Liebe in Sicht - Ines Vitouladitis - E-Book
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Ines Vitouladitis

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Beschreibung

Vom Albtraum zum Frauenschwarm …
Der romantisch-humorvolle Liebesroman zum Wohlfühlen und Verlieben

Als Nami Sawyer das Haus ihrer Tante in Rose Village erbt, nutzt sie diese Chance, um ihrer unschönen Ehe zu entfliehen. Mit ihrem kleinen Bruder Nolan und dem dreijährigen Sohn Codey bricht sie in einer Nacht-und-Nebelaktion in jenes verträumte Dorf auf, in dem sie aufgewachsen ist. Dass sie dort ausgerechnet auf ihren ehemaligen Erzfeind Jack Montgomery trifft und dieser auch noch ihr direkter Nachbar ist, hat ihr gerade noch gefehlt. Doch der ehemalige Albtraum aller Mädchen hat sich zum begehrtesten Junggesellen des Dorfes entwickelt. Nami jedoch traut ihm immer noch nicht. Wäre da nicht dieses Knistern, das sie empfindet, sobald sie in seiner Nähe ist … Doch dann werden die beiden von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt und plötzlich steht viel mehr auf dem Spiel als nur ein gebrochenes Herz …

Erste Leser:innenstimmen
„Zuckersüße, und trotzdem nicht zu kitschige Enemies-to-Lovers-Geschichte – schön!“
„Fans romantischer Komödien müssen einfach zugreifen.“
„Mitreißender und gefühlvoller Liebesroman, von Mitleiden bis Mitlachen habe ich alles durchlebt!“
„Wunderbare Frühlings- und Sommerlektüre fürs Herz.“

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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über dieses E-Book

Als Nami Sawyer das Haus ihrer Tante in Rose Village erbt, nutzt sie diese Chance, um ihrer unschönen Ehe zu entfliehen. Mit ihrem kleinen Bruder Nolan und dem dreijährigen Sohn Codey bricht sie in einer Nacht-und-Nebelaktion in jenes verträumte Dorf auf, in dem sie aufgewachsen ist. Dass sie dort ausgerechnet auf ihren ehemaligen Erzfeind Jack Montgomery trifft und dieser auch noch ihr direkter Nachbar ist, hat ihr gerade noch gefehlt. Doch der ehemalige Albtraum aller Mädchen hat sich zum begehrtesten Junggesellen des Dorfes entwickelt. Nami jedoch traut ihm immer noch nicht. Wäre da nicht dieses Knistern, das sie empfindet, sobald sie in seiner Nähe ist … Doch dann werden die beiden von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt und plötzlich steht viel mehr auf dem Spiel als nur ein gebrochenes Herz …

Impressum

Erstausgabe Mai 2022

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-451-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-491-4

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © aniana, © sodesignby, © RachenStocker Lektorat: Astrid Rahlfs

E-Book-Version 28.05.2025, 14:02:44.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Liebe in Sicht

Kapitel 1

Aufbruch in ein neues Leben

Die Straßen wurden breiter und leerer, je weiter wir uns von der Stadt entfernten. Am Straßenrand wuchsen nun vermehrt Bäume, einige davon mannshoch, andere waren scheinbar erst vor kurzem eingepflanzt und mit Messingschildern versehen worden, auf denen ich den eingravierten Namen der Art vermutete. Im Licht der Scheinwerfer warfen ihre Kronen gespenstische Schatten auf den Asphalt, bevor ich binnen Sekunden an ihnen vorbeirauschte. Der Regen prasselte in einem beständigen Rhythmus an die Frontscheibe und schien sich mit meinem Herzschlag zu synchronisieren, der seit Stunden partout nicht ruhiger werden wollte.

Irgendetwas klapperte schon seit einer ganzen Weile im Wagen, und auch die Kontrollleuchte des Motors prangte seit mehreren Meilen wie eine stumme, aufdringliche Hiobsbotschaft unter dem Tacho. Es war reine Glückssache, ob wir es bis Rose Village schaffen würden oder nicht. Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. So oft, wie ich seit der Abfahrt auf ihr herumgekaut hatte, wunderte es mich fast, dass sie noch nicht blutete.

Vielleicht, ja vielleicht, hätte ich doch besser den Neuwagen statt der alten Klapperkiste nehmen sollen, die eigentlich kaum noch genutzt wurde und aus rein sentimentalen Gründen noch in der Garage stand. Meinem Herzen und meiner Unterlippe hätte es sicher gutgetan. Doch ein roter Sportwagen wäre auf den Straßen weit auffälliger gewesen als ein grauer Minivan mit abblätterndem Lack. Und wenn es eines gab, das ich in jener Nacht nicht wollte, dann war es, gesehen zu werden.

Wenn man sagt, dass man nur das Nötigste mitnimmt, dann denkt man erst mal an das, was man gerade am Leib trägt und vielleicht an ein Handy, ein paar Snacks oder Kleidung zum Wechseln. Aber das Nötigste ist manchmal mehr als das. So viel mehr. Manchmal ist es Geld. Oder schlicht Taschentücher für die heimlich verdrückten Tränen, die auf keinen Fall jemand sehen darf. Es sind manchmal Schokoriegel als Nervennahrung und ein ganzer Wäschekorb voller Spielzeug sowie Bücher mit emotionalem Wert. Und manchmal auch ein überdimensional großer Müllsack, bis oben hin vollgestopft mit Kleidung, weil man nicht weiß, wann man wieder welche kaufen kann, sowie die Lieblings–Dinosaurierdecke des Dreijährigen. Ohne die ginge nämlich gar nichts.

Der aus einem Wäschekorb und einer zerbeulten alten Spielzeugkiste gebaute Turm auf dem Beifahrersitz wackelte immer wieder in unregelmäßigen Abständen unheilvoll, obwohl ich ihn sogar mit Gurten gesichert hatte. Angeschnallt wie ein unförmiger Mensch mit Schwindelattacken thronte er neben mir, seit wir Salem City verlassen hatten. Im Fußraum lagen Ordner mit wichtigen Unterlagen, die ich im Vorbeigehen mitgenommen hatte, sowie ein Brief. Der Brief. 

Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, da ich ihn in großer Hast einfach zwischen die Ordner geworfen hatte, spürte ich seine Präsenz. Ich hätte ihn nicht mitnehmen müssen, denn ich hatte ihn bereits so oft gelesen, dass ich seinen Inhalt auswendig kannte. All diese Worte – die Worte, die alles verändert hatten, waren in meinem Kopf gespeichert, und ich war mir sicher, dass sie mich auf ewig begleiten würden. Bis ins Grab. Nein, ich hätte ihn nicht mitnehmen müssen – aber ich wollte nicht, dass er in falsche Hände gelangte. Ich wollte nicht, dass sein Inhalt verriet, wohin es mich trieb. Und ihn zu zerreißen, zu verbrennen oder zu vergraben, damit sein Geheimnis niemals jemand anderen als mich erreichen würde, hätte eindeutig zu lange gedauert – ganz davon abgesehen, dass ich es nicht übers Herz gebracht hätte. Denn dieser Brief war sowohl ein Abschied als auch ein Willkommen.

Der Regen wurde sachter, setzte fast aus. Nur feine Tropfen landeten nun noch wie gesprüht und gänzlich lautlos auf der Frontscheibe. Der quietschende Scheibenwischer rutschte gemächlich weiter von links nach rechts.

Ich nahm einen großen Schluck vom Energydrink, den ich mir aus einem spontanen Impuls heraus beim Bezahlen an der letzten Tankstelle mitgenommen hatte ‒ in vollem Bewusstsein darüber, dass ich gerade nichts als verflüssigten, puren Zucker, angereichert mit Koffein trank. Aber manchmal geht es nicht anders. Ein Macadamia–Bananen–Smoothie oder ein Ingwer–Shot bringt dich nicht weit, wenn du mitten in der Nacht Dutzende von Meilen zu fahren hast und diese heftige, bleierne Müdigkeit dir die Lider mit nackter Gewalt herunterreißt.

Während der unangenehm süße Geschmack sich auf meiner Zunge ausbreitete und dort einen Film hinterließ, kam ich an der nächsten roten Ampel zum Stehen. Es war das erste Mal seit einer ganzen Weile, dass wir nach Stunden auf dem Highway einen Ort durchfuhren. Ich nahm noch einen Schluck. Die Müdigkeit durfte nicht siegen. Schlafen würde ich später immer noch können. Unwillkürlich schüttelte ich mich. Dieser Energydrink war so süß, dass sich in meinem Mund alles zusammenzog. Die Kohlensäure, die ihm beigesetzt war, machte das Ganze fast noch schlimmer. Er schien sich regelrecht einzubrennen. Wie zum Teufel konnte man so etwas bloß freiwillig trinken?

„Gibt es in deinem Kaff wenigstens einen Fußballplatz?“, erkundigte Nolan sich mit unüberhörbarer Gereiztheit in der Stimme von der Rückbank aus und warf seinen Lederball in die Höhe, um ihn gekonnt wieder aufzufangen.

„Ich weiß nicht, Bruderherz. Damals gab es einen kleinen Sportplatz in der Nähe des Hauses. Aber ich habe keine Ahnung, ob der noch steht.“ Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Es ist eine ganze Menge Zeit vergangen, seit ich dort war. Sicher hat sich vieles geändert und … nun ja … modernisiert.“

„Ich hoffe doch.“ Er seufzte. „Ohne Fußballverein kannst du mich nämlich auch gleich erschießen.“

Endlich änderte sich das grelle Rot der Ampel in ein leuchtendes Grün. Vorsichtig gab ich Gas. Der Wagen klang tatsächlich, als würde er keuchen. Innerlich flehte ich ihn an, nicht aufzugeben. Und wenn er in Rose Village vor meinen Augen zu Staub zerfallen würde – von mir aus sollte er das tun. Hauptsache, wir würden es bis dorthin schaffen.

„Lass mich nachdenken.“ Ich zwinkerte Nolan über den Rückspiegel, an dem ein Duftbäumchen mit Vanillearoma und ein altes Paar Babyschuhe hingen, zu. „Der Gedanke, dich zu erschießen, ist schon irgendwie verlockend. Echt jetzt. Leider habe ich aber keine Waffe. Also schlage ich vor, dass wir abwarten und uns im Vorfeld einfach noch kein Bild von dem Dorf …“

„Kaff“, korrigierte Nolan trocken, ohne auf mein Necken einzugehen.

„Von dem Dorf machen“, fuhr ich unbeirrt fort. „Es ist in der Nähe von New Jersey. Nur weniger … zentral. Und weniger bekannt. Und weniger groß.“

Der Ort, durch den wir fuhren, endete mit einem großen grünen Ortsausgangsschild, das von einer Straßenlaterne angestrahlt wurde, und mein Navi leitete mich wieder zurück auf den Highway. Eine breite zweispurige, leere Straße erstreckte sich vor, Bäume am Straßenrand neben und Sterne am Himmelszelt über uns. Zwei Drittel des Weges hatte ich nun zurückgelegt. Meine Kraftreserven waren aufgebraucht, mein Mund ganz pappig vom übermäßig süßen Energydrink und meine Gelassenheit nur vorgetäuscht. Manchmal muss man stark sein für die, die schwächer sind. Dessen war ich mir schon als Teenager bewusst gewesen.

Nolan seufzte. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und betrachtete ihn, wie er so dasaß, das dunkle Haar länger als gewöhnlich, den Blick aus blau–grünen Augen müde gesenkt. Codey daneben schlief friedlich in seinem Kindersitz, in der einen Hand sein heißgeliebtes Plüsch–Einhorn, in der anderen eine angeknabberte Waffel. Seine in Feuerwehrauto–Hausschuhen steckenden Füße ruhten entspannt auf der vollgestopften Tasche, die ich unter Anwendung von Gewalt in den Fußraum gequetscht hatte. Die langen blonden Locken kräuselten sich in feinen Strähnen um sein rundliches Gesicht. Im Schlaf sah er mit seinem Schmollmund immer noch wie ein Baby aus.

„Danke, dass du hinten bei Codey sitzt, Nolan. Ich hätte echt Sorge gehabt, dass das hier …“, ich deutete auf den wackligen Turm auf dem Beifahrersitz, „… ihn erschlägt, wenn ich es auf die Rückbank neben ihn gestellt hätte.“

Nolan schwieg.

„Wieso schläfst du nicht etwas?“, fügte ich leise hinzu.

Unsere Blicke trafen sich im Beifahrerspiegel. Nolan schüttelte den Kopf. „Bin nicht müde.“ Er drehte seinen Ball auf dem Zeigefinger. „Gibst du mir wenigstens was von deinem Energydrink ab, wenn du mich schon ins entlegenste Kaff des Planeten verschleppst?“

„Dorf. Und es gibt sicher noch entlegenere Dörfer als Rose Village. Und zum Energydrink – Nolan, du bist vierzehn!“ Kopfschüttelnd leerte ich die Dose mit drei großen Schlucken, die Augen fest auf die leere Straße vor mir gerichtet.

„Fast fünfzehn! Was du wissen würdest, wenn du dich für mich und mein Leben interessiertest.“

Ich ignorierte seine provokanten Worte geflissentlich.

„Und selbst, wenn du fast sechzehn wärest: Die Antwort lautet nein.“

„Spießer“, murmelte Nolan, zog sich die Kapuze seines Hoodies tiefer ins Gesicht und lehnte den Kopf an das Fenster.

Eine gefühlte Ewigkeit lang raste ich über den Highway, während die verbleibenden Minuten auf dem Navi nur träge zu verrinnen schienen. Selten kreuzte ein anderes Auto meinen Weg. Doch jedes Mal, wenn es geschah, zuckte ich innerlich fürchterlich zusammen, bevor mir klar wurde, dass es unmöglich war, dass er uns fand. Nicht jetzt. Er würde frühestens in zwei Stunden von der Nachtschicht nach Hause zurückkehren und das Chaos vorfinden, das wir hinterlassen hatten: die offenen, halb leer geräumten Schränke, den Ring auf dem Boden. Und dann … dann erst würde er mich suchen. Allein der Gedanke an die Wut, die in ihm mit jeder Minute heranwachsen würde, in der er nicht wusste, wo wir waren, ließ mich unangenehm frösteln.

Ein Gähnen unterdrückend zog ich den Kragen meiner Jacke enger an meinen Hals und kuschelte mich tiefer in sie hinein. Die Heizung im Auto war schon vor Meilen ausgefallen. Zuerst hatte sie merkwürdig gerochen und dann gar nicht mehr funktioniert. Und zu allem Übel war es ausgerechnet heute für eine Frühlingsnacht auffallend kalt. Zum Glück war Codey dick angezogen und mit seiner Lieblingsdecke zugedeckt. Mit Blick auf die Straße tastete ich nach einer seiner beiden Hände. Sie fühlte sich warm an. Sehr gut. Erleichtert atmete ich aus. Im Gegensatz zu mir fror er offenbar nicht. Auch Nolan schien endlich eingeschlafen zu sein. Ruhige, gleichmäße Atemzüge drangen von der Rückbank zu mir.

Mit kalten Fingern versuchte ich – wie schon so oft zuvor – das Radio anzuschalten, doch es gab keinen Laut von sich. Ein bisschen Unterhaltung hätte nicht schaden können. Ich war noch nie ein Freund von Stille gewesen, vor allem dann nicht, wenn sie hin und wieder von ungesund klingenden Motorengeräuschen unterbrochen wurde.

Unwillkürlich erinnerte ich mich an jenen Tag zurück, an dem ich Rose Village damals verlassen hatte, ein Jahr, nachdem Vater gestorben war. Ich sah es noch lebhaft vor mir, das Dorf, in dem ich meine Kindheit und den Großteil meiner Jugend verbracht hatte. In meiner Erinnerung war es perfekt. Zumindest fast. Es war freundlich, grün und warm.

Ich erinnerte mich an den Geruch von frisch gemähtem Gras, Grillabende mit den Nachbarn und an den salzigen Geschmack auf den Lippen, den das Meer in die Luft trieb. Rose Village war Wärme für mich, war frische Luft, Pancakes am Morgen und Weihnachtsfeste, bei denen das ganze Dorf zusammenkam und gemeinsam sang. Aber Erinnerungen haben die unangenehme Angewohnheit zu verblassen. Sie spiegeln die Realität weichgezeichnet wider. Details werden ausradiert und nur das Schöne bleibt. Ob Rose Village wirklich ein solch traumhafter Ort war, wie ich glaubte zu wissen? Die letzten Jahre meines Lebens hatten mich unsanft gelehrt, dass vieles nicht das war, was es den Anschein hatte zu sein.

Ich dachte an meinen letzten Tag dort zurück. Ich hatte beim Aufwachen am Morgen nicht gewusst, dass es der letzte sein würde. Es war einfach nur ein gewöhnlicher Tag gewesen. Einer wie jeder andere. Eine unerwartete Botschaft und einen Aufbruch, der dem gleichkam, den ich in der heutigen Nacht erlebte später, hatte ich im Auto gesessen und Rose Village im Rückspiegel immer kleiner werden sehen, bis es am Horizont ganz verschwunden gewesen war.

Ich erinnerte mich nur zu gut an diese Fahrt. An den Tee aus der Thermoskanne, den ich getrunken hatte, und der so heiß gewesen war, dass ich mir die Zunge daran verbrannt hatte. Ich war müde gewesen, ebenso müde wie jetzt. Fast konnte ich die Tränen schmecken, die ich damals geweint hatte. Die Übelkeit spüren. Die Unsicherheit. Die Angst.

Am Horizont ging nun langsam die Sonne auf. Erst rötlich, dann orangefarben und schließlich weißlich breitete sich das Tageslicht auf dem Asphalt aus und vertrieb meine dunklen Gedanken. Ein Neuanfang, sagte ich mir selbst ‒ das war es, was ich wollte. Das war es, worauf ich hinarbeitete. Nur deshalb legte ich all diese Meilen zurück.

Allmählich wurden es mehr Autos, die mir entgegenkamen, viele der Fahrer darin wahrscheinlich auf dem Weg zum Frühdienst oder auf dem Heimweg nach dem Nachtdienst. Leere, fremde Gesichter, die an mir vorbeizogen wie Zugvögel.

Codey regte sich allmählich in seinem Kindersitz und strampelte die Decke von seinen Beinen herunter. Ich warf ihm im Rückspiegel ein Lächeln zu, als sich seine Lider flatternd hoben und er sich mit müdem Blick umsah. Sicher war er verwirrt darüber, im Minivan aufzuwachen und nicht in seinem Bett. Auch Nolan wachte nun mit einem Ächzen auf, reckte und streckte sich ausgiebig.

„Na, Schlafmütze, ausgeschlafen?“, neckte ich ihn.

„Du bist eine Schlafmütze!“ Codey zeigte mit dem Finger auf Nolan und kicherte, wobei er die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen entblößte, die ich so niedlich fand.

„Und du sollst deinen Onkel nicht ärgern, du schlecht erzogener Frechdachs!“, ermahnte Nolan ihn mit gespielter Strenge in der Stimme und begann, ihn zu kitzeln.

Schmunzelnd setzte ich den Weg fort. Ein Glück, dass Nolan dabei war – ohne ihn wäre die Fahrt mit Codey wahrscheinlich sehr anstrengend geworden. Man mochte von männlichen Jugendlichen halten, was man wollte – mit Codey konnte Nolan besser als jeder andere umgehen.

„Ich muss Pipi“, verkündete Codey mit einem Male sehr ernst, warf mir sein Plüscheinhorn an den Kopf und hörte urplötzlich auf zu lachen. „Ganz, ganz dringend.“

„Shit.“ Mit einem Blick in den Rückspiegel und der Erkenntnis, dass sich hinter mir gerade kein Auto befand, fuhr ich an die Seite und bremste scharf.

Nolan und ich sprangen zeitgleich aus dem Wagen. Nolan holte Codey heraus und hielt sogar das schmuddelige Plüscheinhorn, während sein Neffe sich am Straßenrand erleichterte. Als ich Codey wieder anschnallte, wandte ich mich Nolan zu. „Das nenne ich mal Teamwork!“ 

Doch er nickte bloß müde und machte Anstalten, wieder in den Wagen zu steigen. Als Codeys Tür ins Schloss fiel, schloss ich kurz die Augen und atmete tief ein und wieder aus.

„Ich verstehe, dass du wütend bist“, setzte ich an.

Nolan antwortete nicht und sah mich auch nicht an, hielt jedoch mit dem Türgriff in der Hand inne.

„Du lässt deine Schule zurück, deine Freunde, deinen Fußballverein. Das ist hart …“, fuhr ich leise fort, „… aber Rose Village ist die beste Lösung für unsere Familie.“

„Familie?“ Nolan hob den Blick und betrachtete mich verständnislos, eine kleine, skeptische Falte zwischen den Brauen, die ihn viel älter aussehen ließ als er tatsächlich war.

„Für dich, mich und Codey. Wir sind eine Familie, Nolan. Wir werden eine Familie sein. Das verspreche ich.“ Ich schluckte. „Dieses Erbe ist ein Zeichen. Es ist Schicksal, dass ich es erhalten habe.“

Nolan zog geräuschvoll die Nase hoch und kickte einen kleinen Stein vom Rand der Straße, der mit einem dumpfen Geräusch am Minivan abprallte. „Ich glaube nicht an das Schicksal“, murmelte er.

„Ich weiß. Aber glaub mir, eines Tages wirst du mir dankbar dafür sein … für diesen Neuanfang. Wir haben doch nur noch einander, Nolan“, setzte ich hinzu. Ich spürte, dass meine Stimme brach und kämpfte gegen das jähe Bedürfnis an, in Tränen auszubrechen. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.

Nolan reagierte nicht, doch ich konnte deutlich erkennen, wie sich seine Kiefermuskulatur anspannte, weil er die Zähne aufeinanderbiss.

Ich holte tief Luft. „Ich bin dein Vormund, und ich muss zwischen deinem Wunsch, im vertrauten Umfeld zu bleiben und deinem Bedürfnis, sicher zu sein, unterscheiden“, setzte ich mit etwas festerer Stimme hinzu und räusperte mich. „Und meine Entscheidung ist, dass wir in das Haus meiner … nein, unserer Tante ziehen. Auch wenn du sie leider nie kennengelernt hast. Es ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, Nolan. Es ist ein tolles Haus.“

„Wie du meinst.“ Nolan zuckte resigniert die Achseln und stieg zurück ins Auto.

Seufzend nahm ich wieder auf dem Fahrersitz Platz, der sich allmählich ziemlich unbequem anfühlte. Ich vermisste den Komfort und die weichen Ledersitze des Sportwagens.

Etwa eine Stunde lang schaffte Nolan es, Codey mit Liedern, Unterhaltungen und Spielen abzulenken. Die Herbstsonne brach sich inzwischen in goldfarbenen Strahlen in den Pfützen am Straßenrand. Der feine Nieselregen hatte aufgehört und einen klaren blauen Himmel hinterlassen. Ein guter Tag für einen Neuanfang. Ich unterdrückte den Gedanken an meine volle, drückende Blase und an Travis, der unser Verschwinden inzwischen höchstwahrscheinlich bemerkt hatte.

„Wir ziehen neben die alte Mrs Foster“, sagte ich, um sowohl Codey als auch mich abzulenken. „Die müsste inzwischen fast hundert Jahre alt sein.“ Ich runzelte die Stirn. Mrs Foster war damals schon steinalt gewesen. Ob sie überhaupt noch lebte?

„Hundert?“, wiederholte Codey. In seiner Stimme lagen sowohl Ehrfurcht als auch so etwas wie Belustigung. „Dann kann sie ihre Zähne rausnehmen, stimmt‘s?“

„Was?“ Ich musterte ihn im Rückspiegel. „Oh … ja. Das kann sie sicher.“

Wenn sie noch lebt.

Allmählich hatte ich meinen toten Punkt überwunden. Die Müdigkeit schwand und mit ihr auch die Angst davor, Rose Village nicht erreichen zu können. Der Minivan ruckelte und knatterte zwar nach wie vor unentwegt, aber er fuhr beständig – und jeder Meter, den wir zurücklegten, war einer näher am Ziel. Am Neuanfang.

„Das Haus liegt am Strand, wisst ihr?“ Ich lächelte milde. „Es hat eine Veranda, und der Garten führt einmal rings um das Haus herum. Ich hoffe, all die Obstbäume stehen noch. Ich habe Tante Claire nie danach gefragt.“

Nolan grummelte irgendetwas Unverständliches und setzte seine Kopfhörer auf.

„Und sind die Menschen da nett?“, erkundigte Codey sich munter. Zumindest er war aufgeschlossen.

„Oh ja“, antwortete ich. „Das sind sie.“

Alle bis auf einen, dachte ich. Aber der Schrecken des Dorfes war laut Tante Claire schon vor langer Zeit fortgezogen, um zu studieren. Ich erinnerte mich mit Genugtuung an das Telefongespräch vor einigen Jahren, in welchem sie es nebenbei erwähnt hatte. Rose Village würde ein tausendfach schönerer Ort sein ohne ihn.

Im Rückspiegel sah ich, wie Codey begann, sein Einhorn immer wieder in die Höhe zu werfen und es aufzufangen, ganz ähnlich, wie Nolan es zuvor mit dem Lederball getan hatte.

„Kommt Daddy später nach?“, fragte er unvermittelt.

Ich hatte damit gerechnet, dass diese Frage kommen würde. Früher oder später. Dennoch warf sie mich mehr aus der Bahn, als sie eigentlich sollte, und die Antwort, die ich mir im Voraus zurechtgelegt hatte, verpuffte in meinem Kopf zu einem reinen Nichts.

Und während er plötzlich abgelenkt war, weil er Schafe entdeckt hatte, die abseits der Straße grasten, fragte ich mich selbst, ob er eines Tages aufhören würde, diese Frage zu stellen – oder ob er sie wieder und wieder stellen würde, so lange, bis ich ihm eine ehrliche Antwort darauf gäbe.

Ich dachte an den Brief, der all das ins Rollen gebracht hatte. Der nach Rosenparfum geduftet hatte, als ich ihn aus dem Umschlag geholt und verwundert geöffnet hatte. Ein Schlüssel war herausgefallen und vor meinen Füßen auf dem Boden gelandet. Derselbe Schlüssel, den ich nun an einem geflochtenen Band um den Hals trug.

Liebste Nami,

der Gedanke, dass du diese Zeilen erst liest, wenn ich schon tot bin, ist beängstigend wie schön zugleich. Als würde ich durch diesen Brief noch einmal ganz kurz leben.

Du musst wissen: Häuser altern nicht viel anders als Menschen es tun. Sie werden hier und da ein wenig grau, knarren und knacken, und machen allerlei andere merkwürdige Geräusche. An verschiedenen Stellen blättert der Lack ab, und manchmal scheint es beinahe so, als würden alte Häuser ein wenig in sich zusammenschrumpfen, so, wie es bei alten Menschen den Eindruck macht, da sie mit voranschreitendem Alter immer gebückter durch das Leben gehen.

Dieses Haus hat vieles gesehen, vieles erlebt und mitgemacht. Dein Urgroßvater hat es eigenhändig gebaut und seine Kinder darin aufgezogen. Sein ältester Sohn, dein Großvater, hat es anschließend mit seiner Frau, deiner Großmutter, übernommen, und so sind wiederum deine Mutter und ich darin aufgewachsen. Wir waren immer grundverschieden, wie du weißt. Wie Feuer und Wasser.

Als ich Rose Village damals verließ, war der Abschied vom Haus genauso schmerzhaft wie der von den Menschen, die ich liebte. Deine Mutter hegte und pflegte es weiterhin, auch, als unsere Eltern krank und gebrechlich wurden. Und schließlich zog dein Vater mit ein, und du wurdest geboren. Da war endlich wieder Kinderlachen im Haus. Als dein Vater starb und ich zurück nach Rose Village kam, um deiner Mutter und dir in der schweren Zeit unter die Arme zu greifen, da empfing das Haus mich mit offenen Armen und goldgelb gesprenkelten Sonnenstrahlen auf dem alten Parkett, auf dem schon unsere Großeltern getanzt hatten. Ich bin mir sicher, dass es dem Haus das Herz brach, als ihr beide nach dem schrecklichen Streit zwischen deiner Mutter und mir in die Stadt gezogen seid. Und den Rest meines Lebens gab ich mir die größte Mühe, es zu pflegen, dieses alte, gute, gebrochene Herz.

Eines, musst du wissen, hatten all diese Familien gemein: Sie respektierten dieses Haus. Sie schätzten es. Dadurch, dass sie darin lebten, lebte es ebenso.

Und da ich glaube, dass auch du jemand bist, der zum einen das Haus pflegen und respektieren und am Leben erhalten wird und zum anderen eine Zuflucht braucht, liebste Nami, halte ich es für eine meiner klügsten (wenn nicht gar für die klügste) Entscheidungen, dir das Haus und alles, was darin und drum herum ist, zu vermachen. Ich habe diese Entscheidung natürlich auch in meinem Testament festgehalten. Ich mag alt sein, und hier und da auch ein wenig vergesslich, aber dumm bin ich nicht. Alles, liebste Nami, ist in trockenen Tüchern, wie man so schön sagt.

In den letzten Jahren wirktest du bei unseren wenigen Telefonaten immer bedrückter, meine liebe Nichte, auch wenn du versuchtest, es vor mir zu verbergen. Die vielen Einladungen von mir hast du stets ausgeschlagen, und ich gehe auch davon aus, dass du nicht zu meiner Beerdigung kommen wirst. Sei unbesorgt – ich bin deshalb nicht wütend. Ich weiß, dass es nicht deine Entscheidung ist.

Ich bin alt und krank, Nami, und alte, kranke Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob jemand eine Portion Glück vertragen könnte. Und manchmal, da kommt das Glück in Form eines Hauses daher.

P.S.: Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Auch wenn du dein Leben lang glaubtest, ich würde es nicht kennen. Sei unbesorgt. Ich werde es mit ins Grab nehmen. Aber bist du sicher, dass auch du das tun willst?

Ich erinnerte mich lebhaft an das, was ich nach dem Lesen des Briefes empfunden hatte. Die Tatsache, dass mir urplötzlich ein Haus in Rose Village gehörte, hatte mich nicht minder schockiert wie der Zusatz hinter dem P.S.

Dein Geheimnis ist bei mir sicher.

Tante Claire hatte geahnt, wie schlecht es mir in den letzten Jahren ergangen war. Obwohl ich mir stets Mühe gegeben hatte, fröhlich zu klingen, musste ihr aufgefallen sein, dass der goldene Käfig, in dem ich gesessen hatte, immer beengender geworden war.

Es verging eine weitere Stunde, in der Codey mit den Beinen strampelte, Nolan mich ignorierte und wir zwei kurze Pausen an Rastplätzen einlegten, da Codey nicht mehr stillsitzen konnte. Und dann schrumpfte die Minutenzahl der Zeit, bis wir unser Ziel erreichen würden, auf dem Navi zu einer Zahl aus nur zwei Ziffern. Mein Herz zog sich in jäher Erleichterung und Vorfreude kurz krampfhaft zusammen, bevor es sich allmählich wieder beruhigte und in einen gemächlichen Rhythmus verfiel.

Rose Village war nun zum Greifen nah. Codey begann zu quengeln und unruhig im Sitz hin und her zu rutschen. Nur allzu verständlich, dass er mit seinen drei Jahren allmählich genug vom Sitzen und Warten hatte. Ich öffnete das Fenster ein Stück weit und atmete tief ein und wieder aus. Die morgendliche Frühlingsluft war klar und kalt.

Als das Navi schließlich verkündete, dass es bis zum Ziel nun bloß noch dreißig Minuten seien, beschleunigte ich noch einmal. Mit dem Durchtreten des Gaspedals erreichte ich die auf dem Highway erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 75 Meilen pro Stunde.

„Noch eine halbe Stunde, Codey“, verkündete ich mit kurzem Blick in den Rückspiegel. „Das dauert nicht einmal ganz so lange wie die Fahrt bis zu Grandma.“

Ich hatte es ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken, und erst jetzt, da meine Worte unbeantwortet in der Luft zu schweben schienen, wurde mir bewusst, dass ich mit dem, was ich gerade tat, nicht nur meinen Ehemann Travis verlassen, sondern auch seiner Mutter, meiner Schwiegermutter, den Rücken gekehrt hatte. Ich versuchte zu schlucken, aber in meinem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. Gwendolyn Sawyer war eine herzensgute Frau. Doch um von ihrem Sohn loszukommen, musste ich auch Opfer bringen – das war mir von vorneherein mehr als klar gewesen. Unser Haus, mein Freundeskreis, Salem City – ich hatte diese große Stadt mit all den adretten Häusern, Vorgärten und Geschäften geliebt – waren nur ein Bruchteil dessen, was ich zurückließ. Was wir zurückließen.

Noch zwanzig Minuten. Ich verließ den Highway, um durch eine Ortschaft zu fahren. Codey hatte inzwischen seine Feuerwehr–Hausschuhe von den Füßen gezogen und sie über die Hände gestülpt. Rhythmisch trommelte er damit an die Fensterscheibe. Hätte ich es unter anderen Umständen wahrscheinlich unterbunden, so ließ ich ihn nun gewähren, in der Hoffnung, dass er sich damit beschäftigen würde, bis wir ankämen.

Noch zehn Minuten. Nolan richtete sich in seinem Sitz ein wenig auf und blickte aus dem Fenster. Einige Strähnen seiner dunklen Haare reichten bis weit über seine Augenbrauen und hingen ihm teilweise im Gesicht, was ihn nicht zu stören schien. Er hatte sie seit Moms Tod nicht mehr schneiden lassen.

Allmählich wurde mir das, was uns umgab, wieder vertrauter, und dann – endlich – folgte ein schmaler Schotterweg, auf dem der Wagen mächtig ins Holpern geriet.

Das Ortseingangsschild war noch dasselbe wie vor fünfzehn Jahren. Dunkelgrün und breit, mit der Aufschrift ROSE VILLAGE in Druckbuchstaben.

„Wir sind zu Hause.“ Mit Tränen in den Augen wandte ich mich zu Nolan und Codey um. „Wir sind endlich zu Hause.“

Kapitel 2

Start mit Hindernissen

In einem längst vergangenen Herbst hatte es keinen Quadratmeter Erdboden in Rose Village gegeben, auf dem keine Blätter gelegen hatten. Rot, gelb, orange, braun – in allen Farben, Formen und Größen hatten sie die Straßen geschmückt. Und obwohl meine noch so junge Welt Kopf gestanden hatte und zu zerfallen schien, waren die Gedanken, die in diesem Augenblick in mir aufkamen, umso schlichter und unwichtiger. Sie waren harmlos. Unschuldig.

Ob es in anderen Dörfern oder Städten ebenso schöne Herbstblätter gibt wie in Rose Village?

Und ohne recht darüber nachzudenken, hatte ich eines davon aufgehoben und es sanft zwischen die Seiten meines Buches geschoben, bevor ich in den Wagen gestiegen war. Der Motor war schon gelaufen. Das Fenster hatte ich heruntergekurbelt, denn mir war trotz der immer kühler werdenden Temperaturen warm gewesen.

Gedankenverloren war mein Blick zum Haus geglitten, in welchem ich aufgewachsen war. Zu unserem Haus. Meinem Haus. Ich hatte einen Fehler gemacht. Vielleicht den größten meines Lebens. Doch hatte ich diese Strafe verdient? War es nicht Strafe genug gewesen, diesen Fehler auszusprechen? Ihn zuzugeben?

Es hatte an diesem Tag einen Abschied gegeben. Ein Eis an der Tankstelle, weil mein Magen geknurrt hatte und wir nichts Essbares eingepackt hatten. Eine Menge Tränen, die einen salzigen Geschmack auf meinen Lippen hinterlassen hatten. Anders salzig als die Seeluft. Und es hatte einen Streit gegeben, der eigentlich gar keiner gewesen, sondern grundlos entfacht worden war, um einen Grund zu haben. Einen, der stark genug gewesen war, die Wahrheit zu vertuschen.

„Nami, wieso steigst du nicht endlich aus?“

Es war nicht das erste Mal, dass Nolan mir diese Frage stellte. Schon zwei– oder sogar dreimal hatte ich ihn zu mir sprechen hören, dumpf und wie durch eine dichte Wand aus Nebel. Nur allmählich gelang es mir, meine Hände, die sich an das Lenkrad geklammert hatten, zu entspannen. Finger für Finger musste ich einzeln lösen, während meine Gedanken es nur ganz allmählich schafften, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückzukehren. Mit einem unangenehmen Brennen in den Augen wandte ich mich ihm zu. Er hatte die Fahrertür geöffnet und musterte mich ungeduldig, während er seinen Fußball zwischen dem linken und dem rechten Fuß hin und her kickte.

„Codey hat Hunger“, sagte er.

„Es sind noch …“, setzte ich an. Meine Stimme klang irgendwie verwaschen.

„… Waffeln da, ja.“ Nolan nickte. „Davon haben wir auf der Fahrt ungefähr vierzig Stück gegessen.“

„Du hast recht“, pflichtete ich ihm eilig bei. Endlich schaffte ich es, aus dem Minivan zu steigen. Meine Knie zitterten ein wenig. „Lass uns ins Haus gehen und sehen, was wir uns Leckeres zubereiten können, okay?“

„Von mir aus“, murmelte Nolan gleichgültig.

Codey hüpfte bereits vor der Veranda auf einem Bein vor und zurück, wie um die überschüssige Energie, die sich während der Fahrt in ihm angesammelt hatte, abzubauen.

Eine milde Frühlingsbrise umgab uns. Ich steckte meine Nase in den Wind, schloss die Augen und schnupperte. Rose Village roch anders, als ich es in Erinnerung hatte. Weniger intensiv. Weniger salzig. Weniger rosig. Fast nach nichts. Irgendwie enttäuschte mich diese Tatsache. Es fühlte sich an, als hätte ich mein Lieblingsbuch nach langer Zeit wieder aufgeschlagen, nur um festzustellen, dass der Inhalt mich nicht mehr fesseln konnte.

Lautstark schnaubte ich Luft aus. Mit dem Schlüssel in der Hand betrat ich die erste knarzende Stufe der Veranda. Das Holz war mit den Jahren nachgedunkelt und trug Spuren von Regen, Frost und Sonne. Am Geländer, an dem ich mein Fahrrad immer angelehnt hatte, befand sich immer noch dieselbe alte Kerbe wie damals. Bei dem Anblick zog sich mein Herz kurz schmerzvoll zusammen, und ein Bild meiner selbst tauchte vor meinem inneren Auge auf, wie ich das Fahrrad nach der Schule gar nicht schnell genug hatte abstellen können, um zum Mittagessen hineinzulaufen. Zärtlich strich ich mit der Hand über das Holz. Es war rau und unerwartet warm.

Rechts von der Haustür hing eine hölzerne, Schaukel ähnliche Bank an zwei dicken Ketten. Dieser Anblick war mir neu, auch wenn sie aussah, als würde sie bereits seit Jahren dort hängen. Sie bewegte sich im Frühlingswind leicht quietschend vor und zurück, fast als würde ein Unsichtbarer darauf sitzen und nachdenklich mit den Füßen wippen.

Auf der linken Seite standen eine Bank und ein kleiner Tisch. Beinahe konnte ich Tanta Claire sehen, wie sie dasaß, ein Bein über das andere gelegt, ein Glas Wein in der Hand und die langen dunklen Haare zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf zusammengedreht. Oder waren ihre Haare gar nicht mehr lang gewesen? Waren sie gar nicht mehr dunkel gewesen? Sie war fast fünfundsechzig Jahre alt gewesen, als sie starb. Ich versuchte, mir Tante Claire mit einem grauen, schlichten Flechtzopf und Falten im Gesicht vorzustellen – vergeblich.

Mit einem tiefen Atemzug und zittrigen Fingern steckte ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und öffnete die schwere Tür. Nolan und Codey folgten mir schweigend.

Im Gegensatz zu unserem Haus in Salem City hatte dieses weder einen gesonderten Eingangsbereich noch eine Art Flur oder Ähnliches. Man betrat es und stand direkt mitten im Wohnzimmer, mitten im Herzen. Man nennt die Küche das Herz des Hauses, doch in diesem Haus war das Herz das Wohnzimmer. Eindeutig.

Hier hatte sich seit meinem Auszug nur wenig verändert. Dieselben hölzernen Kommoden, derselbe dunkle Laminatboden, sogar dieselben Vorhänge an den Fenstern. Das Sofa war verschwunden und durch ein neueres, kleineres inklusive passendem Sessel ersetzt worden, und auch den hölzernen Esstisch mit den vier weißen Stühlen sah ich zum ersten Mal.

„Hier riecht es nach altem Mensch“, verkündete Nolan und rümpfte die Nase.

„So alt war Tante Claire gar nicht“, entgegnete ich. Doch nach Nolans Ansichten stand auch ich mit meinen dreißig Lebensjahren bereits mit einem Bein im Grab.

„Sucht euch doch oben schon einmal ein Zimmer aus, Jungs. Es sind drei dort und ein Badezimmer – ich nehme das, was übrig bleibt.“ Hilfe suchend wandte ich mich an Nolan. „Ich brauche einen Moment für mich, okay?“, setzte ich etwas leiser hinzu.

Nolan schoss seinen Ball, ohne mir eine Antwort zu geben, in die nächste Ecke und bedeutete Codey mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Ich verkniff mir den Kommentar, dass im Wohnzimmer kein Fußball gespielt werden sollte. Das hatte er schon in Salem City nicht gedurft.

Gedankenverloren schlenderte ich durch den Raum, der mir auf paradoxe Art und Weise ein ganzes Stück kleiner vorkam als damals, und ließ mich schließlich in den Sessel sinken. Im Gegensatz zum Sofa wirkte er abgenutzter und ein wenig durchgesessen. Offensichtlich hatte ich den Lieblingsplatz meiner Tante gefunden. Das weiche Polster umhüllte mich mit einem Geruch, der mir vertraut vorkam, den ich aber nicht genau zuordnen konnte. Irgendwie blumig. Wie frisch gewaschene Laken. Und ein wenig nach Zimt.

Ich lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und stellte mir vor, wie Tante Claire hier gesessen und den Brief an mich geschrieben hatte, wahrscheinlich nur wenige Tage, bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Oder hatte sie sich dafür vielleicht an den Tisch gesetzt? Hatte sie beim Schreiben bereits gewusst, dass Mom gestorben war?

Nachdenklich glitt mein Blick zum Tisch herüber, an den eine kleine Familie wie wir es waren, kaum gepasst hätte. Tante Claire hatte nie geheiratet, nie Kinder bekommen, und in all den Jahren hatte ich sie nicht ein einziges Mal gefragt wieso. Die Tatsache, dass ich es nie erfahren würde, versetzte mir einen Stich ins Herz. Während meine Mutter erst mich und dann Nolan großgezogen hatte, hatte Tante Claire in der nächsten Stadt als Grundschullehrerin gearbeitet. Sie hatte Marmelade verkauft, Krabbelgruppen geleitet und Nähkurse gegeben. Und obwohl ihr Leben mit allerlei Aktivitäten so gefüllt gewesen war, war sie schlussendlich doch allein gewesen. Von dem Moment an, in dem wir sie verlassen hatten, bis zu dem, in dem sie gestorben war.

Ich erinnerte mich lebhaft an eines unserer letzten Telefongespräche. Ich hatte sie vom Parkplatz eines Supermarktes angerufen, einfach weil mir danach gewesen war, ihre Stimme zu hören. Codey hatte auf der Rückbank in seinem Kindersitz geschlafen, und mir waren unentwegt Tränen über die Wangen gelaufen, während ich mich darum bemüht hatte, mir nichts anmerken zu lassen. Und während wir über Belangloses wie das Wetter gesprochen hatten, hatte sie mich mit ihrer weisen, sanften Stimme auf irgendeine Art und Weise zurück nach Hause gebracht.

Bei Gesprächen mit Tante Claire hatte ich mich nie älter gefühlt, als ich bei unserem Auszug aus Rose Village gewesen war. Wenn sie mir mit munterer Stimme von dem neuen Brotrezept erzählt hatte, das sie am Samstagmorgen ausprobiert hatte, von den jungen Menschen im Nähkurs und der streunenden Katze, der sie immer ein Schälchen Milch auf die Veranda stellte, war ich keine verheiratete Mutter Ende zwanzig. Ich war sechzehn Jahre alt, mochte Bücher und Boygroups und hatte weder mit Verantwortung noch mit schlechtem Gewissen etwas am Hut.

Doch nun war ich dreißig, alleinerziehend und unfähig, richtig zu packen. Und müde. Meine Augenlider fühlten sich heiß und bleiern an. Das Gefühl nahm von Minute zu Minute zu. Die Fahrt hatte an meinen Reserven gezehrt, und die Spuren dieser durchwachten Nacht am Steuer ließen sich auch durch alle Energydrinks der Welt nicht unsichtbar machen.

Aber noch wollte ich nicht schlafen. Es gab noch zu viel, was vorher erledigt werden musste: Der Minivan musste leergeräumt werden, das Haus gelüftet und Codey hatte wahrscheinlich immer noch Hunger. Ein neuer Tag hatte begonnen, und wahrscheinlich würde ich erst Ruhe finden, wenn er endete.

Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten und kämpfte gegen den Drang an, sie zu schließen. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf dem Boden und an den Fensterscheiben gebildet, durch die nun vermehrt Sonnenstrahlen fielen. Im goldgelben Licht tanzten winzige Staubflocken durch die Luft. Offenbar hatte unsere Ankunft sie aufgewirbelt.

Das Haus war seit Monaten unbewohnt. Beim Verlesen des Testaments hatte ich erfahren, dass Tante Claire lange im Krankenhaus gelegen hatte, bevor sie gestorben war. Es muss schwer gewesen sein, das Haus, das sie so geliebt hatte, zu verlassen – im Wissen, es nie wieder betreten zu können. Ob sie allein gewesen war, als sie starb? Jäh plagten mich heftige Gewissensbisse. Nach der langen Funkstille, die vor allem durch meine Mutter entstanden war, hatte sich unser Kontakt auf Telefonate beschränkt. Ich hatte sie nicht einmal besucht.

Ein Klopfen an der Tür riss mich unsanft aus den Gedanken. Alarmiert fuhr ich aus dem Sessel, während dutzende Szenarien durch meinen Kopf schossen. War es Travis gelungen, uns trotz aller Vorkehrungen ausfindig zu machen? Hatte er womöglich sogar die Polizei hergeschickt? Wo war mein Fehler gewesen, der uns verraten hatte? Mit einem Mal raste mein Herz wie verrückt. Es fühlte sich an, als versuchte es, meiner Brust zu entspringen.

Vorsichtig trat ich an eines der Fenster und blickte durch die dünne Staubschicht hinaus. Meine müden Augen machten eine große männliche Person aus, die eindeutig nicht Travis war. Wie ein Polizist sah der Fremde ebenfalls nicht aus, es sei denn, er war inkognito unterwegs.

Ganz langsam öffnete ich die Tür. Nur ein Stück weit, um sicherzugehen – und um sie notfalls schnell wieder zuschlagen zu können. Der Fremde, der einen guten Kopf größer war als ich, trug ein schlichtes graues Holzfällerhemd und schien etwa in meinem Alter zu sein.

„Guten Morgen.“ Der Mann lächelte. Um seine Augen herum spielten feine Grübchen. „Ich habe Sie vorhin mit Ihrem Auto ankommen sehen, als ich mit meinem Hund vor der Tür war. Und ich dachte mir, ich begrüße mal die neuen Nachbarn.“

Seine Stimme war freundlich und ein wenig rau.

„Das ist sehr nett von Ihnen. Danke.“ Unsicher lächelnd strich ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr.

„Ein schönes Haus haben Sie da gekauft“, fügte er hinzu und versuchte, über meine Schulter hinweg einen Blick ins Innere werfen zu können.

„Danke“, sagte ich erneut. „Aber ich habe es nicht gekauft. Ich habe es geerbt.“

„Geerbt?!“ Der Fremde riss ungläubig die Augen auf. „Das heißt, Sie sind …“

„Nami Sawyer. Ich bin die Nichte von Claire Johnson“, antwortete ich.

Der Mann schien einen Moment lang seine Sprache verloren zu haben.

„Nami?“, wiederholte er nach einer ganzen Weile, und ein leicht skeptischer Unterton schwang in seiner Stimme mit. „Du … wow, du hast dich verändert.“

Ich runzelte die Stirn. „Tut mir leid, aber ich … ich verstehe nicht. Kennen wir uns?“

„Ich bin‘s … Jack!“, erklärte der Mann und deutete unnötigerweise mit dem Zeigefinger auf sein Gesicht.

Ich spürte, wie mir die Kinnlade herunterfiel. Als ob sich ein Mensch in fünfzehn Jahren so sehr verändern konnte! Jack Montgomery – unmöglich! Nur mit viel Anstrengung gelang es mir, eine entfernte Ähnlichkeit zu jener Person mit diesem Namen zu erkennen, die in meinem Gedächtnis gespeichert war.

Aber hatte Tante Claire nicht berichtet, dass er Rose Village bereits vor Jahren verlassen hatte? Von einer Rückkehr in sein Heimatdorf wusste ich nichts. Das hätte Rose Village aus meiner Sicht eine Menge Minuspunkte eingehandelt. Instinktiv nahm ich eine abwehrende Haltung ein. Auch er verschränkte nun die Arme vor der Brust. Das Lächeln schwand fast zeitgleich aus unseren Gesichtern.

„Jack Montgomery …“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Du siehst anders aus.“

„Du auch. Du hast dich quasi halbiert“, entgegnete er und spielte damit wenig charmant auf die paar Kilos Übergewicht an, die ich mir als Teenager angefuttert hatte.

„Und du hast dich offenbar verdoppelt“, schloss ich trocken.

Aus dem hageren Jungen mit der unbändigen Haarmähne war ein Mann geworden. Und was für einer. Jack Montgomery – ich konnte es immer noch nicht fassen. Der Albtraum aller Mädchen hatte eine Transformation zum Traum aller Frauen hingelegt. Sein leicht welliges braunes Haar, der durchtrainierte Körper, den man unter der Kleidung erahnen konnte, und der dunkle Dreitagebart verliehen ihm ein leicht finsteres Erscheinungsbild, während seine leuchtend blauen Augen mich schamlos fixierten. Trug er etwa Kontaktlinsen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie früher so blau gewesen waren.

„Ja … also …“, brachte ich hervor und schaffte es endlich, den Blick von ihm abzuwenden. „Nett, dass du hier warst. Wirklich nett. Aber ich muss jetzt hier weitermachen.“

Wobei nett eines der Adjektive war, die diesen Kerl am wenigsten beschrieben. Ich wollte Jack gerade ganz ungalant die Tür vor der Nase zudrücken, als sich eine kleine Gestalt von hinten anschlich und neugierig durch den Spalt hinauslugte. „Wer ist das, Mommy?“

Großartiges Timing, Codey! Ich biss mir auf die Zunge.

„Mein Sohn Codey – ein alter Bekannter namens Jack“, stellte ich die beiden widerwillig einander vor. „Jack wollte gerade gehen.“

„Hallo!“ Codey winkte ihm fröhlich zu. „Und das ist Nolan!“, verkündete er und schob die Tür ein wenig weiter auf. Widerstrebend ließ ich ihn gewähren.

Nolan, der im Wohnzimmer stand und die Einrichtung skeptisch betrachtete, ließ sich bloß zu einem Nicken herab.

„Mein kleiner Bruder“, sagte ich knapp.

„Dein Bruder?“, wiederholte Jack erstaunt. Er betrachtete Nolan eine Weile lang sichtbar überrascht, bevor er mir wieder in die Augen sah.

Ich nickte.

„Also hat deine Mum noch mal geheiratet?“, schlussfolgerte er.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und senkte meine Stimme ein wenig. „Nolans Vater war nicht lange bei uns. Sie hat ihn allein großgezogen. Als er zwei war, bin ich ausgezogen.“ Ich nestelte an meinen Haaren herum, wie immer, wenn ich mich unwohl fühlte. „Wie auch immer. Ich muss hier weitermachen, Jack. Man sieht sich.“

Leider.

„Warte!“ Jack setzte schnell einen Fuß in die Tür, bevor ich sie zuschlagen konnte. „Ich wollte mir gerade ein paar Pancakes in die Pfanne hauen. Möchtet ihr rüberkommen und …“

„Jaaa, Pancakes!“, fiel Codey ihm jubelnd ins Wort.

„Danke, aber wir haben schon gefrühstückt“, lehnte ich höflich, aber distanziert ab.

Er brauchte nicht zu glauben, dass ich auf seine Freundlicher–Nachbar–Masche hereinfiel. Es gab so einiges, was ich lieber tun würde, als mit Jack Montgomery Pancakes zu essen. Zur Wurzelbehandlung gehen zum Beispiel ‒ ohne Betäubung.

„Gar nicht wahr, wir haben noch nicht gefrühstückt!“ Codey zupfte ungeduldig an meinem Kleid. „Du sagst doch immer, man darf nicht lügen, Mommy!“

Ich presste meine Lippen aufeinander, während Jack sich ein Lachen zu verkneifen schien. So sehr ich Codeys Redseligkeit und seinen großen Wortschatz unter normalen Umständen zu schätzen wusste, so unangenehm konnte beides in Situationen wie dieser sein.

Jack schmunzelte. „Wie alt ist er?“

„Dreieinhalb“, antwortete ich eintönig.

Wieso ging er nicht einfach?

„Ein cleverer kleiner Kerl“, schloss Jack.