Licht auf Tantra - Christopher Wallis - E-Book

Licht auf Tantra E-Book

Christopher Wallis

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Beschreibung

Tantra – der direkte Weg zur spirituellen Befreiung Der spirituelle Lehrer und Sanskritgelehrte Hareesh Christopher Wallis legt mit Licht auf Tantra erstmals eine leicht zugängliche Einführung in die Philosophie und Praxis des klassischen Tantra vor. Diese Lehre ist deshalb so zeitlos und zugleich modern, weil sie die Spiritualität auf radikale Weise mitten ins Leben bringt und dieses in all seinen Facetten umarmt und feiert. Eine detaillierte Darstellung des Tantra mit vielen praktischen Übungen Seit der Entdeckung des Tantra durch den Westen vor etwa 100 Jahren steht der wachsenden Faszination eine Menge an Spekulationen und Fehlinformationen gegenüber. Hareesh Christopher Wallis hat die wichtigsten Quellen zusammengefasst und die tiefgründige Philosophie dahinter allgemeinverständlich dargestellt. Darüber hinaus bietet Licht auf Tantra  tiefe Einblicke und einfach umzusetzende kontemplative Übungen, die sich nahtlos in die Praxis heutiger Yogis und Yoginis integrieren lassen. Die Tradition des Tantra stellt die wahre Grundlage des heute im Westen so bekannten und beliebten Hatha-Yoga dar und schlägt die überfällige Brücke von den ursprünglichen Quellen zum heutigen Yoga.

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Seitenzahl: 578

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Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Brigitte Heinz und Hajo Normann

Licht auf Tantra

Die Philosophie hinter dem modernen Yoga

Aus dem Englischen von Brigitte Heinz und Hajo Normann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der spirituelle Lehrer und Sanskritgelehrte Hareesh Christopher Wallis präsentiert mit Licht auf Tantra erstmals eine leicht zugängliche Einführung in die Philosophie und Praxis des Tantra. Diese Lehre ist deshalb so zeitlos und im Grunde modern, weil sie die Spiritualität auf eine fast radikale Weise mitten ins Leben holt und dieses in all seinen Facetten annimmt und feiert. Seit der Entdeckung des Tantra durch den Westen vor rund 100 Jahren steht der wachsenden Faszination eine Menge an Spekulationen und Fehlinformationen gegenüber. Es ist eine beispiellose Leistung von Hareesh Christopher Wallis, erstmalig die wichtigsten Quellen zusammengefasst und die komplexe Philosophie dahinter allgemein verständlich dargestellt zu haben. Außerdem bietet Licht auf Tantra einen tiefen Einblick und gut umsetzbare Übungen, die in die Praxis heutiger Yogis und Yoginis nahtlos integriert werden können. Die Tradition des Tantra stellt die wahre Basis des im Westen heute so bekannten und beliebten Hatha-Yoga dar und schlägt die überfällige Brücke von den ursprünglichen Quellen zum heutigen Yoga.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Abb. 1: Śri Yantra

Widmung und Segen

»Namas te«, ich grüße dich voller Achtung und Respekt.

Ehrerbietige Grüße an die Eine, Göttin, die in dir wohnt, als du. An das Göttliche, das du bist.

Ehrfurchtsvolle Grüße an das göttliche Licht des Bewusstseins, das sich als das gesamte Universum aus materiellen und immateriellen Dingen manifestiert. Das alle Erfahrungen erst möglich macht. Das in der Form wahrer Weisheit aus der spontanen, freudvollen Intuition seiner eigenen, aus sich selbst heraus leuchtenden Natur hervorstrahlt.

Mögen alle scheinbaren Hindernisse, die der Entfaltung auf dem Pfad und der Vollendung dieses Werkes im Wege stehen, durch die Erkenntnis aufgelöst werden, dass sie in ihrer Essenz-Natur nicht vom all-umfassenden Bewusstsein getrennt sind – dass sie der Pfad sind und dass sie die eigentliche spirituelle Arbeit darstellen.

Möge das Eintauchen in den nährenden Ozean der Tantrik-Lehren dich auf der Reise zum Bewusstsein deiner eigenen wahren Natur unterstützen und dich freudig weit über das hinausheben, was dein Verstand jemals für dich für möglich gehalten hat, in eine ganz neue, ausgedehnte Welt voller Wunder und Schönheit.

Wenn du dein eigenes Selbst kennst, mögest du das Licht dieses hehren Bewusstseins ausstrahlen und alle Wesen damit erhellen. Mögest du auf diese Weise eine Manifestation der göttlichen Gnade in dieser Welt zum Nutzen aller Wesen werden.

 

Dieses Buch ist dir gewidmet.

Mögen alle Wesen frei sein! Mögen alle Wesen frei sein! Mögen alle Wesen frei sein!

 

Hariḥ Oṃ Tat Sat

Vorwort

Was macht Licht auf Tantra so außergewöhnlich?

Dieses Buch richtet sich an eine Leserschaft, die nicht nur aus Fachleuten besteht, das heißt sowohl an spirituell Praktizierende (Yogīs) als auch an Studierende.1 Es bietet einen gekürzten Überblick über die Blütezeit des klassischen Tantra (ca. 8.–12. Jh.). Die Zitate basieren auf den originalen handschriftlichen Quellen in Sanskrit und den besten wissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte, insbesondere auf den großen Durchbrüchen in der Tantra-Forschung.

Warum dieses Buch genau in unsere Zeit passt

Dieses Buch entspringt meiner Wahrnehmung, dass außerhalb eines relativ kleinen Kreises von Fachleuten das Bewusstsein für den enormen Einfluss der tantrischen Traditionen auf die Entwicklung des asiatischen spirituellen Denkens immer noch nahezu vollkommen fehlt. Durch die Veröffentlichung der Ergebnisse meiner theoretischen wie praktischen Erfahrungen möchte ich meinen Beitrag dazu leisten, dass sich das ändert.

In Universitätskursen über indische Religion werden diese Traditionen entweder nicht gelehrt oder nur kurz und in grob verzerrter Weise gestreift. Und in zahllosen populären Büchern wie dem American Veda werden Lehren, die aus dem Tantra stammen, fälschlicherweise anderen Strömungen der indischen Religion zugeordnet.2

Dieses Buch – gerade weil es das Ziel verfolgt, eine breitere Leserschaft zu erreichen – ist notwendig, um die Dinge richtigzustellen und um präzise und in der Tradition verwurzelte Antworten auf die vielen Fragen zu geben, die interessierte Praktizierende des modernen Yoga über »das wahre Tantra« stellen.

Der Zweck dieses Buches

Das Ziel dieses Buches ist es, die folgenden Fragen klar zu beantworten:

Was ist Tantra?

Welches sind seine geistigen und philosophischen Grundgedanken?

Was ist seine Geschichte und wer sind seine wichtigsten Vertreter? (ausführlicher unter https://lichtauftantra.com)

Welche sind die grundlegenden Praktiken?

Welche Bedeutung hat Tantra für die gesamte Geschichte des indischen Yoga?

Inwieweit ist es möglich, alte tantrische Lehren und Praktiken in eine moderne westliche Yoga-Praxis einzubeziehen?

Das Buch möchte aber noch viel mehr: Es bietet dem Leser ein Eintauchen in eine spirituelle Welt, die eine radikale persönliche Transformation und ein dauerhaft erweitertes Bewusstsein auslösen kann.

Inhaltliche Bandbreite des Buches

Du fragst dich vielleicht, worum es in diesem Buch geht, insbesondere, was sein Gegenstand »klassisches Tantra« bedeutet. Dieser Ausdruck unterscheidet unser Thema von den späteren hinduistischen Tantra- und Haṭha-Yoga-Traditionen und auch vom modernen westlichen Neo-Tantra. Das klassische Tantra ist mit einer bestimmten religiösen Tradition namens »Śaiva-Śakti« verbunden, auch bekannt als Shaivismus (= Shivaismus), der dominierenden Religion Indiens während des gesamten Mittelalters. Aber es gibt auch das buddhistische Tantra, und Licht auf Tantra hat den Anspruch, eine Einführung in das Tantra insgesamt zu sein, wie es sich in seiner Blütezeit über große Teile Asiens verbreitet hat. Es ist also auch für diejenigen relevant, die im Buddhismus zu Hause sind und sich für die buddhistische Form des Tantra interessieren – gerade weil Letztere dem klassischen Śaiva-Śakti-Tantra so ähnlich ist. Das ist kein Zufall, denn die Praktiken des buddhistischen Tantra, die im früheren (nicht-tantrischen) Buddhismus nicht zu finden sind, wurden direkt vom klassischen Śaiva-Śakti-Tantra übernommen.3 Darüber hinaus ist ein Großteil der spirituellen Philosophie des Buddhismus, der nur in seiner tantrischen Phase zu finden ist, den non-dualen tantrischen Lehren, die den Kern dieser Darstellung bilden, äußerst ähnlich.4 Die historische Priorität und Vorherrschaft des Śaiva (= Śaiva-Śakti)-Tantra über alle anderen Formen des Tantra war deswegen nicht allgemein bekannt, weil es in früheren Generationen viele Forschende im Bereich des Buddhismus gab, während sich praktisch niemand für Śaivismus interessierte. Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, dass die tantrische Tradition, die in der gesamten Himālaya-Region blühte, weit über die starren Grenzen zwischen religiösen Strömungen hinausging, die für konfessionelle Konservative und Gelehrte so wichtig sind.5 Daher kann dieses Buch, obwohl es sich auf Śaiva-Tantra konzentriert, in der Tat als angemessene Orientierung für Tantra im Allgemeinen dienen, d.h. für die Weltanschauung und die Praktiken, die den verschiedenen Tantrik-Religionen gemeinsam sind.

Wie man mit dem Buch am besten arbeiten kann

Durch unterschiedliche Herangehensweisen versuche ich, die Kluft zwischen denen zu überbrücken, die ein ernsthaftes spirituelles Interesse an Tantra haben, und denen, die wissenschaftlich interessiert sind, aber nicht fließend Sanskrit verstehen. Überwiegend ist es informell gehalten und leicht zu lesen, gelegentlich ist es ein wenig schwieriger und philosophisch. Da sich das Thema des Buches nur schwer in linearer Form darstellen lässt, ist es mit »Querverweisen« versehen.

Die Schlüsselstellen sind am Rand mit einem symbolischen Hinweis (Kreis) versehen und fett hervorgehoben, du kannst sie als Fokus für deine Meditation nutzen. Auch das Register und die Anmerkungen können dir helfen, dich aktiv mit dem Text auseinanderzusetzen. Lass dich auf ein Zwiegespräch mit diesem Buch ein, und die möglicherweise bewusstseinsverändernde oder sogar lebensverändernde Erfahrung, die es dir bietet, wird von viel größerer Qualität sein.

 

Zitate sind durchgängig mit einem Anführungszeichen markiert; das gilt sowohl für Übersetzungen der ursprünglichen Sanskrit-Texte als auch für zeitgenössische Zitate.

 

Praxis-Übungen sind mit einem »P« an der Seite versehen. Es gibt Hinweise auf Übungen aus dem VBT sowie am Ende des Buches ein ausführliches Kapitel über ein Beispiel der meditativen Visualisierung: Das Feuerrad, dessen Einzelelemente zumeist auch als eigene Praxis-Übungen durchgeführt werden können.

Abb. 2: Kīrtimukha (Schutzgottheit)

Inhaltlicher Überblick

Tantra – Eine Übersicht

Fragen und Antworten

 

Invocation – non-duale Anrufung des Göttlichen

Die Philosophie des non-dualen Śaiva-Śakti-Tantra

Die Weltsicht

Denkanstöße fürs Leben

Die Kategorien tantrischer Philosophie

Die Traditionslinie »Trika«

Eine Einführung in die Praxis des Śaiva-Tantra

Zusammenfassung & Wie geht es weiter?

 

Abschluss-Segen

Danksagungen und Biografie

Anhang

Einleitung

Tantra – eine Übersicht zur Orientierung

Tantra ist hip. Wir sehen es auf den Titelseiten populärer Zeitschriften und Bücher, zumeist mit suggestiven Andeutungen von sexuellen Erfahrungen der Superlative.

Obwohl fast jede*r dieses Wort schon einmal gehört hat, weiß kaum jemand Genaueres über die historische Entwicklung der indischen spirituellen Tradition – auch oft diejenigen nicht, die von sich sagen, dass sie Tantra lehren. Akademische Studien zu Tantra haben wenig bis gar keine Ähnlichkeit mit dem, was unter dem gleichen Namen in Workshops der westlichen alternativen Spiritualität gelehrt wird. Es ist nicht der Hauptzweck dieses Buches, zu erklären, warum diese Kluft so tief ist – sie entstand aus einer komplexen Aneinanderreihung seltsamer Missverständnisse sowie kultureller Fehlinterpretationen. Wir geben hier einfach einen umfassenden Überblick über die ursprüngliche indische spirituelle Tradition, die in Sanskrit-Schriften, den sogenannten tantras (daher der Name), formuliert wurde.

Warum sollte dies für die/den modernen Westler von Interesse sein? Es gibt einen wichtigen Grund: Millionen von Menschen im Westen praktizieren heute etwas, das Yoga genannt wird. Eine Praxis, die zwar in Form und Kontext stark verändert wurde, aber in vielerlei Hinsicht auf die klassische Tantrik-Tradition zurückgeführt werden kann. Ähnliches gilt für moderne Formen des Buddhismus – insbesondere dessen tibetische Ausprägung hat seine Wurzeln im Tantra. Wie wir sehen werden, ist die heute sowohl im Westen als auch in Indien weit verbreitete Vorstellung, dass der moderne Yoga aus der vortantrischen Tradition des Yoga, die durch PatañjalisYoga-sūtra repräsentiert wird, hervorgegangen ist (oder sogar mit ihr verbunden ist), falsch. Das Yoga-sūtra lehrt nur die Praxis der transzendentalistischen Meditation, im Gegensatz zu der umfangreichen Literatur über verkörperte yogische Praxis, die wir in der tantrischen Tradition finden. Da Patañjalis Text nach dem 12. Jh. in Indien nicht mehr weit verbreitet war, kann man mit Sicherheit sagen, dass alles, was wir von seinen Gedanken in der Haṭha-Yoga-Tradition finden, dort durch die Tantrik-Tradition weitergegeben wurde.6 Dazu folgt im nächsten Abschnitt und Kapitel mehr → Haṭha-Yoga.

In Anbetracht der weit verbreiteten terminologischen Verwirrung rund um das Wort Tantra bitte ich dich als Leser*in, deine Vorstellungen von allem zu befreien, was du darüber zu wissen glaubst, und hier mit diesem Buch ganz neu anzufangen. Auf diese Weise habe ich die Chance, dir die ursprüngliche tantrische Weltsicht näherzubringen: Die Möglichkeit, in eine Sichtweise und ein Verständnis der Realität einzutauchen, die dich bis in die tiefsten Ebenen deines Seins herausfordern und erhellen kann.

Yoga ist mehr, als man denkt

Yoga ist historisch gesehen mehr als nur eine Asana-Praxis, es ist auch mehr als Meditation und Atemübungen. Das, was heute in den Yogastudios praktiziert und gelehrt wird, hat vieles von seiner eigenen Geschichte vergessen. Yoga war und ist eine lebendige Tradition, die ganz grundlegend von der historischen Epoche des Tantra beeinflusst ist. Das Ziel dieses Buches ist es, einiges von dem spirituellen Schatz, der in Vergessenheit geraten ist, wiederzuentdecken und zu integrieren. Dabei richten wir den Blick darauf, inwieweit solche Erkenntnisse unser heutiges Leben bereichern können. Fest steht, dass die meisten populären Lehren und Texte des 20. Jh. über die indische Denkweise und Praxis (etwa zu den Chakras), so unterhaltsam und fesselnd sie waren, ihren Gegenstand weitgehend aus dem kulturellen und traditionellen Zusammenhang rissen, ihn inkohärent darstellten und den Sanskrit-Bedeutungen gegenüber ignorant waren, um ihnen mehr »Praxistauglichkeit« zu geben. Oder aber solche Texte waren systematisch, um einem akademischen Kontext Rechnung zu tragen – aber dabei leider auch trocken, langweilig und fade. Es ist an der Zeit, das Zerrbild vom Tantra durch eine lebendige und wertschätzende Sicht zu ersetzen. Keine andere indische Tradition wurde und wird derart missverstanden wie Tantra; vor allem vor dem Hintergrund seines tiefgreifenden Einflusses auf die gesamte globale Spiritualität.

Was ist historisch, was ist neu?

Als historisch und philosophisch interessierter Akademiker liegt mir daran, interessierten Menschen dabei zu helfen, zwischen neuen Ideen und solchen zu unterscheiden, die es schon länger gibt. Ich behaupte keineswegs, dass das Alte besser oder von Natur aus legitimer sei als das Neue, aber es ist meine Aufgabe, Leser in die Lage zu versetzen, genau zu erkennen, welche Ideen in den Tantrik-Traditionen beständig und weit verbreitet und daher zentral sind und welche eher peripher sind (etwa als allzu freie, eigenmächtige Interpretationen von Texten). Warum sollte diese Unterscheidung wichtig sein? Aus der Sicht der Praktizierenden ist es hilfreich, die zentralen Lehren einer bestimmten spirituellen Tradition zu identifizieren. Denn jede Tradition hat im Laufe der Zeit die wirksamsten Lehren und Praktiken bewahrt und diejenigen verworfen, die sich als unwirksam erwiesen haben.

Leider kann daraus nicht gefolgert werden, dass alle wirksamen Praktiken überlebt haben. Aufgrund historischer Diskontinuitäten (wie der muslimischen Eroberung) gingen viele wirkungsvolle Lehren verloren. Dieser Schwund der Tradition ist im indischen Fall besonders tragisch, weil aufgrund der kulturellen Einstellung zur Weitergabe von Wissen und dem Wunsch, an ein »ewiges Dharma« zu glauben, im Allgemeinen nicht zugegeben wird, dass etwas Bedeutendes verloren gegangen ist. Dies erklärt, warum die moderne indische Kultur wenig Anstrengungen unternimmt, die Literatur einer der umfangreichsten, schönsten und wirksamsten spirituellen Traditionen ihrer langen Geschichte, des Śaiva-Tantra, wiederherzustellen.

Der Prozess des Aufspürens und Zusammenbringens von Teilstücken aus unterschiedlichen Überlieferungen, die zu erprobten Praktiken und Übungen führen, ermöglicht es uns, unsere spirituelle Reise vertrauensvoll auf die Basis einer soliden Grundlage des Verstehens zu stellen. Das ist wichtig, denn es geht keineswegs darum, Wissenslücken mit irgendeinem Halbwissen zu füllen, oder – wie es einige moderne Yogalehrende getan haben – einfach Ideen zu erfinden, die auf der Grundlage individueller Erfahrungen gut klingen. Auch hier möchte ich nicht behaupten, dass eine traditionelle Denkweise oder Technik für dich als Individuum unbedingt effektiver ist als eine neue. Aber wahr ist, dass nur die Zeit zeigen wird, ob eine neue Technik oder Lehre ausreichend wirksam ist, um dauerhafter Bestandteil einer lebendigen spirituellen Tradition zu werden.

Warum ist die Geschichte des Tantra für uns interessant?

Die Geschichte der Tantrik-Traditionen ist faszinierend. Sie besteht nicht nur aus historischen Fakten, sondern es finden sich hier inspirierende und kraftvolle Ideen – darunter einige der originellsten, die jemals in Bezug auf das menschliche Potenzial entwickelt wurden.

Historisch gesehen waren diese Ideen untrennbar mit transformativen spirituellen Übungen verbunden. Einige Praktiken, die ihren Ursprung im Tantra haben, wurden zwar bis in die Gegenwart überliefert, haben sich aber von ihren ursprünglichen philosophischen und spirituellen Grundaussagen gelöst. So ist die Tradition des Haṭha-Yoga, die Grundlage des modernen Yoga, ursprünglich aus dem Śaiva-Tantra hervorgegangen. Die Tantrik-Meister entwickelten ihre Lehren und Techniken als ein zusammenhängendes Ganzes, als eine gut ausgearbeitete, alles mit allem verbindende Matrix. Ein ausgeklügeltes Gesamtsystem, das darauf ausgerichtet ist, uns dauerhaft von Unwissenheit und Leiden zu befreien. Wenn du also die tiefgründige Sicht auf die Realität verstehst, die ursprünglich in Verbindung mit diesen yogischen Praktiken gelehrt wurde, stärkt dieses Wissen deine Praxis, inspiriert dich auf deinem Weg und gibt dir große Klarheit und Fokussierung.

In der heutigen Yoga-Welt gibt es ein großes Missverständnis über die historischen Fakten der Entwicklung yogischer und tantrischer Traditionen. Das Wissen über historische Fakten – soweit es dem aktuellen Stand der Forschung entspricht – hilft uns, unsere Fantasien darüber, wie die Dinge sind (und waren), durch eine präzisere Annäherung an die wirkliche Realität zu ersetzen. Dies ist ein Prozess, der uns auf mindestens drei wichtige Arten herausfordert. Er fordert von uns, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie gerne hätten. Er erdet uns im Bewusstsein der überaus menschlichen Schwierigkeiten, die mit dem Erlernen, Leben und Lehren eines spirituellen Weges verbunden sind, und hilft uns so, Mitgefühl für andere und Geduld mit uns selbst zu entwickeln. Schließlich hindert er uns daran, fadenscheinige oder schlichtweg falsche historische Behauptungen zu benutzen, um zu rechtfertigen, was wir für den besten Weg oder die korrekte Form der Yoga-Praxis halten.

Die Kenntnis der historischen Hintergründe kann uns vor einigen Fehlern bewahren. Auf einer soliden Wissensgrundlage können wir unsere eigene Erfahrung besser einordnen und sie anderen gegenüber auch darstellen.

Nun folgt ein kurzer Überblick über die Geschichte des Tantra. Eine ausführliche Beschreibung sowie eine weitergehende Erläuterung von neun Traditionsschulen (sampradayas) findest du unter https://lichtauftantra.com. Zunächst schauen wir uns das Spektrum der grundlegenden Traditionsgruppen an.

Frühes Śaiva-Tantra: zwei Hauptlinien

Gehen wir nun einen Schritt zurück und skizzieren die allgemeinen Merkmale der entstehenden spirituellen Landschaft des Śaiva-Tantra in den ersten Jahrhunderten (insbesondere 700-1.000 n.u.Z.). Es ist eine Tradition mit zwei Hauptströmungen. Auf der einen Seite haben wir eine dualistische Tradition, die als »rechte Strömung« bezeichnet wird. Sie betont die Verehrung von Śiva ohne Śakti und den Glauben, dass die Befreiung ausschließlich das Ergebnis einer kraftvollen rituellen Einweihung und der anschließenden rituellen Praxis sei. Sie stellt die von den brāhminischen Priestern der vedischen Gesellschaft vorgeschriebenen sozialen Normen nicht infrage, sondern strebt vielmehr nach deren Akzeptanz. Diese Strömung wird Śaiva Siddhānta genannt (siddhānta bedeutet »die etablierte Lehre« oder »die Orthodoxie«). Ihre Anhänger werden Saiddhāntikas genannt. Śaiva-Siddhānta war die erste der Tantrik-Gruppen, die ein kohärentes Werk von Schrift-Texten und Kommentaren vorlegte. Wie alle Śaiva-Tantrik-Traditionen war auch Siddhānta ursprünglich pan-indisch. Im Laufe der Zeit wurde sie im Süden besonders erfolgreich, insbesondere in der Tamiḷ-Region, unterstützt durch und verbunden mit der dortigen starken Bhakti-Bewegung – der ehrfurchts- und liebevollen Hingabe an Śiva und andere Götter und Göttinnen.

Die linke Strömung des Śakti-Śiva-Tantra – deren Philosophie wir auch als »NŚT« (non-duales Shakti-Shiva-Tantra) bezeichnen – war eine vorrangig non-duale Gruppe von Traditionslinien, die schwerer zu fassen ist, weil sie weniger untereinander übereinstimmend und institutionalisiert waren. Allgemein gefasst betonen ihre Anhänger die Verehrung von Göttinnen. Sie lehren, dass die Befreiung in diesem Leben möglich ist (und nicht nur an dessen Ende) – als Ergebnis kraftvoller spiritueller Erfahrungen, die durch die Kultivierung von Einsicht und Yoga erlangt werden. Sie stellen die traditionelle Gesellschaftsordnung auf verschiedene Weise infrage, beispielsweise durch die Stärkung der Frauen und die Durchführung von Ritualen mit Elementen, die bestehende Normen überschreiten (vgl. auch Zusammenfassung).

Diese linksgerichteten Gruppen tragen eine Vielzahl verschiedener Namen, bezeichnen sich aber schließlich selbst mit dem Überbegriff »Kaula« (aus: Familie, kula). Gemeint ist hier die Familie der esoterischen Tantrik-Göttinnen. Auch wenn es historisch gesehen etwas vereinfachend dargestellt ist, können wir die gesamte linke Strömung mit dem Oberbegriff Kaula bezeichnen.7

Aber es gab auch eine eigene Traditionslinie mit dem Begriff Kaula und eine weitere Tradition, die sich Kaula-Trika nannte. Der Tatsache, dass sich ein Oberbegriff in den untergeordneten Punkten wiederholt, werden wir noch häufiger begegnen.

Zwischen den beiden Hauptströmungen gab es eine Art Mittelweg. Obwohl kulturell und ästhetisch reichhaltig, war er philosophisch unverbindlich und formulierte keine kraftvolle Theologie.

Abb. 3: Die Traditionslinien

Die gemeinsamen Kernlehren des Śaiva-Tantra

Was also hatten und haben all diese Strömungen, von dual bis hin zu non-dual, gemeinsam? Sie hielten sich an die grundlegenden Lehren des Śaiva-Tantra, auf die wir später im Buch ausführlicher eingehen werden. Die individuelle Seele ist von Natur aus göttlich, d.h., sie ist von der gleichen Natur wie Gott. Aber sie existiert in einem verschleierten Zustand, sodass sie ihre eigene wahre Natur nicht kennt. Deshalb leidet sie. Aus Mitgefühl hat die Gottheit Schriften offenbart, die erklären, wie die Seele aus diesem gebundenen Zustand befreit werden kann (vgl. auch Die Upāyas).

Die wichtigsten Unterschiede

Die beiden Strömungen waren in vielen Punkten sehr unterschiedlich. Die rechtsgerichteten Saiddhāntikas glaubten, dass mala oder Unreinheit eine tatsächliche psychische Substanz sei, die die Seele befleckt, und dass nur rituelle Handlungen die Seele reinigen können (vgl. auch Die drei Malas). Im Gegensatz dazu vertraten die Vertreter der linken Strömung die Ansicht, dass mala in Wirklichkeit nichts anderes ist als Unwissenheit. Unwissenheit (über unsere immer vorhandene wahre Natur) ist die einzige Ursache für Knechtschaft und Leiden, daher kann uns nur die Einsicht in die wahre Natur der Dinge wahrhaft befreien. Dieser Unterschied zwischen den beiden Strömungen ist das notwendige Ergebnis ihrer jeweiligen dualistischen und non-dualistischen Lehren.

Die Non-Dualisten lehren, dass die Seele in Wirklichkeit nie von Gott getrennt ist, denn das Göttliche ist alles, was existiert – während Dualisten genau von dieser Trennung ausgehen. Daher bedeutet Befreiung lediglich, eine vollständige und dauerhafte Erkenntnis und tief erfahrene Einsicht darüber zu haben, wie die Dinge wirklich sind und schon immer waren. Es gibt kein Problem, und es hat nie ein Problem gegeben – außer der Tatsache, dass man glaubt, es gäbe ein Problem: das fehlerhafte menschliche Verständnis, dem alles Leiden entspringt.

Frühe schamanistische Wurzeln und ihre Neuinterpretation durch »Kaula«

Während die rechte Strömung des Siddhānta ihre Religion nach vedischem Vorbild gestaltete, das in der früheren indischen Elite-Religion vorherrschend war, entstand der linke Kaula-Pfad aus einer ebenso alten wie auch volksnahen Schicht der indischen Religion. In dieser faszinierenden und seltsamen schamanistischen, visionären Welt ging es um die Erlangung von Macht und auch um die Besänftigung von Naturgöttinnen und tierköpfigen Yoginīs – teilweise durch Blutopfer, unter Verwendung von Leichenteilen und der Asche von Verbrennungsstätten.

Die eher modern anmutende Ausdrucksform des non-dualen Śaiva-Tantra der linken Strömung reinigte gewissermaßen die abstoßenden Elemente der frühen Göttinnenverehrung. Dies geschah, indem es sie als Elemente der inneren spirituellen Erfahrung neu interpretierte. Die Kaulas waren große Ästheten, besonders in Kashmīr, wo die linke Strömung blühte. Für sie war der höchste Bewusstseinszustand der des camatkāra, des Staunens oder der ästhetischen Verzückung – die Erfahrung des Wunders der rohen und lebendigen Schönheit der verkörperten Existenz. Ihre Ästhetisierung der früheren Tradition passte gut zu ihren non-dualistischen Überzeugungen. Denn nun konnten sie selbst die scheinbar so furchterregenden Zustände des Todes und die sogenannten Makel (malas) als Aspekte ihres eigenen göttlichen inneren Wesens betrachten, als Facetten der gesamten Schönheit der Existenz. Man kann diese Perspektive in bestimmten Varianten der Tantrik-Kunst sehen, die immer noch existiert und oft wilde wie zugleich wohlwollende Gottheiten darstellt, z.B. in der Kunsttradition der Newars aus dem Kāthmāndu-Tal, dem Kunststil, der die Illustrationen in diesem Buch inspiriert hat.8 Kämpferische, furchterregende und wilde – dabei Ehrfurcht einflößende – Gottheiten, die auf der anderen Seite auch nährend und liebevoll umarmend sind, sind ein exklusives Merkmal der non-dualen Richtung des Tantra.

Welcher Weg ist richtig?

Diskussionen darüber, welcher Weg der beste oder authentischste sei, sind fruchtlose Unternehmungen. Noch schlimmer ist es, wenn diese Argumente durch falsche Tatsachen und eine verworrene und unvollständige Kenntnis der Geschichte »untermauert« werden. Wenn du hingegen deine Erfahrungen und das, was für dich als Individuum funktioniert, offen und ohne Hintergedanken mitteilst, kannst du dich mit anderen verbinden und sie dazu einladen, über ihre eigenen Erfahrungen nachzudenken. Das ist Yoga: eine Verbindung, die allen dient.

Wissenschaftliche Arbeit und »Wahrheit«

Nun ein Wort zur Methodik guter wissenschaftlicher Forschung und zu den Ergebnissen, die sie hervorbringt. Manche Menschen, die vom sogenannten postmodernen Denken beeinflusst sind, betrachten jede Behauptung in Bezug auf Fakten oder geschichtliche Vergangenheit mit Misstrauen. Sie ziehen es vor, einfach alles als eine subjektive Erzählung zu betrachten, und lehnen es ab, Wahrheitsansprüchen irgendeine Autorität zuzugestehen. Sie postulieren, dass die »Wahrheit« eines jeden, auch wenn sie sich von dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konsens unterscheidet, gleichermaßen gültig ist.

Auch wenn dies in Bezug auf unsere individuelle psychologische Erfahrung der Welt stimmen mag, so haben die Geisteswissenschaften und die »harten« Wissenschaften gezeigt, dass es tatsächlich so etwas wie wirkliche Tatsachen gibt. Wie zeigen sie das genau? Ganz einfach: Sie stützen sich auf eine ausreichende Menge an Beweisen, wägen diese sorgfältig ab und nutzen sie dann, um eine Vorhersage zu treffen. Wenn neue Beweise auftauchen, die zeigen, dass diese Vorhersage richtig ist, erweisen sich die Informationen und die für die Vorhersage verwendete Methode als gültig. Dafür gibt es in den Naturwissenschaften viele Beispiele. Schwarze Löcher beispielsweise wurden auf der Grundlage von mathematischen Modellen vorhergesagt, lange bevor sie von Astronomen beobachtet wurden. Was die Physiker aufgrund ihres genauen Verständnisses der physikalischen Gesetze des Universums wussten, wurde häufig im Nachhinein durch Beobachtungen bestätigt.9 Auch in den Geisteswissenschaften gibt es Beispiele dafür – dazu zählt auch die Erforschung Indiens –, sie sind jedoch zu komplex, um sie hier detailliert zu erläutern.10 Ich möchte noch hinzufügen, dass ich ausschließlich Tatsachen darstellen werde und nichts, wofür es keine stichhaltigen Beweise oder keinen wissenschaftlichen Konsens gibt. Zu akzeptieren, dass es so etwas wie Fakten gibt, erfordert Demut und die Flexibilität, den eigenen Standpunkt aufzugeben, wenn er sich als falsch erweist. Auch dies ist Teil der Tradition des Yoga.

Natürlich gibt es auch viel Raum für die/den Einzelne*n, eigene Überzeugungen zu entwickeln, denn diese philosophischen Traditionen befassen sich zum Teil mit metaphysischen Fragen, für die es keine endgültigen Beweise gibt, weder für die eine noch für die andere Seite. Für Tantra bedeutet das, es spricht das höhere Denken mit philosophischen Diskursen und ganzen Welten aus Konzepten an, die hilfreich sind, um Wichtiges zu erkennen. Es führt aber auch zur Befreiung, indem es zeigt, dass die Erfahrungen, auf die es ankommt, jenseits der Konzepte, jenseits des Denkens, zu finden sind. In diesem Sinne transzendiert Tantra die Ebene des Intellekts und führt in das Reich der Wahrnehmung. Im Tantra wird die eigene kontemplierte Erfahrung zur wichtigsten Grundlage für die Formulierung deines Verständnisses der Realität. Wenn die Weisheit – die aus sorgfältig reflektierter Erfahrung verbunden mit fundiertem Faktenwissen folgt – für dich stimmig ist, hast du ein starkes Fundament, von dem aus du sowohl auf dem Pfad des Yoga als auch in der Welt des Alltags erfolgreich navigieren kannst.

Was steckt hinter dem Namen?

Die Bedeutung des Wortes »Tantra«

Im Folgenden werde ich die Entwicklung des Wortes »Tantra« erläutern, ausgehend von seinen einfachen und allgemeinen Bedeutungen bis hin zu seinen komplexen und spezifischen Verwendungen. Zunächst einmal ist tantra ein Sanskrit-Wort mit verschiedenen Bedeutungen, darunter »Theorie«, »Lehre« oder einfach »Buch«. Obwohl das Wort ganz generell für Bücher stehen kann, bezieht es sich in der Regel auf Texte, die ihrem Anspruch nach von Gott bzw. Göttin offenbart wurden. Diese Tantras erschienen in Indien ab dem 6. Jh.n.u.Z. und wurden in den folgenden tausend Jahren in großer Zahl verfasst. Die Texte trugen auch andere Namen, wie z.B. āgama(»das, was zu uns herabgekommen ist«). Daher könnte man die tantrische Tradition auch als die āgamische Tradition bezeichnen.

Tantra hat im Zusammenhang mit solchermaßen offenbarten Schriften eine ganz konkrete Bedeutung: Es bezieht sich auf ein spezifisches System der Praxis. Jedes Tantra stellt ein mehr oder weniger vollständiges System der spirituellen Praxis dar. Ein bestimmter Guru arbeitete also in erster Linie mit einem einzigen Tantra (obwohl er es manchmal durch verwandte und untergeordnete Texte ergänzte) und lehrte seine Schüler auf der Grundlage dieses spezifischen Tantra. In diesem Sinne bedeutet Tantra also einfach »ein System spiritueller Praxis, das in einem bestimmten heiligen Text formuliert ist«. Die Menschen in der ursprünglichen Tradition würden sich daher gegenseitig fragen: »Welchem Tantra folgst du?«.

Woher kommt der Name?

Westliche spirituelle Lehrer erklären oft, dass »Tantra« für »Webstuhl« oder »weben« steht, und diese Bedeutungen finden sich tatsächlich auch im Wörterbuch – aber diese Verwendung ist lediglich ein Homonym (gleichlautend, aber verschieden in der Bedeutung – vgl. das Spiel »Teekesselchen«). Keiner der Tantrik-Texte führt dies als die Bedeutung von »Tantra« an. Die Tradition bietet jedoch einige interpretierende Etymologien (Wort-Historien) des Wortes »Tantra« an. Eine interpretative Etymologie ist eine Herangehensweise, das Wort in seine Bestandteile zu zerlegen, was eine Entschlüsselung der inneren Bedeutung des Wortes ermöglicht. Die am häufigsten gefundene Etymologie von »Tantra« zerlegt das Wort in die Wortwurzeln Ãtan und Ãtra, wobei erstere »ausbreiten, ausarbeiten, erweitern« und letztere »retten, schützen« bedeutet.

Betrachten wir die etymologische Herleitung in einem der ursprünglichen Texte, dem Kāmikā-tantra:

Weil es reichhaltige und tiefgründige Fragestellungen sorgfältig ausarbeitet und erklärt, besonders in Bezug auf die Prinzipien der Realität [tattvas] und Mantras, und weil es uns [aus dem Kreislauf des Leidens] rettet, wird es Tantra genannt. Kāmikā

Mit anderen Worten: Tantra verbreitet (tan) Weisheit, die rettet (tra). Die zweite Wortwurzel hat eine doppelte Bedeutung, denn sie spielt auf die Tatsache an, dass Tantra-Praktiken uns ein Mittel an die Hand geben, um uns zu stärken und uns vor weltlichem Schaden zu schützen sowie die ultimative spirituelle Befreiung zu verleihen. Wir könnten ebenso gut sagen, dass ein Tantra ein Werkzeug (tra) zur Ausdehnung/Expansion (tan) ist, wie ein Mantra ein Werkzeug zur Arbeit mit dem Geist (man) und ein Yantra ein Werkzeug zur Kontrolle (yan) ist.

Ein gutes Beispiel für eine moderne interpretierende Etymologie finden wir in der Interpretation moderner Lehrer, die darauf verweisen, dass die Wortwurzel Ãtan »dehnen, ausdehnen« bedeutet, mit dem Vergleich, dass Tantra unser Bewusstsein ausdehnt und unsere Fähigkeit zur Freude vergrößert. Obwohl das in dieser Form nicht in den ursprünglichen Quellen zu finden ist, entspricht es der eigentlichen Bedeutung.

Im vormodernen Indien erhielten die Menschen ihre Tantrik-Einweihung gewöhnlich von einem einzigen Guru einer bestimmten Linie, und sie führten die vorgegebene tägliche Praxis auf der Grundlage eines einzigen Tantras aus. Für einen Praktizierenden war Tantra als spirituelle Bewegung also nichts Hochkomplexes, denn es war unerheblich, was andere Tantras oder Gurus sagten.

Im Gegensatz dazu hat der westliche Geist gerne ein Gefühl für die gesamte Landschaft und formuliert auf dieser Grundlage allgemeine Definitionen. Im Unterschied zu ihren indischen Kollegen haben westliche Forscher daher versucht, Tantra als Phänomen, als religiöse Bewegung zu definieren, indem sie die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Strömungen betrachteten. Dieser Versuch war nicht sehr erfolgreich, was vor allem daran lag, dass nicht genügend Quellen konsultiert wurden.

Die Definition, die die Tradition selbst gibt

Obwohl die meisten vormodernen Inder keine abstrakten allgemeinen Definitionen formulieren wollten, taten einige ihrer Gelehrten genau das. Wenn wir gründlich genug recherchieren, finden wir sie in den Originalquellen. Meiner Meinung nach hat eine Definition, die aus der Tradition selbst stammt, Vorrang vor Definitionen, die von Wissenschaftlern aus einer fremden Kultur tausend Jahre später angeboten werden.

Schauen wir uns also an, was der tantrische Gelehrte und Guru namens Rāma Kaṇṭha, der vor etwa tausend Jahren lebte, über Tantra sagt:

Ein Tantra ist ein von Gott offenbartes Lehrwerk, das erklärt, was in der Praxis der Gottesverehrung notwendig und was hinderlich ist, und das auch die spezielle Einweihung und auch Reinigungs-Zeremonien beschreibt, die die notwendigen Voraussetzungen für die Tantrik-Praxis sind. Diese Lehren werden denjenigen gegeben, die qualifiziert sind, sowohl die höheren als auch die niederen Ziele der menschlichen Existenz zu verfolgen.11 Rāma Kaṇṭha’s Kommentar zum Sārdhatriśati-kālottara

Der Wortlaut dieser Definition ist durch die Tatsache gefärbt, dass der Autor ein Dualist ist (Gott also ein Gegenüber ist). Dies mag überraschen, da alle im Westen bekannten tantrischen Lehren aus non-dualistischen Quellen stammen. Da Tantra jedoch, wie wir sehen werden, ein kohärentes spirituelles System war, unabhängig von Linien-bedingten Unterschieden wie Dualismus oder Non-Dualismus, sind die Punkte von Rāma Kaṇṭhas Definition allgemein anwendbar. Außerdem ist die Definition wichtig, da sie der einzige uns bekannte Versuch aus dieser Zeit ist, Tantra zu definieren. Betrachten wir die vier Hauptpunkte, die Rāma Kaṇṭha nennt.

Erstens erwähnt er das Erfordernis einer angemessenen Einweihung in den tantrischen Pfad, die ursprünglich die Form einer rituellen Zeremonie annahm. Diese sollte die karmischen Hindernisse für eine erfolgreiche Praxis auflösen, das Ziel der spirituellen Befreiung in die Reichweite des jetzigen Lebens bringen und (auf der unmittelbaren praktischen Ebene) dem Eingeweihten Zugang zu den Schriften und den darin enthaltenen geheimen Praktiken verschaffen. Wir werden am Ende dieses Buches erörtern, ob dieses Erfordernis der Einweihung bedeutet, dass Westler keine wirkliche Tantrik-Praxis ausüben können (vgl. auch Dīkshā). Hier genügt die Feststellung, dass die Einweihung im ursprünglichen Tantra als entscheidend und erforderlich angesehen wurde.

Zweitens hebt seine Definition hervor, was viele Menschen im ursprünglichen indischen Kontext als das Schlüsselelement der täglichen Tantrik-Praxis sahen: »rituelle Verehrung« einer Form des Göttlichen. Nun wird der englische Ausdruck »ritual worship« (rituelle Verehrung) bei einem Westler mit seinem ganz eigenen religiösen Hintergrund wahrscheinlich eine irreführende Vorstellung hervorrufen. »Verehrung« steht hier für die Beschwörung der Macht der Gottheit und die Interaktion mit dieser. Durch Techniken der ritualisierten Meditation und/oder des meditativen Rituals wirst du zu dieser Gottheit, entweder vorübergehend oder als Teil eines Prozesses, durch den jegliche Wahrnehmung von Unterschieden zwischen dir selbst und der Gottheit schließlich dauerhaft ausgelöscht wird.

Wie wir später sehen werden, gibt es auch Formen des Tantra, die gänzlich auf Rituale verzichten und das direkte intuitive Gewahrsein der göttlichen Realität betonen, das durch einfache Praktiken in Verbindung mit den Elementen des täglichen Lebens erreicht wird. Obwohl diese Formen ursprünglich stark in der Minderheit waren, erscheinen sie mir am besten für Westler geeignet (vgl. auch Zusammenfassung).

Drittens besagt Rāma Kaṇṭhas Definition, dass die Tantrik-Praxis zu zwei Zielen führen kann, den »höheren« und den »niederen« Zielen. Erstere beziehen sich auf einen Zustand der spirituellen Freiheit, die Befreiung von allem Leiden, die Erlösung oder die Glückseligkeit, auf deren Wesen wir noch näher eingehen werden. Dieser Zustand wird im Sanskrit gewöhnlich mokṣa oder mukti genannt (Erlösung/Befreiung/Freiheit). Der zweite Zustand bezieht sich auf Ziele des weltlichen Genusses und Wohlstands, die Vergnügen, Macht und alle guten Dinge der materiellen Welt umfassen; er wird gewöhnlich siddhi oder bhukti oder bhoga genannt. Die Tatsache, dass Tantra auf beide Ziele ausgerichtet ist, unterscheidet es maßgeblich von anderen indischen religiösen Traditionen oder sogar von den meisten Religionen der Welt. Obwohl einige Tantrik-Texte fast ausschließlich entweder dem Ziel von mukti oder von bhukti gewidmet sind, war das spirituelle Praxissystem der Tāntrikas im Allgemeinen darauf ausgerichtet, beide Ziele zu erreichen, wobei das Ziel des Vergnügens dem Ziel der Befreiung untergeordnet wurde (vgl. auch Wo kann ich mehr erfahren?).

Rāma Kaṇṭhas Definition sagt ebenfalls ganz klar, dass Praktiken, die nur auf niedere Ziele ausgerichtet sind, nicht tantrisch sind. Wenn z.B. das Ziel einer Praxis lediglich darin besteht, das eigene Sexualleben zu verbessern, dann kann sie nicht Tantra genannt werden, wie spirituell sie auch klingen mag. Wenn dieses Ziel jedoch Teil einer Praxis ist, in der es konsequent dem Ziel der vollständigen spirituellen Freiheit und des Erwachens zur wahren Natur der Realität untergeordnet wird, dann ist es Tantra.

Viertens und letztens besagt Rāma Kaṇṭhas Definition, dass Tantra etwas ist, das durch von Gott offenbarte Schriften gegeben wird. In dieser Weltanschauung bedeutet das, dass die tantrischen Lehren und Praxisanweisungen durch göttliche Autorität vermittelt sind. Von den Tantrik-Schriften selbst wird immer gesagt, dass sie von einer Form Gottes oder Göttin stammen – Śiva oder Śakti – oder, im buddhistischen Tantra, von einem himmlischen Buddha oder Bodhisattva, was wohl auf dasselbe hinausläuft. Ob diese Tantras nun »wirklich« göttlich offenbart wurden, interessierte die klassischen Autoren nicht besonders; Fragen des Glaubens und der Überzeugung waren für sie einfach nicht so wichtig wie die der Wirksamkeit und Praxis. Da man die Lehren der Schriften von einer vertrauenswürdigen Autorität (guru) erhielt, folgte man seinen Vorgaben, und der Glaube wuchs ganz natürlich, als die Praxis erste Ergebnisse zeigte.

Auf welche Tantrik-Schriften beziehen wir uns?

An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass der Schriftkorpus der Tantrik-Texte bisher fast vollständig unveröffentlicht ist, das gilt sowohl für Indien als auch den Westen. D.h., viele Texte existieren größtenteils nur in Form von Manuskripten (siehe Abb. 4), die für die meisten Menschen physisch und sprachlich unzugänglich sind. Was der breiten Öffentlichkeit in begrenztem Umfang auf Englisch (noch viel weniger auf Deutsch) zugänglich ist, sind nicht die Tantrik-Schriften selbst, sondern Kommentare zu diesen Schriften und andere von ihnen inspirierte Werke, die von großen Tantrik-Meistern geschrieben wurden.12 Diese Kommentare wurden im Laufe der Zeit wie die Schriften selbst bewertet, und so werden sie auch von einigen modernen Gurus präsentiert. Dies ist möglich und auch legitim, da die Kommentare einen hohen Grad an Raffinesse und spiritueller Weisheit aufweisen, die in vielen Fällen wesentlich höher zu sein scheint als die der ursprünglichen Schriften. Der Teil des Tantra, der heute als Kashmīrischer Shaivismus (vgl. auch KSTS) bezeichnet wird, besteht vollständig aus solchen Kommentaren und zugehörigen Schriften, die von einer Reihe von Meistern aus Kashmīr verfasst wurden. Um diese Materialien drehen sich die meisten Diskussionen über die tantrische Philosophie, da sich die heiligen Texte selbst fast ausschließlich mit der Praxis befassen.

Abb. 4: Altes Manuskript einer tantrischen Schrift

Westliche Definitionen und Kategorien

Auch westliche wissenschaftliche Versuche, Tantra zu definieren, sind wertvoll. Obwohl Rāma Kaṇṭhas Definition uns einige entscheidende Informationen gibt, braucht der moderne Leser zusätzliche Parameter, um zu erkennen, wie das ursprüngliche Tantra wirklich aussah. Wissenschaftliche Definitionen geben uns diese Informationen in Form von Listen von Merkmalen und Elementen, die typischerweise im tantrischen Denken und in der tantrischen Praxis zu finden sind. Wir werden nun einige dieser Listen untersuchen. Der wissenschaftliche Versuch, Tantra zu definieren, ist in dem Verständnis verwurzelt, dass es sich um ein spirituelles Phänomen handelt, das alle indischen Religionen bis zu einem gewissen Grad beeinflusst hat.

Es war eine neue Art der spirituellen Praxis, und obwohl sie nur von einem kleinen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung praktiziert wurde, war sie sehr einflussreich. Man kann argumentieren, dass die Tantra-Praxis (und die damit verbundene Art der Betrachtung der Realität) etwas ist, das keiner bestimmten Religion zuzuordnen ist, obwohl sie als esoterische Dimension in vielen Religionen zu finden ist.13

Die indischen Religionen, die es beeinflusste, waren (gestaffelt nach dem Ausmaß an Einfluss): Shaivismus, Buddhismus, Vaishnavismus, Jainismus und indischer Islam.14 Die Innovationen des Tantra wurden fast ausschließlich in den ersten beiden Religionen dieser Liste entwickelt und dann auf die anderen übertragen. Zwischen diesen beiden Religionen hat der Shaivismus historische Priorität, da viele der buddhistischen Tantrik-Texte direkt oder indirekt auf Śaiva-Tantras zurückgreifen, während das Gegenteil selten oder nie der Fall war.15 Obwohl der Shaivismus also die tantrische Religion schlechthin vertrat, wurde der Buddhismus schließlich gründlich »tantrisiert«, und in dieser Form wurde er nach Tibet übertragen. Somit ist der tibetische Buddhismus fast vollständig tantrisch. Jeder Versuch, Tantra als eine allgemeine Kategorie zu definieren, sollte daher sowohl Śaiva-Tantra als auch buddhistisches Tantra einschließen. In der Tat gibt es kaum einen erkennbaren Unterschied zwischen der am ehesten »buddhistischen« Schule des Śaiva-Tantra (Krama) und der dem »Shaivismus« am ähnlichsten Schule des buddhistischen Tantra (vgl. auch Dzogchen). Die Gemeinsamkeiten, die für die Gültigkeit von »Tantra« als allgemeinem Konzept sprechen, werden deutlicher, wenn wir eine Liste von Merkmalen untersuchen, die sowohl auf die Śaiva- als auch auf die buddhistischen Varianten zutreffen.

Indologen haben versucht, herauszufinden, was Śaiva-Tantra, buddhistisches Tantra und Vaiṣṇava-Tantra gemeinsam haben und was somit Tantra an sich ausmacht. Hier kombiniere ich die von fünf verschiedenen Wissenschaftlern (Tribe, Hodge, Goudriaan, Brooks und Lopez) vorliegenden Listen, um eine Übersicht tantrischer Merkmale zu erstellen.

Die Merkmale, die Tantra als spirituelle Bewegung charakterisieren, sind (in loser Reihenfolge):

alternativer Weg/neue Offenbarung/schnellerer Weg

zentrale Bedeutung des Rituals, insbesondere der Beschwörung und Verehrung von Gottheiten

Ausweitung von Anzahl und Art von Gottheiten (im Vergleich zur vorangegangenen Tradition)

Visualisierung und Selbst-Identifikation mit der Gottheit

zentrale Bedeutung von Mantras

Mantras an bestimmte Punkte des Körpers platzieren (nyāsa)

ontologische Identität von Mantras und Göttern (beide bedeuten exakt dasselbe)

Notwendigkeit der Einweihung und Bedeutung der Esoterik/Geheimhaltung

Yoga (bezieht sich zumeist auf Meditations- und Visualisierungspraktiken)

rituelle Verwendung von maṇḍalas und yantras, insbesondere bei der Einweihung

spirituelle Physiologie (d.h. subtle body, feinstofflicher Körper, also Psyche, und Chakras) sowie kuṇḍalinī

Abbilden von Gottheiten und Pilgerstätten auf den Körper des Praktizierenden

Sprach-Mystik

Bedeutung des Lehrers/der Lehrerin (guru, ācārya)

Hinzufügung von weltlichen Zielen, die weitgehend durch magische Mittel erreicht werden

Laien dominieren die Tradition und nicht Asketen

bipolare Symbolik von Gott/Göttin

Non-Dualismus

Aufwertung des Körpers

Neubewertung »negativer« psychischer Zustände

Bedeutung von śakti (Kraft, Energie, Göttin)

Aufwertung des Status und der Rolle der Frau

Handlungen, die allgemeinen gesellschaftlichen oder moralischen Vorstellungen widersprechen (transgressiv)

Anwendung von »sexuellen« Yoga-Praktiken

Kultivierung von Glückseligkeit (ānanda, bliss)

Spontaneität (sahaja)

spezielle Arten der Meditation, die darauf abzielen, den Menschen nach kurzer Zeit »in eine Verkörperung des Göttlichen zu verwandeln«

Die letzten zehn Merkmale gelten eigentlich nur für das non-dualistische oder links orientierte Tantra (vgl. auch Frühes Śaiva-Tantra: zwei Hauptlinien). Es gibt sechs Elemente, die die hervorstechendsten Merkmale des klassischen Tantra darstellen: yogische Meditation, Mantras, Maṇḍalas, Guru, Einweihung und rituelle Verehrung des Göttlichen (unter Verwendung von Feuer, Wasser, Blumen, duftenden Pasten usw.). Trotz ihrer Allgemeingültigkeit können diese Merkmale jedoch nicht als vollständige Definition des Tantra angesehen werden, da sie alle bis zu einem gewissen Grad auch in nicht-tantrischen indischen Religionen zu finden sind.

Diese sechs Aspekte werden in der Regel durch das siebte universelle Merkmal des Tantra, das »Gottheiten-Yoga« (deity yoga), organisiert und erhalten ihre spezifische Form.D.h., man arbeitet mit der Kraft jenes bestimmten Aspekts des Göttlichen, mit dem man durch die Einweihung verbunden wurde. Diese Arbeit erfolgt durch die Verwendung von Mantras, Yantras und/oder der Visualisierung des geweihten Bildes, das jeweils mit einem Gott/einer Göttin verbunden ist. Damit schließt sich der Kreis zum Anfang unserer Diskussion: Eine Praxis ist unbestreitbar tantrisch, wenn sie Gottheiten und ihre Mantras einbezieht. Dies vorausgeschickt, ist es vollkommen angemessen, jede Lehre oder Praxis als tantrisch zu bezeichnen, die in einer ursprünglichen Tantrik-Quelle (sei es in einer Schrift oder einem Kommentar) erscheint.

Es ist nicht möglich, die Bedeutung des Wortes »Tantra« auf einen einzigen Sachverhalt oder ein einzelnes Verständnis festzulegen.

Was bedeuten diese Definitionen konkret?

Die Definitionen, die wir in Betracht ziehen, sind vollständig auf die historische Realität des Tantra in seinem ursprünglichen indischen Kontext ausgerichtet. Als westlicher Interessierter bist du vielleicht enttäuscht über diese Definitionen, denn sie scheinen keine Praxis zu beschreiben, die du als Teil deines Yoga und deiner Lebensphilosophie anwenden könntest. Aber auch wenn es stimmen mag, dass du die Tantrik-Praxis, wie sie im mittelalterlichen Indien am häufigsten anzutreffen war, nicht ausüben kannst, bedeutet das nicht, dass dir keine Form der tantrischen Praxis zur Verfügung steht. Wie du sehen wirst, gibt es Tantrik-Lehren und -Praktiken, die für den Westler sowohl zugänglich als auch kraftvoll wirksam sind. Das Wichtigste an jeder Tantrik-Praxis ist, dass du sie von jemandem erhältst, der darin erfahren ist, der einige oder alle ihrer Fallstricke umschifft und einige oder alle ihre Vorteile erhalten hat.

Mein Schwerpunkt ist das non-duale Śaiva-Tantra

Es ist unmöglich, das gesamte Gebiet des Tantra in einem einzigen Buch zu beschreiben. Der vorliegende Band konzentriert sich daher fast ausschließlich auf die Lehren und Praktiken des non-dualen Śaiva-Tantra. Abgesehen von dem Gebot, das Buch möglichst kurz zu halten, gibt es für diesen Schwerpunkt drei Gründe:

Erstens ist non-duales Śaiva-Tantra mein Fachgebiet.

Zweitens ist Śaiva-Tantra trotz seiner enormen historischen und zeitgenössischen Bedeutung im Vergleich zum tibetisch-buddhistischen Tantra, das im Westen bereits eine große Anhängerschaft hat, noch nicht sehr bekannt.

Drittens, und das ist am wichtigsten, habe ich aus erster Hand erfahren, wie kraftvoll die Lehren des non-dualen Śaiva-Tantra bei westlichen Yoga-Praktizierenden wirken. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass diese Tradition einige der wirksamsten Lehren und Technologien für die menschliche Transformation enthält und dass sie für unsere Zeit besonders relevant ist.

Fragen und Antworten

Wie passt das alles zum Hinduismus?

Die meisten von uns haben gelernt, dass die einheimische Religion Indiens (das früher Hindustan hieß) Hinduismus genannt wird. Was ist Hinduismus, und wie verhält er sich zu Shaivismus und Tantra?

Lass mich zunächst das größte Missverständnis aufklären: Es gibt keinen »Hindu-ismus« – d.h. bis vor Kurzem nicht. Als die europäische Kultur ab dem 16. Jh. begann, mit Indien nachhaltig in Kontakt zu treten, traf sie auf eine verwirrend komplexe Kultur mit Dutzenden von Sprachen und einer Vielzahl von religiösen und kulturellen Traditionen. Von dieser Komplexität überwältigt, bezeichneten die Europäer alle nicht-muslimischen Inder einfach als »Hindus« (abgeleitet von dem persischen Begriff für »Menschen östlich des Indus«) und begannen wenig später, die verschiedenen religiösen Praktiken unter dem Namen Hinduismus zusammenzufassen.16 Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Europäer damals nicht daran interessiert waren, die verschiedenen spirituellen Traditionen Indiens zu erforschen und eine genauere Terminologie zu finden. Sicher ist, dass der Begriff Hinduismus bis zur Kolonialzeit nicht zielführend war. Stattdessen finden wir vielfältige religiöse Traditionen, die sich selbst als voneinander verschieden betrachten und Brāhmanismus, Shaivismus, Shāktismus, Vaiṣhṇavismus, Buddhismus und Jainismus genannt werden (plus einige nicht-religiöse spirituelle Traditionen wie Sāṃkhya und Pātañjala Yoga).17 Der Begriff »Hinduismus« ist also ursprünglich ein europäisch geprägter Begriff.

Hinduismus ist auch aus einem anderen wichtigen Grund unpassend: Das Wort wurde von den Indern selbst bis zur Kolonialzeit nicht verwendet. Die moderne Wissenschaft bemüht sich zunehmend (wenn auch noch nicht vollständig) um einen respektvollen Umgang mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung – darum ringend, die Dinge sowohl von innen als auch von außen zu verstehen. Aus dieser Perspektive können wir sagen, dass etwas, das Hinduismus genannt wird, authentisch zu existieren begann, als der erste Inder dieses Wort verwendete, um sich auf seine eigene Religion zu beziehen (das geschah zum ersten Mal in den frühen 1800er-Jahren).18 Als zunehmend mehr gebildete Inder den Begriff nutzten, mussten sie eine Definition dafür finden. Sie beschlossen, dass Hinduismus all jene Linien, Sekten und Traditionen bezeichnet, die die Veden (die ersten heiligen Bücher Indiens) als höchste spirituelle Autorität betrachten. Dies schloss den Buddhismus aus – der sich von anderen indischen Traditionen distanzierte, indem er die Veden ablehnte –, obwohl der Buddhismus aus der gleichen religiösen Kultur hervorging und in allen Epochen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der indischen Spiritualität spielte. Einige andere indische Traditionen (wie der Shaivismus) wurden in die Definition des Hinduismus einbezogen, obwohl sie nicht direkt auf den Veden basieren und den Veden keine besondere religiöse Autorität zuerkennen.19

Heutzutage können wir mit Sicherheit sagen, dass der Hinduismus existiert: Obwohl er ursprünglich ein künstliches Konzept war, hat er nun, im Guten wie im Schlechten, in der Vorstellung vieler Menschen Gestalt angenommen. Das liegt nicht nur daran, dass das Wort heute von den Indern selbst ausgiebig verwendet wird, sondern vor allem daran, dass die zuvor getrennten indischen Religionen in den letzten fünfhundert Jahren zu einem neuen religiösen »Eintopf« zusammengewachsen sind, der viele alte Grenzen verwischt, viele der alten Debatten bedeutungslos gemacht und mehr oder weniger eine einheitliche spirituelle Geschmacksrichtung angenommen hat. Dies hat zwangsläufig zum Verlust einiger unterschiedlicher und einzigartiger Geschmacksrichtungen geführt. Viele bedeutende Lehren und Praktiken der Religionen, die sich zum Hinduismus zusammengeschlossen haben, sind weitgehend in Vergessenheit geraten.20

Der moderne Hinduismus steht sowohl für eine kulturelle als auch eine religiöse Identität, weshalb er im Allgemeinen nicht etwas ist, zu dem man konvertiert, sondern etwas, in das man hineingeboren wird.

Als Yoga- oder Tantra-Praktizierende*r konvertiere ich also nicht zum Hinduismus?

Der vorangegangenene Abschnitt erklärt, warum Westler, die Yoga oder Śaiva-Tantra praktizieren möchten, nicht unbedingt eine neue religiöse und kulturelle Identität annehmen müssen. Es stimmt, dass die Zugehörigkeit zu einigen indischen religiösen Traditionen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste oder einem bestimmten Clan erfordert oder dass man sich bestimmten vedischen Übergangsriten unterziehen muss. Die Praxis des Tantrik-Yoga beinhaltet jedoch die Überwindung der gewohnten Identität und erfordert daher nicht, dass die Eingeweihten einer bestimmten Kaste, Klasse, einem Geschlecht oder einer ethnischen Gruppe angehören.

Um genauer zu sein, beinhaltet die Tantrik-Praxis die Erschaffung (oder Verwirklichung) einer esoterischen göttlichen Identität innerhalb einer früheren, kulturspezifischen Identität. Man kann also ein kultureller Christ, Jude oder Buddhist bleiben und trotzdem ein*e Tāntrika sein.21 Insbesondere Śaiva-Tantra artikulierte die – in Indien einzigartige – Idee, dass alle Anhänger seiner Tradition eine einzige Gemeinschaft bilden, unabhängig von ihrer Herkunft, und dass es daher besser ist, einen aufrichtigen Ausländer als einen unaufrichtigen Brāhmin22 einzuweihen.

Im 21. Jh. können die Menschen zwar tun und lassen, was sie wollen, aber für mich ist es wichtig zu wissen, dass der spirituelle Weg, den ich gehen will, mich in gewisser Weise auch willkommen heißt23 (vgl. auch Wo kann ich mehr erfahren?).

Was ist die Verbindung zwischen Tantra und Yoga?

Das hängt wirklich davon ab, was du mit »Yoga« meinst. Ich werde zwei Hauptbedeutungen ansprechen. Die erste ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Yoga«, die sich auf eine umfassende Reihe von psycho-physischen Praktiken (mit Schwerpunkt auf Meditation) bezieht, die Körper, Geist und Seele disziplinieren und integrieren sollen, um das höchste spirituelle Ziel zu erreichen. Yoga in diesem Sinne begann um die Zeit des Buddha oder kurz davor. Tausend Jahre später nahm Tantra auch Yoga als wichtigen Bestandteil in seine Praxissysteme auf. Tantra erweiterte den bereits bestehenden Korpus der yogischen Praxis und fügte Hunderte neuer Techniken hinzu: komplexere prāṇāyāmas, detaillierte Visualisierungspraktiken und Mantra-Wissenschaft sowie viele körperbezogene Praktiken, insbesondere yogische Haltungen, heilige Handgesten und die Aktivierung von Energiezentren (cakras) im Körper.

Wir sehen die Bedeutung von Yoga für die Tantrik-Tradition, wenn wir einfach die vier Hauptthemen auflisten, die in den tantrischen Schriften zu finden sind:

Weisheitslehren (jñāna),

rituelle Verehrung (kriyā),

mystische oder meditative Praxis (yoga),

tägliches Verhalten und Gelübde (caryā).

Eine Reihe von Elementen des Tantrik-Yoga haben bis in die heutige Zeit überlebt, wenn auch meist losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext. Wir werden im Praxisteil dieses Buches einige Informationen darüber vorstellen (vgl. auch Praxis-Anleitungen → Das Feuerrad).

Wenn man nun Yoga im modernen Sinne einer umfassenden Āsana plus ein oder zwei andere vereinfachte Praktiken meint (d.h. das, was man als »modernes posturales Yoga« bezeichnet), so ist auch dieses mit Tantra verbunden, wenn auch nur in geringem Maße. Der moderne Yoga ist die jüngste Phase einer historischen Entwicklung, die bis zum Śaiva-Tantrik-Yoga zurückverfolgt werden kann.

Wir können die wichtigsten Fakten zur jüngeren Geschichte hier kurz zusammenfassen: Die Religion des Shaivismus und ihre Tantra- oder esoterischen Lehren, die ein enorm detailliertes System mit einer riesigen institutionellen Basis umfassten, waren mit dem Verlust der staatlichen Schirmherrschaft nach den muslimischen Eroberungen nicht mehr praktikabel und wurden daher später vereinfacht und größtenteils durch ein basisorientiertes System der Praxis namens Haṭha-Yoga ersetzt.

Haṭha-Yoga

Haṭha-Yoga geht auf den bekanntesten Śaiva Tantrik-Guru, Matsyendra oder Macchanda, zurück. Dieser Yoga präsentierte sich als ein vollständiger spiritueller Pfad, bestehend aus prāṇāyāma (Atemübungen), Meditationen über die Zentren des subtilen Körpers und dem Gebrauch von drei bandhas24 (Schleusen durch bewusste Kontraktion bzw. Verschluss im Körper) und mehr als vierundachtzig verschiedenen yogischen Haltungen oder āsanas, die alle der Aktivierung und Erhöhung der spirituellen Energie namens kuṇḍalinī dienen. Obwohl fast alle diese Elemente ausdrücklich aus dem Śaiva-Tantra abgeleitet wurden, war Haṭha-Yoga nicht vollständig tantrisch, da seine Texte keine tantrischen Mantras und kein tantrisches Ritual lehrten und auch keine vollständige tantrische Einweihung verlangten (die drei unverzichtbaren Elemente des klassischen Mainstream-Tantra). Haṭha-Yoga bewahrte einige der früheren Praktiken des Tantrik-Yoga mit bewundernswertem Erfolg, obwohl auch er den Prozess der Verwässerung und Vereinfachung des Tantra fortsetzte. Im frühen 20. Jh. wurden die Āsanas und Prāṇāyāmas des Haṭha-Yoga zur Inspiration für die Synthese des Systems des modernen körperbezogenen Yoga.25 Der moderne Yoga hat also seine Wurzeln im alten Śaiva-Tantra.

Was ist das Kāma-sūtra und was hat das mit Tantra zu tun?

Nichts. Das Kāma-sūtra gehört zu einem Zweig der Literatur, der Kāma-Śāstra genannt wird, die Wissenschaft des Vergnügens. Sein übergeordnetes Ziel ist die Maximierung des sinnlichen Vergnügens als gültiger Selbstzweck. Per Definition ist es nicht tantrisch, denn im Tantra wird das Ziel des Vergnügens, wenn es vorhanden ist, immer dem Ziel der endgültigen spirituellen Befreiung und des Erwachens untergeordnet, was aber im Kāma-sūtra überhaupt nicht vorkommt. Die Lektüre der Originaltexte zeigt sofort, dass sie zu einer ganz anderen Klasse der Literatur gehören. Auch keine der öffentlichen erotischen Tempel-Figuren, die man in Indien sieht (wie z.B. in Khajurāho), haben in irgendeiner Weise mit Tantrik-Praxis zu tun.

Aber im Tantra geht es doch um göttliche Sexualität, oder etwa nicht?

Nur wenn man diesen Ausdruck sehr weit auslegt. Wenn wir die tantrische Literatur als Ganzes betrachten, sehen wir, dass Sex an sich als Thema praktisch nicht vorkommt. Es gibt eine Gruppe von Traditionslinien im Śaiva-Tantra, die Kaula-Linien, die sinnliche Praktiken lehren und eine, wie wir es nennen könnten, »sexualisierte« Sicht der Welt haben, die die gesamte Realität als harmonische und freudig pulsierende Vereinigung von komplementären Gegensätzen sieht.

In den ursprünglichen Tantrik-Quellen finden wir zwar einige Techniken für die Arbeit mit sexueller Energie und deren Nutzung zur Aktivierung von kuṇḍalinī, aber wir finden absolut keine physischen Techniken, die darauf abzielen, den Orgasmus zu verlängern, das Vergnügen zu maximieren o.Ä. Es gibt zwar so etwas wie ein tantrisches Sexualritual in der Śaiva-Tradition, aber dieses wurde nur in einem einzigen von vielen Hunderten von Texten gelehrt und wird dort als geheime und esoterische Lehre bezeichnet, die nur für wenige bestimmt ist. Das tantrische Sexualritual war in erster Linie eine meditative Übung, nicht eine Übung zur Lustmaximierung. Mehr über den Unterschied zwischen dem ursprünglichen Tantra und den amerikanischen New-Age-Workshops für »tantrischen Sex« findest du im Kapitel Zusammenfassung. In diesen Workshops geht es um spiritualisierte Sexualität, während es im ursprünglichen Tantra um eine sinnliche und verkörperte Spiritualität geht (und selbst dann nur in den Kaula-Schulen).

Ausblick auf das, was weiter folgt