Liebe auf Japanisch - Andreas Fels - E-Book

Liebe auf Japanisch E-Book

Andreas Fels

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Beschreibung

In Japan ist vieles ein bisschen anders. Zum Beispiel spielt die Blutgruppe eine entscheidende Rolle bei der Partnerwahl. Am Valentinstag beschenken Frauen die Männer. Junge Verliebte verabreden sich extra in Love Hotels, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Und die wahre Liebe findet man angeblich nur mit verbundenen Augen. Kenji und Yukiko steuern durchs Tokio des 21. Jahrhunderts auf der Suche nach der Liebe. Und Sie begleiten die beiden in eine Welt mit seltsamen Dating-Ritualen, erleben Beziehungen mit Robotern, besuchen spezielle Kuschelcafés und lernen Schulmädchen kennen, die für teure Geschenke beinahe zu allem bereit sind. In episodenhaften Geschichten erfahren Sie vom ersten Kuss über das Kinderkriegen bis zu den ganz alltäglichen Eheproblemen alles, was Sie schon immer über Japan wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten.

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Seitenzahl: 270

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Liebe auf Japanisch

In Japan ist vieles ein bisschen anders. Zum Beispiel spielt die Blutgruppe eine entscheidende Rolle bei der Partnerwahl. Am Valentinstag beschenken Frauen die Männer. Junge Verliebte verabreden sich extra in Love Hotels, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Und die wahre Liebe findet man angeblich nur mit verbundenen Augen.

Kenji und Yukiko steuern durchs Tokio des 21. Jahrhunderts auf der Suche nach der Liebe. Und Sie begleiten die beiden in eine Welt mit seltsamen Dating-Ritualen, erleben Beziehungen mit Robotern, besuchen spezielle Kuschelcafés und lernen Schulmädchen kennen, die für teure Geschenke beinahe zu allem bereit sind.

In episodenhaften Geschichten erfahren Sie vom ersten Kuss über das Kinderkriegen bis zu den ganz alltäglichen Eheproblemen alles, was Sie schon immer über Japan wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten.

Autoren Kerstin und Andreas Fels

Nicht eine Vorliebe für Sushi ließ Andreas Fels Japanologie studieren, sondern eine Neugier auf Sprache und Kultur. Seine Frau Kerstin ließ sich gerne von dieser Begeisterung anstecken und war auf gemeinsamen Reisen nach Japan heilfroh, jemanden dabeizuhaben, der Japanisch spricht. Beide schreiben seit 1997 regelmäßig als Autoren für das Internetmagazin japanlink.de, haben Artikel für verschiedene Zeitschriften beigesteuert und bereits einige Buchprojekte gestemmt.

Widmung

Für David und Simon, ohne die wir dieses Buch vermutlich ein paar Jahre früher fertig bekommen hätten.

Inhalt

Liebe auf Japanisch

Eine Illusion von Nähe

Von riesigen Plüschhasen, Romantik auf Bestellung und einem Raum voller Katzen

Keine Lust auf Sex

Von herbivoren Männern, modernen Einsiedlern und verzaubertem Essen

Küssen verboten

Von Dates mit Masken, Kirschblüten und Liebesritualen im Tempel

Das perfekte Mädchen

Von virtueller Liebe, einer Menge Textnachrichten und zwölf gut aussehenden Samurai

Gleich und gleich gesellt sich gern

Von wählerischen Prinzen, speziellen Pflichten eines Samurai und Christen als Spaßverderbern

Enjo kōsai

Von Taschengeld-Freunden, weißen Handschuhen und Telefonclubs

Gemietete Privatsphäre

Von Tōkyōs Liebesviertel, einem seltsamen Date und einem Bett voller Rosenblätter

Verliebt in einen Roboter

Von Androiden, Hightech-Sexspielzeug und Astro BoyOpfer der Macht

Von übergriffigen Vorgesetzten, einer einsamen Hotline und prominenten Sexualstraftätern

Der schönste Tag im Leben

Von gefälschten Hochzeitstorten, fehlenden Ehemännern und der Party nach der Party

Zweisamkeit auf Zeit

Von Prostitution, Gesundheitslieferungen und einem Theaterviertel ohne Theater

Gleiches Recht für alle

Von geheimen Frauenquoten, traditionellen Familienmodellen und der neuen Ära weiblichen Erfolgs

Die Geburt

Von Fruchtbarkeitskochkursen, Schutzgöttern und staatlich verordneten Speeddates

Fensterln auf Japanisch

Von nacktem Hausbesuch, Verkehr für ein besseres Karma und einer frühen Form des Sextourismus

Kinder auf Erfolgskurs

Von Schattenfangen, Pandabären in der bentō-Box und dem Lernen für die Aufnahmeprüfung

Internationale Beziehungen

Von hāfus, geselligen Buchläden und automatisierten Supermärkten

Pornografie

Von schlüpfrigen Innovationstreibern, Frühlingsbildern und gewaltigen Geschlechtsteilen

Ende und Neuanfang

Von populären Selbstmordorten, unentdeckten Leichen und buddhistischen Ritualen

Das schönste Mädchen der Welt

Von Popstars, einer Extraportion Niedlichkeit und kostenpflichtigem Händeschütteln

Lebensabend unter der aufgehenden Sonne

Von ausgesetzten Ahnen, einer ganzen Menge Hundertjähriger und der Arbeit nach der Arbeit

Leben und Lieben

In Zahlen und Fakten

Die Sprache des Sex

Von ai, aieki und baibus

Liebe auf Japanisch

Liebe auf Japanisch ist wie Liebe auf Deutsch. Nur anders. Zumindest manchmal. In diesem Buch begleiten wir die vier Freunde Kenji, Yukiko, Saki und Ryū sowie eine Reihe anderer Personen durch ihren Alltag in Tōkyō. Vom ersten Kuss über die Tücken moderner Dates und traditioneller Hochzeiten bis hin zum Kinderkriegen und zum ganz alltäglichen Ehewahnsinn – die vier leben ein ganz normales japanisches Leben. Was auch immer »normal« bedeuten soll.

Kenji, Yukiko und all die anderen Figuren in diesem Buch sind natürlich fiktiv – viele der Geschichten sind so oder ähnlich aber tatsächlich passiert. Wir bedanken uns bei allen, die mit ihren Erzählungen zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Und jetzt viel Spaß beim Lesen, Vorlesen, Verschenken, beim ziellosen Rumblättern oder auch beim Buch-dekorativ-ins-Regal-Stellen!

Die Hauptpersonen aus diesem Buch – in der Reihenfolge ihres Erscheinens

Kenji: Ist in Tōkyō aufgewachsen und hat gerade sein Studium abgeschlossen. Bei einem Kirschblüten-Picknick lernt er seine Traumfrau Yukiko kennen.

Yukiko: Sie und ihre Freundin Saki sind überzeugt: in Tōkyō gibt es einfach keine tollen Männer mehr. Dann aber trifft sie Kenji.

Naoko: Hat bisher nicht viel Glück mit Männern gehabt und auch keine Lust mehr, nach dem Richtigen zu suchen. Vielleicht geht es ja auch anders. Braucht sie überhaupt einen Freund?

Saki: Die beste Freundin von Yukiko – die beiden kennen sich noch aus der Schule. Beim Speeddating verliebt sich Saki in Ryū.

Fukita: Ein Freund von Kenji – die beiden sind zusammen aufgewachsen. Seitdem seine Freundin ihn verlassen hat, hat er keine Lust mehr auf Beziehungen. Das Leben alleine ist viel entspannter.

Ryū: In seinem ersten Job lernt Kenji Ryū kennen. Die beiden verstehen sich gut und gehen häufiger zusammen nach der Arbeit etwas trinken. Dabei lernt Kenji auch Ryūs neue Freundin Saki kennen.

Hiro: Lebt in Kyōto und versucht, die große Liebe über eine Dating-App zu finden. Eines Tages sieht er dort das Profil von Naoko ...

Herr Uchida: Kenjis Chef – seit 22 Jahren ist er verheiratet. Viel zu lang, findet er manchmal und fühlt sich dann älter, als er mit seinen 46 Jahren ist. Seit ein paar Wochen trifft er sich mit Akiko, die noch zur Schule geht, und fühlt sich dadurch wieder jung.

Senri: Sakis Vater – seit der Scheidung von seiner Frau Rei fühlt er sich mitunter etwas einsam. Seine Tochter sieht er kaum noch.

Rei: Sakis Mutter – nachdem ihre Tochter ausgezogen war, merkte sie, dass sie und ihr Mann Senri kaum noch ein gemeinsames Thema hatten. Die Scheidung erfolgte auf ihren Wunsch.

Akane: Abenteuerlustig und möchte gerne viel reisen. Als Prostituierte verdient sie momentan recht gut. Sie weiß, dass sie diesen Job nicht ewig machen kann, aber darüber macht sie sich später Gedanken.

Haruki: Der Sohn von Kenji und Yukiko. Er wächst behütet auf und übt fleißig für die Aufnahmeprüfungen an der Grundschule. Mit seinem besten Freund Daiki spielt er gerne Schattenfangen.

Daiki: Der beste Freund von Haruki. Seine Eltern sind Naoko und Hiro.

Midori: Kenjis Ururoma. Leider ist sie schon lange tot, wir erfahren aber von den ungewöhnlichen Umständen der Zeugung von Kenjis Großvater Rintarō.

Matthew: Seine Mutter ist Engländerin, sein Vater Japaner. Nach der Scheidung seiner Eltern wächst er in Leeds auf, kehrt aber als Teenager nach Japan zurück. An der Schule wird er häufig gehänselt – seine Mitschüler finden, er gehört nicht richtig dazu.

Hideo: Kenjis Vater – hat sein Leben lang hart gearbeitet und ist stolz, dass er auf diese Weise seiner Familie ein gutes Zuhause bieten konnte. Er wollte immer mal die 88 Tempel auf Shikoku besuchen – leider hat er das nie geschafft.

Takako: Kenjis Mutter – seit Kenji die Mittelschule besuchte, fühlte sie sich als Hausfrau nicht mehr ausgelastet und fing an, in Teilzeit zu arbeiten. Ihr Mann Hideo war zunächst dagegen, hat aber schließlich zugestimmt.

Sayuri: Das zweite Kind von Kenji und Yukiko und damit Harukis kleine Schwester. Sie liebt süße mochi-Reiskuchen über alles.

Eine Illusion von Nähe

Von riesigen Plüschhasen, Romantik auf Bestellung und einem Raum voller Katzen

Die Fußgängerampel springt auf Grün und lässt gleichzeitig künstliches Vogelgezwitscher erklingen. Kenji überquert die Straße. Er ist unterwegs in Akihabara, Tōkyōs Einkaufsviertel für Elektronik- und Gadget-Fans. Um ihn herum ertönt der Lärm aus den umliegenden Spielhallen, wo Gruppen von Teenies unter dem Gelächter ihrer Freunde versuchen, die riesigen Bongo-Rasseln der Spielautomaten genau im Takt zu bewegen oder komplizierte Formationen nachzutanzen. Der Lärm mischt sich mit dem ohrenbetäubend lauten Klackern der Metallkugeln aus der Pachinko-Spielhalle nebenan. Ein Mädchen in Dienstmädchenuniform und einem Haarreif mit pinkfarbenen Hasenohren auf dem Kopf spricht ihn an und drückt ihm ein paar Flyer eines Maid-Cafés in die Hand. Kenji nimmt sie automatisch und steckt sie ungelesen in seine Jackentasche. Die Hochhäuser links und rechts von ihm sind mit meterhohen Displays bedeckt, die unablässig Werbespots zeigen. Zwischen einem Geschäft, das auf sieben Stockwerken Elektronikartikel anbietet, und einem Manga-Laden biegt er in eine kleine Seitengasse ein.

Zielstrebig steuert er auf den Eingang eines schmalen Hauses zu. Ein an der Metalltür angebrachtes Plakat zeigt ein Mädchen, das die Besucher mit großen Augen freundlich anlächelt. Schnell steigt er das enge Treppenhaus hoch in den dritten Stock. Vom Treppenhaus aus führt eine Tür in einen kleinen Vorraum, wo ihn, während er seine Schuhe abstreift, ein zierliches Mädchen mit grün gefärbten Haaren fröhlich begrüßt und ihm eine Art Menükarte reicht. Kenji entscheidet sich wie beim letzten Mal für die 20-Minuten-Zeitspanne. Das Mädchen nickt ihm aufmunternd zu und deutet auf eine Tür links am Ende des Ganges.

Als Kenji durch die Tür geht, fühlt er schon, dass sich Entspannung in ihm breitmacht. Das Zimmer dahinter ist klein, es wird beinahe ganz ausgefüllt von einer weichen Matratze, die auf dem Boden liegt. Am Kopfende stapeln sich Kissen und Stofftiere: Pikachu, eine etwas ausgeblichene Hello-Kitty-Figur, ein riesiger Hase mit rosafarbenen Wangen ... Kenji legt sich hin und kuschelt sich zwischen die Stofftiere. Die Tür geht leise auf, und Yume kommt herein. Kenji ist sich nicht sicher, ob das ihr richtiger Name ist. Aber eigentlich ist das auch egal. Sie legt sich wortlos neben ihn.

Einfach gemeinsam im Bett liegen – das klingt erst mal ziemlich alltäglich. Aber Kenji lässt sich dieses Erlebnis einiges kosten. Er besucht ein sogenanntes Cuddle Café. Neben einem generellen Eintrittsgeld von 3.000 Yen (circa 24 Euro) kosten ihn die 20 Minuten mit Yume noch einmal genauso viel. Und das ist nur der Standardpreis dafür, dass ein Mädchen einfach neben ihm liegt. Dafür, dass es wieder Yume ist, hat er noch eine Extragebühr bezahlt, und auch jede zusätzliche Dienstleistung kostet noch einmal einen Aufpreis: drei Minuten über die Haare des Mädchens streicheln etwa, oder sich eine Minute lang intensiv in die Augen sehen. Kenji hat sich dafür entschieden, dass Yume seinen Arm für eine Weile berührt – natürlich ebenfalls gegen eine Gebühr. Küsse und jegliche intimen Kontakte sind streng verboten. Wer richtig viel Geld ausgeben möchte, kann zwar eine ganze Nacht buchen, viel mehr als einen schlafenden Körper an seiner Seite bekommt man dafür allerdings nicht. Für Kenji sind die 20 Minuten mit Yume trotzdem ihr Geld wert. Er hat gerade keine feste Freundin und keine Zeit für One-Night-Stands. Ab und zu einfach mit Yume zwischen Pikachu und dem riesigen Plüschhasen zu liegen, entspannt ihn und lenkt ihn vom Prüfungsstress an der Uni ab.

Für spezielle Bedürfnisse gibt es natürlich noch den Ohrreinigungssalon (mimikaki ten). Sie haben richtig gelesen: Hier kann man sich die Ohren mit einem leicht gebogenen Holzstäbchen säubern lassen – das ist weniger eine hygienische Notwendigkeit, sondern eher eine emotionale Reise in die Kindheit. In Japan ist es nicht unüblich, dass Mütter vorsichtig und liebevoll die Ohren ihrer Kinder reinigen, während diese ihren Kopf in den Schoß der Mutter legen.

Genau wie Kenji ist auch Yukiko gerade nicht in einer festen Beziehung. Ihr Freund hat vor vier Wochen Schluss gemacht – oder vielmehr: er hat sich nicht mehr gemeldet. Zuerst hatte er immer weniger Zeit, weil er für seine Abschlussprüfung lernen musste. Irgendwann kamen gar keine Antworten mehr auf ihre Nachrichten. Diese als Ghosting bezeichnete Art, sich aus dem Leben anderer zu schleichen, ohne die damit verbundenen lästigen Konflikte in Kauf nehmen zu müssen, gibt es natürlich nicht nur in Japan. Aber dort vielleicht ein bisschen häufiger. Yukiko ist gar nicht so sauer über die Art, wie er Schluss gemacht hat – sie hat selbst auch schon zweimal per Textnachricht eine Beziehung beendet und sich danach nie wieder gemeldet. Und Lust auf lange Auseinandersetzungen und Streitgespräche hätte sie auch nicht gehabt. Aber traurig ist sie schon.

Während Yukiko darüber nachdenkt, dass seine Mutter sie eigentlich noch nie leiden konnte, streichelt sie eine getigerte Katze, die sich neben ihr wohlig auf dem Boden räkelt. Direkt daneben sitzt eine graue Katze und schaut dem Treiben gelassen zu, und ein paar Meter weiter sitzt oder liegt etwa ein halbes Dutzend Katzen auf einem meterhohen künstlichen Baum mitten im Zimmer. Yukiko befindet sich in einem Katzen-Café. Hier geht sie ab und zu hin, wenn sie sich traurig oder einsam fühlt. Sie liebt Katzen, aber in ihrer Wohnung (vielmehr in der ihrer Eltern, denn Yukiko kann sich noch keine eigene leisten) sind keine Haustiere erlaubt. Mit einem Stab, an den ein paar rosafarbene Fellpuschel geheftet sind, wedelt sie spielerisch vor der Nase der grauen Katze herum – und verschwendet nun keinen Gedanken mehr an ihren Freund. Zumindest für eine Weile.

Hello Kitties – Katzen-Cafés und mehr

Katzen, Hasen, Eulen – in japanischen Cafés kann man so einigen Tieren begegnen. Zuerst traten die sogenannten Katzen-Cafés ihren Siegeszug an. 2004 eröffnete das erste japanische Katzen-Café in Ōsaka. Die Idee war nicht ganz neu – in Taiwan gab es damals schon Katzen-Cafés –, aber in Japan sorgten die schnurrenden Vierbeiner für noch mehr Begeisterung. Von Ōsaka schwappte der Trend nach Tōkyō (heute gibt es allein in Tōkyō über 100 Katzen-Cafés) und den Rest Japans und verbreitete sich schließlich auf der ganzen Welt.

Es gibt sogar spezielle Cafés für besonders dicke Katzen, für schwarze Katzen oder Katzen mit langem Fell. Dabei geht es weniger um Kaffee (im Gegenteil – viele dieser Cafés servieren weder Getränke noch Snacks) als vielmehr um die Katzen: Katzen beobachten, streicheln, mit ihnen spielen oder Katzen fotografieren. Für umgerechnet etwa zwölf Euro pro Stunde. In manchen Cafés kann man die Katzen auch mit Katzensnacks füttern und niedliche kleine Katzen-Yukatas kaufen – oder zumindest die Stoffkatze für daheim.

Auch wenn Katzen in Japan besonders beliebt sind und wie die maneki neko, die Winkekatze, als Glücksbringer gelten, gibt es auch Cafés für andere Tiere – solange sie nur niedlich sind. Im Bunny Café kann man Kaninchen streicheln und dazu Snacks in Hasenform oder Kaffee mit Hasenohren im Milchschaum genießen. Einige Bunny Cafés bieten sogar einen »Bring your own Bunny«-Service an, falls sich das eigene Haustier zu Hause langweilen sollte. Wer für Katzen oder Kaninchen nicht so viel übrighat, muss sich in Japan keine Sorgen machen – es gibt auch Cafés, in denen man mit Hunden, Igeln, Wellensittichen, Schildkröten, Schlangen, Ziegen oder Eulen kuscheln kann. Natürlich kommen auch Fans von Fischen nicht zu kurz, wenngleich es da mit dem Kuscheln ein wenig schwierig ist.

Während Yukiko noch mit der grauen Katze spielt, wartet Naoko ungeduldig in der Schlange der Leute, die in die U-Bahn einsteigen wollen. Sie hat heute ein Date. Aber kein gewöhnliches. Nervös schiebt sie ihre Brille zurecht. Hoffentlich kommt sie noch pünktlich. Endlich fährt die U-Bahn ein, und die Türen an den Absperrungen vor den Gleisen öffnen sich. Mit diesen Absperrgittern versucht Tōkyō, die Unfall- und Selbstmordrate an U-Bahn-Stationen geringer zu halten. In der Vergangenheit gab es viele Menschen, die nach dem Konsum zu vieler Gläser Feierabendbier auf die Gleise stürzten oder die absichtlich vor eine einfahrende Bahn sprangen. Daher stehen auf Plakaten die Nummern von Suizid-Präventions-Hotlines, und von den Decken strahlt blaues Licht, um die Stimmung positiv zu beeinflussen. Dennoch hat Japan eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Naoko denkt natürlich nicht an Selbstmord. Im Gegenteil, sie freut sich auf ihr Date, auch wenn sie gleichzeitig ein bisschen aufgeregt ist. Fünf Stationen später hält der Zug in Shinjuku, hier werden sie sich treffen. Naoko geht zum vereinbarten Treffpunkt, der aus vier überdimensionalen Buchstaben zusammengesetzten LOVE-Skulptur, und schaut sich um. Am Morgen noch hatte Satoshi ihr eine Nachricht geschrieben und gefragt, welche Jacke sie heute tragen würde, damit er sie leichter erkennen könne. Nervös schaut Naoko auf die Uhr. Sie ist ein bisschen zu früh, na gut. Wie lange soll sie wohl warten, falls er zu spät ... Aber da steht er schon breit lächelnd vor ihr – und er sieht genauso gut aus wie auf dem Foto!

Erst einmal wirkt es ganz gewöhnlich, wie Naoko und Satoshi kurz darauf gemeinsam durch die Straßen schlendern. Sie sprechen über alles Mögliche. Satoshi hält Naoko höflich die Tür auf, als sie ein Café betreten (ohne Katzen), und danach nehmen sie zur Erinnerung noch gemeinsam purikura-Fotos am Automaten auf. Ein ganz normales Date. Ungewöhnlich ist einfach nur, dass Naoko für das Treffen bezahlt, denn Satoshi ist ein Freund zum Mieten. Um die Illusion perfekt zu machen, hat Naoko ihm am Anfang bereits, direkt am Treffpunkt, Geld gegeben, damit Satoshi alle Rechnungen begleichen und sie »einladen« kann.

Am Ende des Tages – Satoshi bringt sie am Bahnhof noch zum richtigen Gleis – drückt er ihr einen hübsch verzierten Umschlag in die Hand. Darin findet Naoko das restliche Geld und eine genaue Auflistung, was Satoshi wofür ausgegeben hat. Natürlich alles korrekt bis auf den letzten Yen. Neben den Ausgaben für das Café und die purikura-Fotos hat Naoko noch die Gebühr für Satoshis Zeit gezahlt – umgerechnet knapp 50 Euro pro Stunde. Ein teurer Spaß, aber für Naoko hat es sich gelohnt. Satoshi war so nett und höflich – ihr Ex-Freund hatte ihr nie die Tür aufgehalten –, und sie hat sich wirklich den ganzen Tag gefühlt, als sei sie etwas Besonderes. Am Abend schreibt Satoshi ihr noch eine Nachricht, in der er sich für den schönen Tag bedankt.

Vor dem ersten Treffen konnte Naoko auf der Website zwischen verschiedenen möglichen »Freunden« wählen. Für Satoshi hat sie sich entschieden, weil er so aussieht wie Kazuya Kamenashi, Naokos Lieblingsmitglied der J-Pop-Band KAT-TUN. Bevor sie Kontakt aufnehmen konnte, musste sie erst einen Fragebogen ausfüllen, daraufhin stellte die Vermittlungsagentur den Kontakt her. Wenn Naoko Satoshi jetzt wiedertreffen will, kann sie ihm einfach schreiben, das fühlt sich direkt echter an.

Bezahlte Freundschaft

Natürlich kann man nicht nur eine Verabredung mit dem Traummann kaufen, sondern sich auch die perfekte Freundin fürs Date aussuchen. Aber Achtung: nicht nur Sex ist tabu, sondern auch sämtliche sexuellen Aktivitäten inklusive Küssen. Auch der Aufenthalt in nicht öffentlichen Räumen (also Privatwohnungen, Hotels oder auch Privatautos) ist nicht gestattet.

Manchmal kommen die Mietpartner nur für einen Abend zum Einsatz, zum Beispiel, wenn die Begleitung für eine Firmenparty oder eine Hochzeit fehlt. Manche verabreden sich aber auch regelmäßig mit derselben Person. Apropos Hochzeiten – manchmal füllt das Brautpaar auch die Liste der echten Gäste mit gemieteten Gästen auf, falls sonst zu viele Plätze leer bleiben würden, alte Schulfreunde nicht kommen können oder eines der Elternpaare geschieden ist und nicht gemeinsam erscheint.

Aber auch vor der Hochzeit kann es sein, dass Frauen, deren Eltern vehement darauf drängen, dass nun doch endlich mal geheiratet werden sollte, einen gemieteten Verlobten präsentieren, damit endlich Ruhe herrscht. Nur kann das natürlich mitunter dazu führen, dass die Eltern nicht zufrieden sind, bevor ihre Tochter in einer gestellten Hochzeitszeremonie eine Scheinehe eingeht. Ein teurer Spaß – und die unvermeidlich folgende Frage nach Enkelkindern ist damit auch noch nicht beantwortet.

Warum nicht gleich zeitweise eine ganze Familie anheuern? Ältere Paare können sich Enkelkinder mieten, wenn die eigenen Enkelkinder auf sich warten lassen oder aber schon zu groß sind, um von ihren Großeltern verwöhnt zu werden. Auch nach dem Tod eines Ehepartners kann eine gemietete Ehefrau oder ein Leih-Ehemann dem Hinterbliebenen dabei helfen, sich weniger einsam zu fühlen. Wem das dann doch ein wenig zu weit geht und wer einfach nur Hilfe dabei benötigt, den Tod des Ehepartners zu verarbeiten und den Tränen freien Lauf zu lassen, der kann auf professionelle Unterstützung zurückgreifen – gut aussehende Männer, die gemeinsam mit anderen weinen, gibt es ebenfalls im Lieferservice.

Naoko, Yukiko und Kenji sind keine Einzelfälle. Bei 18 bis 34-jährigen sind immerhin sind 70 Prozent aller unverheirateten Männer und 60 Prozent aller unverheirateten Frauen Single. Anfang 20 ist das natürlich noch kein Problem – in einem Land, in dem immer weniger Kinder geboren werden (Japan ist weltweit eines der Länder mit der niedrigsten Geburtenrate – Deutschland liegt allerdings auch nur ein paar Plätze weiter vorne) kann es für ältere Singles aber schon mal schwierig werden. Allein die Tatsache, dass unverheiratete Menschen über 35 schon mal als »parasitäre Singles« bezeichnet werden, zeigt, dass das Thema Partnersuche doch mit einem gewissen gesellschaftlichen Druck verbunden ist. Dementsprechend geben laut Umfragen auch über 90 Prozent der Single-Japaner an, irgendwann einmal heiraten zu wollen.

Inzwischen ist es Abend, und zufällig sind Kenji und Yukiko unabhängig voneinander im selben izakaya, einer japanischen Kneipe, gelandet. Yukiko ist mit ihrer Freundin Saki da. Die beiden sitzen gemeinsam auf dem mit tatami-Matten ausgelegten Boden am niedrigen Tisch und teilen sich edamame (gesalzene Sojabohnen), takowasabi (in Wasabi marinierten rohen Tintenfisch) und yakitori (Spieße mit Hähnchenfleisch). Sie unterhalten sich mal wieder darüber, dass es in Tōkyō einfach keine tollen Männer mehr gibt. Beim Reden streicht sich Saki immer wieder durch ihre kurzen, blond gefärbten Haare. Yukiko überlegt, ob sie selbst mit ihren langen schwarzen Haaren und dem halblangen Pony nicht zu langweilig aussieht. Vielleicht hätte sie auch mal häufiger etwas Neues ausprobieren sollen? Vielleicht wäre sie dann noch mit ihrem Exfreund zusammen? Als Saki vorschlägt, nächstes Wochenende mal wieder gemeinsam in ein aisekisakaba (das Besondere an dieser Art Kneipe: hier sitzen Männer und Frauen, die sich nicht kennen, tatsächlich am selben Tisch) zu gehen, trinkt Yukiko ihr Sapporo schnell aus und verschwindet auf die Toilette. Eigentlich hat sie keine Lust darauf, am Eingang des aisekisakaba ihr Alter zu nennen und dann darauf zu warten, dass einer der anwesenden Männer sie zum Essen einlädt. Für Saki aber ist es ein praktischer Weg, Männer mit einem guten Job im heiratswilligen Alter kennenzulernen. Und selbst wenn die dann sterbenslangweilig sind, freut sie sich als Studentin einfach über ein kostenloses Abendessen.

Vor dem Eingang der Toilette schlüpft Yukiko aus den izakaya-Pantoffeln und in die Klo-Pantoffeln, die dort bereitstehen. Ihre eigenen Schuhe hat sie bereits am Eingang des izakaya ausgezogen und in eines der dafür vorgesehenen Fächer gestellt. Die Toilette selbst ist keine moderne Hightech-Toilette, die auf Wunsch mit Wasserspülgeräuschen die eigenen Geräusche überdeckt. Yukiko achtet also darauf, auf der Hocktoilette möglichst lautlos zu pinkeln, um die anderen Frauen nicht zu stören. Schnell zupft sie noch ein paar letzte Katzenhaare von ihrem roten Pullover. Sie hätte sich nach dem Besuch im Katzen-Café doch besser umziehen sollen. Auf dem Rückweg zum Tisch stößt sie fast mit einem jungen Mann zusammen, der gerade aus der Herrentoilette kommt. Er entschuldigt sich vielmals und verschwindet dann zu seinem Tisch. Schade, der sah wirklich süß aus.

Auf dem Rückweg zu seinem Tisch blickt Kenji kurz dem Mädchen im roten Pullover hinterher, mit dem er beinahe zusammengestoßen wäre. Sie sitzt mit einer Freundin mit kurzen blonden Haaren weiter hinten im izakaya. Kenji selbst sitzt in der Nähe des Eingangs, zusammen mit ein paar Freunden. Gemeinsam werden sie die nächsten Stunden damit verbringen, sich über die Arbeit zu beschweren und darüber, dass sie einfach keine Zeit haben, mit Mädchen auszugehen. Als Yukiko später mit Saki das izakaya verlässt, schaut sie noch einmal zu Kenjis Tisch hinüber – der ist aber leider gerade damit beschäftigt, mit seinen Freunden pin pon pan, eine Art Trinkspiel, zu spielen. Pech für Kenji und Yukiko, aber nicht ganz untypisch. Häufig gehen Männer und Frauen nach Feierabend jeweils ihre eigenen Wege – da ist es nicht immer ganz einfach, sich zu treffen.

Das hat auch die japanische Regierung erkannt und versucht, das Problem auf eigene Faust zu lösen. Als erste Präfektur hat Fukui damit begonnen, Amor zu spielen – bereits 2010 wurde dort ein Datingportal online gestellt. Mittlerweile haben viele andere Präfekturen nachgezogen und veranstalten Speeddatings und andere Events, um junge Leute im heiratsfähigen Alter zusammenzubringen. Natürlich gibt es auch unzählige private Anbieter, die auf den Zug aufgesprungen sind. Saki zum Beispiel hat neulich an einem Singleverkupplungs-Kochkurs teilgenommen. Sie und 14 andere Männer und Frauen – natürlich alle Single – haben einen Abend lang ein Essen zubereitet und danach gemeinsam gegessen. Insgesamt war es lustig, und Saki ist mit erstaunlich vielen Männern ins Gespräch gekommen, vom Hocker gehauen hat sie allerdings keiner. Momentan überlegt sie, demnächst an einem jogging-kon teilzunehmen. Hier treffen sich Männer und Frauen, die gerne laufen gehen, zum gemeinsamen abendlichen Joggen im Park. Dabei laufen jeweils ein Mann und eine Frau nebeneinander und unterhalten sich. Ein gemeinsames Hobby haben sie ja schon mal. Alle acht Minuten lässt sich der Mann an der vordersten Position zurückfallen, und ähnlich wie beim Speeddating rücken die anderen auf, sodass jede Frau mit einem anderen Teilnehmer plaudern kann.

Ähnliche Veranstaltungen gibt es für Golfer, Bowlingfans oder Tischtennisspieler. Auch für Spieler von Pokémon Go gibt es eine spezielle Variante: An einem bestimmten Tag treffen sich alle an einem bestimmten Ort, zum Beispiel in einem Park, und spielen. In der Pokémon-Go-App sind alle Teilnehmer digital markiert und können somit leicht von unbedarften Passanten unterschieden werden. Auch Fans des Animé-Films Your Name können die Chance auf die große Liebe verbessern, indem sie sich mit anderen Fans auf einem eigenen Event treffen. Voraussetzungen: Teilnehmer müssen über 20 Jahre alt und Single sein und sollten den Film auch tatsächlich gesehen haben – sonst wird es vielleicht mühsam mit dem Smalltalk.

Es gibt also verschiedene Wege, die große Liebe zu finden. Schwierig wird es allerdings, wenn man dabei auf Männer stößt, die anscheinend gar kein Interesse an Sex und Beziehungen haben ...

Keine Lust auf Sex

Von herbivoren Männern, modernen Einsiedlern und verzaubertem Essen

Überall Schokolade. Weiße Schokolade. Fukita ist auf dem Weg zu seinem Lieblings-Manga-Laden, wo er sich mit seinem Freund Kenji treffen will, und nun fordern ihn überall Werbetafeln dazu auf, weiße Schokolade zu kaufen. Oder Marshmallows. Denn es ist Anfang März, und am 14. März ist in Japan der sogenannte »White Day«.

An diesem Tag – einen Monat nach dem Valentinstag im Februar – revanchieren sich die japanischen Männer für ihre Valentinstagsgeschenke. Denn am 14. Februar beschenken ausschließlich Frauen die Männer. Traditionellerweise bekommt der Auserwählte eine besondere und teure Schokolade geschenkt. Aber auch Kollegen, Vorgesetzte und Brüder gehen nicht leer aus: sie erhalten ebenfalls Schokolade, wenn auch nicht ganz so exklusive. Am White Day wird der Spieß dann umgedreht, und die Frauen bekommen von den Männern, die sie beschenkt haben, ein okaeshi, ein Gegengeschenk. Das ist in Japan keine Seltenheit – die meisten Geschenke erfordern Gegengeschenke, für die es oft auch ein genaues Protokoll gibt hinsichtlich des Zeitraums, in dem die Übergabe des Geschenks erfolgen sollte, oder auch des Kostenrahmens. Am White Day gilt: die im Gegenzug verschenkte Schokolade sollte etwa dreimal so teuer sein wie die Valentins-Schokolade. Übrigens wurde der Tag – was wenig überraschend ist – von der Süßwarenindustrie erfunden und 1977, ursprünglich als Marshmallow-Tag, eingeführt. Aber für die Liebste muss es nicht unbedingt Schokolade sein: Schmuck, Kleidung oder Accessoires werden auch gerne genommen – bevorzugt in weißer Verpackung.

Fukita hat die Schokolade für seine Kolleginnen schon besorgt. Um weitere Geschenke braucht er sich keine Sorgen zu machen, denn eine Freundin hat Fukita nicht. Und er möchte auch gar keine. Eigentlich ist er gerade ganz zufrieden mit seinem Leben. Er trifft sich mit Freunden, spielt gerne Videospiele, interessiert sich für Mode und geht gerne shoppen. Fukita ist kein otaku, kein Stubenhocker, der sich seinem Hobby ganz und gar verschrieben hat. Und er ist auch kein hikikomori, der das Haus einfach gar nicht mehr verlässt. Fukita ist einfach nicht besonders interessiert an einer Beziehung. Und auch nicht an Sex.

Hikikomori – die modernen Einsiedler

Sie lesen Comics, spielen Videogames, hören Musik. Sie essen, trinken, schlafen. Aber sie verlassen ihr Zuhause nicht – manchmal sogar nur selten das eigene Zimmer im Elternhaus. Und das monate-, zum Teil sogar jahrelang.

Das Phänomen ist immerhin so verbreitet, dass das japanische Gesundheitsministerium eine offizielle Definition davon erarbeitet hat. Als hikikomori gelten danach Menschen, die seit mindestens sechs Monaten das Haus nicht verlassen haben und seitdem keine sozialen Kontakte mehr haben. Über eine halbe Million aller Japaner lebt in dieser selbst gewählten Isolation. Nach offiziellen Studien sind es, genauer gesagt, 541.000 15- bis 39-Jährige, allerdings kommen Online-umfragen auf 1,3 Millionen Betroffene. 35 Prozent aller hikikomori hatten seit über sieben Jahren keine nennenswerten sozialen Kontakte mehr.

Die Betroffenen entstammen häufig der Mittelklasse, sind in der Regel gut ausgebildet, meist männlich –, und oft fängt es während der Schulzeit an. Hoher Erwartungsdruck hinsichtlich guter Noten, Stress beim Lernen für Aufnahmeprüfungen an Universitäten oder Mobbing können Auslöser sein. Manchmal ist es aber auch die erfolglose Suche nach dem passenden Job, eine Kündigung, ein Arbeitgeber, der pleitegeht, oder eine traumatische Erfahrung im Privatleben. Und dann scheint es so viel einfacher zu sein, zu Hause zu bleiben. Zumindest am Anfang.

Für die Eltern der hikikomori beginnt dann eine harte Zeit, denn für sie ist es schwer, den Zugang zu ihren Kindern zu finden. Außerdem ist es mit einem Stigma behaftet, einen hikikomori in der Familie zu haben – sie gelten als Versager. Manche schaffen den Weg zurück ins Leben über ein betreutes Wohnheim. Hier kochen die Bewohner gemeinsam – vor allem aber gilt ein Internetverbot, und einen Fernseher gibt es auch nur im Gemeinschaftszimmer. Jeden Freitag wird eine Party veranstaltet, damit die Bewohner miteinander in Kontakt kommen. Die Teilnahme an der Feier gehört natürlich auch zum Pflichtprogramm.

Ein 25-jähriger Mann, der kein Interesse an Beziehungen hat – okay. Aber auch nicht an Sex? Das Erstaunliche ist, dass Männer wie Fukita in Japan heute keine Seltenheit sind, sondern eher die Regel. Laut jüngsten Studien des Nationalen Instituts für soziale Sicherung und Population haben knapp 70 Prozent der unverheirateten japanischen Männer und 60 Prozent der Frauen derzeit keinen Sexualpartner. Und nicht nur das: 42 Prozent der befragten Männer und Frauen hatten noch nie in ihrem Leben Geschlechtsverkehr. Insbesondere junge Männer zwischen 25 und 29 zeigten sich uninteressiert an sexuellen Beziehungen: Über 20 Prozent davon gaben an, keinerlei Interesse an Sex zu haben. Was ist da los?

Die Journalistin Maki Fukasawa prägte schon 2006 einen Begriff für diese jungen Männer: »herbivore« Männer oder auch »Grasfresser«. Das japanische Wort nikuyoku setzt sich aus den Begriffen »Fleisch« und »Lust« zusammen (also ähnlich wie der deutsche Begriff »Fleischeslust«) – so wollte sie zeigen, dass die herbivoren Männer eben nicht am Fleisch interessiert sind.

Fukita und Kenji haben sich inzwischen getroffen und mit neuen Manga-Heften ihrer Lieblingsserien ausgestattet. Nun laufen sie noch durch den Yoyogi-Park und unterhalten sich. Für Anfang März ist es ungewöhnlich warm, beide kaufen sich ein Eis. Fukita ist mit den Geschmackssorten grüner Tee und Kirschblüte (schließlich dauert es nicht mehr lang bis zur Kirschblüte) eher klassisch unterwegs, Kenji dagegen bevorzugt herzhafte Sorten wie Krabbe und Chicken Wings (und das sind noch lange nicht die ungewöhnlichsten japanischen Eissorten – aber das ist ein anderes Thema). So ganz kann Kenji seinen Freund nicht verstehen, und ab und zu versucht er auch, ihn zu verkuppeln. Aber Fukita ist unschlüssig. »Selbst wenn ich dann eine Freundin hätte ... Wer würde mich denn schon heiraten? Mit meinem Job kann ich niemals eine Familie finanzieren.«

Tatsächlich wird in Umfragen fehlendes Geld als häufigster Hinderungsgrund für eine Hochzeit genannt. Aber viele herbivore Männer tun sich generell schwer mit dem Lifestyle, der in Japan als typisch männlich angesehen wird. Fukitas Vater gehört noch zu der Generation, die nach dem Studium einen Job in einem Unternehmen angefangen hat und sich sicher sein konnte, dort bis zur Rente zu bleiben. Die Gegenleistung war Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Mit dieser Vereinbarung zwischen Unternehmen und ihren Angestellten schaffte Japan in den 1960ern sein Wirtschaftswunder. Die Frauen blieben meist zu Hause und zogen die Kinder auf, denn die Männer hatten mit bis zu 80 Stunden Arbeit pro Woche ganz einfach keine Zeit dazu. Dafür konnte man sich eine Wohnung leisten – vielleicht nicht direkt in der Nähe des Unternehmens –, ein Auto, Kinder. Mit dem Platzen der Wirtschaftsblase im Jahr 1990 stürzte das Land in eine Rezession. Die alten Bedingungen galten auf einmal nicht mehr.

Heute arbeiten viele junge Japaner als sogenannte Freeter (eine Wortmischung aus dem amerikanischen »Freelancer« und dem deutschen »Arbeiter«), als Teilzeitarbeiter, und verdienen somit deutlich weniger als ihre fest angestellten Kollegen. Fukitas Vater nimmt seinem Sohn immer noch übel, dass er als Freeter angefangen hat, denn seiner Meinung nach verbaut er sich damit seine Zukunft. Viele japanische Unternehmen stellen noch immer bevorzugt Absolventen ein, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben. »Einmal Freeter, immer Freeter«, sagt Fukitas Vater daher gerne. Und dafür habe er die teure Privatschule nun wirklich nicht bezahlt. Fukita will ihm ja gar nicht widersprechen, aber er hat nun mal nach der Uni keinen festen Job gefunden. Und so richtig lockt ihn das Leben seines Vaters, das nur aus Arbeit besteht, auch nicht. Erst neulich ist in seinem Unternehmen eine große Zahl von Managern um die 50 entlassen worden. Einfach so. Nach einem Leben für die Firma. So will Fukita auf gar keinen Fall enden. Er hat neben seiner Arbeit zumindest Zeit für Hobbys, Freunde ... Selbst wenn er sich keine Familie leisten kann, hat er doch ein gutes Leben, sagt er sich.