dieses Bedürfnisses war in dem roten Toyota Saloon deutlich zu spüren, während sie den Sendeturm und den Obama-Jubel hinter sich ließen und die Westwood Hill hinunter in Richtung Bell Green fuhren. Melissa saß am Steuer, Michael angeheitert auf dem Beifahrersitz. Er stieß mit den Knien unten ans Armaturenbrett, während seine rechte Hand hoffnungsvoll auf Melissas Oberschenkel ruhte. Sie ließ ihn gewähren, obwohl er auf der Party nicht mit ihr getanzt hatte und obwohl er nie daran dachte, vor dem Geschirrspülen das Abtropfgestell auszuräumen, sodass bereits getrocknetes Geschirr wieder nass wurde; es machte sie wahnsinnig. Die scheußliche Innenverkleidung des Autos war kaum noch zu erkennen: ein verblichenes Muster aus glanzlosen grünen und violetten Blättern, das sie beim Kauf des Wagens notgedrungen gewählt hatten, weil es billig gewesen war. Nur die Sitze selbst waren dieser Hässlichkeit dank eines grauen Sitzbezug-Sets entkommen, mittlerweile abgenutzt durch den regelmäßigen Abrieb von Melissas und Michaels nebeneinanderreisenden Rücken.

In demselben Auto hatten sie dieses Jahr im Frühling, während die wohlige Erlösung des Aprils durch das offene Schiebedach hereinströmte, die Themse von Norden nach Süden über die Vauxhall Bridge überquert, auf dem Weg zu ihrem ersten Haus. Melissa war im sechsten Monat schwanger gewesen und hatte auch damals am Steuer gesessen, denn sie liebte Autofahren, den Nervenkitzel der freien Straße, die vorbeirauschende Luft; außerdem war für die riesige Friedenslilie, die mit der wahnwitzigen Geschwindigkeit einer Bohnenranke im Wohnzimmer ihrer alten Wohnung in die Höhe geschossen war, nirgendwo Platz außer auf Michaels Schoß, wo ihr kein Babybauch im Weg war. Er hielt sie fest, damit sie nicht umkippte, ihre großen grünen Blätter und weißen tränenförmigen Blüten berührten das Dach, die Fenster, sein Gesicht. Jede verfügbare Ritze war mit ihren Habseligkeiten vollgestopft, mit den Bücherkisten, Kassetten und Schallplatten, mit ihren Kleidern, dem italienischen Espressokocher und der tschechischen Marionette, mit einem indigoblauen Gemälde von Tänzern in der Dämmerung, einem weiteren von Vögeln aus Tansania, mit der Ebenholzmaske vom Lekki-Markt in Lagos, Matrjoschkas, dem holländischen Gusseisentopf, dem runden Rattansessel, den gerahmten Fotos von Cassandra Wilson, Erykah Badu, Fela Kuti und weiteren musikalischen Helden, der Zickzack-Tischlampe, dem Küchengeschirr und ihrer Tochter Ria, die schlief, während Lichtdiamanten über den Fluss hüpften, und nichts von diesem flüchtigen wässrigen Übergang in ihrem Leben mitbekam. Sie flogen über den Fluss, lauschten einem Song von Isaac Hayes. Unter ihren schwerbeladenen roten Heckflügeln wogte und rollte das Wasser dahin, schaukelte und überschlug sich, rang mit seiner Strömung, schüttelte seine silbrigen Schultern und bebte unter den stillen Brückenbogen hindurch.

Rund einhundertsechsundfünfzig Jahre zuvor war, nicht in einem Auto, sondern mit einer Vielzahl von Pferdekutschen, der Crystal Palace mitsamt allen Dingen darin ebenfalls über den Fluss befördert worden, vom Hyde Park zu seinem neuen Standort auf einem wilden, eichenbewachsenen Gelände auf der malerischen Kuppe des Sydenham Hill. Die Weltausstellung von 1851 war vorbei. Es bestand kein Bedarf mehr an dem protzigen gläsernen Palast mitten in Londons größter Grünanlage, also wurde er nach Süden umgesiedelt, um am Stadtrand zu glänzen und zu beeindrucken, und die Menschen legten viele Meilen zurück und überquerten sogar Ozeane, um die Tempel von Abu Simbel zu sehen, das Felsengrab von Beni Hassan, die Luftakrobatin Leona Dare, die von einem Heißluftballon schwebend Kunststücke vollführte, die exotischen Waren ferner Länder. Mumien wurden über den Fluss transportiert. Samt, Hanf und belgische Spitze. Bettgestelle aus Wien, Majolika und Terrakotta sowie beeindruckender walisischer Goldschmuck. Außerdem Kriegsschiffe, Militärgewehre, kuriose Fuß- und Handfesseln und Rhabarber-Sekt. Alles wurde langsam über das Wasser gerollt, gezogen von den Pferden, die durch Lambeth nach Lewisham trabten, die Südhänge erklommen und auf der riesigen rechteckigen Grünfläche zum Halten kamen, die künftig als Crystal Palace Park bekannt werden sollte, dessen ferne Hügelkuppen jetzt gerade im Rückfenster des roten Toyota Saloon verschwanden.

Michael hegte die Hoffnung, dass die heutige Nacht ähnlich verlaufen würde wie eine ihrer Nächte vor rund dreizehn Jahren, während ihrer ersten gemeinsamen Monate, nachdem sie von anderen Partys heimgekehrt waren und ungeachtet des neu anbrechenden Tages und des Bedürfnisses nach Schlaf in der sanften Stille der Bettlaken ihre eigene Musik erklingen ließen, während sich draußen der Frühnebel verflüchtigte, die Sonne aufging und die Vögel zwitscherten. Sie würden das leere Haus betreten. Sie würden sich die Mäntel und Schuhe abstreifen, vielleicht noch ein wenig plaudern, dann würden sie händchenhaltend die Treppe zum Schlafzimmer hochsteigen und dort weitermachen, erst zaghaft, zögernd, dann immer ungebremster. Diamanten und Edelsteine verlieren ihren Glanz nicht. Es würde so sein, als wickelte man einen verstaubten, vernachlässigten Edelstein aus, um erfreut festzustellen, dass er immer noch glänzt. Er ließ die Hand auf Melissas Oberschenkel ruhen, damit sie diesen Glanz heraufbeschwören konnten, auch wenn er durch die Tatsache stumpf wurde, dass sie kein Gesprächsthema zu finden schienen (»Hast du dich amüsiert?« »Ja. Und du?« »Ja, nett war’s. Bist du müde?« »Ja. Und du?« »Nein.«). Melissa hielt den Oberschenkel ganz still, weder ermutigend noch zurückweisend. Sie fuhr die Westwood Hill hinunter, auf den Cobb’s-Corner-Kreisverkehr oben an der Hauptstraße zu. Direkt vor ihnen befand sich der Hochzeitsladen, grinste mit seinen spindeldürren Schaufensterpuppen in altmodischen Kleidern anzüglich in die Nacht hinein und erhöhte den Druck einer langersehnten körperlichen Vereinigung noch. Während jener ersten Monate vor dreizehn Jahren hatte Michael Melissa in einem Anfall von Euphorie einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte ja gesagt, aber bis zum heutigen Tag hatte es keine Hochzeit gegeben. Sie war irgendwo unterwegs auf der Strecke geblieben, war zunächst an ihrer mangelnden Initiative gescheitert, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, dann am Abkühlen der Euphorie, was Studien zufolge meist nach drei Jahren geschieht, und schließlich am Schutthaufen des häuslichen Lebens, der sich vor dem Tor der Leidenschaft aufzutürmen pflegt, nachdem ein Kind geboren worden ist und das Erwachsenenleben sich endgültig als etwas entpuppt, das einen schlaffen grauen Schlafrock trägt. Vielleicht würde es eines Tages doch noch eine Hochzeit geben, dachte Melissa manchmal. Sollte es dazu kommen, würden sie in einem Gewölberaum in den alten Kolonialbauten der Universität Greenwich heiraten – sie in einem trägerlosen himmelblauen Kleid mit Schleppe, er in einem weißen Anzug, und danach würden sie als Ehepaar zum Fluss hinunterschlendern, an der Brüstung stehen bleiben und zusehen, wie das Wasser mit der Sonne tanzt. Doch in diesem Moment schien das keine realistische Vorstellung zu sein.

An jenem Frühlingstag waren sie mit all ihren Habseligkeiten und dem tretenden Baby im Bauch dort entlanggefahren, während ein Blütenblatt der Friedenslilie Michaels Nase neckte. Am Hochzeitsladen vorbei, über den Kreisverkehr, die Station Approach entlang, zwischen einer Ansammlung weiterer Geschäfte hindurch, wo sie der Verkehr ständig zum Anhalten zwang. Auf der Hauptstraße gab es sechs Friseurläden, fünf Hähnchengrills, vier Ramschläden, fünf Wohltätigkeitsläden, drei indische Take-aways, zwei Pfandleiher, einen Tätowierer, einen nigerianischen Copyshop und ein paar schmuddelige Imbissbuden. Starbucks und Caffè Nero hatten hier noch nicht Einzug gehalten, und es würde vermutlich auch nie dazu kommen, obwohl ein Hauch von Aufbruchsstimmung in der Luft lag. So hatte eines der indischen Take-aways

THETAJ

NEWYORKLONDONDELHI

auf seine verblichene Stoffmarkise gepinselt, in dem Bestreben, dank der Existenz jener fernen Niederlassungen in anderen Metropolen die Leute herbeizulocken, zu ihrem burgunderroten Tikka Masala und aufgewärmten Korma. Nahe dem Ende der Hauptstraße gab es eine Bibliothek, die immer noch an der veralteten Tradition festhielt, mittwochs Ruhetag zu machen, und nicht akzeptieren wollte, dass die Wörter ihren Schlaf zur Wochenmitte aufgegeben hatten. Daneben befand sich ein sirenenumdröhnter Kinderspielplatz in einem von Hochhäusern gesäumten Park und ein Stück weiter, an einem fünfspurigen Verkehrskreisel, wo sich der schlimmste Verkehr ballte, ein Supermarkt, etwa so groß wie Japan. Wo man sich auch befand, ob man auf Japans Parkplatz stand, neben einer Weißbirke in einer Seitenstraße oder in den umliegenden Vierteln wie Beckenham, Catford oder Penge, sah man den Turm im Crystal Palace Park, der über der Landschaft emporragte, zwischen den Gebäuden auftauchte und wieder verschwand. Tatsächlich gab es zwei Türme – ein weiterer Turm, der noch kleiner war als der kleine Eiffelturm, stand weiter draußen auf Beulah Hill und eiferte dem ersten nach. Zusammen waren sie eine große, ferne Erinnerung an jenes längst vergangene gläserne Königreich, das nach seiner beschwerlichen Reise per Pferdefuhrwerk südlich der Themse wiederaufgebaut wurde.

Das Glas wurde neu gekauft und traf in strohgepolsterten Holzkisten am neuen Standort ein. Dreihunderttausend Glasscheiben. Eine zweihundert Hektar große Fläche. Der Palast sollte dreimal so groß werden wie sein ursprüngliches Selbst. Das Gelände war im Osten abschüssig, daher wurde ein Sockelgeschoss hinzugefügt. Das zentrale Querschiff wurde erweitert und bedurfte zweier neuer Flügel, um die Stabilität zu gewährleisten. Es gab mehrere Ausstellungssäle, den byzantinischen, den ägyptischen, den Saal der Alhambra und den Renaissance-Saal. Das Felsengrab von Beni Hassan wurde im ägyptischen Saal aufgebaut. Die Löwenstatuen wurden im Saal der Alhambra angeordnet. Nach neunzigtägiger Überfahrt nahmen der Samt, der walisische Goldschmuck, die Fesseln und der Rhabarber-Sekt allesamt ihren Platz ein. In den Volieren flatterten Vögel, in den Gewächshäusern blühten Lilien. Die Dinosaurier-Skulpturen wurden auf den Grünflächen oberhalb des Sees platziert. Als alles fertig war, fegte man die breite Eingangstreppe, schaltete die Springbrunnen und Wassertürme ein, und das Königreich erhob sich erneut: ein Palast auf dem Hügel, ein gigantisches Glashaus mit einer glänzenden, durchsichtigen Dachkonstruktion aus Gusseisen und Glas.

Am Ende der Hauptstraße, ein paar Häuserblocks hinter der Bibliothek, bog Melissa links ab und parkte auf halber Höhe der Paradise Row auf der rechten Seite.

 

Das Haus war das dreizehnte in einer Reihe fast identischer Geschwister; die Häuser waren durchgehend nummeriert, gerade und ungerade Nummern nebeneinander. Es war ein schmales, weißes viktorianisches Haus mit einer schmächtigen Eingangstür und Doppelfenstern. Drinnen gab es oberhalb der engen Treppe ein Dachfenster, durch das in klaren Nächten ferne Sterne funkelten. Die Zimmer waren hell, aber klein und wirkten ein wenig schief. Ein sehr kurzer Weg führte zur Haustür. Der Flur war nicht breit genug, um zu zweit nebeneinanderher zu gehen.

Das Haus hatte zuvor einem mittlerweile geschiedenen Ehepaar mit einer kleinen Tochter gehört und war im Laufe der Jahre mehrfach renoviert und umgebaut worden, was zu einer eigenartigen Gebäudestruktur geführt hatte, besonders was die Türen betraf. Jemand hatte das Badezimmer ins Untergeschoss verlegt und hinter der Küche einen Anbau errichtet, über dem ein drittes Zimmer hinzugefügt werden konnte. Jemand anders hatte befunden, dass das vom Esszimmer getrennte Wohnzimmer einsam und eng sei, und – dem Trend zu durchgehenden Wohnflächen folgend – die Trennwand entfernt und nur einen breiten, sakralen Bogen unter der Zimmerdecke stehen lassen. Alan wiederum, der Exmann von Voreigentümerin Brigitte (bevor er ihr Exmann wurde), war zu dem Entschluss gekommen, dass eine Doppeltür so viel hübscher wäre als die kaputte Falttür, die er auf Brigittes Geheiß ersetzen sollte. Ihm schwebte vor, wie er, beispielsweise an einem sonnigen Sonntagmorgen, in seinem seidenen Bademantel die Treppe hinunter- und durch die Küche auf das Badezimmer zuschritt, und anstatt eine weitere unschöne und unromantische Plastikschiebetür aufrütteln zu müssen, würde er eine schicke weiße Doppeltür aufschwingen, mit vor Stolz gereckter Brust, erhobenem Haupt und freudigem Herzen, bereit, es mit einem neuen Tag seiner Ehe aufzunehmen. Also war er zum Baumarkt gefahren, der sich nur wenige Autominuten entfernt in einem Gebäude aus Gusseisen und Glas befand. Er hasste den Baumarkt, durchkämmte auf der Suche nach dem Material aber entschlossen die Gänge und brachte die nächsten vier Wochen mit dem Einbau seiner Tür zu. Er sägte und schliff. Er saß so lange in der Hocke, dass ihm die Oberschenkel schmerzten. Er verpasste ein Rendezvous mit seiner Geliebten. Er verletzte sich am Handgelenk. Und als am vierten Sonntag der Abend hereinbrach, eine wunderschöne, rosa gesprenkelte Dämmerung, war das Werk vollbracht: eine Doppeltür. Eine majestätische, breite Doppeltür, die geschmackvoll Nahrungsaufnahme von Nahrungsausscheidung trennte. Brigitte würde begeistert sein. Ihr Liebesleben würde neu entfacht werden. Er würde nie wieder im Auto schlafen müssen. Doch was Alan bei der Umsetzung seines Traums nicht bedacht hatte: Für die Tür war eigentlich nicht genug Platz. In dem schmalen Flur gab es bereits zu viele Türen. Das Aufschwingen war daher weniger prunkvoll und erbaulich als gedacht, das Hindurchschreiten eine Enttäuschung. In Wahrheit hatte er ein Durcheinander aus Türen erschaffen, unter denen seine die heimtückischste war, zu morgendlicher Verstopfung führte und zum nervtötenden Verheddern von Bademantelschlaufen an Messingklinken. Brigitte war nicht begeistert. Kurze Zeit später zog Alan aus.

Melissa hatte Brigitte und ihre Tochter kennengelernt, als sie das Haus zum zweiten Mal allein besichtigt hatte (sie war noch unentschlossen, nahm im Haus eine seltsame Atmosphäre wahr, so beschrieb sie es Michael, die sie stärker beunruhigte als die Hausnummer). Brigitte, eine bedrückte Brünette in Bürokleidung, stand steif neben dem Esstisch am unteren Treppenabsatz, während Melissa sich nach Mäusen, den Nachbarn und Einbrüchen erkundigte. Erst als sie aufbrechen wollte – Brigitte hatte gesagt, sie solle nicht in das zweite Schlafzimmer im ersten Stock gehen, weil ihre Tochter dort schliefe –, löste sie sich von dem Tisch und ging in den Flur. Von oben war ein Geräusch zu hören gewesen, jemand hatte sich dort bewegt. Melissa blickte hoch und sah oben an der Treppe, direkt unter dem Dachfenster, ein kleines Mädchen stehen. Sie war sieben oder acht Jahre alt, trug einen blauen Schlafanzug und einen gelben Bademantel. Sie war unnatürlich blass, besonders ihre Hände. Ein Strahl kühler Wintersonne fiel durch das Dachfenster auf den Kranz aus weißblondem Haar.

»Lily«, sagte Brigitte zornig, »du solltest doch im Bett bleiben!«

»Ich bin aber nicht müde«, erwiderte das Mädchen.

»Jetzt mach schon, geh wieder in dein Zimmer. Ich komme gleich zu dir.«

Doch Lily rührte sich nicht vom Fleck. Brigitte schien sich daran zu erinnern, dass Melissa neben ihr stand, und wandte sich um. »Verzeihung … meine Tochter. Es geht ihr nicht so gut.«

»Nicht so gut«, sagte Lily im exakt gleichen Tonfall. Sie begann die Treppe hinunterzusteigen. Sie humpelte, und ihr Gesicht überzog ein leicht durchtriebenes, fast boshaftes Lächeln. Brigitte wich vor ihr zurück. Als Lily die fünfte Treppenstufe von oben erreicht hatte, setzte sie sich hin und fragte Melissa: »Bist du die Frau, die endlich das Haus kauft?«

Und trotzdem, trotz allem, trotz der »seltsamen Atmosphäre« und der Hausnummer, kauften sie das Haus. Es hatte hohe Decken. Das Licht war gut. Der charmant-nostalgische Spülstein in der Küche, die überzeugende Fußbodenheizung. Der Garten war nur ein gepflasterter kastenförmiger Innenhof, kaum größer als eine Briefmarke, aber sie brauchten ein Haus, sie brauchten ein Oben und ein Unten, damit es eine Etage zum Träumen gab und eine, zu der man zum Frühstücken hinabsteigen konnte, um den neuen Tag zu begrüßen. Sie waren schon über ein Jahr auf der Suche. Sie hatten sich im Norden umgesehen – zu teuer. Sie hatten sich im Osten umgeschaut (im düsteren Walthamstow, in Chingford mit seinen öden Rasenflächen), und nur hier, auf dieser abschüssigen Straße in Bell Green, im tiefen, tiefen Süden, konnten sie sich das Obenschlafen und Untenfrühstücken vorstellen und auch leisten; ein eigenes Schlafzimmer für Ria, Bücherregale in den Erkern, die Vögel und Tänzer an den Wänden, ihre musikalischen Helden im türenüberfrachteten Flur, die Friedenslilie im Licht eines Doppelfensters.

Also entluden sie vier Monate später ihren Saloon, und auf dem neuen Fußboden des durchgehenden Wohn- und Essbereichs türmte sich ein wirrer Haufen aus allerlei Sachen. Das alte Laminat war durch einen buttrig glänzenden, lackierten Eichenholzboden ersetzt worden, gemasert von den dunklen Flecken aus dem Innern seiner Bäume. Die Wände waren aufs gründlichste mit Natron gereinigt worden, um die Spuren von Brigittes Katze zu entfernen. Weitere Katzen-Giftstoffe waren mit dem blauen Teppich auf den Stufen und Treppenabsätzen entfernt worden, den sie durch einen Teppich in einem warmen Paprikarot ersetzt hatten, passend zum Farbton der Fliesen in der Küche und im Badezimmer. Rias Zimmer, ihr Reich, in dem vorher Lily geschlafen hatte, wurde gelb gestrichen. In diesem Zimmer würde irgendwann auch das Baby schlafen, das ununterbrochen trat und dessen Füßchen sich auf Melissas Haut abzeichneten. Das größte Schlafzimmer, auf der Vorderseite des Hauses mit Blick auf die Straße, strichen sie in einem satten dunklen, rauchigen Rot, der Farbe ewiger Liebe, der Farbe der Leidenschaft. Vor die drei Fenster kamen Bambusrollos. Die Tänzer in der Dämmerung hängten sie an die Wand gegenüber und die Vögel aus Tansania draußen über den Treppenabsatz. Ein Kingsize-Bett, neu erstanden in einem Designer-Möbelgeschäft in Camden, wurde in der Mitte des Zimmers platziert, wie ein riesiges, bulliges Schiff, und als eines Abends alles fertig war, als der Haufen abgetragen war und nur noch Kleinkram übrig blieb, der nach und nach erledigt werden konnte und ein Haus zu einem Zuhause machte – das Anordnen von Deko-Elementen, das Anbringen von Spültuchhaken –, lag Melissa in einem schwarzen Baumwollslip in der Julihitze auf die Seite gerollt da und spürte plötzlich, wie eine lange, ziehende Wehe durch ihren Körper fuhr, ziehender und gebieterischer als alle Wehen zuvor, zwei riesige Phantomhände, die sich in ihren Bauch krallten, als wollten sie ihn fortschleudern, und sie riss die schlaflosen Augen auf und starrte in die dunkle, stille Nacht hinein. Sie war am Abgrund angelangt. Sie war vollkommen allein. Die Niederkunft nahte.

Melissa entstammte einer Familie von Frauen, die der Geburt eines Kindes mit warmem, wohlwollendem Gleichmut und natürlicher Stärke entgegentraten. Ihre Mutter hatte drei Mädchen und einen totgeborenen Jungen zur Welt gebracht, in den schreienden Zeiten vor dem inflationären Einsatz der PDA. Ihre Schwestern Carol und Adel hatten alles mit schlichten Schmerzmitteln durchgestanden, waren nicht gewillt gewesen, den Geburtskanal ihrer Babys mit unnötigen Medikamenten zu verschmutzen. Sie waren Erdenmütter. Das Kind war der Steuermann, der Körper das Schiff, der Schmerz die hohe See: eine Schönheit, ein Geschenk, eine Umarmung des Universums – umarme es zurück. Melissa war keine Erdenmutter. Den Beweis dafür hatte ihre erste Entbindung geliefert: Nach drei Tagen wundervollen Umarmens des Schmerzes war Ria wie Shakespeares Macduff aus ihrem Leib herausgeschnitten worden. Diesmal war Melissa von Anfang an fest entschlossen gewesen, das Horrorhaus gar nicht erst zu besuchen, die grausame See, und sich schnurstracks zum Kaiserschnitt bringen zu lassen, bis sie sich im fünften Monat ihrer Brutzeit beim Schwangerschaftsyoga plötzlich gefragt hatte, wie es wohl wäre, die mächtigen Kontraktionen des Geburtskanals mitzuerleben, das Entleeren des geschwollenen Mutterleibs, das Heraustreten des Köpfchens. Ihre Neugier war größer geworden, und schließlich hatte sie der Hebamme verkündet, sie wolle eine VBAC, womit die Kategorie von Frauen bezeichnet wird, die verrückt genug sind, es nach einem Kaiserschnitt noch einmal mit einer natürlichen Geburt zu versuchen, zur Vagina zurückzukehren, zu riskieren, dass die Kaiserschnittnarbe aufreißt, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, den tiefgründigen und ultimativen Höhepunkt der Weiblichkeit mitzuerleben.

Als sie am nächsten Morgen in dem kastenförmigen Hof stand, nach einem weiteren Phantomkrallen, rief sie sich alles in Erinnerung, was ihr die Erdenmütter geraten hatten, was auf ihrer VBAC-Hypnose-CD gesagt worden war, im Geburtsvorbereitungskurs, in dem Schwangerschaftsyoga-Buch, das Carol ihr geschenkt hatte, und ließ zu, dass die Empfindungen – nein, nicht Schmerzen, es waren Empfindungen – sie sanft geleiteten, zum Horrorhaus, das die Hypnose-CD ihr vergeblich als gütiges und entspanntes Meeresufer zu verkaufen versucht hatte, als einen netten … sanften Spaziergang … an der ruhigen … Küste entlang. Sie wiegte sich, summte und atmete angesichts der Schwere der ihr bevorstehenden Erfahrung; jedes Phantomkrallen eine Ballade, jedes Heben und Senken ein Jazzstandard, der mit ihrem Atem an- und abstieg; sie beschwor das Bild von dem hilflosen, harmlosen kleinen Jungtier herauf, das ebenso schreckliche Angst hatte wie sie. Stell dir nur vor, wie das sein muss, hatte eine Erdenmutter als Vermerk auf das Cover der CD geschrieben, ein schwebendes kleines Etwas zu sein, eingehüllt in warme, schützende Dunkelheit, und mit einem Mal beginnt das Wasser zu beben und zu ruckeln, und es wird mit diesem gewaltigen, schwierigen Übergang in die Welt konfrontiert, in die lärmende, turbulente scharfkantige Welt. Hättest du da keine Angst? Würdest du nicht auch am liebsten bleiben, wo du bist, und jeden erdenklichen Widerstand leisten? Wenn Mutter und Kind im Geist zusammenarbeiten, wenn zwischen ihnen eine emotionale Verbindung und Zuneigung besteht, wird der Übergang leichter, hatte sie gesagt. Also klammerte sich Melissa mit Geist und Herz an das Bild von der Angst und der Zwangslage, in der sich ihr wehrloses Junges befand, während die Empfindungen von ihrer Körpermitte in jeden Teil von ihr ausstrahlten, die Beine hinunter und um die Hüften herum, besonders empfand sie es in ihrem Rücken, wo sich eine harte Metallplatte bildete. Sie summte und pustete. Sie watete elefantös auf und ab, hörte dabei Jeb Loy Nichols, dachte an die positiven Dinge, die vor ihr lagen, zum Beispiel dass sie bald Zumba machen könnte und wieder Größe 36 tragen würde. Ihr Plan sah vor, selbst mit den Empfindungen umzugehen, in der Vertrautheit ihrer eigenen vier Wände, bis sie »zu herausfordernd« wurden und sie medizinischen Beistand brauchte. Babys mögen keine Krankenhäuser, so die Ansicht der Erdenmütter. Darin wimmelt es nur so vor Geburtszangen, kontraproduktivem Stress und vorschnellen Eingriffen, weshalb sie so lange wie möglich gemieden werden sollten.

Gegen Mittag dachte Melissa allerdings, dass Krankenhäuser vielleicht doch keine so schlechte Erfindung waren. Bestimmt war es fast so weit, bestimmt war der Muttermund schon mehrere Zentimeter geöffnet, was für Empfindungen! Michael war von der Arbeit nach Hause gekommen, bedachte sie mit demütigen, liebevollen Blicken und suchte die Taschen zusammen. Er stand auf der anderen Seite der Schlucht, war ein Freund in der Ferne, notwendig und nutzlos zugleich. Von dort, wo er stand, konnte er ihre Pracht und ihr Erblühen sehen. Sie war das Haus, das ihre Zukunft beherbergte, sie war eine Lebensspenderin, eine Naturgewalt. Er war eingeschüchtert und hatte gleichzeitig Mitleid mit ihr.

»Erinnere mich daran, nicht zu dir ins Auto zu steigen, wenn ich das nächste Mal in den Wehen liege!« Wie ein Betrunkener bretterte er über die Bremsschwellen. Er war hypernervös und hasste Autofahren, selbst wenn er nicht nervös war. Melissa lehnte sich auf dem Beifahrersitz weit zurück, während eine weitere Wehe durch sie hindurchfuhr. Sie klammerte sich am Fensterrahmen fest, sanfte Sommerluft rauschte vorbei, das nachmittägliche Sirenengeheul im Süden, weitab davon die fernen Türme. Sie parkten auf einer Seitenstraße in Camberwell, weil der Krankenhausparkplatz voll war, und sie watete, watschelte, von Michael gestützt, in das drohende Gebäude mit den Spiegelfenstern und Schiebetüren hinein, wo eine indische Ärztin mit traurigen Augen ihnen mitteilte, es sei an der Zeit, sich zum Entbindungszimmer zu begeben. Sie schickte sie per Aufzug in den dritten Stock, wo sie neben zwei anderen naturgewaltigen Frauen im Wartebereich Platz nahmen. Seltsam, dass Wartezimmer auch in einem solchen Moment nur Wartezimmer sind, ein Verkaufsautomat, Zeitschriften, Poster zum Thema häusliche Gewalt und Stillen, und dass Frauen unter derart extremen Umständen gemeinsam warten, in einem gewöhnlichen Raum, rechteckig statt mutterleibförmig, auf unbequemen Stühlen.

»Ich will nach Hause«, sagte Melissa zu Michael.

»Melissa Pitt?«, rief eine Stimme.

Eine Frau mit blauer Stoffhaube und weißem Overall kam aus dem Flur, der zur Entbindungsstation führte. Sie schien einem Albtraum entstiegen zu sein – weiße Haare flatterten unter ihrer Haube hervor, das Gesicht rosarot und müde, ein Auge höher als das andere und ein harter Gang, ein gleichgültiges Stampfen, als hätte sie in ihren vielen Jahren als Hebamme jegliches Mitgefühl aufgebraucht und als verrichtete sie ihre Arbeit nur noch routinemäßig. »Kommen Sie mit durch«, sagte sie. Michael wurde angewiesen, im Wartezimmer zu bleiben, als hätte er mit alldem nichts zu tun, während Melissa widerstrebend mit der weißhaarigen Hexe mitging, die neben ihr über den Flur auf eine Station zustampfte und sie dort absetzte – hinter einem hellblauen Vorhang neben einer Liege, einem Aluminiumwaschbecken und einer Maschine mit vielen Kabeln. »Es kommt gleich jemand zu Ihnen«, sagte sie und verschwand.

»Gleich« waren fünf Minuten, dann zehn Minuten. Währenddessen wurden die Empfindungen stärker. Draußen auf dem Flur plauderten zwei übertrieben entspannte Frauen miteinander. »Kommt denn bald jemand?«, fragte Melissa sie. »Kommt jemand? Man hat mir gesagt, es würde gleich jemand kommen, aber bisher ist niemand aufgetaucht. Ich liege in den Wehen!«

Die beiden Verwaltungsangestellten der Entbindungsstation des nationalen Gesundheitsdienstes NHS waren derartiges Gemecker und Launenhaftigkeit gewohnt. Zu zweit versuchten sie herauszufinden, wer die Person war, die kommen sollte. Sie waren gelangweilte, miserabel bezahlte Frauen. Zähneknirschend führten sie die lang bestehende Verbindung zwischen dem nationalen Gesundheitsdienst und den Mitarbeiterinnen karibischer Herkunft fort. »Wir haben heute sehr viel zu tun«, sagte die eine. »Es kommt gleich jemand, keine Sorge.«

Also ging Melissa zurück in ihre Ecke und stellte fest, dass es weniger Empfindungen hervorrief, wenn sie sich über die Liege beugte und den Kopf in die Hände stützte, sobald die Wehen kamen. Sie waren jetzt stärker, schwieriger zu veratmen. Nach weiteren zehn Minuten zog eine Hand endlich behutsam den Vorhang auf, und dahinter kam eine hübsche Frau mit freundlichem Gesicht in einem blauen NHS-Kittel zum Vorschein.

»Hallo«, sagte sie sanft. »Ich bin Pamela. Wie geht es Ihnen?«

Die Frage wirkte absurd. Melissa wiederholte, sie wolle nach Hause. Pamela lächelte, zog die Maschine mit den vielen Kabeln vom Fuß der Liege heran und begann, sie zu entwirren. »Also«, sagte sie, »erst einmal müssen wir überprüfen, ob wir Sie guten Gewissens nach Hause schicken können.« Sie warf einen Blick auf ihre Unterlagen. »Oh. Sie sind eine VBAC. Ich glaube nicht, dass Sie als VBAC nach Hause dürfen. Das ist gefährlich.« Ihre Untersuchung ergab, dass sich der Muttermund erst eineinhalb Zentimeter geöffnet hatte. Also ist es wahr, dachte Melissa. Es würde ein weiterer Macduff werden. Ihr war zum Heulen zumute.

»Lehnen Sie sich einfach zurück«, sagte Pamela, hob die Kabelenden an und griff nach den Plastiksensoren, mit denen die Wehen gemessen wurden. Sich zurückzulehnen war das Schlimmste, flach auf dem Rücken zu liegen, während die Wehen auf und ab wüteten, doch Pamela bestand darauf, und Melissa ließ sich von ihr die Plastiksensoren auf den Bauch schnallen, als eine weitere Wehe einsetzte. Sie kamen jetzt immer schneller. Melissa konzentrierte sich darauf, eine Erdenmutter zu sein, aber das wurde zusehends unmöglich, besonders in dieser Position. Pamela sagte, sie komme gleich zurück, und eine Weile lag Melissa dort, während die Wehen aufwallten und abflauten, ein großes Spektakel aufführten, beglückt auf ihrer neuen Bühne in Rückenlage, sie sangen frohgemut, wirbelten in immer stärkeren Strömungen herum. Währenddessen vergaß sie alles über die Gefühle, die ein Junges womöglich hatte. Die Erdenmütter gingen in Flammen auf. Eine gigantische Woge türmte sich auf, die sie unmöglich veratmen konnte, und sie schwang sich von der Liege und zerrte an den Kabeln. Pamela tauchte wieder auf.

»Was tun Sie da?«

»Ich gehe nach Hause. Das war’s. Mir reicht’s. Das ist unerträglich.«

»Warum wollen Sie denn unbedingt nach Hause?«, fragte Pamela. »Bei den meisten Frauen ist es umgekehrt, wir können sie kaum überreden, nach Hause zu gehen, sie wollen lieber im Krankenhaus bleiben, weil sie sich dort sicher fühlen, aber Sie wollen unbedingt nach Hause. Warum?«

»Weil ich mich dort wohler fühle. Bitte machen Sie dieses Ding von mir los!«

Melissa riss an den Kabeln, schmiss fast den Wehenschreiber um. Eine weitere Empfindung setzte ein, und sie beugte sich stöhnend vor. Da war es mit Pamelas Geduld vorbei. Jetzt war sie nicht mehr sanft. Mit gerunzelter Stirn und matronenhafter Autorität wies sie Melissa zurecht.

»Hören Sie zu«, sagte sie, »ich erkläre Ihnen jetzt mal etwas, ja? Es ist gefährlich für Sie, jetzt zu gehen, weil Sie eine Ruptur erleiden und verbluten könnten. Verstehen Sie, was ich sage? Sollte es zu einem Notfall kommen, können wir Sie nicht retten. Letzte Woche hatten wir hier eine Frau, die im Wartezimmer eine Ruptur hatte. Wäre sie zu Hause gewesen, wäre sie vermutlich gestorben. Eine andere Frau hatte zu Hause eine Ruptur, und das Baby ist gestorben. Ja, wirklich. Aber wenn Sie darauf bestehen, kann ich Sie jetzt entlassen – wenn Sie das wirklich wollen. Ich rate Ihnen dringend davon ab, aber es ist Ihre Entscheidung.«

Angesichts der neuen Sachlage willigte Melissa ein dazubleiben. Sie verabschiedete sich von dem Traum einer gemächlichen Öffnung des Muttermundes in dem kleinen schiefen Haus. Die Nacht verbrachte sie im Schummerlicht einer von Vorhängen abgetrennten Liege, mit tiefen Zügen an einer Lachgas-Sauerstoff-Flasche und mit kläglichem Festkrallen an Michaels Nacken. Wie sehr sie ihn in diesem Moment brauchte. Wie sehr sie ihn liebte. Er bedeutete Kraft, Rettung, mit seiner warmen Brust und seiner robusten Statur. Während sie den medizinischen Dunst inhalierte, sagte sie ihm ein ums andere Mal, dass sie ihn liebte, trunken, beharrlich, es war das Gefühl, das sie am deutlichsten wahrnahm. Um vier Uhr morgens hatte sie sich endgültig von der VBAC verabschiedet. Sie wollte aufgeschnitten werden. Der Höhepunkt war für sie nicht länger von Bedeutung, und später an jenem Morgen wurde sie auf einer Liege in den Operationssaal geschoben.

Michael ging in einem blauen Krankenhaus-Overall neben ihr her, umringt von einer Schar Krankenpfleger. Sie trugen grüne Hauben.

Im OP-Saal wurde ein Tuch zwischen der Fastmutter und ihrem Bauch aufgespannt, damit sie die Prozedur nicht mitbekam. Sie sah nur die spitzen Enden der chirurgischen Instrumente.

Das Geräusch von Messern, Scheren. Silberne Klingen blitzten im Licht und durchschnitten ihr Blickfeld.

Dann erschien ein Baby, wurde wie ein nasser Sack von einer plötzlich auftauchenden Hand hochgehoben.

»Ein Prachtbursche«, sagte jemand.

Michael brachte ihn Melissa ans Bett, damit sie ihn betrachten konnte. Ein winziges Gesicht in Weiß gewickelt. Wonnig und hellbraun. Unter der Decke war er rosa und gelblich, besonders rosa in den Wölbungen seiner Schulterblätter, besonders gelb unter den Fußsohlen. Seine Füße waren lang, mit langen Zehen, ein Fuß war durch den Druck der letzten Monate nach innen verdreht. Ein O-Bein. Ein Klumpfuß. Und lange Arme, schwingende, tanzende Arme, als hätten es ursprünglich Flügel werden sollen. Er hatte glänzendes schwarzes Haar mit einem Flecken Gold im Nacken. Blaue Schielaugen, die von einer Seite zur anderen rollten wie Murmeln durch Wasser. Ein besorgter Blick. Ein sechseckiger Mund, wenn er weinte. Er war ihr Ableger, ihre Verlängerung. Sie betrachtete ihn, und alles schwand dahin, außer ihrer Liebe.

An einem Sonntagmorgen brachten sie ihn nach Hause, der graue Tag dehnte sich tief und stumm über Camberwell aus. Wolkenfetzen lehnten sich gen Westen. Die Luft strich seidig über ihre Wangen, und Melissa weinte dort auf den breiten Stufen vor dem Krankenhaus, weil ihr bewusst wurde, dass dies das Leben war, das sie von nun an führen würde, mit diesem Mann, diesem Jungen, diesem Mädchen, es würde keine grundlegenden Veränderungen mehr geben, und sie weinte auch, weil sie diesen neuen Atem, dieses kleine Herz in diese große Unsicherheit brachte. Sie fuhren mit ihm zurück zu dem schmalen Haus in der Paradise Row. Im großen Schlafzimmer hängte sie ein kleines rotes Holzherz an die Wand über dem Babykorb, in dem er lag. Über den folgenden zwei Wochen lag jene einzigartige Magie, die ein Neugeborenes umgibt. Zwei jenseitige Wochen, in denen die Luft Wiegenlieder singt, während deren man jeden Winkel und jede Bewegung des kleinen Gesichts erforscht, sich gemeinsam um das schlafende Junge zusammenrollt, wie Kringel, wie Violinschlüssel. »Ich habe das Gefühl, dass ich in eine neue Lebensphase eingetreten bin«, sagte Melissa zu Michael, der am Fenster stand. »Ja, ich weiß«, sagte Michael. In der Woche darauf ging er wieder zur Arbeit, verschwand wie ein Hauptdarsteller, den man aus einem Theaterstück entfernt hat.

 

Bis zum Sonnenaufgang waren es nur noch wenige Stunden. Sie gingen durch das Eingangstor und betraten das Haus. Nach der opulenten Party wirkte es noch kleiner und schmaler als sonst. Melissa ging voran, über den Flur, der nicht breit genug war, um zu zweit nebeneinanderher zu gehen, und zog ihre limettengrünen Sandalen aus. Sie wollte schlafen. Sie hatte keine Lust, in der sanften Stille der Bettlaken ihre eigene Musik erklingen zu lassen, während draußen die Sonne aufging und die Vögel sangen. Doch sie spürte Michaels Verlangen, seine Entschlossenheit. Er glitt hinter ihr her, als sie in die Küche ging, um sich einen Tee zu machen. Kamille, damit sie besser schlafen konnte. »Willst du auch einen?«, fragte sie.

»Nein danke.« Ihm wäre ein Brandy lieber, eine späte, süße Feier – das Haus leer, keine kindlichen Gliedmaßen, die sich nach allen Seiten ausstreckten, keine frühmorgendlichen Forderungen nach Frühstücksflocken. Er nahm eine Flasche aus dem Spirituosenregal, das nur er benutzte, goss sich ein Glas ein und bot ihr ebenfalls eins an. Sie schüttelte den Kopf und gähnte zu seinem Missfallen, und er lehnte sich an das nostalgische Spülbecken. Der Paprika-Fußboden war warm unter ihren Füßen. Die Obamas hingen am Kühlschrank, in Form eines Magneten, verhöhnten sie mit ihrer unerhörten Perfektion und ihrem Erfolg, Michelle umarmte die Töchter mit ihren langen Armen, Barack strahlte siegessicher. Um diesen Magneten waren weitere, bescheidenere herumgruppiert, Rias Star Award für gutes Benehmen in der Schulkantine, ein handgemachter silberner Weihnachtsmann und eine humorvolle Klage in Großbuchstaben, DERTAGGESTERNWARDIEHÖLLEUNDDERHEUTIGEISTESBEREITS!, der Michael jeden Morgen zustimmte, bevor er zur Arbeit fuhr. Er hatte einen festen, krisensicheren Job als unternehmensinterner Koordinator für Arbeitsabläufe in einer Investmentgesellschaft, nachdem er ursprünglich eine Karriere als Radiomoderator angestrebt hatte. Er hatte Talent, war wie dafür geschaffen mit seinem Scharfsinn, seiner warmen Stimme. Er hatte sich bis zu den Piratensendern hochgearbeitet, doch dann brauchten sie Geld. Manchmal beneidete er Melissa, die als Freiberuflerin arbeitete, etwas Kreatives machte (sie schrieb für eine Modezeitschrift). Er nahm einen wunderbaren, warmen Schluck von dem Brandy und bot ihr stattdessen an, sie zu massieren.

»Hm, vielleicht«, sagte sie. Aber Melissa war nicht der Massage-Typ, das wusste er. Sie konnte damit ebenso wenig anfangen wie mit Akupressur oder Whirlpools. Sie brauchte Aktivität: Laufen, Schwimmen, Yoga. Ihre körperliche Stärke hielt sich unter den schmalen Schultern und dem schlanken Hals verborgen. Darunter sprühte sie vor Energie, sowohl körperlich als auch geistig, während Michael im Wesentlichen entspannt und passiv war. Er war ein Sitzmensch, ein Empfänger. Er mochte Whirlpools. Das war einer der Hauptunterschiede zwischen ihnen.

Als der Tee fertig war, ging sie durch die verpfuschte Doppeltür ins Badezimmer. Dort war es eiskalt, trotz der Paprika-Heizung, und das Gebläse war dröhnend laut, sodass man sich fühlte, als wäre man in einen Stromgenerator eingeschlossen. Die Verkleidung am Rand der Badewanne war lose und hing schon leicht schief. Melissa trocknete sich das Gesicht ab, und genau in dem Augenblick, als sie die Augen öffnete und das Handtuch fortnahm, sah sie, wie etwas an der Verkleidung entlangkrabbelte, senkrecht die Wand hoch. Ein Huschen, ein seltsamer brauner Blitz, der vorbeizischte und dann in einer Ritze oben an der Verkleidung verschwand. Es war eine Maus, eine große Maus. »Mist!«, rief sie.

»Was ist los?«

»Da ist eine Maus unter der Badewanne!«

»Was?«

»Wirklich, ich habe sie gesehen. Sie ist da reingehuscht.« Sie deutete mit dem Finger darauf.

»Bist du sicher?«, fragte Michael.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen, war in den Essbereich zurückgewichen. »Die Frau hat gesagt, dass es hier keine Mäuse gibt.« Sie meinte Brigitte. »Ich habe sie gefragt. Sie hat gesagt, es gibt keine Mäuse.«

»Wir müssen jemanden kommen lassen.« Michael war verärgert über den Zeitpunkt der Störung und ziemlich angeekelt, aber fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Er hasste jegliche Art von Ungeziefer. Ungeziefer war dreckig. »Ich dachte, Frauen hätten heutzutage keine Angst mehr vor Mäusen«, scherzte er, während sie zur Treppe eilte. »Und so was nennt sich Feministin.«

»Ich bin keine Feministin. Ich bin eine Frau.«

»Das weiß ich.« Und er bedachte sie mit einem Blick, in dem eine schüchterne, vertrauliche Frage mitschwang, verzagt und entschlossen zugleich. »Geh noch nicht hoch«, sagte er. »Warte auf mich.«

Doch sie ging mit ihrem Tee nach oben, erfüllt von einem pelzartigen, kribbeligen Gefühl, und oben angekommen zog sie sich das langärmlige weiße Baumwollnachthemd an, das ihre Mutter Alice ihr zum achtunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es war bequem. Der kühle Baumwollstoff fühlte sich angenehm auf ihrer Haut an. Michael hielt sich währenddessen so kurz wie möglich unten mit seinem nächtlichen Check auf. Dieser beinhaltete, exakt zehn Sekunden lang auf den Herd zu starren, um sicherzugehen, dass er ausgeschaltet war, die Wasserhähne im Badezimmer bombenfest zuzudrehen, sodass eine Überflutung absolut ausgeschlossen war, an den Fenstergriffen zu rütteln, um sich zu vergewissern, dass auch sie geschlossen waren, und schließlich die Eingangstür zu verriegeln und die Sicherheitskette vorzuziehen. Erst dann konnte er die Stufen zum Schlafzimmer hochsteigen, häufig mit schwerem, der Enthaltsamkeit überdrüssigem Gang, doch heute mit beschwingtem Schritt, der sie, wie er hoffte, seine Männlichkeit erspüren ließ und sie erregen würde, während sie dort oben auf ihn wartete, vielleicht in dem cappuccinofarbenen Slip, den er ihr einmal geschenkt hatte. Er war bitter enttäuscht, als er, während er unter dem Dachfenster entlangging und aufs Schlafzimmer zusteuerte, einen flüchtigen Blick auf ihre nackte Haut erhaschte, ein Aufblitzen eines sinnlichen braunen Beins, das unter dem steifen langen Nachthemd verschwand.

»Bitte zieh das nicht an«, sagte er.

»Warum nicht?«

Weißt du wirklich nicht, warum?, hätte er am liebsten gebrüllt. Verstehst du nicht, dass wir hier etwas Wichtiges und Dringliches zu tun haben? Siehst du das nicht auch so?

»Es verbirgt deine Schönheit.«

»Nein, tut es nicht.« Sie setzte sich ihr Durag auf und band es im Nacken fest. Ihr war klar, dass sie letzten Endes diejenige sein würde, die etwas wegen der Maus unternehmen, jemanden anrufen würde. Sie war immer diejenige, die die Leute anrief. Sobald Michael morgens das Haus verließ, vergaß er alles, was mit den Verrichtungen und der Instandhaltung ihres Königreichs zu tun hatte, und sie wurde zur einsamen Ministerin. »Es verbirgt deine Version meiner Schönheit«, fügte sie leicht gehässig hinzu, »die schlichter ist als meine Version. Du magst mich nicht so, wie ich mich mag.«

Darauf folgte Schweigen.

»Versprichst du, jemanden anzurufen?«

»Ja, ja.«

»Und wir müssen das Fenster reparieren, hier drin ist es furchtbar kalt.«

Durch das linke Fenster in ihrem Schlafzimmer zog es im Winter eiskalt herein – der Rahmen war verzogen. Die tiefroten Wände, das weiche Licht der Lampenschirme, der Mond, der durch die Bambusrollos auf die mokkafarbene Tagesdecke fiel, verlangten alle eine wärmere Atmosphäre, deshalb wirkte der Raum in sich nicht stimmig. Wenn sie vom Bett zum Schrank gingen, bildete das Knarzen der hundert Jahre alten Holzdielen unter ihren Füßen eine unschöne Begleitmusik zur Kälte. Und Blakes Abwesenheit, ihr fehlendes Junges, das seine erste Nacht auswärts erlebte, steigerte Melissas Unbehagen. Sie vermisste ihn, seine winzige Gegenwart, sein kleines, kurzes Atmen.

»Ich hoffe, es geht ihm gut«, sagte sie.

»Wem?«

»Wem wohl? Blake natürlich.«

Scheiß auf Blake, dachte Michaels Penis. Scheiß auf das Fenster. Scheiß auf die Maus.

»Ihm geht es gut.«

»Woher willst du das wissen?«

Melissa hatte Michael nicht erzählt, wie sie eines Nachts von einem raschelnden Geräusch geweckt worden war, als Blake sechs Wochen alt gewesen war. Ein gedämpftes Strampeln hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte die Augen geöffnet, zum Babykorb hinübergeblickt, wo Blake mit Füßen und Knien die Decke wegzutreten versuchte, die ihm übers Gesicht gerutscht war. Panisch war sie aus dem Bett gesprungen und hatte die Bettdecke heruntergezogen. Sie hatte es als schlechtes Omen gedeutet.

Michael sagte: »Du machst dir zu viele Sorgen. Entspann dich, Mann. Findest du es nicht auch schön so, nur wir zwei? Können wir die Kinder nicht mal einen Abend lang vergessen? Diese Nacht gehört uns. Also genießen wir sie.«

Er hatte sich das Hemd ausgezogen, und sie beobachtete ihn verstohlen. Er hatte die breiten Schultern eines Basketballspielers und schmale Arme. Neben seinem Herzen schimmerte unter seiner Haut ein bumerangförmiges Licht, das die Haut dort eine Spur gelblicher machte; er leuchtete von innen heraus. Und seinen unteren Rücken überzogen Streifen in einem ähnlichen helleren Farbton auf dem dunklen Hintergrund, als wäre er in einem früheren Leben einmal ausgepeitscht worden. Michaels Schönheit war eine Frage. Sie war geheimnisvoll. Sie offenbarte sich ihr wie Licht, das zwischen Blättern hindurchschimmert, in unvorhergesehenen Momenten, wie jetzt im Licht der Lampe, das auf die Wölbungen seiner Schlüsselbeine fiel, während er vor dem Schrank seinen Gürtel aufschnallte, die Arme angespannt, den Kopf gesenkt, ganz dort und in diesem Augenblick. Da war das strahlende Weiß seines passenden bumerangförmigen Lächelns, als sie ihn kennengelernt hatte. Und seine dichten Augenbrauen, die immer noch jungen Augen, nur ein wenig verletzt vom Leben. Seine verborgene Schönheit verblüffte sie immer noch; sie war außerordentlich und versteckte sich unter seiner Jungenhaftigkeit. Jetzt war sie sichtbar, während er sich zum Bett vorbeugte und seine Jeans zusammenfaltete, seine Schultern bereit, sie festzuhalten, sie zu umschlingen. Ein altbekanntes Gefühl wallte in ihr auf, sie fühlte sich instinktiv zu ihm hingezogen. Ein brennender Pfeil der Liebe fuhr durch sie hindurch.

»Morgen ist Sonntag«, sagte er lächelnd. »Wir können den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn wir wollen.«

Er nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank und hängte die Jeans darüber, ermutigt von Melissas weicheren Gesichtszügen, dem Ausdruck in ihren Augen in diesem Moment. Sie sank aufs Bett zurück, halb erwartungsvoll. Er hängte den Kleiderbügel zurück auf die Stange. Die Kleiderstange war klapprig, noch etwas, das ausgebessert werden musste. Sie war schon zweimal heruntergekracht und hatte seine gesamte Kleidung mit sich zu Boden gerissen, und als er sich jetzt wieder zu dieser schönen, zurückgesunkenen Frau umdrehte, bereit, sich über sie herzumachen, hielt die takt- und herzlose Kleiderstange den Zeitpunkt für angebracht, erneut dramatisch zusammenzubrechen, und seine Hosen, Hemden, Jacken und Jeans purzelten auf den Fußboden. Er fluchte.

»Warum ausgerechnet jetzt?«, rief er. »Warum jetzt, verdammte Scheiße?«

»Sie muss repariert werden.«

»Ich kann sie jetzt nicht reparieren!«

»Ich meine nicht jetzt, bloß irgendwann.«

Er tat Melissa leid, als er auf das große Bett zukam, genervt von den Holzböden, die unter seinen Füßen knarzten. Ihm widerstrebte das Chaos aus Kleidern dort, der ungeordnete Haufen, der bis zum nächsten Morgen dort liegen bleiben würde, aber er war mit den Gedanken woanders und wütend und würde nicht zulassen, dass ein Schrank, eine angebliche Maus oder ein kalter Luftzug ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Nackt bis auf die Unterhose, die er früher am Abend bewusst ausgewählt hatte, weil sie eng anlag und schmeichelhaft war, hob er die Decke auf seiner Seite des Betts an, schob sich darunter und neben sie. Die Stimmung war ruiniert, das spürten sie beide, es würde lange dauern, sie wieder in Gang zu bringen, und jetzt war es schon so spät, die Vögel zwitscherten tatsächlich, doch noch hatte er nicht alle Hoffnung fahrenlassen.

»Komm her«, sagte er und schnupperte an ihrem Hals. Bis vor etwa sieben Jahren hatte ihr Hals nach Hühnchen gerochen. Jetzt duftete er nur nach ihrer Sheabutter. Trotzdem roch er daran, beschnupperte sie, pikste sie mit seinen Bartstoppeln. Sie kratzte sich. Er versuchte, ihr Kratzen zu ignorieren. Sie wandte den Hals katzenartig von ihm ab, und er arbeitete sich weiter nach unten vor, in die Nähe ihrer zum Stillen bestimmten Brüste, an denen er nicht ernsthaft saugen konnte, wenn er noch einen Funken Selbstrespekt besaß, aber zur Hölle damit.

»Mir wäre lieber, du würdest das lassen«, sagte sie.

Sie spürte ihn hart an ihrem Bein und verwünschte das Gefühl der Verpflichtung, darauf eingehen zu müssen. Ihr war gerade einfach nicht danach. Und sie störte nicht nur, dass er beschlossen hatte, an ihren Milchreserven zu saugen, sondern auch, dass er mit der linken Brust angefangen hatte. Er fing immer mit der linken an. Die Monotonie, die Trägheit und die mangelnde Abenteuerlust bedrückten sie.

»Ich bin müde, Michael.«

»Ach nein, sei nicht müde«, sagte er.

Sie legte sich zurück, schlang ihm schlaff den Arm um den Nacken. Er küsste ihren Bauch. Aber er spürte, wie sie sich von ihm zurückzog. Sie war nicht bei ihm. Er bemühte sich noch eine Weile, sie für sich zu gewinnen, doch da er keine Lust hatte, beim Lieben allein zu sein, gab er sich schließlich geschlagen. Nein, heute Nacht würde es keine Liebe geben. Er ließ seine Hände ruhen und driftete bekümmert ab. Über Bell Green kreiste ein Hubschrauber am Himmel. Eine einsame Sirene heulte vorbei. Auf der weiten Rasenfläche am Ende der Westwood Hill ragte rot leuchtend der Crystal Tower empor.

Der Palast stand nicht mehr. Er war 1936 nach seinem langen, stetigen Niedergang abgebrannt.

2Damian

»Damian?«, rief Stephanie vom Treppenabsatz herunter. »Weißt du, wo das violette Spannbettlaken ist?«

Damian war in der Küche, trug seinen Schlafanzug und Morgenmantel, in dessen Tasche eine einzelne schüttere Marlboro Light steckte, die er vor etwa einer Viertelstunde mit nichtraucheruntypischer Begeisterung ganz hinten in dem Schrank mit den Vasen über dem Kühlschrank entdeckt hatte. Er war kurz davor, sie zu rauchen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es nach elfmonatiger Abstinenz in Ordnung sei. Noch immer bereute er zutiefst, dass er damals, als er am Silvesterabend das Rauchen aufgegeben hatte, nicht bewusst DIEENDGÜLTIGLETZTE geraucht hatte. Er war zu betrunken gewesen. Die einzige Art, sich von dieser schlechten und teuren Angewohnheit zu befreien, sah er darin, tonnenweise Zigaretten zu rauchen, bis einem schlecht wurde, was er getan hatte, und dann feierlich die Letzte zu rauchen, mit würdevoller, wehklagender Konzentration, daraus Kraft und Entschlossenheit zu schöpfen, um mit dem letzten Zug einen abschließenden Punkt zu setzen, was er nicht getan hatte. Es hatte keinen Abschied gegeben, keine Verbeugung, keinen finalen Nikotin-Vorhang, und das stand seinem Leben als Nichtraucher im Weg. Also würde er sich jetzt diese Allerletzte genehmigen. Es war so vorherbestimmt. Sie hatte die ganze Zeit hinter den Vasen auf ihn gewartet, auf einen Morgen wie diesen, an dem er verzweifelt, bedürftig, schwach und deprimiert aufwachen würde. Das einzige Problem bestand darin, dass er nichts zum Anzünden hatte. Nach ausgiebiger, gieriger und gereizter Suche hatte er beschlossen, dass er sie am Herd entzünden würde (riskant), und gerade die Hintertür geöffnet, damit seiner Flucht in den Garten nichts im Wege stand. Draußen regnete es, aber das konnte ihn nicht abschrecken.

»Damian?«

Äußerst widerwillig ging er in die entgegengesetzte Richtung zum Flur, steckte die Marlboro zurück in die Tasche, tätschelte sie aber weiterhin. Warum musste Stephanie ausgerechnet in diesem Moment nach einem Bettlaken fragen? Warum hatte er sie geheiratet? Warum wohnte er am Stadtrand von Dorking?

»Was?«, blaffte er.

Stephanie stand in ihrem Samstagvormittags-Putz-Outfit oben an der Treppe: Jogginghose, ein I LOVEMADRID-T-Shirt ohne BH darunter, ein marineblau-weißes Kopftuch, aus dem schüttere kastanienbraune Strähnen herausragten, Mokassins und kein Make-up. In Momenten wie diesem fiel ihm häufig auf, wie bereitwillig sie ihrem eigenen Verfall in die Hände spielte, und kurz durchzuckte ihn aus einem unerfindlichen Grund der Gedanke, überrumpelte ihn geradezu, dass Melissa beim Putzen ihres Hauses vermutlich Lipgloss trug, vielleicht hübsche Ohrringe oder ein nettes Top, und sollte Michael ihr in derartiger Aufmachung begegnen, verspürte er wahrscheinlich eine köstliche, anhaltende Genugtuung.

»Ich habe letzte Woche bei BHS ein violettes Bettlaken gekauft und es in die Truhe geräumt, und jetzt ist es weg«, sagte sie. »Es war ein Spannbettlaken. Es passt sich den Ecken der Matratze dank eines cleveren Gummibandsystems an, damit ich mir beim Umschlagen der Lakenenden nicht den Rücken brechen muss.« Ihr verdrießlicher Tonfall war mehreren Faktoren geschuldet: Erstens missfiel ihr sein Ton, und es ärgerte sie, dass er ihr das Gefühl gab, ein Quälgeist zu sein, während sie der allgemeinen und notwendigen Instandhaltung ihres häuslichen Lebens nachging. Zweitens war dieser Ton bezeichnend für sein generelles Verhalten ihr gegenüber – Gereiztheit, Gleichgültigkeit, beinahe Missachtung –, was, so gestand sie sich ein, vermutlich mit dem kürzlichen Tod seines Vaters zusammenhing. Die Beerdigung war erst einen Monat her. Sie versuchte, geduldig und verständnisvoll zu sein, aber allmählich zerrte es an ihren Nerven, wie er im Haus Trübsal blies, die Kinder kaum beachtete und absichtlich viel früher als sie ins Bett ging und früher aufstand, wie beispielsweise letzten Abend und heute Morgen, um jeglicher Kommunikation aus dem Weg zu gehen, und dass er, wenn sie ihn fragte, was los sei und ob er darüber reden wolle, nur sagte, es ginge ihm gut, obwohl das ganz offensichtlich nicht der Fall war. Drittens hasste sie es, wenn jemand Sachen woandershin räumte, ohne es ihr zu sagen. Und viertens hasste sie es wirklich, Bettlakenenden umzuschlagen, insbesondere unter ihre übertrieben schwere Matratze, die Damian unbedingt hatte kaufen wollen, weil sie billiger gewesen war als die viskoelastische, die sie lieber gehabt hätte. Sie tauschte derzeit schrittweise sämtliche Bettlaken aus; bald würden alle Matratzen im Haus nur noch mit Spannbettlaken bezogen sein, und wenn sie sich in dem Bemühen, diese kleine Utopie zu verwirklichen, anblaffen lassen musste, dann hatte sie, so leid es ihr tat, kein Mitgefühl mit ihm, vaterlos hin oder her.

»Ich habe kein violettes Laken gesehen«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst.«

»Dieses Haus«, sagte Stephanie bissig, hob den Arm und deutete mit einer ausladenden Geste auf ihre Zimmerdecken, Wände, Schränke, chemikalienfreien PVC-Fenster, die großzügige Rasenfläche und die Surrey Hills dahinter, »ist ein gemeinsamer Wohnraum, Damian. Weißt du, was das bedeutet? Das heißt: Wir wohnen hier alle zusammen, du und ich und unsere Kinder. Du hast drei davon. Sie heißen Jerry, Avril und Summer. Mein Name ist Stephanie, und wir sind verheiratet, und Ehepaare reden miteinander und erzählen sich gegenseitig von ihren Problemen, wenn sie etwas bedrückt.« Während sie mit ihrer Rede fortfuhr, spürte Stephanie, wie aufgebracht sie war. Ihren Sarkasmus hatte sie sich bei ihrer älteren Schwester Charlotte abgeguckt, die sich während der Pubertät hitzige Wortgefechte mit ihrer Mutter geliefert hatte, und erst nach der Hochzeit mit Damian, war ihr klar geworden, dass sie selbst einen ausgeprägteren Hang dazu besaß als gedacht. Aber es war nicht der passende Tonfall für ihn. Es klang zu boshaft. Damian blickte mit traurigem, feindseligem, leicht verdattertem Gesichtsausdruck zu ihr auf. Er tat ihr leid, doch sie fuhr trotzdem fort: »Und sollte dich etwas bedrücken, und ich weiß, dass dem so ist, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, es auszuspucken und dich an meiner Schulter auszuweinen, werter Herr, denn wenn du weiterhin so trübsinnig durchs Haus schlurfst, werde ich wahnsinnig. Es ist hart, einen Elternteil zu verlieren. Ich weiß das. Ich weiß, dass ich mich genauso fühlen werde, wenn mein Dad … also, ich will nicht einmal darüber nachdenken, aber … Ach, Damian, ich wünschte einfach, du würdest mit mir reden!«

Jetzt weinte sie, nicht laut schluchzend, das hätte nicht zu ihr gepasst, aber ihr standen die Tränen in den Augen, und ihre Schultern hingen flehend herab. Damian spürte, dass er sie trösten sollte, was ihn noch wütender machte. Er dachte immer noch an die Marlboro, konnte den Augenblick, in dem