Pädagogik mit beschränkter Haftung - Stefan Blankertz - E-Book

Pädagogik mit beschränkter Haftung E-Book

Stefan Blankertz

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Beschreibung

Schüler, Eltern, Lehrer klagen über die Schule. Politiker, Öffentlichkeit und Wirtschaft fordern mehr Leistung. Pädagogen wollen Chancengleichheit, Förderung und Integration. Dieses Buch argumentiert, dass der öffentlichen Schule Konstruktionsfehler innewohnen, die sie unreformierbar macht und verhindert, dass die Schule leistet, was sie soll. Es zeigt aber auch, welchen Interessen die derzeitige Schule dient und warum eine Öffnung zu mehr Eigenverantwortung und mehr pädagogischen Experimenten so heftig bekämpft wird. Der Autor beschäftigt sich seit vierzig Jahren mit Schulkritik, und dieses Buch ist die Quintessenz seiner Forschungen und Überlegungen. Er stellt radikal in Frage, dass Zur-Schule-Gehen für alle Kinder die optimale Form des Lernens und der Vorbereitung aufs Leben ist. Dazu führt er sowohl soziologische als auch genetische Gründe an. Die Fixierung auf Gleichheit, die in Sozialwissenschaften, Pädagogik und Politik vorherrscht, verspielt das Wichtigste: Die individuelle optimale Förderung der Heranwachsenden.

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Inhalte

Drei Einläufe

Schulpädagogik, ein Trauerspiel

Kritische Pädagogik

Ideen zu einer anti-etatistischen Entwicklungstheorie

Radikale Nichtreformierbarkeit

[un]gleichheit als Ideologie

Augustin-Epilog

Abb. 1: Highschool-Abstimmung 1860

Abb. 2: Tabellen 1 und 2

Abb. 3: Bruttosozialprodukt und Bildungsausgaben

Abb. 4: Bruttosozialprodukt und Bildungsausgaben (19. Jh.)

Abb. 5: Genotyp/Umwelt-Interaktion

Abb. 6: Gene oder Umwelt?

Abb. 7: IQ-Werte eineiiger Zwillinge

Abb. 8: Variabilität

Abb. 9: Heritabilität

Abb. 10: Die ethnische Frage

stichworte zur bildung

Schriftenreihe
Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik
in der editiongpunkt.de
Stefan Blankertz
101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge
104 Das libertäre Manifest: Zur Neubestimmung der Klassentheorie
105 Pädagogik mit beschränkter Haftung: Kritische Schultheorie
106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
107 Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie
108 Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus
109 Widerstand: Aus den Akten Pinker vs. Anarchy
110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt
111 Mit Marx gegen Marx
112 Derrida liest
123 Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration
114 Migration, Integration und Wohlfahrtsstaat
Murray Rothbard
102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 1: Staat und Krieg
103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 2: Soziale Funktionen
Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | Lyrik & Politik für Toleranz und gegen Gewalt | Für Schulfreiheit seit 1970.
Stefan Blankertz
Pädagogik mit beschränkter Haftung
Kritische Schultheorie
edition g. 105
originalausgabe
2., durchgesehene Auflage 2015
3., korrigierte Auflage 2019
Unter Verwendungen von Teilen aus Die Therapie der Gesellschaft (1999), Das libertäre Manifest (2001) und des Nachworts aus Gestaltpädagogik in Aktion (2006) sowie Notizen, Vorträgen und Blogs (1991-2012). Die Idee zum Titel »Pädagogik mit beschränkter Haftung«, um diejenige zu kennzeichnen, die sich der Staatsgewalt anheimstellt und daran mitwirkt, sie zu verschleiern, geht bis in das Jahr 1987 zurück.
105 edition g.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
Copyright © 2013, 2019 by Stefan Blankertz
editiongpunkt.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-7392-6731-9
Drei Einläufe
[1]»Ein SS-Kommandant sagte, daß er sich besser auf die Lagerwache als auf seine SS-Leute verlassen könne.«1 Durch Erziehung, begehrte Theodor W. Adorno 1966 gegen die|seine Resignation auf, könne nach Auschwitz doch etwas getan werden, um zu verhindern, dass die Knechte bei der Verewigung ihrer Knechtschaft mithelfen.2 Er dachte dabei an Aufklärung, nicht an Schulpflicht, Curricula, Lernziele, an Stundenzeichen, Hausaufgaben, Prüfungsangst, oder an Beruhigungspillen, Unterrichtsbeamte,3 Pausengewalt und all die anderen Kennzeichen derjenigen Institution, in der Erziehung stattfindet und die ein junger Mensch zu »überleben« lernen muss. Erziehung ist, wie zuvor auch schon die Politik, dem sozialen Kontext entfremdet und durch den Staat okkupiert worden. Indem sie Widerstand lehrt, bricht sie ihn.
[2] Ein Symbol, wie tot der klassische Anarchismus ist: Barcelona, Ende September 2012. Demonstration von Lehrern gegen Privatisierungspläne. An sich nichts Ungewöhnliches. Im Spätetatismus4 ist die Identifikation der Unterdrückten mit den Unterdrückern weit fortgeschritten, so dass sie meinen, ohne Staat würden sie Not leiden (in der Verteidigen-wir-den-Staat-Manie wird ja immer vergessen und verdrängt, dass die Not schon da ist – und zwar durch die [un?]sichtbare Hand des Staats). Aber dies war dann doch wie ein Schock für mich: Sie demonstrierten unter der schwarz-roten Flagge des Anarcho-Syndikalismus, und das Banner war mit »CNT«5 unterzeichnet … Buenaventura Durruti (1896-1936) & Francesc Ferrer (1859-1909) mögen sich als Anti-Kapitalisten bezeichnet haben, Etatisten waren sie keineswegs. Jene Aktion der CNT ist um so blamabler, als Francesc Ferrer, Märtyrer des spanischen Anarchismus und Pionier der Alternativschulbewegung, klar gegen jede Staatlichkeit von Schule Stellung bezog:
»Regierungen haben es immer vermocht, ihre Hand auf die Bildung der Menschen zu legen. Sie wissen besser als alle anderen, dass ihre Macht fast vollständig auf den Schulen beruht. Darum monopolisieren sie sie mehr und mehr.«6
In seiner Einleitung zu der englischen Ausgabe von Ferrers La Escuela Moderna, Modern School, schrieb der Übersetzer Joseph M. McCabe (1867-1955): Francesc Ferrer »believed that liberty was essential to the development of man, and central government an evil«. – Am Rande: Dem »Modern School«-Movement von Voltairine DeCleyre (1866-1912) in den USA gehörte später, im Übergang zu der »Summerhill Society«, Paul Goodman (1911-1972) an. Beide, Voltairine DeCleyre und Paul Goodman, sind, trotz ihrer Schwächen in puncto Ökonomie, unverdächtige Anti-Etatisten.7
Die heutige Form des linken »Anarchismus« hat mit jenem klassischen Anarchismus nichts zu tun: Diese Form ist bar jeder Kenntnis der Geschichte des Anarchismus einfach ein Reflex auf die Zuschreibung, »Anarchismus« stünde für einen besonders militanten linken Etatismus. Denn selbst wenn man es ablehnt, dass Schulen als privatwirtschaftliche Veranstaltungen organisiert werden, folgt daraus doch noch lange nicht, dass man vehement oder sogar militant für die Beibehaltung »öffentlicher« (= Staats-) Schulen eintreten müsse.
Und seitdem ganz allgemein die vermeintlichen Sprecher der 1968er-Rebellion, die ja immerhin damals unter freien Schulen staats-un-abhängige verstanden, zu gnadenlosesten »Konservativen« geworden sind, die die Staatlichkeit der Schule mit Zähnen und Klauen verteidigen, droht radikale Schulkritik in Vergessenheit zu geraten: Das Häuflein Restliberaler vertritt, wenn überhaupt etwas zur Bildungspolitik, höchstens eine private Produktion von Bildung im Rahmen strikter staatlicher Vorgaben. Dies ist eine Idee, die auf John Stuart Mill zurückgeht, der sie in »On Liberty« (1859) entwickelte und meinte, damit Humboldts Freiheitsgedanken aufzunehmen. Dass eine privat produzierte Bildung, deren Ziele durch staatliche Prüfungen festgelegt sind, kaum als »frei« benannt werden dürfte, konnte schon er nicht mehr verstehen. Der Freiheitsbegriff war bereits beschädigt.
[3] Hartnäckig hält sich dies Gerücht: »Die Medien« verdürben »unsere Jugend«. Mit diesem Gerücht schützen wir uns davor zu fragen, welche Gemeinschaft wir unseren Kindern präsentieren: Es ist eine Gemeinschaft, in der zum einen die perfekte Organisation jede Handlung des Individuums programmiert, und in der zum anderen gleichsam naturwüchsig Brutalität unprogrammgemäß und unorganisiert zurückschlägt – eine Brutalität wohlgemerkt, die sich aller Mittel der politischen Infrastruktur bedient. Der durchgeplante Schulunterricht und die aus ihm unmittelbar folgende Brutalität auf dem Schulhof sind eine Vorübung zum Überleben in dieser Welt. Die social media bilden sie ab. Aus ihnen lernen die Kinder von der »Realität« mehr als aus harmonistischer Wohlfahrtsideologie, die ihnen in der Schule beigebracht werden soll. Erst viel später begreifen sie die Heuchelei, dass sie das eine tun müssen und das andere sagen. Dann sind sie erwachsene, »mündige Bürger« der verwalteten Welt. Es wäre aber nicht besser, für die Freiheit eher schlechter, würde im öffentlich-rechtlichen Funk oder in der Schule deren Sache das Wort geredet. Das smartphone ist die Botschaft. Das Medium des Zwanges verwandelt das Richtige in Falsches.
Schulpädagogik, ein Trauerspiel
[1] Als ich meinen Sohn Ende der 1980er Jahre in Bonn auf einer Gesamtschule anmelden wollte, weil ich diese Schulform für ihn unter den gegebenen Möglichkeiten als die Beste erachtete, ging das nicht. Die Schule hatte eine lange Warteliste. Durch die CDU-Schulpolitik, die die Gesamtschule im Namen des Rechts auf elterliche Wahlfreiheit bekämpfte, wurde dieser erfolgreichen Schule es versagt, der Nachfrage entsprechend zu expandieren.
In kaum einen Lebensbereich muss der Begriff der Freiheit sich solche dialektische Verdrehungen gefallen lassen wie im Schul- und Bildungswesen. Für die einen besteht Freiheit darin, sich dem Zwang zu beugen, unter drei Kategorien der staatlichen Vorsortierung von Chancen zu wählen. Für die anderen besteht sie darin, sich durch staatliches Einheits-angebot zu »Freiheit und sozialer Verantwortung« erziehen zu lassen. Unter »pädagogischer Freiheit« ist zu verstehen, dass Lehrer gegen den ausdrücklichen Willen betroffener Schüler und Eltern ihre Vorstellungen durchziehen. Den Lehrern dagegen die Freiheit einzuräumen, den Unterrichtsstoff den Bedürfnissen ihrer Schüler anzupassen, führte dann allerdings doch zu weit. Sie müssen sich an den staatlichen Lehrplan halten, sonst ginge ja die Vergleichbarkeit von Schul-Abschlüssen verloren und »unsere« (sic) Wirtschaft bräche zusammen. Schließlich wüssten die Personalchefs dann nicht mehr, wen sie für welche Arbeit einstellen sollten. Obgleich empirische Studien über nun fast hundert Jahre zeigen, dass Schulnoten nie »vergleichbar« machen, selbst wenn standardisierte Tests eingesetzt werden, stören sie kaum die absurde Argumentation. Es geht um Höheres. Da kann man ruhig ums Goldene Kalb mal tanzen, selbst wenn jeder weiß, dass es aus Scheiße besteht.
Aber auch bei den Gegnern der jeweils gerade vorherrschenden Schulpolitik besteht meist wenig Neigung dazu, einen freiheitlichen Standpunkt einzunehmen. Da ist man sich beispielsweise (ohne jeden Beleg) ganz gewiss, dass Mengenlehre zur Schwangerschaft von minderjährigen Mädchen und anderen Perversionen führt. Oder dass die Sexualkunde Kommunisten produziert, die das Eigentum nicht achten. Vor allem weiß jeder gestandene »Schulkritiker«, dass die Ganzwortmethode beim Lesen- und Schreibenlernen in der Grundschule Schuld an der Arbeitslosigkeit ist – strotzen denn nicht die Bewerbungsschreiben vor orthografischen Fehlern? Und eins ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Jeder Bewerber bekäme einen Job, wenn er nur keine orthografischen Fehler im Bewerbungsschreiben machen würde. Sogar für den Anarchisten Michael Bakunin, »seit dem es« laut Walter Benjamin »in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben« habe,8 fängt das, was er die »absolute Freiheit« nannte, erst mit der »Großjährigkeit« nach der »vollständigen [¿zwangsweisen?] Ausbildung« an. Die eigene Schulerfahrung und die Jahrhunderte lange Propaganda der Staatsschule haben es fest in unseren Köpfen verankert: Das, was er fürs Leben (und vor allem Arbeiten) braucht, lernt der junge Mensch einzig durch Zwang. Ein sozialverträgliches Verhalten lernt der junge Mensch einzig durch Zwang. Und auch die Bewahrung einer freiheitlichen Ordnung lernt der junge Mensch einzig durch Zwang. Einen leider nur kurz aufglimmenden Lichtblick hat es einmal im »Spiegel« gegeben, als 2006 über die Phorms AG berichtet wurde, die Privatschulen im Pflichtschulbereich (also unter strengster staatlicher Aufsicht) betreibt.
»›Es ist unanständig, sich auf dem Rücken [sic] der Kinder zu bereichern‹, sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Die Phorms-Kinder machen nicht den Eindruck, als hätten sie den Schutz der Lehrerlobby nötig.«9
Was für eine andere Schulwirklichkeit, auf die der Kapitalismus da einen Ausblick gibt!
[2] Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als man das pädagogische Engagement eines sehr individuellen und eigenwilligen Menschen wie Pestalozzi nahm und mit der Preußischen Schulreform Anfang des 19. Jahrhunderts zur verbindlichen Unterrichtspraxis des ganzen Landes machte. Besonders verwirrt hat mich immer, dass derjenige, der die sogenannte Pestalozzische Methode flächendeckend eingeführt hat, kein geringerer war als Wilhelm von Humboldt, der doch eigentlich als liberaler Theoretiker auf bildende Wirkungen von »mannigfaltigen« sowie selbstgestalteten Situationen setzte. Da haben wir nun auf der einen Seite einen wilden Erzieher, der sein Leben zwischen schwererziehbaren und verwahrlosten Kindern zubrachte, dabei die mannigfaltigsten Situationen sicherlich erlebte, aber gern eine feste, einheitliche und verbindliche »Methode« schaffen wollte, und auf der anderen Seite einen vornehmen Philosophen, der die staatliche Regelungswut vorausgeahnt hatte und eindämmen wollte, aber in der praktischen Schulpolitik die Uneinheitlichkeit nicht ertragen konnte. Das Wilde, Individuelle, Lebendige, das beide je auf ihre Weise verkörperten, blieb Geschichte. Das Ordnende, Bürokratische, Uniformierende, das sie, wenn nicht gewollt, so doch gewirkt haben, wurde zur Gegenwart.
Ende des 18. Jahrhunderts lösten die liberale Evolution in England und die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich die alte ständische Ordnung auf. Mit beginnendem 19. Jahrhundert wurden die Weichen dann so gestellt, dass gegen den staats-begrenzenden Liberalismus von Adam Smith, Thomas Jefferson und Wilhelm von Humboldt ein Nationalliberalismus obsiegte, in dessen Rahmen autoritäre Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie selbst Imperialismus durchaus koexistieren konnten.
Pestalozzi wäre heute nur eine Fußnote, nicht bekannter als etwa Basedow, wenn nicht ein gewisser Humboldt dafür gesorgt hätte, dass die Pestalozzische Methode gleichsam zu der staatlich verordneten Unterrichtungsdidaktik in der Elementarschule der Preußischen Reformen geworden ist. Die Entscheidung für »Pestalozzi« war bereits getroffen worden, bevor Humboldt 1809 das Amt des Kultusministers übernahm. Humboldt stellte diese Entscheidung nicht, wie viele der vorgefundenen Entscheidungen, ernstlich in Frage.
Mit den »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« hatte der junge Humboldt 1793 allerdings das klassische Manifest des ursprünglichen, staats-kritischen Liberalismus verfasst. Der Staat habe im Leben der Bürger nichts verloren als nur das eine zu leisten, nämlich den inneren und äußeren Frieden zu sichern.
Als Humboldt dann das Glück – oder das Pech – hatte, zum Preußischen »Kultusminister« berufen zu werden, folgte er dem Ruf widerstrebend und zögerte kaum ein Jahr später nicht, seinen Posten unverzüglich aufzugeben, als ihm klar wurde, dass der Regierung um Stabilisierung der staatlichen Ordnung es ging und nicht um Verwirklichung des liberalen Programms.
Ausgangspunkt der didaktischen Überlegungen Pestalozzis war, dass er bei seinen verwahrlosten Schülern nicht auf eine in dem Elternhaus bereits grundgelegte bürgerliche Bildung zurückgreifen konnte. So forschte er nach ganz elementaren Konzepten, mit denen die Welt zu »begreifen« sei. Diese Konzepte wollte er den Kindern beibringen, um sie für ein menschenwürdiges Leben auszustatten.
Pestalozzi stieß bei seiner Suche nach dem Elementaren auf Form, Zahl und Wort. Form und Zahl enthalten in seiner Auffassung die formalen Bedingungen der Erkenntnis. Das »Wort« steht Pestalozzi zufolge für die »Kategorien«, die menschliche Erfahrung erst möglich machen. Auf diese Weise sah er die Welt sowohl in ihrer Mannigfaltigkeit als auch in ihrer inneren Zusammengehörigkeit abgebildet. Das subjektive Vorgehen bei der Aneignung entspricht nach der Meinung Pestalozzis in den elementaren Konzepten von Form, Zahl und Wort ihrer objektiven Bedeutung für das Verständnis der Welt.
Die didaktische Umsetzung dieser Überlegung gestaltete Pestalozzi in einer Weise, die er selber mit dem eher unerfreulichen Wort »mechanistisch« benannte. Er zerlegte alles Wissen in die kleinsten Einheiten, die dann durch Nachsprechen und ständiges Wiederholen auswendig gelernt werden mussten.
Die Faszination der Pestalozzischen Methode für die aufgeklärten Zeitgenossen lag in zwei Aspekten: Zum einen war es eine Methode, die von bestimmten Standesbedingungen losgelöst allen Menschen gleichermaßen angemessen war. Zum anderen, und dazu hatte Pestalozzi selber kaum etwas beigetragen, korrespondierte seine Didaktik in etwa mit der Erkenntnistheorie von Immanuel Kant, und das, obwohl Pestalozzi seine Methode weitgehend unabhängig von den philosophischen Strömungen seiner Zeit entwickelte. Form und Zahl konnten Kants reinen Formen der Anschauung, nämlich Raum und Zeit, zugeordnet werden. Dies fiel bei dem Pestalozzischen Elementarkonzept »Wort« schwerer, da Kants Kategorien nicht aus elementaren Lauten bestehen
– (wie es für die Methode Pestalozzis erforderlich gewesen wäre) –, sondern aus Logik. Dieser Schönheitsfehler störte jedoch kaum jene Euphorie, mit welcher das intellektuelle Europa meinte, die fortschrittliche Erkenntnistheorie und Volkspädagogik seien durch Pestalozzi zu einer Sache zusammengefügt worden.
Einer allerdings teilte diese Euphorie nicht – Humboldt. Er äußerte sich 1804, also nur wenige Jahre vor der Ernennung zum Preußischen Kultusminister, in einem Brief an Goethe voller Verachtung über Pestalozzi:
»Sagen Sie mir einmal selbst, was aus dem Menschengeschlecht würde, wenn alle Kinder nun 30 Jahre hintereinander nachbeteten: das Auge liegt unter der Stirn, 2 mal 2 ist 4, ein Quadrat hat 4 gleiche Seiten usf. […] Auch der Bauer und Bettler hat eine Phantasie […] auch in ihm kann und muss etwas Höheres geweckt werden, und bisher wurde es geweckt. Man las in allen Schulen kapitelweise die Bibel. Da war Geschichte, Poesie, Roman, Religion, Moral alles durcheinander; der Zufall hatte es zusammengefügt, aber die Absicht möchte Mühe haben, es gleich gut zu machen.«10
Humboldt argumentierte hier sozial: »Auch der Bauer und Bettler hat eine Phantasie.« Dagegen gilt es in der pädagogischen Geschichtsschreibung als Merkmal von Humboldt, sozialen Fragen gegenüber unempfindlich gewesen zu sein, während Pestalozzi das pädagogische Engagement für die Armen in den Vordergrund gestellt habe. Das hat er natürlich getan. Immer wieder betonte Pestalozzi, wie »mitten im Schlamm der Rohheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten« sich entfalten ließen. Was Humboldt ihm allerdings als Fehler ankreidete, ist, dass nicht »etwas Höheres geweckt werden« würde durch die mechanistische Didaktik der Wiederholung. In der Tat kann es einem kalt über den Rücken laufen, wenn Pestalozzi beschreibt, dass in seinem Unterricht Mengen sinnloser Buchstabenkombinationen »von den Kindern vollkommen gelernt« werden mussten, oder wenn er stolz vermerkt, die Kinder könnten »ganze Reihen von Ländernamen richtig auswendig« aufsagen. Humboldt hatte nicht einmal bezogen auf Pestalozzis Absicht unrecht, ihm ein mangelndes Interesse daran vorzuwerfen, »etwas Höheres« in den armen Kindern zu wecken. So schrieb Pestalozzi ausdrücklich zu Beginn des Berichts über die Armenanstalt in Stanz, dass die Kinder »durch ihre Erziehung nicht aus ihrem Kreis gehoben, sondern durch dieselbe vielmehr fester an denselben angeknüpft« werden sollten.11
Humboldt verteidigte die damals gültige Praxis gegen die Methode Pestalozzis: »Bisher wurde es [d.i. das Höhere] geweckt. Man las in allen Schulen kapitelweise die Bibel.« In der pädagogischen Geschichtsschreibung wird hingegen gern behauptet, Humboldt habe zwar von »Mannigfaltigkeit der Situationen« geträumt, in der Praxis aber derart schlimme Verhältnisse vorgefunden, die ihn dazu zwangen, erstmal einen gewissen Mindeststandard zu gewährleisten. 1804 war Humboldt jedenfalls der Meinung, dass die Schulrealität in Preußen der durch die von der Pestalozzischen Methode befürchteten Verblödung überlegen sei. Das sind harte Worte. Aber sie zeigen, dass nicht innere Folgerichtigkeit Humboldt dahin führte, seine Kritik an der Pestalozzischen Methode aufzugeben, sondern dass er die Auffassung änderte.
Humboldt unterstellte eine Methode: »Die Absicht möchte Mühe haben, es gleich gut zu machen [wie die Bibel].« Die geistlosen Nachsprech-Übungen hielt Humboldt demnach für das Zentrum der Pestalozzischen Methode, in der durch Absicht das Natürliche oder das Gewachsene nachgebaut werde. Dies ist eine Unterstellung, weil Pestalozzi selber weitaus weniger sicher war, ob überhaupt etwas völlig Durchstrukturiertes und Geplantes der richtige Weg sei. In seinen Ausführungen zum Sportunterricht finden sich zum Beispiel zwei völlig widersprüchliche Aussagen. Einerseits: Im Spiel des Kindes »mit seinem eigenen Körper hat die Natur den wahren Anfangspunkt der körperlichen Kunstbildung« gegeben. Diese Wertschätzung des Spiels hört sich organisch an. Andererseits empfahl Pestalozzi körperliche »Gelenkbewegungen«,12 die den mechanistischen Sprechübungen nachempfunden zu sein scheinen.
Ein weiteres Beispiel: Über die Entstehung seiner Armenschule von Stans sagte Pestalozzi, sie sollte »statt [sic] eines vorgefassten Planes vielmehr aus meinem Verhältnisse mit den Kindern hervorgehen« und er wolle »die die Kinder umgebende Natur, die täglichen Bedürfnisse […] selbst als Bildungsmittel« benutzen.13
Der kritischen Anmerkung Humboldts zur Methode Pestalozzis möchte ich eine Passage aus dem Stanser Brief gegenüberstellen. Zunächst scheint diese Passage mit Humboldts Einwendungen gar nichts zu tun zu haben, denn sie befasst sich mit der Frage der Schulorganisation und nicht mit der der Unterrichtsdidaktik:
»Auch bin ich mehr als je überzeugt, sobald die Lehranstalten jemals mit Kraft und Psychologie mit Arbeitsanstalten verbunden werden, so wird notwendig ein Geschlecht entstehen, das einerseits durch Erfahrung lernet, daß das bisherige Lernen nicht den zehnten Teil der Zeit und Kraftanwendung bedürfe, die gewöhnlich darauf verwendet wird; andererseits, daß dieser Unterricht der Zeit, der Kräfte und der Hülfsmittel halber mit den häuslichen Bedürfnissen so in Übereinstimmung gebracht werden könne, daß die gemeinen Eltern allenthalben sich selbst oder jemand von ihren gewöhnlichen Hausgenossen dazu geschickt zu machen suchen werden, welches durch die Vereinfachung der Lehrmethode und durch die steigende Zahl vollendet geschulter Menschen immer leichter werden wird.«14
Die Verbindung von Leben, Arbeit und Bildung, die Pestalozzi vorschwebte, war Humboldts Sache nun freilich nicht. Humboldt hielt dafür, dass Bildung den Menschen von der reinen Zweckhaftigkeit erlösen sollte. Das hat etwas für sich, weil die enge Bindung der Bildung an die Nützlichkeit das Lernen auf die bestehenden Verhältnisse fixiert. Gleichwohl zeigte eine traurige Erfahrung, wie blutleer und letztlich unkritische am Bestehenden vorbei ein auf Schulorganisation beschränkter Bildungsbegriff der Humboldtschen Prägung werden kann.
Und genau im Zusammenhang mit dieser historischen Erfahrung wird die zitierte Passage besonders brisant: In ihr drückte Pestalozzi zwischen den Zeilen ja auch aus, dass er seine Didaktik keineswegs dazu gedacht hatte, den Unterricht in der Institution »Schule« zu bestimmen. Vielmehr schwebte ihm vor, wie er an einer anderen Stelle sagte, die Schule »beinahe überflüssig zu machen«. Von den Lehrern in der Schule meinte Pestalozzi: »Diesen mangelt das Fundament von tausend das Herz der Kinder anziehenden und festhaltenden Umständen, deren Mangel sie den Kindern fremd […] macht.«15 Obwohl die von Pestalozzi angestrebte Verbindung des Lernens mit der Arbeit nicht in Humboldts Konzept passte, entsprach der Grundtenor des Gedankens jedoch der ursprünglichen Auffassung Humboldts: Bildend sei die »Mannigfaltigkeit der Situationen«, die durch einen zu hohen Grad an staatlicher Reglementierung gefährdet werde. Darum dürfe der Staat auch in Sachen Erziehung und Unterricht nicht ordnend eingreifen.
Als man Humboldt 1809 zum Preußischen Kultusminister machte, wurde er allerdings mit einer Realität konfrontiert, von der er nicht viel wusste. Und für diese Realität fand er kaum eine Handlungsanweisung in seinen vorher gefassten Überlegungen. Denn es gab eine sehr wohl reglementierte Schulwirklichkeit; die Reglementierung ging jedoch nicht von einem zentralen Staat direkt aus, sondern gleichsam indirekt von staatlich privilegierten Partikularmächten wie den Ständen, den Zünften oder den Kirchen.
Diese Realität im Visier, erlag Humboldt den Verlockungen der Macht, wenn auch bloß für sehr kurze Zeit. Humboldt wollte die Macht des zentralen Staats benutzen, um den Unterricht den Klauen der Partikularmächte zu entreißen. Die Idee bestand darin, im ersten Schritt eine humanistisch und liberal gesonnene Lehrerschaft in einer einheitlichen, keiner Partikularmacht unterstehenden Schulorganisation herauszubilden, um dann den »geläuterten« Bürgern ein wahrhaft befreites Bildungswesen zur Selbstverwaltung zu überlassen. In Humboldts Worten hieß das, die Schulen »in die Hände der Nation« zu legen: das Kultusministerium, die sogenannte »Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts«, gleichsam unnötig zu machen.
Die für Humboldts Plan notwendige Lehrerschaft allerdings konnte man offensichtlich nirgendwo antreffen. Die Lehrer waren im damals bestehenden System sozialisiert worden. Für den Zweck, relativ schnell eine einheitliche Methode durchzusetzen, schien Pestalozzis Volksbildungsvorstellung geeignet zu sein: Pestalozzi präsentierte eine Didaktik, die bestechend einfach war und dennoch auf dem Boden der fortgeschrittensten philosophischen Grundlage stand, nämlich der von Immanuel Kant.
Mit dem Einsatz von der Pestalozzischen Methode, um eine rasche Vereinheitlichung einer Lehrerschaft in einem viel-gestaltigen Bildungswesen zu erreichen, verkehrt sich, so die These von mir, ihr Sinn: Während die Methode für einen Kontext geschaffen wurde, der Humboldts ursprünglichen »mannigfaltigen Situationen« entsprach, bekam sie nun die Funktion der Nivellierung und zentralen Kontrolle von Situationen, in diesem Fall von Unterrichts- und Bildungs-situationen.
Heute wird gesagt, Humboldt habe als Kultusminister einen Praxis-Schock erlitten, als er sah, wie übel die Elementarschulen gewesen seien, um deren Zustand er sich vorher nicht kümmerte. Im Brief an Goethe rechtfertigt er allerdings ohne Zweifel die damals gängige Praxis gegenüber der Pestalozzischen Methode. Die These von der Übelkeit der Schulen vor Errichtung zentralstaatlicher Schulen ist in allen westeuropäischen Industrieländern im 19. Jahrhundert bemüht worden, um die Verstaatlichung voranzutreiben. Für England und Amerika gibt es inzwischen Untersuchungen, die nahelegen, es handele sich um Ideologie.16 Für Preußen steht eine solche Untersuchung nach wie vor aus.
Neben der Verkehrung der Volksbildungsfunktion der Didaktik Pestalozzis findet durch Humboldts Bildungsreform auch eine Verkehrung der sozialen Perspektive statt. Oben habe ich Humboldt zitiert mit der Aussage, Bildung müsse den sozial Schwachen in seinen humanen Möglichkeiten entwickeln und ihn aus seiner Misere herausholen. Dies klang gegenüber Pestalozzis scheinbar konservativem Ziel, den Armen in seinem Kreise zu belassen, sehr fortschrittlich. Im Kontext des Preußischen Schulwesens allerdings begegnet uns dann eine völlig andere Umsetzung. Denn das »Herausheben« des Armen aus seinem sozialen Verband bedeutete nicht, ihn zu einem anderen Leben in der tatsäch-lichen Gesellschaft zu befähigen, vielmehr Abstinenz der Bildung vom Bezug zur Arbeit und zum Zusammenleben. Die Beschäftigung mit den Kulturleistungen hieß nicht, dass der Arme an den Privilegien der Wohlhabenden beteiligt wurde, sondern dass ihm der Unterricht nicht nützen sollte, einen besseren Status zu erreichen.
Dagegen stellte sich Pestalozzi vor, dass die von ihm unterrichteten Kinder nicht ihren sozialen Kreis verließen, sondern in ihm ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weitergäben. Auf diese Weise sollte eine Gemeinschaft entstehen, die selbstbewusst in der Lage ist, ihren eigenen Unterhalt mit Würde zu erarbeiten, ohne auf Maßnahmen der Wohlfahrt angewiesen zu sein. Eine solche Gemeinschaft wäre nicht abhängig von der Obrigkeit und brauchte sich dann auch von ihr nichts mehr gefallen zu lassen.
So möchte ich behaupten, dass die Preußische Schulreform, die das Paradigma des Bildungswesens für die ganze Welt gesetzt hat, das Schlechteste aus Humboldt und Pestalozzi realisierte: den Wunsch nach Einheitlichkeit und Homogenität. Dagegen bleibt das Bessere ihrer Gedanken, die Selbstbestimmung der Lernenden und Lehrenden, bloß als utopischer Überschuss das Vermächtnis, welches uns daran erinnert, dass wir als Menschen dazu aufgerufen sind, mehr zu sein als Marionetten staatlicher Organe. Allerdings ließe kein Gedanke sich verkehren, der das Verkehrte nicht schon als Keim in sich trüge.
1. Obwohl Pestalozzi »seine« verwilderten Kinder aufs höchste idyllisierte, schenkte er in seiner Methodenlehre dem Kind als teilnehmendem und handelndem Wesen keine große Beachtung. (Heutige an Sozialisations- und Milieutheorien orientierte Lehren tun das übrigens auch nicht.) Für ihn reduzierte der Unterricht, wie er selber bemerkte, sich auf »Gedächtniswerk«.17 Katharina Rutschky hat in ihrem Schreckenskabinett »Schwarze Pädagogik« die zunächst harmlos wirkende Einlassung Pestalozzis aufgenommen, »wer noch lernt, darf nicht urteilen«.18 Dass Lernen immer ein aktives Annehmen und damit auch Urteilen ist, kam Pestalozzi nicht in den Sinn. Das macht den theoretischen Hintergrund aus, auf dem er seine mechanistische Methode aufbaute. Humboldt verurteilte diesen Mechanismus. Aber für den Kontext der Staatsschule war er einfach unwiderstehlich ideal.
2. Das uneingeschränkte Engagement Pestalozzis für seine Kinder ist auf der einen Seite rührend, geradezu heroisch. Im Stanser Brief heißt es: »Meine Tränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. […] Ich war am Abend der letzte, der ins Bett ging, und am Morgen der erste, der aufstand«. Diese absolute Aufopferung konnte jedoch auch in ein Allmachtsgefühl umschlagen: »Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand«, behauptete Pestalozzi. Daraus leitete leicht sich die Vorstellung ab, seinerseits alles zu dürfen. So findet sich im Stanser Brief eine unglaubliche Bemerkung: »Ich forderte unter anderem zum Scherz, daß sie [die Kinder] während dem Nachsprechen dessen, was ich vorsagte, ihr Auge auf den großen Finger halten sollten.« Ich frage mich, was den Erzieher berechtigt, etwas »zum Scherz« zu »fordern«, d.h. etwas, das sich nicht begründen lässt.19
3. Die Stellung Pestalozzis zum Staat ist von tiefen Widersprüchen durchzogen. Einerseits verfolgte er gern das Bild vom Staat als Verlängerung des Hausvaters oder als ein Stellvertreter von dem Vatergott, kritisierte er den Liberalismus, »der die Gewalt schwächt« und »den schwachen Staat notwendig an die äußersten Abgründe führt«. Andererseits findet Pestalozzi, dass sich »Macht und Sittlichkeit widersprechen«, und betont bisweilen, dass der Staat als Staat »in seinen wesentlichsten Einrichtungen bestimmt wider das Christentum« handelt.20 Da Pestalozzi auf systematische Ausarbeitungen keinen Wert legte, hat er diesen Gegensatz nie überbrückt. Humboldt konnte sich durchaus in den staatskritischen Äußerungen Pestalozzis wiederfinden. Die preußische Lehrerschaft jedoch verehrte in Pestalozzi den Vorreiter einer Auffassung vom Staat als den »großen, wohltätigen Erzieher«.
Pestalozzi hat die Bedeutung der kindlichen Aktivität für den Lernprozess nicht eingesehen. Das macht den Erzieher zu einer Instanz, die geschickt die Kinder auf gewünschte Ziele hinlenken, ja sogar manipulieren solle und auch dürfe. Diese Vorstellung, dass der Erzieher genau wisse, wie die Kinder und die späteren Erwachsenen sein sollten, erzeugt nahezu unweigerlich den Wunsch, dass das gesamte Leben durch die Instanz des Staats in angeblich richtige Bahnen gelenkt werde. Und in seinen sexualpädagogischen Schriften träumte Pestalozzi von »Gewissensbeiräten« und »Sittengerichten«, die alle schwangeren Mädchen in ihre Obhut nähmen.21 Die Erfahrung jedoch lehrte Pestalozzi, dass der Staat nicht die hehren Ideale der Aufklärung oder die des Christentums verwirklicht, sondern reinen Machtinteressen folgt. Am Ende steht dann Kulturpessimismus: Die Menschen verhalten sich nicht »von allein« im Sinne des Volkserziehers, sie können aber auch nicht durch den Staat dazu gebracht werden, weil der Staat nur seine eigenen Interessen wahrt. Darum scheint die Menschheit verloren zu sein.
Wenn wir nicht in dem Pestalozzischen Kulturpessimismus münden, aber ebensowenig uns der Kritik an bestehenden Zuständen entsagen wollen, müssen wir die entscheidende Voraussetzung bei Pestalozzi korrigieren. Dies können wir mit dem frühen Humboldt tun: Die Aufgabe des Aufklärers und des Volkspädagogen ist es nicht, genau zu bestimmen, wie die Menschen zu sein haben, um in Freiheit ein gutes Leben zu führen. Vielmehr ist es die Aufgabe, diejenigen Behinderungen aufzuheben, die die Menschen erfahren, wenn sie ihre Vorstellungen vom guten Leben verwirklichen wollen – diese Behinderungen aufzuheben, um eine soziale Situation herbeizuführen, in der durch »Mannigfaltigkeit« sich das Beste herauszubilden vermag.
Dies freilich formulierte, unübertroffen, der alte Kant 1793:
»Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein gewisses Volk […] ist zur Freiheit nicht reif. […] Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).«22