Lexikon der Gestalttherapie - Stefan Blankertz - E-Book

Lexikon der Gestalttherapie E-Book

Stefan Blankertz

5,0

Beschreibung

Das »Lexikon der Gestalttherapie« beschreibt in übersichtlicher und leicht zugänglicher Form die gestalttherapeutischen Fachbegriffe (u.a. Aggression, Deflektion, Introjektion, Konfluenz, Kontakt, Projektion, Retroflektion, Selbst). Es stellt die Ideen und das Leben der Begründer (Fritz Perls, Laura Perls und Paul Goodman) sowie die Weiterentwicklung der Gestalttherapie bis heute dar. Außerdem beleuchtet es die vielfältigen Wurzeln der Gestalttherapie wie Gestaltpsychologie, Psychoanalyse, Phänomenologie, Existenzialismus, Holismus, Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Martin Buber usw. Dieses Lexikon ist die erste lexikalisch-systematische Aufarbeitung der Gestalttherapie und ein unverzichtbares Hilfsmittel für jeden, der sich mit den Erkenntnissen dieses Therapieansatzes beschäftigen möchte.

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Erhard Doubrawa (links) und Stefan Blankertz (rechts), 1999

Stefan Blankertz ist Sozialwissenschaftler und Schriftsteller. Seit 1972 beschäftigt er sich mit Paul Goodman und der Gestalttherapie. In der GIK-Reihe sind u. a. erschienen: »Gestalt begreifen: Ein Arbeitsbuch zur Theorie der Gestalttherapie« (1996, 4. überarbeitete Auflage 2012), »Verteidigung der Aggression: Gestalttherapie als Praxis der Befreiung« (2010), »Gestalt Essentials: Das Wichtigste aus dem Grundlagenwerk von Perls, Hefferline und Goodman« (2012).

Erhard Doubrawa ist seit vielen Jahren als Gestalttherapeut und Ausbilder tätig. Er ist Gründer und Leiter der »GIK Gestalt-Institute Köln und Kassel«. In seiner privaten Praxis in Kassel arbeitet er mit Einzelnen, Paaren und Gruppen – auch als Supervisior und Coach. Er gibt die Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« heraus und ediert die GIK-Buchreihe zur Gestalttherapie. Von ihm erschien u. a. »Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie«.

Zusammen haben sie den Bestseller »Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen« (Peter Hammer Verlag) verfasst.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Künstlerin des Covers: Georgia von Schlieffen

Quellen

Kapitel A

Kapitel B

Kapitel C

Kapitel D

Kapitel E

Kapitel F

Kapitel G

Kapitel H

Kapitel I

Kapitel J

Kapitel K

Kapitel L

Kapitel M

Kapitel N

Kapitel O

Kapitel P

Kapitel R

Kapitel S

Kapitel T

Kapitel U

Kapitel V

Kapitel W

Kapitel Z

Literatur

Vorwort

Gestalttherapie ist ein bewährter, verbreiteter und beachteter therapeutischer Ansatz. Ein halbes Jahrhundert nach seiner Begründung wird hier zum ersten Mal die Gestalttherapie in lexikalischer Form dargestellt.

Was sind die zentralen Konzepte und Begriffe der Gestalttherapie?

Welche Haltung zeichnet die Gestalttherapie aus?

Welche Arbeitsfelder der Gestalttherapie gibt es?

Und wie arbeitet ein Gestalttherapeut?

Wer waren die Begründer (Mutter und Väter) – Laura Perls, Fritz Perls und Paul Goodman?

Wer ihre ersten Schüler?

Wer waren die (geistigen) »Großeltern« der Gestalttherapie – Martin Buber, Sigmund Freud, Wilhelm Reich?

Wie verhält sich die Gestalttherapie zu den immer wieder zitierten Grundlagen Gestaltpsychologie, Psychoanalyse, Systemtheorie, Holismus, Phänomenologie und Existenzialismus?

Dieses Lexikon beschreibt übersichtlich und verständlich die Fachbegriffe der Gestalttherapie, stellt die Standpunkte der Begründer ebenso dar wie diejenigen von Weiterentwicklern und heutigen Autoren. Außerdem werden die vielfältigen Wurzeln und Einflüsse aufgezeigt. Damit ist es ein unverzichtbares Hilfsmittel für jeden, der sich mit dem Erkenntnisreichtum dieses bedeutenden Therapieansatzes beschäftigen möchte.

Das »Lexikon der Gestalttherapie« ist auch eine Frucht unserer Arbeit am Gestalt-Institut Köln / GIK Bildungswerkstatt. Die Wurzeln unserer gestalttherapeutischen Tätigkeit mit Einzelnen und Gruppen sowie unserer Aus- und Weiterbildung von Gestalttherapeuten reichen nun schon mehr als ein viertel Jahrhundert zurück.

Wir wünschen uns, dass das Lexikon vielen Lesern eine beständige Hilfe und Unterstützung bei der Beschäftigung mit der Gestalttherapie sein möge.

Köln, im Februar 2005

Anke Doubrawa, Gestalttherapeutin

Zur Künstlerin des Covers

GEORGIA VON SCHLIEFFEN

Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit im Bereich Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«

Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen« sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.

Bitte besuchen Sie die Seite der Künstlerin auf theartstack.com oder verbinden Sie sich auf linkedin.com mit ihr.

Quellen

Das nach wie vor zentrale Werk der Gestalttherapie ist das unter eben diesem schlichten Titel 1951 veröffentlichte Buch, als dessen Autoren Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman gemeinsam zeichneten. Es ist eine schier unerschöpfliche Quelle für theoretische Anregungen und praktische Einsichten. Der Autor des Textes ist, wie heute unzweifelhaft feststeht, Paul Goodman. Die Experimente des ersten Teils (in der deutschen Ausgabe der Band »Praxis«) hat Ralph Hefferline durchgeführt. Im zweiten Teil (in der deutschen Ausgabe Band »Grundlagen«) sind unzählige Ideen und Einflüsse von Fritz und Laura Perls enthalten. Wir haben uns entschlossen, dennoch den Text mit der von den Autoren, einschließlich von Laura Perls, gewollten Firmierung »Perls, Hefferline, Goodman« (PHG) zu zitieren.

Um die Stichwörter nicht mit langen und meist gleichen Literaturangaben zu befrachten, zitieren wir oft nur Kurztitel. Die vollständigen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Lexikons. Um eine zeitlich korrekte Einordnung der Texte zu ermöglichen, setzen wir immer das Jahr der Entstehung bzw. Publikation ein, nicht das Erscheinungsjahr der zitierten (eventuell neueren) Ausgaben. Auf umständliche Abkürzungen jedoch haben wir bis auf »PHG« für Perls, Hefferline, Goodman und ihr Grundlagenwerk »Gestalttherapie« weitgehend verzichtet.

Als Vorarbeiten zu dem Lexikon sind unsere Bücher »Gestalt begreifen« (Blankertz, 1996), »Einladung zur Gestalttherapie« (Doubrawa/Blankertz, 2000), »Seele berühren« (Doubrawa, 2002), »Und … was ist nun eigentlich Gestalttherapie?« (Blankertz / Doubrawa, Nachwort zu: Fritz Perls, Was ist Gestalttherapie? [1969], Wuppertal 2004) sowie eine Reihe z. T. gemeinsamer Beiträge für die Zeitschrift »Gestaltkritik« anzusehen.

Eine nützliche Hilfe ist »Siebenmal Perls auf einen Streich« (Jeanette von Bialy und Helmut Volk-von Bialy, Paderborn 1998). Das Buch beschränkt sich jedoch ausschließlich auf die Verschlagwortung von Fritz Perls’ Äußerungen und lässt den Leser überdies mit dessen sprunghafter und z. T. widersprüchlicher Argumentation allein. Das Buch »Gestalttherapie« (1951) wird dabei zitiert, als sei es von Fritz Perls verfasst. Frühe und späte Äußerungen von Fritz Perls werden weder chronologisch noch systematisch geordnet.

Das »Handbuch der Gestalttherapie« (Fuhr, Sreckovic, Gremmler-Fuhr, Göttingen 1999 und 2001) enthält viele Anregungen. Ähnliches gilt für die Gesamtdarstellungen von Lotte Hartmann-Kottek (Berlin 2004) und Markus Hochgerner u. a. (Hg., Wien 2004). Das Ziel des Lexikons besteht allerdings darin, dass sich die Leser zu zentralen Stichworten der Gestalttherapie auf komfortable Weise einen gründlichen Überblick verschaffen können.

Verstreute Bemerkungen zur Etymologie, besonders von Fritz Perls (bei ihm oft recht ungenau), haben uns dazu inspiriert, auch auf die Wortbedeutungen und ihre Herkunft Acht zu geben. Bei wichtigen Begriffen ist die Herleitung und der Bedeutungsumfang dargestellt. Dadurch wird ein tieferes Verständnis ermöglicht. Oder war Ihnen bewusst, dass das Wort »Gegenwart« ursprünglich die direkte Konfrontation mit dem Gegner bedeutete? Gibt es eine poetische Bestätigung für die gestalttherapeutische Auffassung von »Aggression«?

Hilfsmittel zur Aufdeckung der Etymologie waren vor allem das »Deutsche Wörterbuch« der Gebrüder Grimm (1852ff), Friedrich Kluges »Etymologisches Wörterbuch der deuschen Sprache« (1883 u. ö.), Karl Ernst Georges »Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch« (1913), Matthias Lexers »Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch« (1879 / 1992), Lorenz Diefenbachs »Glossarium Latino-Germanicum« (1857) sowie der »Schülerduden: Wortgeschichte« (Mannheim 1987).

Wir hoffen, dass das Lexikon für die an der Gestalttherapie Interessenten, seien es Berater, Coaches, Erwachsenen- und Weiterbildner, Klienten, Personaltrainer, Sozialarbeiter, Studenten der Psychologie und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, Supervisoren, Theologen, Therapeuten oder Trainees, einen hohen Gebrauchswert realisiert.

Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa

Hinweise

In diesem Lexikon verwenden wir die grammatikalisch männliche Form gleichermaßen für Männer und Frauen.

Aus historischen Gründen wird dort, wo ältere Texte zitiert werden bzw. von früheren Therapeuten (Freud, Adler usw.) die Rede ist, vom »Patienten« (anstatt des heute üblichen »Klienten«) gesprochen.

Dies ist weder ein Handbuch der »Krankheitsbilder« (Psychose, Borderline, Magersucht etc.) noch eins der Therapiemethoden bzw. -techniken.

Die Literaturangaben bei den Stichworten bedeuten

nicht,

dass in den aufgeführten Schriften stets unser Standpunkt vertreten wird.

Kritik ist Würdigung (das bzw. der Kritisierte ist würdig, des Nach- und Weiterdenkens), nicht Herabwürdigung oder Abwertung. Kritische Bemerkungen in diesem Lexikon über Autoren, Theorien, Thesen oder Ideen sind in dieser Weise gedacht.

Wir haben darauf verzichtet, zeitgenössische lebende Autoren als Stichworte aufzunehmen.

Zitate sind der Einheitlichkeit wegen in die neue deutsche Rechtschreibung überführt worden.

Abreaktion

SIEHE Ausagieren

Abwehrmechanismus

SIEHE Widerstand

Achtsamkeit

ETYMOLOGIE: Die auf den indogermanischen Stamm »ok« (nachdenken) zurückgehenden Worte bewegen sich in den Bedeutungsfeldern »nachdenken«, »beachten«, »beraten«, »schätzen«, »bedenken« und »zaudern«.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Achtsamkeit ist eine wichtige Haltung des Gestalttherapeuten, die aus dem dialogischen Gedanken Martin Bubers und aus dem phänomenologischen Ansatz entspringt. Sie schließt ein, dass der Therapeut dem Klienten mit Umsicht und Aufmerksamkeit begegnet sowie ihn als gleichberechtigten Gesprächspartner ernst nimmt.

Die zunächst so selbstverständlich klingende Haltung der Achtsamkeit hilft, zwei Gefahren in der Psychotherapie zu vermeiden: Erstens die Gefahr, dem Klienten vorgefertigte Meinungen, Muster, Erklärungen, Normen, Interpretationen, Hypothesen, Wertungen usw. zu überstülpen. Anstatt dessen achtet der Therapeut sehr genau auf das, was in der Begegnung mit der einzigartigen Person des Gegenübers geschieht.

Zweitens die Gefahr, dem Klienten aufgrund des Wunsches, helfen zu wollen, sein Problembewusstsein (Schuld, Trauer, Versagen etc.) »auszureden« (»reframing«). Auch das Leid will geachtet werden.

Achtsamkeit ist präziser als die älteren Forderungen nach Einfühlsamkeit oder Empathie. Denn die Empathie kann leicht in Projektion umschlagen. Die Behauptung, ein Therapeut könne sich in den Klienten »einfühlen«, ist bisweilen eine Anmaßung. Woher weiß der Therapeut, wie sich der Klient fühlt? Wie jeder Mensch kann auch der Therapeut nur sich selbst fühlen.

LITERATUR: Leonardo Boff, Die Logik des Herzens: Wege zu neuer Achtsamkeit, Düsseldorf 1999.

SIEHE AUCH: Buber, Martin; Frustration; Gewahrsein; Haltung; Intervention; Phänomenologie; Projektion; Wohlwollen; Würdigung

Adler, Alfred

LEBENSDATEN: Geboren 1870 in Penzing (heute zu Wien) gestorben 1937 in Aberdeen (Schottland), Augenarzt, Internist, Psychiater, Psychologe. Seit 1902 arbeitete Adler mit Sigmund Freud zusammen, überwarf sich jedoch 1911 mit ihm und begründete in Abgrenzung zu Freuds Psychoanalyse die »Individualpsychologie«. Im Gegensatz zu Freud vertrat Adler die These, dass nicht die Störung der kindlichen Sexualität, sondern der »Minderwertigkeitskomplex«, die Erfahrung des Kindes als »Zwerg unter Riesen«, das Zentrum der Neurose darstelle.

Neben dem Begriff »Minderwertigkeitskomplex« prägte Adler weitere in die Alltagspsychologie eingegangene Wendungen wie Gemeinschaftsgefühl, Lebensstil, Überkompensation, Körpersprache sowie Aggressionstrieb und Geltungsstreben. In einem übersteigerten »Geltungsstreben« bzw. dem »Wille zur Macht« sah Adler die Ursache für viele psychische Probleme.

HAUPTWERKE: »Studie über die Minderwertigkeit von Organen« (1907), »Über den nervösen Charakter« (1912), »Menschenkenntnis« (1927) und »The Pattern of Life« (1930).

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Entgegen dessen, was die Eigenbezeichnung »Individualpsychologie« vermuten lässt, betonte Adler die Bedeutung des sozialen Zusammenhanges bei der Entstehung psychischer Probleme und sah in Neurosen eine subjektiv funktionelle Antwort auf gesellschaftliche Störeinflüsse. Diese These hat die Gestalttherapie aufgegriffen und systematisiert. Auch durch die Überwindung der Vorstellung, allein Sexualprobleme seien die Ursache von Neurosen, bereitete Adler eine ganzheitlichere Sicht der therapeutischen Arbeit vor.

Eine oft übersehene Verbindung zwischen Adler und der Gestalttherapie erwuchs aus seiner Aufmerksamkeit für die »Körpersprache«. So mussten sich zum Beispiel seine Patienten nicht wie bei Sigmund Freud auf eine Couch legen, sondern saßen, wie er selbst, gleichberechtigt auf einem Stuhl. Beispielsweise setzte sich Adler zu Füßen eines Kindes, damit es sich nicht so klein vorkam und seine Angst verlor.

Ein scharfer Gegensatz zwischen Gestalttherapie und Adlers Individualpsychologie ergibt sich allerdings hinsichtlich des Aggressionsbegriffs, der bei Adler negativ, in der Gestalttherapie positiv gefüllt wird.

WÜRDIGUNG: Erving und Miriam Polster schreiben in ihrem Buch »Gestalttherapie« (1975), in welcher Hinsicht sie an Adler anknüpfen: »Adlers Konzepte des Lebensstils und des kreativen Selbst postulierten die einzigartige und aktive Teilnahme jedes Individuums, das – im Laufe seiner persönlichen Evolution – seine eigene spezifische Natur formt. Er beschrieb den Menschen als bewussten Schöpfer seines eigenen Lebens, der sich sogar Fiktionen schaffte, durch die seine Handlungen gelenkt wurden. […] Auch wir glauben, dass der Mensch sich selbst erschafft. Die größte Energie für diese prometheische Anstrengung entstammt seiner Bewusstheit und dem Akzeptieren seines Selbst, wie er gegenwärtig ist« (S. 298).

Perls, Hefferline, Goodman (Gestalttherapie, Band »Praxis«, 1951) dagegen kritisieren die Abwendung der Adlerischen Therapie von der Gegenwart. Zwar würde sie sich nicht wie die Psychoanalyse in die Vergangenheit flüchten, doch sei es therapeutisch gesehen ebenso falsch, sich stattdessen auf die Zukunft zu fixieren:

»Adler, im Gegensatz zu Freud, bestärke seine Patienten in einer Hinwendung zur Zukunft. Er verlangte, dass der Patient eingehend über seinen Plan für das Leben sprach, über seine Aussichten, Ambitionen und höchsten Ziele. Ein solches Verfahren verschlimmert noch, was ohnehin schon der allgemeinen Neigung entspricht, nämlich, dass man versucht, wie unmöglich das auch ist, dem Gegenwärtigen immer einen Schritt voraus zu sein. Menschen, die so in der Zukunft leben, holen niemals die Ereignisse ein, auf die sie sich vorbereitet, und ernten nie, was sie gesäht haben. Selbst für das unwichtigste Gespräch studieren sie ihren Part vorher ein und können dann nichts mehr spontan tun, wenn es soweit ist« (S. 58).

SIEHE AUCH: Aggression; Freud, Sigmund; Gegenwart; Psychoanalyse

Aggression

ETYMOLOGIE: Das Wort entstand im 18. Jahrhundert aus dem lateinischen »aggressio«. »Aggressio« setzt sich aus »gressio« (Schreiten, Schritt, Gehen) und der Vorsilbe »ad« (heran) zusammen und bedeutete »Angriff« gewaltsamer Art, wurde aber auch im übertragenen Sinne als »Angriff durch Rede« verwendet; in der Diskussion hieß es »Schlussfolgerung«; das dazugehörige Verb »aggredior« (ad-gredior) stand sowohl dafür, sich friedlich als auch sich feindlich zu nähern (einem Menschen oder einer Sache).

VERWENDUNG IN DER GESTALTTHERAPIE: In der Gestalttherapie ist die Aggression ein positiver Begriff für die Fähigkeit, die Umwelt an sich selbst anzupassen; erst die Unterdrückung der Aggression führt zu individueller und kollektiver Destruktivität – also zu ungerichteter, ziellos gewordener negativer Aggression. Der positive Sinn von Aggression, der ihre Unterdrückung eher problematisch werden lässt, besteht für die Gestalttherapie in drei Punkten:

Aggression beseitigt ein abgelehntes Objekt aus dem Organismus / Umwelt-Feld. Sie ist eine Abwehrreaktion auf Schmerz, auf das Eindringen von Fremdkörpern oder auf Gefahr.

Aggression zerstört eine überlebte Konstellation: Sie hat sich in der aktuellen Situation als hinderlich oder störend erwiesen. Durch die Zerstörung einer solchen Konstellation wird z.B. abgerissener Kontakt oder unterbrochene Kommunikation zwischen Konfliktparteien wieder hergestellt.

Aggression löst einen Konflikt, indem etwas Neues an die Stelle des Bestehenden gesetzt wird, das dem fehlbaren Urteil der Handelnden nach besser ist als das Bestehende.

Das Wesen der Aggression besteht darin, dass sie nicht nach sinnloser Entladung (Destruktivität) sucht, sondern nach sinnvollem, zielgerichteten Einsatz. Erst die Unterdrückung der zielgerichteten Aggression führt zu Destruktivität. Während die zielgerichtete Aggression mit der Erreichung (meist sogar mit der Nichterreichung!) des Ziels beendet ist, kann die nicht-zielgerichtete Aggression prinzipiell nie zum Sieg oder zur Befriedigung führen und dehnt sich darum unendlich aus: Sie kann nicht als »Gestalt« abgeschlossen werden.

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE: Angeregt durch die Untersuchungen seiner Frau Laura zum problematischen Übergang von der Flüssignahrung zur zerkauten Nahrung bei Kleinkindern hat Fritz Perls in seinem ersten Buch »Ego, Hunger, and Aggression« (1944, dt. »Das Ich, der Hunger und die Aggression«) geschlussfolgert: »Je mehr wir uns erlauben, Grausamkeit und Zerstörungslust am biologisch richtigen Ort – d. h. den Zähnen – auszuleben, desto geringer ist die Gefahr, dass die Aggression als Charakterzug ihr Ventil findet« (S. 234).

Schon 1939 äußerte Laura Perls diesen Gedanken in einem Vortrag zur Friedenserziehung, gehalten in Johannesburg: »Die Verdrängung der individuellen Aggression [führt] unweigerlich zu einem Anstieg der universellen Aggression« (in: Leben an der Grenze, S. 14f).

Paul Goodman entwickelte in den 1940er Jahren ähnliche Vorstellungen mit einer anderen Begrifflichkeit (»gesunde Gewalt«):

»Je höher entwickelt die Ablenkungen sind, die das Ich verlangt, um so mehr verstärken sich die Abwehr und die Rationalisierungen gegen die Instinkte. Auf diese Weise wird die Spannung um so größer, wird die tägliche Unbewusstheit um so suggestiver und hypnotischer, wird die Selbstzerstörung um so unvermeidbarer. Die Rebellion der Instinkte gegen die oberflächlichen Ablenkungen des Ich ist eine gesunde Reaktion: Es ist eine gesunde Art der Gewalt, darauf berechnet, nicht den Organismus zu zerstören, sondern ihn von Leerheit zu befreien. Vom Ich könnte allerdings dieses Verlangen nach ›Bersten‹ (Wilhelm Reich) als Verlangen nach Selbstmord gedeutet werden« (zit. n. Drawing the Line, Ausg. v. 1977, S. 34).

In dem Buch »Gestalttherapie« (PHG, Band »Grundlagen«, 1951) wurden diese Ansätze dann zu einer psychotherapeutischen und sozialkritischen Theorie ausformuliert (besonders in den Kapiteln 8 und 9).

FUNKTION: Die Grundstruktur des aggressiven Kontaktes sieht nach Perls, Hefferline, Goodman (ebd.) folgendermaßen aus:

1. Initiative setzt den Inhalt: etwas muss sich nach Ansicht des Handelnden ändern, um ein (gutes) Weiterleben zu ermöglichen.

2. Die Aggression äußert sich in zwei »reinen« Formen, um den Inhalt, der aus der Initiative folgt, durchzusetzen:

2a. Vernichten: Beseitigen eines Objekts aus dem Organismus / Umwelt-Feld; Emotion: kalt und distanziert.

2b. Zerstören: Umgestalten eines Objekts im Organismus / Umwelt-Feld; Emotion: warm und lustvoll.

3. Wut ist eine Emotion, in der Vernichtungswille und Zerstörungslust zusammen kommen.

4. Initiative, Vernichten, Zerstören und Wut sind nötig, damit ein Organismus in einem schwierigen Umfeld existieren und auch gut leben kann.

5. Angst tritt auf, wenn die Kräfte, die sich der Initiative entgegenstellen, übermächtig werden. Damit schützt sich der Organismus vor aggressivem Kontakt in Situationen, in denen er Gefahr läuft, selbst vernichtet zu werden, wenn er seine Aggressivität äußert. Insofern hat auch die Angst eine natürliche und notwendige Funktion.

WÜRDIGUNG: Die positive Füllung des Wortes »Aggression« in der Gestalttherapie ist bis heute provokativ geblieben: Kann man Krieg, Gewalttäter oder Terror gutheißen?

Natürlich war das anders gemeint. Die gestalttherapeutische These zur Aggression sollte erklären, warum sinnvolle und zielgerichtete Aggression in mörderische und sinnlose Destruktivität umschlägt – in alltägliche Gewalt, in Terror und in Krieg. Gleichwohl entsteht durch die Umdeutung des Aggressionsbegriffs ein unpraktischer Widerspruch zur Alltagssprache. Es würde der gestalttherapeutischen Theorie nichts nehmen, wenn man statt »(positive) Aggression« einfach »Energie«, »Zorn« oder »Aktivität« sagte.

Auf jeden Fall aber bleibt festzuhalten: Die Umdeutung des Aggressionsbegriffs durch Perls und Goodman entspringt keiner Geringschätzung des Horrors von Gewalt und Krieg, sondern dem Wunsch nach einem lebensfähigen Frieden. Eine Befriedung, die auf Unterdrückung individueller Bedürfnisse und problemlösender Energie (Aggression) beruht, führt zwangsläufig zu einer sich ständig aufstauenden Unzufriedenheit, die sich periodisch in sinnlosen Gewaltexessen entläd.

Wir haben uns dazu entschieden, in dem gestalttherapeutischen Zusammenhang an dem Wort »Aggression« in der Umdeutung von Perls und Goodman festzuhalten, weil die Provokation heilsam sein kann. Die These lautet: Die Aktivität des Lebens schließt ein, dass der Organismus fremde Umweltmaterie »aggressiv« in »Eigenes« verwandelt. Für diesen Vorgang muss der Organismus Energie (Aggression) aufbringen. Trifft der Organismus hierbei auf Hindernisse, steigert er die Energie, oder er nimmt Schaden. Eine ständige Behinderung bzw. Unterdrückung des Ausdrucks der Energie, die dem Organismus schadet, ihn jedoch nicht tötet, führt zu einem Überleben auf einem niedrigen Niveau. Die Energie wird unaufhörlich gereizt, kann aber nicht in zielerreichende Ergebnisse umgesetzt werden. Dies macht krank oder destruktiv.

LITERATUR: George Bach, Krea-tive Aggression, in: Raymond J. Corsini (Hg.), Handbuch der Psychotherapie (1981), München 1987; Stefan Blankertz, Gestalt begreifen, Wuppertal 2003; Fritz Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression (1944), Stuttgart 1978; Fritz Perls, Ralph Hefferline, Paul Goodman, Gestalttherapie (1951), München 1980.

SIEHE AUCH: Adler, Alfred; Angst; Beißhemmung; From, Isadore; Goodman, Paul; Kontakt; Organismus / Umwelt-Feld; Perls, Fritz; Perls, Laura; Reich, Wilhelm; Sado-Masochismus

Anarchismus

ETYMOLOGIE: Das Wort »Anarchie« ist im 18. Jahrhundert aus dem altgriechischen »archein« (herrschen) mit der verneinenden Vorsilbe »an« gebildet worden.

DEFINITION: Unter »Anarchismus« werden politische Lehren und Bewegungen zusammengefasst, die sich radikal gegen die Herrschaft des Menschen über den Menschen wenden. In der Regel wird der Staat unabhängig von seiner Verfassung als zentrale Agentur dieser Herrschaft angesehen und bekämpft. Trotz großer Unterschiede in Details finden sich in allen anarchistischen Ansätzen als oberste Werte Autonomie, Freiheit und Toleranz sowie als Ideal der sozialen Ordnung Freiwilligkeit, Selbstbestimmung und Dezentralisation.

Die Identifizierung des Anarchismus mit Terrorismus dagegen ist weitgehend eine Fremdzuschreibung mit polemischer Absicht. Die meisten Anarchisten sehen in der Gewalt den prinzipiellen Gegensatz zur Freiwilligkeit und tendieren eher zu pazifistischen Vorstellungen.

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE: Der erste, der den Begriff »Anarchismus« zur Kennzeichnung seiner politischen Lehre verwendete, war der französische Revolutionär Pierre-Joseph Proudhon (1809 -1865). Er benutzte den Begriff, um sich sowohl gegen Monarchie und Diktatur abzugrenzen als auch gegen diejenige Opposition, die die sozialen und politische Probleme durch mehr Staat und Zentralismus lösen zu können meinte. So prägte Proudhon das Bonmot, er sei weder für die Monarchie noch für die Republik, sondern für die Anarchie.

Proudhon formulierte in vielerlei Hinsicht das Paradigma des Anarchismus, wie es noch heute gültig ist. Auf die Ökonomie von Adam Smith (1723 -1790) aufbauend, forderte er beim Liberalismus ein, nicht nur die Freiheit des Marktes, sondern auch die des sozialen Experiments zu gewähren. Proudhon selbst geriet in Konflikt mit dem Geldmonopol, als er ein Experiment mit einer »Volksbank« initiierte. Seiner Analyse nach ist das staatliche Geldmonopol keine ordnungspolitisch notwendige Institution, um den Markt zu ermöglichen, sondern ein Herrschaftsinstrument, um Privilegien gegen den Markt zu verteidigen.

Die vielfach missbräuchlich zitierte Formulierung Proudhons, »Eigentum ist Diebstahl«, bezieht sich auf diese Situation: Das Eigentum, das unter den Bedingungen staatlichen Eingreifens in den Markt gebildet wird, ist nach Proudhons Auffassung Diebstahl – nämlich Diebstahl an denjenigen Marktteilnehmern, die durch die Eingriffe geschädigt werden. Das sind Proudhon zufolge fast ausschließlich die Arbeiter, Bauern und andere benachteiligte Gruppen. Von der Analyse her unterscheidet sich Proudhon kaum von Manchester-Liberalen wie Richard Cobden (1804 -1865).

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Proudhon gelangte in den USA Joshia Warren (1798 -1874). Er war in verschiedenen von dem englischen sozialistischen Unternehmer Robert Owen (1771-1858) inspirierten Siedlungsbewegungen engagiert. Das Scheitern dieser Bewegungen schrieb Warren nicht Defekten des Marktes oder Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur zu, sondern den vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen.

Der nach wie vor bekannteste Anarchist ist der russische Revolutionär Michael Bakunin (1814 -1876). Den Theorien Proudhons fügte Bakunin kaum etwas hinzu, jedoch half er als führender Kopf der sozialistischen Arbeiterbewegung, den Anarchismus als politische Kraft besonders in Russland und Südeuropa zu initiieren. Bakunin bekämpfte das, was er als »autoritären Sozialismus« bezeichnete, und er sah in Karl Marx nicht den Retter, sondern den Verräter der Arbeiter.

Während Proudhon den Staat in seinen Institutionen analysierte, richtete Bakunin sein Augenmerk stärker auf die Psychologie der Herrschaft. Seine These lautete, jeder Mensch – eingeschlossen er selber – werde, wenn er denn Macht über andere zugesprochen bekäme, zu einem Tyrannen.

Nachdem der Anarchismus als politische Theorie und Bewegung von Proudhon und Bakunin begründet worden war, wurden auch eine Reihe von Autoren dieser Lehre zugeordnet, die sich nicht explizit als Anarchisten bezeichneten oder bezeichnet hatten, doch recht ähnliche Ansichten vertraten.

Hier sind besonders der Engländer William Godwin (1756 -1836), der Amerikaner Henry David Thoreau (1817-1862), der Deutsche Max Stirner (1806 -1856) und der Russe Leo Tolstoi (1828 -1910) zu nennen. Auch eine Reihe von radikalen Liberalen wie Thomas Jefferson (1743 - 1826), Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Herbert Spencer (1820 -1903) und – viel später – Ludwig von Mises (1881-1973) scheinen eher in die anarchistische Richtung zu gehören als in einen angepassten Liberalismus, der seinen Frieden mit dem National- oder gar Supranationalstaat geschlossen hat.

Die stärksten anarchistischen Bewegungen gab es zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland, im Schweizer Jura, in Spanien (und Lateinamerika), in Italien und in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Träger der Bewegung waren meist Handwerker, Bauern, Arbeiter (oft mit agrarischem Hintergrund), Flüchtlinge (Ostjuden und Italiener in England und in den USA), deren gemeinsames Kennzeichen nach dem amerikanischen anarchistischen Soziologen Paul Goodman darin bestand, Erfahrungen mit Arbeitsautonomie zu haben, die im Zuge der staatlichen Zentralisation bedroht oder zerstört wurde.

Im Anschluss an die Russische Revolution gelang in der Ukraine ein anarchistisches Experiment, bis es 1922 in der Zange von »weißen« und »roten« Truppen zerstört wurde. Auch das spanische anarchistische Experiment 1936 bis 1938 hielt gegen die faschistischen und kommunistischen Angriffe nicht stand. Der starke Einfluss des Anarchismus auf die zionistische Siedlungsbewegung (Gustav Landauer, Martin Buber) ist dem Terror arabischer und jüdischer Nationalisten zum Opfer gefallen.

In Europa bestand eine klare revolutionäre Konfrontation zwischen der anarchistischen Bewegung und den staatlichen Organen. Der amerikanische Anarchismus verstand sich dagegen als wahrer Erbe des liberalen Ideals der »Gründungsväter« und genießt bis heute Sympathie bis in höchste politische Kreise.

Während der Anarchismus in Europa nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr über nostalgische Ansätze hinausgegangen ist, hat es in den USA eine Fortentwicklung gegeben.

Einige Beispiele: Der Schriftsteller, Psychologe und Soziologe Paul Goodman (1911-1972) verband den Protest der 1960er Jahre gegen Vietnamkrieg und Zentralismus ebenso mit anarchistischen Klassikern – Peter Kropotkin und Voltairine de Cleyre – wie mit den liberalen Ursprüngen Amerikas.

Der deutsch-amerikanische Philosoph Paul K. Feyerabend (1924 - 1994) wendete sich gegen die seiner Meinung nach »stalinistischen« Methoden im Wissenschaftsbetrieb und forderte einen »erkenntnistheoretischen Anarchismus«.

Der Ökonom und Politiker Murray N. Rothbard (1927-1995), ein Schüler Ludwig von Mises’, vertrat seit den 1960er Jahren die Auffassung, dass der Liberalismus der amerikanischen Revolution besser im anarchistischen Ansatz von Benjamin Tucker als im gegenwärtigen politischen Establishment aufgehoben ist.

Die Feministin Wendy McElroy stellt den Individualismus als Grundlage der Frauenrechtsbewegung gegen kollektivistische Tendenzen.

Insgesamt begünstigt die Renaissance des klassischen Liberalismus in den angelsächsischen Ländern das Weiterleben anarchistischen Gedankenguts als Radikalisierung. Die Stärke des liberalen Erbes im gegenwärtigen Anarchismus hat dazu geführt, dass er meist unter dem Namen »Libertarianism« auftritt.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Die Verbindung zwischen Anarchismus und Gestalttherapie ergibt sich biographisch dadurch, dass einer ihrer Mitbegründer, Paul Goodman, zu den führenden anarchistischen Denkern des 20. Jahrhunderts zählte. Die immer stärkere Rezeption der Lehren des jüdischen Anarchisten Martin Bubers in der Gestalttherapie erneuert diesen Bezug. Der inhaltliche Bezug ist allerdings bedeutsamer.

Die gestalttherapeutische These, Neurosen seien die gesunde Reaktion auf eine kranke Umwelt, ist eine Provokation für die bestehende Gesellschaft. Obwohl der Gestalttherapeut dem einzelnen Menschen zu helfen versucht, soweit das geht, sieht er ein, dass die »eigentliche Heilung« nur eine »Therapie der Gesellschaft« (Blankertz) bringen würde; das heißt: Es geht wie in der Therapie mit einzelnen Klienten oder Gruppen nicht darum, fertige »Lösungen« als Ausweg aus politisch-gesellschaftlichen Missständen anzupreisen, sondern ein Feld zu schaffen, in welchem die Menschen die Probleme durch eigenes, selbstbestimmtes Handeln in ihrem Sinne (selbst!) beseitigen können.

Aus der gestalttherapeutischen Vorstellung vom Lebensprozess folgen einige Bedingungen, die eine Gesellschaft erfüllen müsste, wenn sie als nicht krankmachend eingestuft werden sollte:

Die Gesellschaft muss für die Initiative der einzelnen Menschen offen sein: Der einzelne Mensch muss Einfluss nehmen und seine Umwelt mitgestalten können. Die Gesellschaft muss Raum enthalten für die Konflikte (Aggressionen) der Menschen untereinander, in denen sie ihre Wünsche, Bedürfnisse, Ideen und Vorstellungen klären. Der einzelne Mensch sollte durch seine eigene Aktivität die Umwelt so gestalten können, dass sie dann zu ihm passt.

Die Gesellschaft darf also nicht mit starren Regeln überfrachtet sein. Die Macht, mit der sie ihre Regeln durchsetzt, darf nicht übermächtig sein (repressive Gesellschaft). Die Gesellschaft darf andererseits auch nicht den einzelnen Menschen behüten und daran hindern, Erfahrungen zu machen (bevormundende Gesellschaft) oder den einzelnen Menschen rundum versorgen, ohne dass er sich dafür anstrengen müsste (übertrieben fürsorgliche Gesellschaft).

Die politische Lehre, die offensichtlich gut zu diesen Bedingungen passt, ist der Anarchismus, also die Lehre von der herrschaftslosen Gesellschaft. Der Anarchismus bekämpft den Staat als Institution, die der Gesellschaft die Flexibilität nimmt, sich nach den Bedürfnissen der Menschen zu formen. Gleichwohl lehnt er nicht jede Form von Macht und Konflikt ab.

Durch die kollektive Zusammenballung der Macht im Staat, die sich im »Gewaltmonopol« ausdrückt, stattet der Staat alle seine Institutionen mit einer Überlegenheit aus, gegen die der einzelne Mensch hilflos ist. In der Hinsicht, wie der Staat dem einzelnen Menschen gegenübertritt, unterscheiden sich Demokratie und Diktatur nicht voneinander. Denn wenn der einzelne Mensch einer Regel unterworfen wird, die ihm nicht passt, ist es für die krankmachende Wirkung einerlei, ob diese Regel von einem Diktator oder von der demokratischen Mehrheit erlassen wurde.

Der Staat erzwingt den Beitrag für die Gemeinschaft, genannt »Steuern«, ohne Rücksicht darauf, ob der Steuerzahler mit der Gemeinschaft und der Verwendung seiner Mittel einverstanden ist. Mit diesen Steuern kann er dann seine Institutionen (Polizei, Armee, Justiz, Gefängnisse, Schulen und Universitäten, Aufsichtsbehörden, Beratungsstellen, Stadtwerke etc.) finanzieren, die nicht mehr auf die Zustimmung der einzelnen Menschen angewiesen sind.

Der Staat schafft einen gesetzlichen Rahmen für die Sicherheit und die soziale Absicherung, der unabhängig von der Akzeptanz der diesem Rahmen unterworfenen Menschen mit dem Gewaltmonopol durchgesetzt wird. In einigen Fällen sind diese Regeln offen repressiv (Prohibitionen, Pflichtversicherungen, Scheidungsrecht, Ladenschlussgesetz, Bauaufsicht etc.), in vielen Fällen werden sie jedoch von den Menschen durchaus als »Hilfe« (Schutz vor Kriminalität, Arbeits- und Mieterschutz, Kündigungsschutz, Sozialhilfe etc.) angesehen – aber es ist die Hilfe, die der patriarchalen Fürsorge entspricht, nicht die Hilfe, die sich freie und selbstverantwortliche Menschen gegenseitig gewähren.

Der Staat zwingt die einzelnen Menschen, bestimmte Leistungen, die er anbietet, abzunehmen, dazu gehören beispielsweise Bildung (durch Schulpflicht), Kranken- und Sozialversicherungen (durch Pflichtversicherung) sowie manchmal auch psychiatrische Versorgung (durch Zwangseinweisungen).

Aus der gestalttherapeutischen Kritik an der bestehenden Gesellschaft folgt, dass gegen diesen Staat nicht eine konkret ausgestaltete Utopie (also eine »Lösung«) gesetzt werden darf, wie es »besser« zu machen wäre – gerade die gewaltsame Festlegung der Gesellschaft auf eine Struktur ist ja das, was kritisiert wird. Vielmehr solle die Gesellschaft für die kreativen Lösungen der Menschen aufnahmefähig werden. Dies ist eben auch genau das Zentrum der anarchistischen Utopie. Auf der politischen Ebene ist der Anarchismus der Gestalttherapie eng verbunden mit der Konzeption des klassischen Liberalismus. Goodman zitiert gern die Bemerkung von Thomas Jefferson, eine gesunde Gesellschaft benötige alle 20 Jahre eine Revolution. Der gegenwärtige Liberalismus hat sich jedoch durch zu viele Kompromisse mit dem Staat unglaubwürdig gemacht.

Aber auch der Konservativismus hat eine große Bedeutung für die gestalttherapeutische Ausprägung des Anarchismus: Dinge, die gut sind, sollten nicht einfach verändert werden. Die Menschen sollen nicht zentral geplanten Veränderungen unterworfen werden, auch wenn die Planer meinen, dass dies für die Menschen »besser« sei. Dagegen bewahrt der gegenwärtige politische Konservativismus das Falsche: Er konzentriert sich darauf, den Staat zu erhalten anstelle der offenen Gesellschaft.

PAUL GOODMAN: »Historisch ist der Anarchismus die revolutionäre Politik der Handwerker und Bauern gewesen, die keinen Boss brauchen; der Arbeiter in gefährlichen Berufen wie z. B. Bergarbeiter und Holzfäller, die lernen, sich gegenseitig zu vertrauen; und von Aristokraten, die es sich ökonomisch leisten können, idealistisch zu sein. Der Anarchismus entsteht, wenn das System der Gesellschaft nicht moralisch, frei oder genossenschaftlich genug ist. […]

Die Möglichkeit einer anarchistischen Revolution – dezentralistisch, anti-polizeilich, anti-parteilich, antibürokratisch, organisiert von freiwilligen Zusammenschlüssen, und mit dem Hauptgewicht auf die Spontaneität der Basis – war immer erschreckend für die marxistischen Kommunisten und wurde von ihnen erbarmungslos unterdrückt. Marx schloss die anarchistischen Gewerkschaften aus der Internationalen Arbeiter-Assoziation aus; Lenin und Trotzky ermordeten die Anarchisten in der Ukraine und in Kronstadt; Stalin fiel ihnen im Spanischen Bürgerkrieg in den Rücken; Castro sperrt sie in Cuba ein und Gomulka in Polen.

Der Anarchismus ist auch nicht notwendig sozialistisch im Sinne der Forderung nach Sozialisierung. Das kommt drauf an. Korporierter Kapitalismus, Staatskapitalismus und Staatskommunismus sind alle inakzeptabel, weil sie die Leute ausbeuten und verorganisieren. Reiner Kommunismus im Sinne von freiwilliger Arbeit und freier Verteilung sagt vielen Anarchisten zu. Aber auch Adam Smiths Ökonomie ist in ihrer reinen Form anarchistisch und wurde zu seiner Zeit so genannt. Und ebenso klingt Jeffersons agrarische Auffassung anarchistisch, dass ein Mensch die Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse kontrollieren können muss, um frei von überwältigendem Druck zu sein.

Allen anarchistischen Gedanken unterliegt ein Verlangen nach bäuerlicher Unabhängigkeit, nach der Selbstverwaltung der Handwerkergilden und nach der Demokratie der mittelalterlichen Freien Städte. Natürlich ist es eine Frage, wie das alles unter den Bedingungen der modernen Technik und Urbanität errreicht werden kann. Meiner Meinung nach könnten wir viel weiter gehen, als es scheint, wenn wir unseren Blick auf Bescheidenheit und Freiheit richten anstatt auf täuschende ›Größe‹ und suburbanen›Überfluss‹. […]

In der anarchistischen Theorie heißt ›Revolution‹ der Moment, in welchem die Struktur der Autorität aufgebrochen wird, sodass sich freie Ordnung bilden kann. Das Ziel ist, der Freiheit neue Bereiche zu öffnen und diese zu verteidigen. In komplexen modernen Gesellschaften ist es vielleicht das Sicherste, dies schrittweise durchzuführen, um Chaos zu vermeiden, weil Chaos dazu neigt, Diktaturen hervorzurufen.

Den Marxisten bedeutet auf der anderen Seite ›Revolution‹ der Moment, in welchem ein neuer Staatsapparat die Macht ergreift und die Dinge in seinem Sinne regelt. Vom anarchistischen Standpunkt aus ist das ›Konterrevolution‹, da es eine neue Autorität gibt, der Widerstand zu leisten ist« (Paul Goodman, The Black Flag of Anarchism, 1968, in: ders., Drawing the Line, hg. v. Taylor Stoehr, 1977, S. 203ff).

»Für mich ist das Hauptprinzip des Anarchismus nicht Freiheit, sondern Autonomie, die Fähigkeit, etwas in Gang zu setzen und es auf die eigene Weise zu vollbringen – ohne Befehle von Herrschenden, die das anstehende Problem nicht kennen und die zur Verfügung stehenden Mittel nicht einschätzen können. In besonderen Fällen mag eine äußere Leitung notwendig sein, doch geht sie auf Kosten der Vitalität. Tätigkeiten sind anmutiger, kraftvoller und umsichtiger, wenn Bürokraten, Aufsichtspersonen, leitende Angestellte, Planer und Rektoren sich nicht einmischen. Sie haben die Tendenz, chronische Notsituationen zu schaffen, mit denen sie sich selbst notwendig machen. Im großen Ganzen ist, mittelfristig gesehen, der Einsatz von Herrschaft, um etwas zu bewerkstelligen, ineffizient. Äußere Herrschaft verhindert inneres Funktionieren. ›Die Seele bewegt sich selbst,‹ sagt Aristoteles [in ›Von der Seele‹].

Die Schwäche ›meiner‹ Art Anarchismus ist, dass das Verlangen nach Freiheit ein starkes Motiv politischen Wandels ist, während Autonomie ein solches Motiv nicht abgibt. Autonom handelnde Menschen verteidigen mit Eigensinn sich selbst, aber ihre Mittel sind wenig durchschlagend und bestehen hauptsächlich aus passivem Widerstand.

Die Leidenschaft der Unterdrückten schließt allerdings ein, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen, wenn sie in die Freiheit ausbrechen. Da sie nie autonom gehandelt haben, wissen sie nicht, wie man autonom handelt, und bevor sie es lernen, sehen sie sich neuen Machthabern gegenüber, die sich nicht beeilen, abzudanken. Die Unterdrückten erhoffen sich zu viel von der neuen Gesellschaft, anstatt unbeirrt darauf aus zu sein, das zu tun, was sie für richtig halten. Im Kampf hatten sie sich aufeinander verlassen müssen, ihre Solidarität gerät jedoch zur Abstraktion, und jede Abweichung wird konterrevolutionär genannt.

Meine ›schwächere‹ Position eröffnet die Perspektive, dass autonom handelnde Menschen möglicherweise erkennen, wie die gegenwärtige Situation ihnen übel mitspielt und wie ihre Autonomie immer stärker entschwindet. Sie müssen das einfach erkennen. Es gibt nicht genug nützliche Arbeit, und es ist schwer, die Arbeit, die noch nützlich ist, aufrichtig zu erledigen oder einen Beruf pflichtgemäß auszuüben. Die Künste und die Wissenschaft sind korrumpiert. Ein bescheidenes Unternehmen muss alle Proportionen sprengen, um zu überleben. Die Jugendlichen haben keine Berufungen. Talent wird durch Zeugnisse erstickt. Steuern werden für Kriegszwecke verschleudert, für Schulen und für Verwaltung. Usw. Usw.

Dem mag nur Schritt für Schritt abzuhelfen sein, ohne dass es zu dramatischen Veränderungen kommt; die Reformen müssen allerdings das Wesentliche angehen, denn viele Institutionen sind nicht zu retten und das System selbst kann unmöglich bestehen gelassen werden. Indem einiges verschwindet, kann einiges andere erträglich werden.

Das Ziel der Politik ist, Autonomie auszuweiten, und darum besteht sie hauptsächlich im Abschaffen. Ich mag die marxistische Wendung vom ›Absterben des Staats‹. Damit muss jedoch die Methode, nicht das Resultat bezeichnet werden« (Paul Goodman, Stoßgebete und anderes über mich, 1972, S. 89ff).

LITERATUR: Stefan Blankertz, Das libertäre Manifest: Über den Widerspruch zwischen Wohlstand und Staat, Grevenbroich 2002; Erhard Doubrawa, Die Politik des Ich-Du: Der Anarchist Martin Buber, in: Doubrawa / Staemmler (Hg.), Heilende Beziehung: Dialogische Gestalttherapie, Wuppertal 2003; Paul Goodman, Anarchistisches Manifest (1945 / 1962), in: Blankertz / Goodman, Staatlichkeitswahn, Wetzlar 1980; Joachim Willems, Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber, Albeck 2002.

SIEHE AUCH: Aggression; Buber, Martin; Goodman, Paul; Selbstregulation

Angst

ETYMOLOGIE: Das deutsche Wort »Angst« entsteht aus dem indogermanischen »angh« (eng) mit dem Suffix »st« (dazugehörig), heißt also: »das, was zur Enge gehört«. Ähnlich lateinisch: »angustiae« (Enge).

DEFINITION: Wenn man im Alltag von »Angst« spricht, handelt es sich zumeist um die Vermischung von zwei Phänomenen, die getrennt werden müssen (nach PHG, Gestalttherapie: Praxis, S. 148ff):

Ein Teil der »Angst« ist Furcht: Furcht beinhaltet eine mehr oder weniger rationale Entscheidung darüber, dass etwas für uns gefährlich ist. Das Gefährliche muss überwunden, zerstört oder vermieden werden. (Furcht sitzt im Magen.)

Die eigentliche Angst besteht dagegen in einem Gefühl der Enge. Die Ursache für dieses Gefühl ist, dass der Brustkorb durch die ihn umgebenden Muskeln zusammengedrückt wird: Die Muskeln, die für die regelmäßige und freie Atmung zuständig sind, um den Organismus mit der stets richtigen Menge Sauerstoff zu versorgen, richten sich »gegen uns«. Die Angst macht unfähig, so zu handeln, wie es gut wäre, um die Furcht zu besiegen. (Angst sitzt in der Brust.)

Normalerweise bezieht sich die Angst auf eine Furcht: Wenn etwas (be)fürchtet wird, kann das auch Angst machen. Das Paradox der Angst besteht darin, dass sie um so stärker wird, je mehr man versucht, keine Angst zu haben.

Fritz Perls bringt »Angst« auf die kurze Formel: »Angst ist Erregung minus Sauerstoff« (Selbstfindung durch Gestalttherapie, 1957, in: ders., Gestalt - Wachstum - Integration, S. 136). Über diese physiologische Ursache hinaus geht seine kognitive Begründung: »Angst ist die Spannung zwischen dem Jetzt und dem Später« (Perls, Gestalt-Wahrnehmung [1969], S. 189).

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Die zentrale Bedeutung der Beschäftigung mit der Angst ergibt sich daraus, dass Angst »Hauptfaktor bei der Neurosenbildung« ist und »entsteht, weil die Erregung der schöpferischen Anpassung unterbrochen wird« (PHG, Gestalttherapie: Grundlagen [1951], S. 13). Dabei ist nicht die Angst vor oder in einem Konflikt problematisch (sie ist vielmehr eine gesunde Reaktion in einem gesunden Zusammenhang), sondern der ständig vorzeitig abgebrochene Konflikt ruft die problematische Angst hervor – keine »große« Angst, sondern eine dauernde kleine Spannung: die Angst, in eine Situation verwickelt zu werden, in der ein Konflikt unausweichlich oder zumindest nützlich wäre, aber nicht ausgetragen wird, und die Angst, dass die vielen unausgetragenen Konflikte zu Tage treten könnten. Es ist nämlich genau die gesellschaftliche Ächtung und Unterdrückung der individuellen Aggression – der Möglichkeit, sich im Konflikt die Umwelt anzupassen, anstatt der Umwelt angepasst zu werden –, die die chronische Angst erzeugt. (Auf der Kehrseite der Medaille steht, dass die Bereitschaft zu kollektiver Aggression steigt, z. B. im Krieg.)

WÜRDIGUNG: Daraus folgt, dass nicht jede Angst »ungesund« ist und »wegtherapiert« werden muss:

»Ängstlich zu sein, ist die Voraussetzung dafür, weiter zu gehen, sich zu entfalten, etwas zu tun. Aber was passiert, wenn man zu ängstlich ist, etwas zu tun, und keinen Blick in das Unbekannte zu richten wagt? […] Denken Sie an einen Schaupieler und sein Lampenfieber, da können Sie die beiden Möglichkeiten der Angst erkennen. Entweder entwickelt man eine Abwehr, oder man schafft sich weiterführende Erfahrungen« (Fritz Perls, Selbstfindung durch Gestalttherapie, 1957, in: Gestalt-Wachstum-Integration, S. 134).

SIEHE AUCH: Aggression; Anpassung; Neurose; Unterstützung

Anpassung

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Die »Anpassung« steht in der Polarität zwischen »der Organismus passt sich den Umweltbedingungen durch die Veränderung seiner selbst an« und »der Organismus passt die Umwelt seinen Bedürfnissen durch die Veränderung der Umwelt an«.

Beide Extreme sind problematisch: Wenn sich der Organismus ausschließlich der Umwelt anpasst, gibt er seine Eigenheit auf und verschwindet in letzter Konsequenz (»Konfluenz«; dies ist die umgangssprachlich vorherrschende Bedeutung).

Ist der Organismus dagegen unfähig, sich der Umwelt anzupassen und besteht unnachgiebig auf der einseitigen Anpassung der Umwelt an ihn, kann er letztlich nichts aus der Umwelt aufnehmen und setzt sich selbst an deren Stelle (»Egotismus«).

Beide extremen Formen der Anpassung werden als »neurotisch« gekennzeichnet. Gestalttherapeutisch angestrebt wird der »mittlere Modus« zwischen diesen Extremen: Es findet ein produktiver, beidseitig vorteilhafter Kontakt statt. Dieser Kontakt verlangt eine schöpferische und kreative Aktivität des Selbst. Er wird »schöpferische« oder »kreative Anpassung« genannt bzw. »Assimilation« oder »Integration«.

Die Wendung »kreative Anpassung« sollte jedoch nicht dazu verleiten zu meinen, Kreativität und Anpassung seien das Gleiche und bildeten eine harmonische, unproblematische Einheit: »Kreativität und Anpassung sind Gegenpole, sie sind wechselseitig notwendig« (PHG, Gestalttherapie, 1951, Band Grundlagen, S. 13). Der Ausdruck »kreative Anpassung« soll also eine Art notwendiges Paradox bezeichnen, die schwierige Aufgabe, zwischen den beiden Polen immer wieder ein nur vorläufig zu erreichendes Gleichgewicht zu schaffen.

Neben der »schöpferischen Anpassung« ist auch die »konservative Anpassung« problemlos. Sie umfasst die »organischen Anpassungen«, »die in einer langen phylogenetischen Geschichte in den Organismus« aufgenommen wurden und »natürlich integriert« worden sind, und die »sich als Ganzes« selbst regulieren (ebd., S. 196).

SIEHE AUCH: Aggression; Assimilation; Egotismus; Integration; Konfluenz; Kontakt; mittlerer Modus; Selbst; Selbstregulierung

Aristoteles

LEBENSDATEN: 383 - 322 v. Chr. Griechischer Philosoph; gehört zu den Denkern, die das westliche Denken bis heute am stärksten prägen. Seine Schriften umfassen grundlegende Werke zur Metaphysik, zur Logik, zur Ethik, zur Psychologie und zur Rhetorik.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Eine direkte Anknüpfung an Aristoteles ist durch Paul Goodman gegeben, der in den 1930er Jahren in Chicago bei dem Aristoteliker Richard McKeon studierte und promovierte. Voraussetzung für dieses Studium war die fließende Beherrschung des Altgriechischen, das Umgangssprache in McKeons Seminaren darstellte.

Ein verdeckter Bezug zwischen dem Buch »Gestalttherapie« (1951) besteht zu Aristoteles’ Schrift »Von der Seele«. In dieser Schrift kennzeichnet Aristoteles das Sich-Nähren und Wachsen als Fähigkeit, etwa »Ungleiches« sich »gleich« zu machen (gestalttherapeutisch: Anpassung, Assimilation oder Integration – wörtlich findet sich übrigens diese in »Gestalttherapie« gleich mehrmals zitierte Wendung erst in Thomas von Aquins Aristoteles-Kommentaren). Diese Fähigkeit ist nach Aristoteles das definitorische gemeinsame Merkmal aller Lebewesen; und er nennt sie die »Seele«.

In »Von der Seele« beschreibt Aristoteles von dieser Definition ausgehend die gelungenen Differenzierungen der Seele über Bewegen und Wahrnehmen bis zum Denken. Alle Organe der Seele seien auf den Kontakt gerichtet und wiederholten die ursprüngliche Bewegung des Sich-Nährens auf ihren jeweiligen Spezialgebieten. Die Seele ist damit nach Aristoteles die »Form des Körpers«. Eine Trennung oder Spaltung von Seele und Körper ist nicht möglich. Sie bilden eine unverbrüchliche Einheit.

Während Aristoteles in »Von der Seele« beschreibt, wie das Leben als gelingendes zu beschreiben ist, fragen die Autoren von »Gestalttherapie« nach »den Blockierungen, den Verdrängungen oder anderen Störungen« (PHG, Band »Grundlagen«, S. 13), die das Gelingen des Lebens behindern. Die Kritik der Autoren an der »neurotischen Gesellschaft«, in der Körper und Seele keine Einheit bilden, sondern gespalten sind und als Gegensätze gelten, benutzt die aristotelischen Gedanken als positiven Gegenentwurf und setzt dazu konsequent an der Nahrungs-Analogie an.

Ein weiterer indirekter Bezug besteht zu der aristotelischen Lehre von der Tugendmitte. Nach Aristoteles liegt das ethisch richtige, tugendhafte Verhalten immer in der Mitte zwischen zwei Extremen bzw. »Polen«, z. B. »Geiz« und »Verschwendungssucht«. Dabei ist der Maßstab für die Mäßigung, die Aristoteles empfiehlt, kein asketisches Ideal, sondern das (höchste) Glück: Durch die Unmäßigkeit extremer Verhaltensweisen schadet sich der Organismus selbst, setzt seine Genuss- und Glücksfähigkeit herab; darum kann er die Unmäßigkeit nicht vernünftig wollen, sondern nur aus Irrtum zulassen.

Das Konzept der »Tugendmitte« erscheint in dem Buch »Gestalttherapie« als Suche nach dem »mittleren Modus« zwischen Extremen, die allerdings anders als bei Aristoteles bezeichnet werden, nämlich z. B. als Passivität und Aktivität oder als Anpassung und Kreativität.

Die Behauptung, die Unmäßigkeit sei kein vernünftiges Handeln, sondern entspringe dem Irrtum, kehrt auch in »Gestalttherapie« (1951) wieder, nämlich als Leitmotiv des ganzen Buches: Die Tendenz der menschlichen Organismen zu selbstzerstörerischen, ihr eigenes Glück hintertreibenden Umgangsformen könne nicht als »natürlich« oder »gesund« durchgehen, sondern müsse auf einem (psychologischen) Mechanismus beruhen, von dem »(Psycho-)Therapie« heilen könne.

Eine weitere, vor allem bei Goodman zu findende Anknüpfung an Aristoteles ist die Auffassung, dass Befriedigung nicht das Ziel einer Handlung darstelle, sondern deren Gelingen begleite. Goodman macht dieses Paradox an dem Beispiel des von ihm favorisierten Mannschaftsspiels des Straßenballs deutlich: Wer spielt, um befriedigt zu werden, wird nicht befriedigt, sondern nur wer um des Spiels willen spielt, wird, wenn es ein gutes Spiel geworden ist, am Ende befriedigt sein.

LITERATUR: Aristoteles, Von der Seele, griechisch-deutsch, Hamburg 1995; Blankertz, Stefan, Gestalt begreifen, Wuppertal 2003.

SIEHE AUCH: Befriedigung; Friedlaender, Salomo; Goodman, Paul; mittlerer Modus; Psychologie; Seele; Thomas von Aquin

Assimilation

ETYMOLOGIE: Aus lateinisch »assimulatio«, Ähnlichmachung (auch im Sinne von Verstellung und Heuchelei).

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Assimilation ist der »Zweck« bzw. die »Funktion« des Handelns, des Kontaktes (PHG, Band »Grundlagen«, S. 213). Umweltressourcen werden im aggressiven Prozess des Kontaktes »zerstört« und so nach Maßgabe der Bedürfnisse des Organismus umgewandelt (»verähnlicht«), dass sie zum Wachstum dienen können. Das Grundmuster ist die Nahrungsaufnahme: Das Nahrungsmittel wird zerkaut (»zerstört«), geschluckt und im Magen verdaut (»assimiliert«). Innerhalb der »Gestaltwelle« folgt das Stadium der »Assimilation« demjenigen der »Aggression«. – Anstelle von »Assimilitation« wird auch von »Integration« gesprochen. – Als Oberbegriff für »Assimilation« kann »Anpassung« angesehen werden.

SIEHE AUCH: Aggression; Anpassung; Bedürfnis; Gestaltwelle

Assoziation, freie

ALS METHODE IN DER PSYCHOANALYSE: Der Patient äußert frei, d. h. ohne eine innere »Zensur«, was ihm zu einem bestimmten, vom Analytiker vorgegebenen Wort einfällt (»was er dazu assoziiert«). Der Auffassung Sigmund Freuds zufolge erhält der Analytiker durch die assoziierten Worte Informationen über das, was der Patient ins Unbewusste verdrängt hat.

IN DER KRITIK DER GESTALTTHERAPIE: Den ursprünglichen Einwand gegen die psychoanalytische Methode der freien Assoziation haben Perls, Hefferine, Goodman 1951 so formuliert: »Der Therapeut [konzentriert] sich auf den Assoziationsfluss und [schafft] ganze Figuren darin […].

Auf diese Weise gewahrt er etwas in dem Patienten, nämlich dessen Verhalten außerhalb des Gewahrseins. Nun ist es aber nicht Ziel der Psychotherapie, dass der Therapeut etwas an dem Patienten gewahrt, sondern dass der Patient seiner selbst gewahr wird. Daher muss nun der Prozess einsetzen, in dem der Therapeut erklärt, was er nun über ihn weiß. Auf diese Weise erfährt der Patient, wie nicht zu bezweifeln ist, viel Interessantes über sich selbst, es ist aber fraglich, ob er damit auch das Gewahrsein seiner selbst steigert. […]

Das Problem ist, dass sein Tun nur im Hervorbringen eines Stroms sinnloser Worte bestand. Dieses Tun fügte zu seinem Erleben nichts besonders Neues hinzu – im Gegenteil, es war ein getreues Abbild seines gewohnten Erlebens: in dieser Rolle ist er sich wohlbekannt. Die Regel, keine Zensur auszuüben, enthob ihn der Verantwortung für seine Worte – für viele Menschen auch keine ungewöhnliche Haltung. […] Es kommt zu Abfuhr ohne Integration« (PHG, Gestalttherapie, im Band »Grundlagen«, S. 118f / 142).

Fritz Perls hat diese Kritik später dahingehend zusammengefasst, dass das, was Freud Assoziation nenne, in Wirklichkeit eine »Dissoziation« zur »Vermeidung der Erfahrung dessen, was ist« sei (Gestalttherapie in Aktion, 1969, S. 59).

Versöhnlicher ist die historische Perspektive von Erving Polster: »Freud [war] durch die freie Assoziation einem lebenswichtigen Element der Therapie auf der Spur, nämlich der vereinfachten Aufmerksamkeit. Er vereinfachte die Aufmerksamkeit, indem er seine Patienten von den Beeinträchtigungen durch alte Bewertungen und standardisierte Ausdrucksweisen befreite. Der Patient war immer noch von seinem täglichen Leben getrennt, aber weniger stark als unter Hypnose. Die freie Assoziation ermöglichte dem Patienten einen unschuldigen Selbstausdruck und die Freiheit einer tiefen Konzentration auf sein inneres Erleben.

Den meisten Menschen fällt es sehr schwer, einen Sinn für die Not und die gesteigerte Aufmerksamkeit zu entwickeln, die eine Abkehr von vertrauten Sprachgewohnheiten und Moralvorstellungen mit sich bringt. Dieses gesteigerte Aufmerksamkeitsniveau war zu jener Zeit etwas völlig Neues. Es war der Vorläufer der modernen hochgradig fokusorientierten Systeme wie Gestalttherapie, Hypnose, Meditation, Biofeedback, Visualisierung usw.« (Die therapeutische Kraft der Aufmerksamkeit, 1992, in: E. u. M. Polster, Das Herz der Gestalttherapie, Wuppertal 2002, S. 212f).

SIEHE AUCH: Psychoanalyse

Assoziationspsychologie

Als Assoziations- oder Elementenpsychologie bzw. Assoziationismus wird die vor allem von den Philosophen Hobbes, Locke, Hume, Herbart und Mill im 17. bis 19. Jahrhundert verfochtene Theorie bezeichnet, die Sinnesorgane würden untereinander unverbundene »Elemente« (heute würden wir »Daten« sagen) aufnehmen, die sich durch Assoziationen zu komplexen psychischen Vorgängen wie Gefühlen und Denkprozessen verbinden. Die Assoziationen (Verknüpfungen) wurden mechanistisch definiert und das Selbst war passiv. Als Verknüpfungsursachen galten Ähnlichkeit, Gegensatz, räumliche und zeitliche Nähe.

Die Assoziationspsychologie ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Gestaltpsychologie heftig angegriffen worden (mehr siehe dort) und spielt heute kaum noch eine Rolle. Gewisse Grundstrukturen leben im Behaviorismus fort, wobei der Begriff der Assoziation durch den der Konditionierung ersetzt wurde: Die Verknüpfung wird zwar als aktiv angesehen, aber die Aktivität geht nicht absichtlich von dem Selbst aus, sondern wird durch die außerhalb des Organismus’ liegenden Ursache-Wirkungs-Verhältnisse gegeben. Die Verhältnisse von Ursache und Wirkung lösen – dieser Theorie zufolge – im Organismus einen »bedingten Reflex« aus.

SIEHE AUCH: Behaviorismus; Gestaltpsychologie; Selbst

Augenblick, existenzieller

SIEHE Existenzieller Augenblick

Ausagieren, -leben

ETYMOLOGIE: »Agieren« ist ein lateinisches Lehnwort. »Agere« bedeutet bewegen, handeln.

BEDEUTUNG FÜR DIE PSYCHO-ANALYSE: Sigmund Freud bezeichnete mit Ausagieren oder Abreaktion einen Abwehrmechanismus (d. h. »Widerstand«) gegen die psychoanalytische Behandlung: Der Patient widersetzt sich der Erinnerung und der Einsicht und wird ohne Bewusstsein bzw. ohne Gewahrsein tätig. In dieser (meist aggressiven) Tätigkeit drückt sich sein unbewältigter Konflikt aus der Vergangenheit aus, aber das Ziel besteht darin zu verhindern, dass der Konflikt bewusst wird.

Im übertragenen Sinne wurde dann »Ausagieren« für alle Tätigkeiten verwendet, bei denen negative Gefühle an einer anderen Stelle als der Ursache herausgelassen werden; z. B.: Der Ärger im Job wird zu Hause am Partner »ausgelassen«, »ausgelebt« oder »abreagiert«.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: In einem Interview kritisierte Fritz Perls 1968, dass Freud um das Ausagieren ein »Tabu« aufgebaut habe. Damit wendete er sich gegen die Forderung von Freud, das Erinnern (anstelle des aktuellen Tätigseins) zum Zentrum der Therapie zu machen. Allerdings forderte Perls ein bewusstes Tätigsein, kein unbewusstes Ausagieren. In diesem Punkt bestätigte er Freuds Zurückhaltung dem Ausagieren gegenüber. (»Ausagieren versus Durchagieren«, 1968, in: Fritz Perls, Gestalt – Wachstum – Integration.)

Bis heute geht quer durch die psychotherapeutischen Richtungen, Ansätze und Schulen eine widersprüchliche Auffassung: Dem Ausagieren oder Ausleben von problematischen Erfahrungen oder Gefühlen bzw. der »Abreaktion« kann einerseits eine reinigende (»kathartische«) Funktion zugeschrieben werden – (allerdings nach gestalttherapeutischer Auffassung nur, sofern das zugrundeliegende Problem ins Gewahrsein gehoben wird). Andererseits kann es sich beim Ausagieren aber auch um ein zwanghaftes Wiederholen (der psychoanalytische Begriff ist »Wiederholungszwang«) handeln, wobei die betreffende Person ständig Handlungen vornimmt, die ihr selbst oder den Mitmenschen schadet, ohne dass eine Lösung in Sicht kommt. In diesem Falle ist es wahrscheinlich, dass beim bzw. durch das Ausagieren die Berührung mit dem eigentlichen Problem vermieden wird, so wie es Freud ursprünglich auch schon vermutete.

Das Ausagieren ist dann Teil eines Mechanismus’ der Verdrängung.

SIEHE AUCH: Aggression; Erfahrung; Gefühle; Gewahrsein; Psychoanalyse

Ausbildung

SIEHE Gestaltausbildung

Authentizität

SIEHE Existenzieller Augenblick

Autonomie

SIEHE Anarchismus; Organismus / Umwelt-Feld; Selbstregulation; Unterstützung

Awareness

ETYMOLOGIE: Das englische Adjektiv »aware« steht für »gewahr«, »bewusst«, »merken« und »Kenntnis haben von« bzw. »unterrichtet sein über«. Ältere Übersetzungen von gestalttherapeutischen Texten haben stets »Bewusstsein« oder »Bewusstheit«.

Mit dem gestalttherapeutischen Begriff »awareness« ist jedoch nicht das Bewusstsein gemeint, wie es mit dem englischen Wort »consciousness« bezeichnet wird, nämlich »bei Bewusstsein sein«, »Ich-Bewusstsein«, »Absichtlichkeit« oder »Denken«. Vielmehr ist an ein »mehr Dinge in der Umwelt oder an sich selbst Wahrnehmen« gedacht, in welchem weniger Bewertung und Absichtlichkeit liegt.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Durch Bewertung und Absichtlichkeit wird ebenso wie durch Gewohnheit und Angst die Menge dessen, was wahrgenommen oder bewusst wird oder dem Aufmerksamkeit geschenkt wird, ein-geschränkt bzw. »zensiert« (Projektion). Demgegenüber hilft die »awareness«, sich den Dingen zu öffnen, wie sie sind, und demzufolge angemessener handeln zu können. Heute wird für die deutsche Übersetzung meist auf das eher altertümlich klingende Wort »Gewahrsein« zurückgegriffen.

SIEHE AUCH: Angst; Bewusstheit; Bewusstsein; Gewahrsein; Interpretation; Projektion; Wahrnehmung

Bateson, Gregory

LEBENSDATEN: Geboren in Cambridge 1904, gestorben in San Francisco 1980. Biologe, Anthropologe, Psychologe. – Die Mitformulierung der »Double-Bind-Theorie« (Entstehung von Schizophrenie im Kontext von familiärer Kommunikationsstörung) macht ihn zu einem wichtigen Begründer der systemischen und Familientherapie.

HAUPTWERKE: Schizophrenie und Familie (1969), Ökologie des Geistes (1972), Geist und Natur (1979).

WÜRDIGUNG: »Am bekanntesten ist er [Gregory Bateson] für die Formulierung des Interaktionsprinzips des Double-Bind. Sie entstand aus seiner Arbeit mit Schizophrenen und ihren Familien in Kalifornien, und es ist lehrreich, den Ursprung dieser Idee zu verfolgen, um nachzuvollziehen, wie fein seine eigene Wahrnehmung und sein eigener Geist arbeiteten. Schizophrene, so fiel ihm in den Fünfzigerjahren am Hospital für Kriegsveteranen in Menlo Park auf, verhielten sich, als würden sie bestraft, dürften das aber nicht merken; als ob sie verstünden, dass sie für eine Abwehrhaltung bestraft würden. Könnte nicht dieses Wissen um die Bestrafung, das geleugnet werden muss, als ein Verbot des gelernten Lernens beschrieben werden? Als ein Ins-Unrecht-gesetzt-Werden für das, was man weiß? Muss diese Verwirrung nicht zwangsläufig auch zu geistiger und seelischer Verwirrung führen? Wäre nicht ein Kind, das einem solchen Interaktionsfeld mit seinen Eltern nicht entrinnen kann, das weder Liebe spürt noch sagen kann, dass es sich nicht geliebt fühlt, der Logik des Falles folgend, zu Verhaltensstörungen gezwungen?

So lacht der Schizophrene z. B. albern, wenn seine Mutter mit ihm spricht, oder er erscheint gefühlsmäßig gelähmt, oder er sagt etwas Bizarres – aber dennoch Bedeutungsvolles – wie: ›Meine Mutter ist ein U-Boot, das ich nicht sehen kann.‹

Und wenn der Therapeut weiß, worauf zu achten und zu hören ist, dann wird er beim Schizophrenen diese Anzeichen, diese Symbole verneinter Gefühle entdecken und kann mit ihm in Kontakt treten.

Der Therapeut kann dann vermitteln: ›Natürlich fühlst du dich verletzt und ängstlich und erwartest, dass dich jemand verwirrt. Ich verstehe, wie schrecklich das ist. Lass uns zusammen diesen Terror ansehen, als Freunde.‹

Die Double-Bind-Theorie, wie diese Leugnungsstruktur später genannt wurde, fand in der professionellen Psychologie größte Beachtung. […]

Aber wenn es gelingt [aus dem Chaos der Double-Bind-Erfahrung] emporzusteigen, so schreibt Bateson in seinem Essay ›Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation‹, dann ›geht persönliche Identität in all den Beziehungsprozessen in einer umfassenden Ökologie der kosmischen Interaktion auf. Jedes Detail des Universums wird als Möglichkeit eines Überblicks über das Ganze betrachtet.‹

Hier ist das Selbst ›eine gewisse Irrelevanz‹ – das ist seine sehr englisch klingende Erläuterung von Kafkas taoistischer Maxime ›Unendlich-klein-Sein‹. Batesons eigenes Denken allerdings, das immer interaktiv ausgerichtet ist, sucht nach dem größtmöglichen Eintauchen ins System. Wie er mir einmal sagte: ›Leben durch das, was passiert.‹

Am meisten in seiner Schuld stehen heute die systemorientierten Therapeuten in der Familien-, Gruppen- und Einzeltherapie, in denen die Therapeuten ihre Arbeit als von Grund auf dialogisch neu definiert haben. Er selber allerdings stand den Therapeuten keineswegs freundlich gegenüber, denn er hielt sie für machtgierig und im konditionierten Leben beheimatet. Bateson war der Auffassung, dass die Therapeuten ihre Klienten lediglich eine geschicktere Version der Lebensbegrenzung lehrten.

Er wollte Klarheit über das Ganze, und ebenso wie für Kafka bedeutete Klarheit für ihn das Akzeptieren des Paradoxes, das taoistische Gespür für ein Gleichgewicht, welches das Paradox mit einschließt. Die Notwendigkeit, dieses Gleichgewicht anzuerkennen, ist Bateson das Wichtigste, so wie in der Natur die ökologischen Kräfte einen Ausgleich zwischen Freiheit und gegebener Ordnung herstellen, und wie im menschlichen Leben sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft ein Gleichgewicht zwischen Fantasie und Starre erhalten. ›Zuviel Fantasie‹, pflegte Bateson zu sagen, ›und man landet in der Klapsmühle. Zuviel Starre, und man ist tot.‹

Mit seiner Einstellung des mitfühlenden Gewährens konnte er nur eine Therapie gutheißen, die klarmacht, wie komplex dieses Gleichgewicht ist. Für ihn bedeutet diese Klarheit Gnade« (Stephen Schoen, in: Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten [1996], Wuppertal 2004, S. 48ff).

SIEHE AUCH: Systemische Therapie

Bedürfnis

ETHYMOLOGIE: Der Wortstamm zu »dürfen« hat sprachgeschichtlich Bedeutungen von »sich sättigen« über »sich erfreuen« bis zu »entbehren« angenommen und erst spät den Sinn von »erlauben« erhalten. Die negativen Schattierungen sind noch heute in »dürftig« (mangelhaft) und »bedürftig« (arm) lebendig.

In der modernen Psychologie wird das Wort meist geradezu gleichbedeutend für jeden tiefergehenden »Wunsch« verwendet (davon unterschieden werden dann »Grundbedürfnisse«, ohne deren Befriedigung der menschliche Organismus – wahrscheinlich, angeblich – abstirbt; der englische Begriff »needs« betont diesen Aspekt). In der antiken und mittelalterlichen Psychologie steht dafür »Hunger« (»appetitus«), was auch die gestalttherapeutisch interessante Nahrungsanalogie des Lebens unterstreicht.

Die ursprünglichen Begriffe »Begehr[en]« und »Begierde« klingen heute altertümlich und werden nur noch in speziellen Situationen verwendet, z. B. ironisierend oder moralisiernd für übersteigerte (sinnliche) Bedürfnisse.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Gestalttherapeutisch gesehen ist jedes Bedürfnis gleichzusetzen mit einem Wunsch nach Veränderung und beinhaltet somit einen aggressiven Akt, den der Organismus gegen die Umwelt ausführt. Das Bedürfnis ist ein Ungleichgewicht zwischen Umwelt und Organismus zu Ungunsten des Organismus’, der nach Ausgleich sucht.

Unter den verschiedenen, zum Teil in Konkurrenz zueinander stehenden Bedürfnissen schafft der Organismus durch spontane Wertungen Prioritäten, also eine Bedürfnishierarchie hinsichtlich ihrer Wichtigkeit. Daraus lässt sich gestalttherapeutisch gesehen wohlgemerkt keine starre, für alle Menschen gleichlautende »Pyramide der Bedürfnisse« erstellen; die Prioritäten sind vielmehr für jeden anders.

Prioritäten können auch »neurotisch« sein, das heißt, dass die eingeschlagenen Handlungsrichtungen nie zur wirklichen Befriedigung führen und der Lernprozess behindert ist. Die neurotische Strategie der Nichtbefriedigung von Bedürfnissen muss zunächst auch funktional gewürdigt werden als kreative Lösung eines Problems; wenn z. B. der öffentliche Ausdruck von tiefer religiöser Frömmigkeit als lächerlich geächtet wird, tut ein religiös bedürftiger Mensch gut daran, sich neurotisch an der Befriedigung seines Bedürfnisses zu hindern.

Ein Bedürfnis selbst kann als Bedürfnis nie angezweifelt werden. Die Frage kann nie lauten, ob jemandem ein Bedürfnis erlaubt sei. Die Unterdrückung eines Bedürfnisses ist selbst dann problematisch, wenn, aus welchen Gründen auch immer, dessen Befriedigung (zunächst) unmöglich erscheint. Erst wenn alle Bedürfnisse ins Gewahrsein gehoben worden sind, kann eine Abwägung zwischen ihren Wichtigkeiten (Priorisierung) erfolgen, und es kann nach der sozialen Verträglichkeit der Umsetzung in Handlung gefragt werden. Vernunft, Bewusstsein und Ethik regeln sinnvollerweise nicht das Haben von Bedürfnissen, sondern erst die aus ihnen resultierenden Handlungen. Bedürfnisse aus Angst vor Frustrationen, die aus der Nichtumsetzbarkeit erfolgen könnten, gar nicht mehr zu spüren, ist zwar eine verständliche, aber auch »krankmachende« Vorgehensweise.

SIEHE AUCH: Aggression; Befriedigung; Bewusstsein; Ethik; Gestaltwelle; Gewahrsein; Neurose; Selbst

Bedürfnishierarchie Bedürfnispriorität

SIEHE Bedürfnis; Gestaltwelle

Befriedigung

ETYMOLOGIE: Das Verb »befriedigen« wurde im 15. Jh. aus »Frieden« (Schonung, Freundschaft, geschützt) gebildet, dann seit dem 16. Jh. im Sinne von »zufrieden« (zu Frieden setzen, zur Ruhe bringen) verwendet. Substantivisch erst seit der deutschen Klassik gebraucht.

BEDEUTUNG FÜR DIE GESTALTTHERAPIE: Der Abbau der Spannung, nachdem durch einen aggressiven Akt Umweltressourcen einverleibt und verdaut wurden, führt zu einem Schließen der Gestalt, zum Abschluss der »Gestaltwelle«. Im Nachkontakt der »Gestaltwelle« wird dies befriedigt festgestellt.

Befriedigung ist beim Menschen sowohl ein organisches Zeichen, das spontan und selbstreguliert die aufgelöste Spannung signalisiert, als auch eine moralische Bewertung. Tut sich zwischen organischem Zeichen und moralischer Wertung ein Widerspruch auf, wird die für die Befriedigung vorgesehene Energie retroflektiert und in die Selbstabwertung gewendet, z. B.: Ein beleibter Mensch, der sich für seinen Appetit verachtet, wird nach dem Mahl das organische Zeichen, das eigentlich die Befriedigung ausdrücken will, als Anklage gegen sich selbst verwenden und dann auch keine Befriedigung verspüren, sondern zum Beispiel Ekel oder Selbsthass.

Die Retroflektion kann jedoch auch umgekehrt ausgeführt werden: Wenn eine Handlung sich als Irrtum erweist und keine Befriedigung ermöglicht, wird das organische Zeichen des Spannungsabbaus ausbleiben. Anstatt die nicht abgeflaute Spannung nun zu einem neuen Ansatz, das Bedürfnis zu befriedigen, einzusetzen, kann sie gleichsam als Selbstbefriedigung retroflektiert werden. Wer etwa für eine Arbeit die erhoffte Anerkennung nicht findet, kann sich arrogant und überheblich selbst beglückwünschen und auf die »anderen«, die angeblich nichts verstehen, herabblicken.

Von Goodman stammt der auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgehende Gedanke, dass Befriedigung die Handlung begleite, aber nicht deren Ziel sei. In einer Reflektion über den Sinn des Lebens schreibt Goodman im Jahre 1946 (also noch vor der Entwicklung der Gestalttherapie):

»Man sagt, ›Liebe ist der Sinn des Lebens‹. Aber das ist nur in der formalen Weise wahr, dass ›Handeln der Sinn des Lebens ist‹, weil ›Glück eine Handlung der Seele ist‹ [Aristoteles]. Aber wenn Liebe aus diesem konkreten formalen Grund gesucht wird, stellt sich der Satz als schreckliche Illusion heraus: Es ist der Aufschrei, das Betteln dessen, der nicht liebt, Liebe braucht und nicht lieben kann. Auch die Lust wird als Sinn des Lebens bezeichnet. Das ist wahr genug, denn die Lust begleitet das Handeln, sodass es unerheblich ist, ob wir von der Lust oder der Handlung als befriedigend sprechen […].

Aber es übersteigt unsere Erfahrung zu denken, Glück sei das Nebenprodukt der Summe von Lust. Ganz im Gegenteil, der Gedanke, ›das tue ich, um eine gute Zeit zu haben‹, gehört zur Suche nach der Ablenkung vom Elend. Psychologisch besteht die glückliche Handlung in einer spezifischen Öffnung des Ego zur tiefen Seele und zur Welt.