Libellenliebe - Stefan Müller-Altermatt - E-Book

Libellenliebe E-Book

Stefan Müller-Altermatt

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Beschreibung

«Libellenliebe» beschreibt in vierzehn Erzählungen alltägliches Leben und Fühlen im Solothurner Jura – und widerlegt genau damit viele klischierte Bilder des romantischen Landlebens. Ein Hightechmillionär wird erst gehätschelt des Geldes, dann verpönt seines Wesens wegen. Ein Handelsreisender verpasst die Liebeschance seines Lebens. Ein Unternehmerpaar metamorphosiert nach einem Schicksalsschlag und erkennt sich selbst. Mit diesen Geschichten über Liebe, Zwänge, Glücks- und Unglücksmomente, Enttäuschungen, Erlösungen und Erleuchtungen, einst als Geschenk an seine Frau verfasst, erkämpft sich der Autor fantasievoll und wortgewandt Raum für Gefühle in einer Umgebung, in der über Gefühle sonst kaum geredet wird.

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Seitenzahl: 192

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Stefan Müller-Altermatt

LIBELLENLIEBE

ERZÄHLUNGEN

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Beatrice Rubin

Korrektorat: Daniel Lüthi

Cover: Romana Stamm

Layout: Morris Bussmann

Illustration: Mia Maurer

eISBN: 978-3-7245-2645-2

ISBN 978-3-7245-2603-2

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Für und von Sabine

INHALT

Chäppelisacher

Wagners Wegkreuzung

Olga aus dem Buchladen

Als Stalder nicht mehr auf sich hörte

Warum auf der Hammerallmend kein Dorf steht

Libellenliebe

Die Leben der Gebrüder Brunner

Gipfelerkenntnis

Remo Gassers Glaube an sich selbst

Mehr als fair

Die letzte Talabfahrt

Der starke Baum vom Pfundhof

Die zwei Weiden auf dem Brandberg

Der verdorbene Mangold

CHÄPPELISACHER

Ganz nah an der Hauptstrasse, unmittelbar vor der Einfahrt in den Hauptort unseres Tals, steht eine kleine Kapelle oder eher ein Helgenstöckli, wie wir die türlosen religiösen Kleindenkmäler hierzulande nennen. Obwohl das Gebäude so markant in der Landschaft steht, dass man seine Umgebung nach ihm den «Chäppelisacher» nennt, so ist mir das Gebäude doch völlig unbekannt. Und dies nicht nur mir, sondern eigentlich auch allen anderen Einwohnern unserer Talschaft. Der Grund ist ein einfacher: Der Eingang, oder vielmehr die Öffnung des kleinen Kappelchens, ist nicht etwa gegen die Strasse gerichtet, nein, sie wendet sich südwärts, dem offenen Felde zu. Es scheint so, als sei die Kapelle erbaut worden, als noch ein staubiger Feldweg durch das Tal mäandrierte, ehe weiter nördlich die schnurgerade Schnellstrasse gebaut wurde. Und so brausen heute jeden Tag Hunderte von Fahrzeugen an der kleinen Kapelle vorbei, ohne dass auch nur ein einziger flüchtiger Blick aus den Autos, Bussen und Lastwagen ihren heiligen Inhalt würdigen kann.

Anfangs bekundete ich Mühe mit diesem Umstand. Nun stand da eine Kapelle, die doch sicher eine bedeutende Geschichte in sich trug, und ich war vollends unfähig, diese Geschichte zu vernehmen. Doch je mehr ich mich über diesen Umstand enervierte, desto mehr musste ich mir selber eingestehen, dass ich gar nicht von der kleinen Kapelle, sondern vielmehr von ihrer Stummheit fasziniert war. Und je mehr ich das akzeptierte, desto begeisterter kreiste ich in meinen Gedanken um das ungelöste Mysterium. Niemals hätte ich es gewagt, über die Kapelle zu recherchieren. Niemals hätte ich einen der alten Weisen des Tals nach dem Ursprung der Kapelle befragt.

Irgendwann begann ich damit, mir jedes Mal, wenn ich alleine an der Kapelle vorbeifuhr, gedanklich auszumalen, was es wohl mit ihr auf sich haben könnte. Natürlich lag am Nächsten, dass darin eine Muttergottes oder ein Christusbild die Vorbeifahrenden grüsst. Wenige Fahrten später war ich aber sicher, dass für Reisende nur Christophorus zuständig sein konnte. Aus der Christophorus-Kapelle wurde alsbald aber eine Kapelle des Heiligen Rochus, der in der Region ja mal verunfallt sein soll und dem unweit schon eine ganz ähnliche Kapelle geweiht ist. Dann musste das auch hier so sein. Schliesslich warf meine Fantasie die religiösen Deutungen aber sämtlich über Bord. Warum auch sollte die Kapelle überhaupt noch eine Kapelle sein, wenn sie sich schon so verstecken muss? Stünden nicht weltliche Interessen dahinter, hätte man sie schliesslich längst gedreht, um das Heiligenbild wieder den vorbeibrausenden Gläubigen zu zeigen. Und so wurde die Kapelle in meiner Imagination zum Aufbewahrungsort der Urkunden, welche man bei der Begradigung des nahe gelegenen Flusses angefertigt hatte. Für die Bauern, die sich nach langen Streitigkeiten über den Verlauf des Flusses geeinigt hatten, kam nur dieser heilige Ort als ewiger, neutraler Aufbewahrungsort der Schlichtungsakten infrage. Vielleicht waren die in der Kapelle aufbewahrten Dinge aber noch weitaus geheimer. Oh ja, von nationaler Tragweite musste das Geheimnis des Stöcklis sein! Die Pläne der eidgenössischen Widerstandsregierung lagen nämlich darin, welche sofort durch die im Voraus bestimmten Widerständler herausgeholt und aktiviert werden konnten, falls die Nazis im Zweiten Weltkrieg über den Jura in unser Land einfallen sollten.

Glückselig umkreiste ich das Mysterium, bis eines Tages dieser Brief eintraf, abgeschickt vom einstigen Präsidenten der Gemeinde, auf deren Bann sich die Kapelle befindet. Ich öffnete den Brief, las den Titel und wurde augenblicklich aus meiner Glückseligkeit gerissen. «Gönneranfrage zur Sanierung der Kapelle im Chäppelisacher» stand da. Ohne auch nur die Anrede zu lesen, warf ich den Brief in die Ecke. Meine Frau beobachtete mich und fragte mich, was das werden soll. Sie befürchtete wohl, ich hätte einen abscheulichen Schmähbrief erhalten.

«Bitte lies diesen Brief, aber erzähl mir kein Wort daraus», bat ich sie.

Sie tat, worum ich sie gebeten hatte und verstand noch weniger als vorher. Für sie war das ein Bettelbrief, wie er zu Dutzenden in unser Haus flattert. In ihre Verblüffung hinein sagte ich ihr: «Ich stelle dir eine einzige Frage zu dem Brief, und du beantwortest sie nur mit Ja oder Nein. Einverstanden?»

Sie erklärte mir, dass sie immer weniger verstehe, was ich meine, sei aber selbstverständlich bereit, das Spiel mitzuspielen.

«Steht in dem Brief drin, welche Geschichte die Kapelle hat?»

«Ja.»

Ich hiess meine Frau, den Brief umgehend im Holzofen zu verbrennen und versprach, ihr nachher zu erzählen, wieso ich dieses ganze Theater aufführte.

Ich fühlte mich befreit, als ich meine Frau in mein Mysterium eingeweiht hatte. Schliesslich war es auch ein Geheimnis. Dieses Übel des alleine getragenen Geheimnisses war mir nun abgenommen. Und nun hatte ich auch eine Gehilfin, mit der zusammen ich das Mysterium verteidigen konnte. Und das war nötig, wie sich zeigen sollte. Rund zwei Wochen nach dem Brief erreichte mich eine E-Mail. Betreff: «Gönneranfrage Chäppelisacher». Ich bat meine Frau, die Mail zu lesen, zur Speicherung an sich selber weiterzuleiten und dann auf meinem Computer zu löschen. Damit war das Schlimmste wiederum abgewendet. Gleichzeitig war uns klar, dass es nicht einfach sein würde, die Sache auszusitzen. Es dauerte wiederum zwei Wochen, da rief der ehemalige Gemeindepräsident bei uns zu Hause an. Wir hatten Glück: Entgegen unseren Gepflogenheiten nahm meine Frau den Anruf entgegen, obwohl der Apparat eine unbekannte Nummer anzeigte. Ich sei leider den ganzen Abend an Sitzungen, rieb sie ihm die Notlüge unter die Nase. Sie werde mir aber ganz sicher mitteilen, dass er angerufen habe und mich beauftragen, zurückzurufen. Garantieren könne sie ihm aber nichts. Er kenne mich ja, so ihre flapsige Bemerkung.

Kaum hatte meine Frau den Hörer aufgelegt, lachten wir beide laut los. Wir lachten nicht über ihre Geistesgegenwart. Wir freuten uns einfach nur darüber, ein Stück kindlicher Fantasie bewahrt zu haben. Unsere verschmolzenen Seelen haben gemeinsam ihr Heil verteidigt. Welch ein grossartiger Sieg über den Realitätsdrang dieser Welt!

Der bedauernswerte Geldbesorger versuchte noch drei Mal, mich anzurufen. Seine Nummer war nun aber gespeichert und die Nicht-Beantwortung fiel leicht. Dann wurde es ein gutes halbes Jahr lang still um die Kapelle, ehe eines Morgens die Zeitung ins Haus flatterte, auf deren Frontseite der Spoiler mit Verweis auf die Regionalseite prangerte: «Sanierung im Chäppelisacher gescheitert». Ich strahlte meine Frau an und schmiss die Zeitung in die Ecke, wie ich Monate zuvor den Bettelbrief in die Ecke geschmissen hatte. Meine Frau beobachtete die Szene, blickte in meine strahlenden Augen und begriff.

«Lass mich lesen!», sagte sie voller Vorfreude.

Und dann las sie mir jene Passagen aus dem Artikel vor, die ich vernehmen durfte:

«… Nicht einmal ein Viertel der für die Sanierung benötigten Summe kam zusammen… Die Initianten zeigen sich enttäuscht, dass ihr Spendenaufruf ein derart schwaches Echo erfuhr … Man müsse sich die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte, dass dem regionalen Kulturerbe eine derart geringe Wertschätzung entgegengebracht werde…»

Ich zweifle bis heute an dieser Aussage. Vielleicht steckte hinter dem geringen Spendenerfolg nicht eine geringe, sondern eben genau eine grosse Wertschätzung gegenüber der Kapelle. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die sind gut, genau so wie sie sind. Nicht, weil sie ihren Dienst besonders gut erfüllen oder weil sie besonders schön oder besonders praktisch sind. Sondern deshalb, weil sie irgendeinem unbedeutenden Menschenkind wie mir einfach guttun. Und so ein Ding ist die Kapelle im Chäppelisacher, die einst der Muttergottes, dann dem Heiland, dem Heiligen Christophorus und dem Heiligen Rochus zu Ehren gereichte. Die nachher Flurakten beherbergte und sogar Pläne zur Rettung der Nation. Und die nun weiterhin von mir nicht einfach nur passiert, sondern als Mysterium umkreist wird.

WAGNERS WEGKREUZUNG

Es hatte sich kaum jemand in Balsthal gefreut darüber, dass die beige Limousine von Herbert Wagner in diesem Frühling 1951 vor dem Hotel Kreuz parkte. Das Nummernschild aus der britischen Besatzungszone stiess auf mehr Ablehnung denn Interesse. Und auch Wagner selber sah wenig Sinn in seiner Mission. Er sollte als Aussendienstmitarbeiter eines deutschen Stahlriesen den Schweizer Uhrenproduzenten die deutschen Edelstahl-Gehäuse schmackhaft machen. Und beginnen sollte er in einer Region, die ja selber über eine ausgebaute Stahlindustrie verfügte. «Welch ein Unsinn», dachte er sich.

Wagner griff nach seiner Aktentasche auf der Rückbank, holte seinen Koffer aus dem Kofferraum und humpelte mit beidem zum Hoteleingang. Mit seiner Geschäftskleidung, dem tief ins Gesicht gezogenen Bogart-Hut und seinem wankenden Gang wirkte er weit älter als die fünfundzwanzig Jahre, die er tatsächlich zählte. Innerlich war Wagner nach all dem Erlebten auch weitaus reifer, als ein Mittzwanziger das sein sollte.

Den humpelnden Gang verdankte Wagner der Gewehrkugel, die im August ’44 von einem Pariser Widerstandskämpfer durch seinen rechten Beckenknochen geschossen wurde. Tatsächlich dankte Wagner dieser Gewehrkugel immer wieder, dass sie genau diesen Weg gefunden hatte. Anders als die meisten seiner in Paris stationierten Wehrmachts-Kameraden kam er nämlich bei der Befreiung der Stadt nicht als Achtzehnjähriger bereits ums Leben, sondern lag zu jener Zeit in einem französischen Lazarett weit ausserhalb des Kampfgeschehens. Anderthalb Jahre blieb er in Kriegsgefangenschaft in Nordfrankreich. Er nutzte die Zeit, lernte Französisch und liess sich Bücher über Verhandlungsführung und Handelslehre besorgen. Als er nach Deutschland zurückkehrte und die Industrie im Ruhrpott wieder mit der Produktion begann, war er als Verkäufer für den französischsprachigen Markt ein gefragter Mann.

So kam es also, dass Wagner nun als kriegsversehrter, aber gebildeter und trotz des Humpelns durchaus attraktiver, junger Mann in Balsthal, Biel, La Chaux-de-Fonds und Le Locle deutsche Edelstahl-Gehäuse propagieren sollte. Er mietete sich einen der kleinen Säle des Hotels und richtete dort eine Präsentationsauslage ein. Er hatte sich mit vier Uhrenproduzenten der Region verabredet. Die vier Honoratioren erschienen pünktlich zu den Treffen in förmlicher, aber freundschaftlicher Atmosphäre. Dass es so reibungslos lief, überraschte Wagner nicht, schliesslich waren die Treffen von Schweizer Seite her angeregt worden. Die Patrons zeigten sich auch ehrlich interessiert an seiner Ware – vor allem aber an den Preisen.

Zwischen den Terminen wurde Wagner im Restaurant und im Saal von Maria bewirtet. Maria war die Tochter eines italienischen Einwanderers, der im Stahlwerk arbeitete. Wagner konnte sich nicht erinnern, jemals eine so hübsche Frau gesehen zu haben. Natürlich waren ihre kleine, zierliche Statur be- und ihre kastanienbraunen Augen verzaubernd. Aber es war nicht einmal ihr Äusseres, das ihn so faszinierte. Es war ihr freundlicher, aber nicht aufgesetzter Ton. Es war ihr Lächeln. Es war ihre nach aussen dringende Fröhlichkeit und ihre Unbekümmertheit. Diese Unbekümmertheit zog den jungen Kriegsveteranen zwangsläufig wie einen Magneten an.

Und wenn ein Magnet angezogen wird, dann zieht es auch am andern. Maria war fasziniert vom hünenhaften deutschen Geschäftsmann, der doch höchstens fünf Jahre älter war als sie, aber schon so reif und wissend wirkte. Der mit den angesehensten Leuten der Region auf Augenhöhe verhandelte und dabei eine Leichtigkeit versprühte, als sei dies höchstens eine Nebensache in seinem sonst noch viel höher trabenden Leben. Tatsächlich war Wagner abgebrüht – leider aber nicht durch seine geschäftliche Tätigkeit.

So wanderten also die Blicke der beiden hin und her, wenn Maria die Herrschaften bediente und die beiden unterhielten sich über die Region, über das Hotel und die logierenden Gäste, wenn Wagner auf den nächsten Patron wartete. Maria machte den Pflichttermin von Wagner zu einem wahren Genuss. Nach der letzten Präsentation nahm Wagner im Restaurant sein Essen ein, liess sich von Maria einen letzten Kaffee bringen und verabschiedete sich dann auf sein Zimmer. Es war mit der langen Anreise, den Präsentationen und den wallenden Gefühlen ein anstrengender Tag. Morgen und übermorgen würde Wagner die Uhrenfirmen in der Romandie besuchen, ehe er dann gegen Ende der Woche wieder in Balsthal vorbeikommen würde, um bei den Unternehmern nachzufragen, ob sie sich zu einer Bestellung durchringen konnten.

Wagner fiel sofort in einen tiefen, friedlichen Schlaf. Als er die Augen wieder öffnete, war es draussen trotz dem frühen Sonnenaufgang im Frühling noch immer dunkel. Er würde also wohl durchaus nochmals eine Runde schlafen können. Ohne Gang zur Toilette schien ihm das aber unmöglich. In den Städten gab es zu jener Zeit bereits etliche Hotels in der Preisklasse von Wagners Arbeitgeber, welche ein Zimmer mit Bad anboten. Hier, auf dem Land, musste sich Wagner aber noch mit der Toilette auf dem Gang begnügen. Weil er wusste, dass er praktisch der einzige Hotelgast war und es ausserdem noch mitten in der Nacht war, machte sich Wagner erst gar nicht die Mühe, sich etwas anzuziehen. In seiner weissen Unterhose, mit nacktem Oberkörper, schlich er über den Gang zur Toilette, er fasste nach dem Türgriff, bekam diesen aber nicht zu fassen, weil just in diesem Moment die Tür von Innen geöffnet wurde.

Vor Wagner stand Maria. Ein enges Nachtkleid bedeckte ihren zierlichen Körper. Wagner wäre in der Unterhose bekleidet von Duisburg nach Balsthal gerannt, um diesen Blick zu erhaschen, von derart unbeschreiblicher Schönheit war er. Wäre nicht beiden der Anblick des Andern äusserst erwünscht gewesen, wären beide wohl augenblicklich rot angelaufen. So aber zauberte der Blick über die Toilettentürschwelle den beiden ein Lächeln ins Gesicht.

«Maria!»

«Herbert!»

Der gleichzeitige Ausruf der beiden Namen erzeugte eine ungewollte Lautstärke, welche die beiden erst zusammenzucken, dann kichern liess. Wagner streckte intuitiv seinen Zeigfinger aus und führte ihn an Marias Lippen. Maria ihrerseits nutzte die Gelegenheit und küsste den eigentlich nur zur Ruhe mahnenden Finger. Nach einem kurzen Moment des Schweigens deutete Wagner mit seinen Augen und einem leichten Kopfnicken zu seinem Zimmer. Maria gab mit einem verschmitzten Lächeln ihre Zustimmung.

Wohl mancher Jüngling hegt den Traum, das zu erleben, was Wagner in den beiden nachfolgenden Stunden erlebte. Stunden der Romantik, der unerfahrenen und ungetrübten Liebe. Ausgelöscht erschien das, was er im Krieg erleben musste, überdeckt waren all der Hass und das Elend durch diese reine, pure Liebe. Wagner fand den Frieden.

«Ich muss das Frühstück aufdecken», hauchte Maria ihrem Geliebten nach zwei Stunden ins Ohr.

«Es ist gut», antwortete er simpel. «Ich mache mich frisch und komme dann frühstücken.»

Noch vor dem Frühstück änderte Wagner seine Tagespläne. Eigentlich hätte er die nächste Nacht in Biel und die übernächste in La Chaux-de-Fonds übernachtet. Das wollte er nun natürlich auf keinen Fall. Er verlängerte stattdessen seine Buchung im Kreuz um zwei Nächte.

Die Termine in Biel gingen glatt über die Bühne. Nach den Verhandlungen setzte sich Wagner in sein Auto und raste über die Landstrassen nach Balsthal. Unterwegs sagte er immer wieder zu sich selbst, welch unglaublicher Glückspilz er doch sei. Nur deshalb, weil er in exakt dem richtigen Moment erwachte und zur Toilette ging, fand er dieses unglaubliche Glück. Wäre er nur eine halbe Minute früher erwacht, hätte er bemerkt, dass die Toilette besetzt ist, er hätte sich ins Zimmer zurückgezogen und wäre ein paar Minuten später wieder hingegangen. Er ging aber just in dem Moment, in dem Maria von innen die Türe öffnete. Just in dem Moment, in dem die sinnlichste Erscheinung, die er sich vorstellen konnte, einfach so vor ihm auftauchte. Es gibt in jedem Menschenleben Wegkreuzungen. Manchmal trifft man dort auf Menschen, die einem ein ganzes Wegstück oder auch den ganzen Lebensweg begleiten. Und manchmal kommt man halt zum falschen Zeitpunkt an die Wegkreuzung und man verpasst diese Menschen. Wagner hatte gestern an einer solchen Wegkreuzung Maria getroffen. Und er wollte alles daransetzen, dass sie ihn begleitete.

Maria erwartete ihn vor dem Hotel. Sie hatte Feierabend. Den Abend verbrachten die beiden im benachbarten Restaurant Rössli. Wagner bezahlte ein Dinner und danach hielten sie sich eine gefühlte Ewigkeit die Hände, plauderten über dieses und jenes und erzählten sich vor allem viel aus ihren Leben. Maria war tief beeindruckt von Wagners Lebensgeschichte und versprach ihm, dass sie nichts lieber tun würde, als ihm ein Leben lang eine treue und fürsorgliche Hausfrau zu sein, um ihn so für seine Leiden in jungen Jahren zu entschädigen. Den ersten Schritt zu diesem Glück wollten sie doch gleich am nächsten Abend machen, indem sie ihre Eltern besuchten.

Dieser Besuch bei Familie Rizzo wurde denn auch ins Programm des nächsten Tages aufgenommen. Wagner startete frühmorgens, um zeitig seine Termine in La Chaux-de-Fonds und Le Locle erledigen zu können. Um fünf Uhr war er zurück in Balsthal. Er ging kurz in sein Zimmer, um sich zu rasieren, wo Maria ihn abholte. Hand in Hand marschierten die beiden zu den barackenähnlichen Arbeiterhäusern nahe der Klus. Mutter und Vater Rizzo begrüssten die beiden herzlich, wennschon der Vater nicht ganz verbergen konnte, dass er sich für seine Tochter wohl nicht unbedingt «un tedesco» vorgestellt hatte.

Bei der herrlichen Minestrone, die aufgetischt wurde, wurden denn auch etliche Fragen an den Deutschen gestellt – meist von Maria übersetzt, da die Eltern lediglich gebrochenes Schweizerdeutsch, aber absolut gar kein Hochdeutsch sprachen. Woher denn sein Humpeln komme, fragte die Mutter in besorgtem Unterton. «Calcio», antwortete Wagner mit einem Lachen und entlockte damit dem Vater ein erstes Mal ein Lächeln. Er hatte nicht nur eine Leidenschaft des Italieners angesprochen, er hatte sie auch noch in italienischer Sprache genannt. Tatsächlich wollte Wagner einfach alles, ausser zugeben, dass er für die Nazis in den Krieg gezogen war – wennschon er dies selbstredend nicht aus freien Stücken getan hatte. Ob er denn katholisch sei, wollte der Vater noch wissen. Ja, im Rheinland, wo er herkam, seien fast alle katholisch und Köln sei ja eine heilige Stadt. Er habe die Heilige Kommunion empfangen und sei gefirmt und somit nach katholischer Lehre bereit für die Ehe.

Zwei Fragen, zwei vollkommen zufriedenstellende Antworten. Es lief hervorragend für das junge Paar. Maria spürte die Zustimmung ihrer Eltern und erlaubte sich deshalb, ein eindeutiges Zeichen zu setzen. Sie rückte ihren Stuhl an jenen von Wagner heran, umschlang ihn mit ihrem Arm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Mit einem süffisanten Lächeln gaben die Eltern ihr Einverständnis zum Gesehenen.

Die Frischverliebten wollten sich vor dem Kaffee kurz die Füsse vertreten, teilten sie mit. Den Eltern war das recht. Elio konnte so noch die Zeitung lesen, während Carlotta den Abwasch erledigen und ihr positives Resümee über den Schwiegersohn in spe bekannt geben konnte. Wagner und Maria erhoben sich also, streiften sich ihre leichten Mäntel über und gingen zur Tür. Wagner hielt Maria die Tür auf. Als sie beide die Türschwelle überschritten hatten, entriss ein Luftzug Wagner den Türgriff. Die Tür raste gegen den Rahmen und knallte mit Getöse zu.

Wagner erwachte. Der Türknall hatte ihn geweckt. Sofort richtete er sich im Bett auf, um sich zu sortieren. Dann begriff er: Die Toilettentür war zugeknallt! Jetzt musste es schnell gehen! In seiner weissen Unterhose hastete er über den Gang, hinüber zur Toilette. Er fasste nach dem Türgriff. Und in diesem Moment hörte er, wie am anderen Ende des Ganges eine Tür ins Schloss fiel. Marias Zimmertür. Er war zu spät.

Wagner legte sich wieder ins Bett. Er konnte nicht mehr schlafen. Zwei Stunden, die ihm vorkamen wie eine Ewigkeit, lag er wach. Dann begab er sich in den Frühstücksraum. Es war bereits alles aufgetischt. Maria bekam Wagner während seines Frühstücks nicht zu sehen. Verwirrt und betrübt ging Wagner auf sein Zimmer, packte seine Koffer und kehrte zurück an die Rezeption. Er checkte aus, bezahlte die Rechnung und fuhr mit seiner beigen Limousine davon.

Die beiden Tage in Biel und La Chaux-de-Fonds waren für Wagner eine Tortur. Er stand komplett neben sich. Am dritten Tag kehrte er wie vorgesehen in die Region zurück. Er besuchte die erste der vier Uhrenfabriken, wo man ihm am Empfang eine Nachricht überreichte, welche die vier Patrons untereinander abgesprochen hatten. Seine Edelstahl-Gehäuse seien qualitativ und auch in Bezug auf die Preise sehr attraktiv. Die hohen Zölle für die Einfuhr würden aber die Konkurrenzfähigkeit verunmöglichen. Wagner begriff nun, weshalb er überhaupt in die Schweiz gerufen wurde. Die heimische Industrie benötigte offensichtlich Argumente, um die hohen Zölle rechtfertigen zu können. Er war nichts anderes als das Anschauungsobjekt für billige Importe, welche drohten, sollten die Zölle abgeschafft werden. Und er hatte das Spiel als Spielfigur perfekt mitgemacht und seine Produkte wunderschön in der ganzen Szene präsentiert. Diese vermeintlich provinziellen Kleinindustriellen waren mit allen Wassern gewaschen.

Der geschäftliche Misserfolg war für Wagner aber sowieso zur Nebensache geworden. Er wollte nur noch seinem Seelenheil gerecht werden. Er fuhr zurück ins Kreuz. An der Rezeption kramte er aus seinem Aktenkoffer eine Visitenkarte und einen Briefumschlag. Auf den Umschlag schrieb er Marias Namen. Bevor er die Visitenkarte in den Umschlag steckte und diesen an der Rezeption abgab, notierte er auf der Rückseite der Visitenkarte: «Entschuldige, wunderhübsche Maria, ich war zu spät an der Kreuzung!»

Maria hat sich nie bei Wagner gemeldet. Sie wusste genau, dass ihre Eltern niemals eine Beziehung mit einem deutschen Handelsreisenden billigen würden. Also wollte sie sich diesen Schmerz ersparen. Die Visitenkarte aber bewahrte sie ihr Leben lang auf, und bei jeder Betrachtung malte sie sich Traumbilder aus, wie sie den hübschen Herbert erobert und mit ihm die romantischten und sinnlichsten Momente ihres Lebens verbringt.

Für Wagner waren Begegnungen mit Menschen seit jenen drei Tagen in der Schweiz nicht mehr dasselbe wie vorher. Man wisse nie, wie lange man mit einem Menschen den Lebensweg gemeinsam geht, erzählte er immer. Und man wisse vor allem nie, wie schnell man einen Weggefährten wieder verlieren könne. Herbert Wagner machte keine grosse Karriere als Händler oder Industrieller. Aber für eines war er bekannt und wurde er geschätzt: Herbert Wagner achtete die Menschen, denen er begegnete.

OLGA AUS DEM BUCHLADEN

Paul Baumann besuchte den Buchladen in der Herrengasse oft, aber meist nur kurz. Er machte sich gar nicht grosse Gedanken, was er an Literatur kaufen wollte. Er brauchte sie lediglich zum Zeitvertreib, zum Abschalten nach seiner Arbeit auf der Bank. Als Bankleiter hatte er den ganzen Tag genug Gedankenarbeit zu verrichten, da wollte er sich am Abend nicht noch tiefschürfende Literatur aufzwingen. So kaufte er meist einfach den aktuellen Krimi, der gleich bei der Kasse auflag. Wie ein Junge, der den an der Supermarktkasse aufliegenden Kaugummi kauft, ganz egal, ob es sich um Pfefferminz- oder Zimtgeschmack handelt. Er kauft den Kaugummi des Kaugummis wegen, nicht wegen des Geschmacks. Baumann kaufte Bücher der Bücher wegen, nicht wegen des Inhalts. Noch ein kurzer Schwatz mit der bestens bekannten Besitzerin und Leiterin des Buchladens – eine stets pünktlich zinsende Kreditnehmerin – und schon war Baumann wieder draussen.

So lief das mit Baumann im Buchladen bis an dem Tag, an dem Olga ihre Stelle antrat. Die Besitzerin des Ladens hatte ihm schon des Öfteren geklagt, sie bräuchte eine Verstärkung. Und Baumann hatte ihr, als ihr vollends zufriedener Kreditgeber, stets gönnerhaft gesagt, sie solle sich doch eine Aushilfskraft leisten. Man könne sich beim besten Willen nicht das Leben lang für ein Geschäft zerreissen. Solche Ratschläge entsprangen freilich nicht Baumanns Empathie. Davon besass er schlicht zu wenig. Es handelte sich vielmehr um Floskeln, die der junge Banker einst gelernt hatte und nun anwendete.