Liebe, Sex und Allah - Ali Ghandour - E-Book

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Ali Ghandour

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Beschreibung

"Lieblingsfarbe Pink, Sextipps aus den alten Schriften: Kein muslimischer Gelehrter bricht mit mehr Rollenbildern als Ali Ghandour."
Nabila Abdel Aziz, NEON

Verschleierte Frauen, übergriffige junge Männer: Das Verhältnis von Muslimen zum anderen Geschlecht gibt Rätsel auf. Ist da etwas schiefgelaufen? Und ob! Ali Ghandour zeigt, dass Liebe und Sex in der muslimischen Tradition als Geschenk Gottes genossen, doch unter modernem westlichem Einfluss streng reglementiert wurden. Es ist höchste Zeit, über das unterdrückte erotische Erbe der Muslime aufzuklären.

Drei Asketen wollten etwas Löbliches tun: der erste jede Nacht beten, der zweite tagsüber fasten, der dritte nicht heiraten. Als der Prophet Mohammed davon hörte, ermahnte er sie: «Manchmal bete ich, und manchmal schlafe ich, und ich heirate die Frauen. Dies ist meine Lebensweise. Wer sie ablehnt, gehört nicht zu mir.» Ganz im Sinne des Propheten war für die vormodernen muslimischen Gelehrten die Lust Teil der Natur, die zu ihrem Recht kommen muss. Gerade in den Städten konnte man «Genussbeziehungen» pflegen. Doch mit dem Kolonialismus wurden zunehmend westliche Eheideale und Prüderie in muslimische Länder getragen. Was uns heute als «typisch islamisch» erscheint, ist teils das Erbe von Clangesellschaften, teils ein Spiegelbild puritanischer Moral. Ali Ghandour macht das reichhaltige muslimische Erbe zu Liebe und Sex wieder bewusst. Sein bahnbrechendes Buch sollte nicht nur bärtigen Islamisten und finsteren Islam-Kritikern zu denken geben.

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Ali Ghandour

LIEBE, SEX UND ALLAH

Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime

C.H.Beck

Zum Buch

Verschleierte Frauen, übergriffige junge Männer: Das Verhältnis von Muslimen zum anderen Geschlecht gibt Rätsel auf. Ist da etwas schiefgelaufen? Und ob! Ali Ghandour zeigt, dass Liebe und Sex in der muslimischen Tradition als Geschenk Gottes genossen, doch unter modernem westlichem Einfluss streng reglementiert wurden. Es ist höchste Zeit, über das unterdrückte erotische Erbe der Muslime aufzuklären.

Drei Asketen wollten etwas Löbliches tun: der erste jede Nacht beten, der zweite tagsüber fasten, der dritte nicht heiraten. Als der Prophet Mohammed davon hörte, ermahnte er sie: «Wahrlich fürchte ich Gott mehr als ihr, und trotzdem faste ich manchmal und manchmal nicht. Manchmal bete ich, und manchmal schlafe ich, und ich heirate die Frauen. Dies ist meine Lebensweise. Wer sie ablehnt, gehört nicht zu mir.» Ganz im Sinne des Propheten war für die vormodernen muslimischen Gelehrten die Lust Teil der Natur, die zu ihrem Recht kommen muss. Gerade in den Städten konnte man «Genussbeziehungen» pflegen. Doch mit dem Kolonialismus wurden zunehmend westliche Eheideale und Prüderie in muslimische Länder getragen. Was uns heute als «typisch islamisch» erscheint, ist teils das Erbe von Clangesellschaften, teils ein Spiegelbild puritanischer Moral. Ali Ghandour macht das reichhaltige muslimische Erbe zu Liebe und Sex wieder bewusst. Sein bahnbrechendes Buch sollte nicht nur bärtigen Islamisten und finsteren Islam-Kritikern zu denken geben.

Über den Autor

Ali Ghandour, Dr. phil., geboren 1983 in Casablanca, ist ein muslimischer Theologe und Publizist. Durch Beiträge in ZEIT online oder NEON (Stern) ist er einem größeren Publikum bekannt geworden.

Inhalt

Vorwort

1. Der historische Kontext vor dem Islam

Byzanz und das sassanidische Reich

Die Araber vor dem Islam

2. Die Beziehung: Geschlechtsverkehr oder Ehe?

3. Formen der Polygamie

4. Die Genussbeziehung

5. Der Sex und die Sklaverei

Sklavinnen und Sklaven bei den Muslimen und in der Antike

Die Qiyān: Sklavinnen und mehr

6. Prostitution und Zuhälterei

7. Die gleichgeschlechtliche Beziehung

Lots Volk

Die juristische Bewertung

Die gesellschaftliche Praxis

Was ist mit den lesbischen Beziehungen?

8. Reinheit, Hygiene und gute Sitten

Ist Sex schmutzig?

Körperflüssigkeiten

Menstruation und Sex

9. Schönheitsideale bei Mann und Frau

Die «perfekte» Frau

Was Frauen wollen

Erotische Physiognomik

10. Die Aphrodisiaka

11. Lobpreis von Phallus und Vulva

12. Geschlechtsverkehr und Genuss

Das Recht auf Sex

Genuss und Orgasmus

«Eure Frauen sind für euch ein Saatfeld»

13. Die erotische Literatur

14. Die Verschmelzung von Erotik und Mystik

15. Sex, Muslime und die Moderne

Kolonialismus und «Sexualität»

Viktorianischer Geist und Selbstverleugnung

Neue Nationalstaaten und neue Repression

Traditionelle und moderne Normen

Die neue Macht der Stammesgesellschaften

Nachwort

Glossar

Anmerkungen

Motto

Vorwort

1. Der historische Kontext vor dem Islam

2. Die Beziehung: Geschlechtsverkehr oder Ehe?

3. Formen der Polygamie

4. Die Genussbeziehung

5. Der Sex und die Sklaverei

6. Prostitution und Zuhälterei

7. Die gleichgeschlechtliche Beziehung

8. Reinheit, Hygiene und gute Sitten

9. Schönheitsideale bei Mann und Frau

10. Die Aphrodisiaka

11. Lobpreis von Phallus und Vulva

12. Geschlechtsverkehr und Genuss

13. Die erotische Literatur

14. Die Verschmelzung von Erotik und Mystik

15. Sex, Muslime und die Moderne

Literatur

Handschriften

Gedruckte Literatur

In der Mitte ihrer Wange waren meine KüsseUnd so küsse ich sie fortSie fragte, warum gerade die Mitte?Ich sagte, die Süße ist genau dort.[1]

ʿAbd al-Laṭīf Fatḥallāh (gest. 1844), Mufti von Beirut

Vorwort

Museumsbesuche haben etwas Faszinierendes: Man schlendert durch die verschiedenen Abteilungen, unternimmt eine Reise durch Raum und Zeit und taucht in andere Sphären der menschlichen Kultur ein. Noch spannender finde ich den Augenblick, wo man das Museum verlässt oder in die Eingangshalle zurückkehrt. Dieser Moment ist magisch, weil die Eindrücke noch frisch sind und man eine Welt verlässt, um in eine andere einzutreten. Die vielen Fragen, die uns nach einem Museumsbesuch beschäftigen, sind der eigentliche Gewinn eines solchen Unternehmens.

Dieses Buch möchte ein Gefühl wie beim Rundgang in einem Museum vermitteln. Es wird eine Führung in die Welt von Sex und Erotik unter Muslimen sein, eine Führung durch fünfzehn Hallen. Das letzte Kapitel – es nimmt die Rolle der Ausgangshalle ein – ist das, bei dem die vielen Eindrücke und Fragen auf die heutige Wirklichkeit prallen, denn die vierzehn vorherigen Kapitel zeichnen ein Bild, das die meisten Leser aus der Gegenwart nicht kennen.

Genauso wie bei den Schwerpunkten eines Museums kann das Thema Sex und Erotik bei Muslimen nur fragmentarisch dargestellt werden. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Begriff «Muslime» ein Konstrukt ist, das über die so bezeichneten Menschen nicht viel aussagt. Wen meinen wir mit «Muslime»? Abgesehen davon, dass heute in Amerika und Westeuropa eine starke muslimische Minderheit existiert, erstreckte sich, historisch gesehen, muslimisches Leben von der Küste Westafrikas bis zur Provinz Heilongjiang im äußersten Nordosten Chinas. Es liegt auf der Hand, dass sich die Menschen in einem so weiten geographischen Raum unterscheiden. Hinzu kommt, dass der muslimische Glaube seit dem frühen 7. Jahrhundert existiert. Wir haben es also mit einer Zeitspanne zu tun, die mehr als vierzehn Jahrhunderte umfasst. Sich dies vor Augen zu führen ist wichtig, weil das vorliegende Buch nicht den Anspruch erhebt, den Diskurs über Sexualität in allen muslimisch geprägten Gesellschaften über die Jahrhunderte hinweg zu untersuchen. Wenn es hier also um «Muslime» geht, kann damit immer nur ein Teil der Muslime gemeint sein.

Eine weitere Einschränkung ist notwendig: Das Buch konzenriert sich auf die urbane Geschichte der Muslime, denn die Chroniken, literarischen Werke, juristischen Register oder anderen historischen Dokumente, die wir heute besitzen, stammen überwiegend aus Städten. Dörfer und Regionen, die nicht nahe an einer Handelsroute lagen, werden in den uns überlieferten Quellen nur am Rande erwähnt, wenn überhaupt. Hier hilft die archäologische Arbeit eher, um die Vergangenheit dieser Orte zu untersuchen. Die meisten Gelehrten wirkten in Städten, die Herrscher lebten in Städten, und Städte waren auch die wichtigsten Handelszentren. Mit anderen Worten: Hier war der Mittelpunkt von Wissen, Macht und Geld. Deshalb kann die Geschichte der Sexualität und der Erotik bei Muslimen nur bei jenen untersucht werden, von denen die Quellen sprechen, und das sind die urbanen Muslime der Vormoderne.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Vielfalt der Lebensformen innerhalb der gleichen Gesellschaft, der gleichen Stadt und der gleichen Epoche groß war. Liest man beispielsweise, dass die Homoerotik in einer Gesellschaft akzeptiert war, dass die Prostitution von manchen Kalifen besteuert wurde oder dass Sex in der Öffentlichkeit nicht tabuisiert wurde, dann heißt das nicht, dass diese Phänomene von der ganzen Gesellschaft und im ganzen Reich akzeptiert wurden. Das Buch kann zeigen, dass es bestimmte Diskurse gab, aber nicht, dass es sich um die einzigen oder vorherrschenden handelte.

Trotzdem gab es vermutlich die meisten hier behandelten Phänomene und Tendenzen jahrhundertelang in nahezu allen Städten der muslimisch geprägten Gesellschaften. Auch wenn der Fokus auf dem geographischen Raum zwischen Spanien und Iran liegt und arabische Quellen verwendet wurden, kann man doch von gleichen Phänomenen und Ideen unter Muslimen in Delhi oder Herat ausgehen.

Es ist auch zu bedenken, dass Glaube und Theologie nicht die einzigen Charakteristika der Muslime sind. Eine Analyse theologischer Quellen sagt uns erst einmal nicht viel über den Alltag und das reale Leben der Menschen. Manchmal gibt es die Tendenz, den Muslimen etwas zuzuschreiben, nur weil es im Koran oder in einem Rechtsbuch aus dem 10. Jahrhundert steht. Wie Thomas Bauer in seinem Buch Warum es kein islamisches Mittelalter gab dargestellt hat, waren viele Lebensbereiche muslimischer Gesellschaften weltlich.[1] Die Vorstellung, der Alltag sei nur von religiösen Vorschriften geregelt worden, hat nie der Wirklichkeit entsprochen.

Überhaupt ist auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis zu achten. Dass gewisse Moralvorstellungen in theologischen Werken als Ideale dargestellt oder manche Regeln von Juristen zur Norm erklärt wurden, heißt nicht, dass sie auch allgemein Beachtung fanden. In manchen Fällen haben breite Schichten der urbanen Gesellschaft diese Vorschriften ignoriert, wie wir bei dem Verbot der Prostitution, des Weinkonsums oder der gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehungen sehen werden. Mehr noch, dieses Ignorieren wurde selbst so ignoriert, dass daraus eine gesellschaftliche Akzeptanz wurde.

Alle Quellen der Vormoderne stammen von Männern. Zwar haben manche Autoren Frauen zitiert oder ihre Gedichte überliefert, aber die männliche Sichtweise bleibt die dominierende. Die Einstellungen und Praktiken, von denen hier berichtet wird, stammen von Männern und aus Gesellschaften, die männerdominiert waren. Wo es eine weibliche Stimme zu den in diesem Buch behandelten Themen gab, habe ich sie zu Wort kommen lassen, um ein ungefähres Bild von der damaligen weiblichen Perspektive zu vermitteln.

Ich habe in den fünfzehn Kapiteln dieses Buches versucht, die wichtigsten Aspekte von Sex und Erotik zu behandeln. In den ersten sieben Kapiteln geht es um die verschiedenen Rahmenbedingungen, in denen Sex stattfand. Die fünf folgenden Kapitel fokussieren auf den Körper und die Körperlichkeit. Die beiden vorletzten Kapitel setzen sich mit Sex und Erotik in Literatur und Mystik auseinander. In den ersten vierzehn Kapiteln liegt der Schwerpunkt auf der Vormoderne. Der Einfachheit halber wird hier unter «Vormoderne» die Zeit bis etwa 1800 verstanden. Allerdings wurden bei manchen Themen, insbesondere was die Beziehungen betrifft, auch moderne Diskurse berücksichtigt.

Da vieles von dem, was in den vierzehn Kapiteln beschrieben wird, heutigen Lesern meist unbekannt ist und keine Entsprechung in der gegenwärtigen muslimischen Realität hat, stellt sich die Frage, warum der Diskurs über Sex unter Muslimen heute so anders ist. Mit dieser Frage beschäftigt sich das fünfzehnte Kapitel. Dabei geht es vor allem um den Wandel, der sich seit dem 19. Jahrhundert vollzogen hat.

An manchen Stellen habe ich bewusst Begriffe, die vielleicht als vulgär und umgangssprachlich empfunden werden, für die Übersetzung arabischer Begriffe verwendet. Im Deutschen hat man meist die Wahl zwischen medizinischer Fachterminologie und umgangssprachlicher vulgär-scherzhafter Ausdrucksweise. Die arabische Sprache kennt diese starke Dualität nicht. Deshalb haben Begriffe wie «ficken» für nāka oder «Schwanz» für dhayl bzw. ayr keine latent moralisierende und abwertende Konnotation. Ein anderer Grund ist, dass mit diesen direkten Übersetzungen die unverkrampfte Haltung der hier zitierten vormodernen Autoren, die noch nicht die späteren Hemmungen kannten, verdeutlicht wird.

Abschließend möchte ich dem Verlag C.H.Beck für die Anregung danken, dieses Buch zu schreiben, insbesondere meinem Lektor Ulrich Nolte, der das Projekt mit Rat und Tat unterstützt und begleitet hat.

Hamburg, im April 2019

Ali Ghandour

1. Der historische Kontext vor dem Islam

Mit der Ankunft des Propheten Muhammad etablierte sich keine komplett neue gesellschaftliche Ordnung. Viele Vorstellungen, Normen und Strukturen aus früheren Zeiten wurden beibehalten oder mit leichten Veränderungen übernommen. Einige Praktiken jedoch verbot der Prophet, weil sie entweder im Widerspruch zu seinen Lehren standen oder, aus der Perspektive der muslimischen Normenlehre betrachtet, damals Schaden oder Unrecht nach sich zogen. Die Araber und die ersten Muslime außerhalb der Arabischen Halbinsel legten also mit der Annahme der prophetischen Botschaft nicht all ihre Bräuche ab. Die Grenzen zwischen dem Alten und dem Neuen waren fließend, und somit fanden viele alte Vorstellungen in die Konzeptionen Eingang, die später die muslimischen Rechtsgelehrten entwerfen sollten.

Für die erste muslimische Gemeinde stellten neben dem Koran auch die mündlichen Unterweisungen des Propheten und vor allem die prophetische Praxis die wichtigsten Quellen dar, um den neuen Glauben und dessen Ausübung zu verstehen. Nach seinem Ableben jedoch hinterließ der Prophet Muhammad keine systematische Lehre. Der frühen Gemeinde stand lediglich der Koran und das, was sie vom Propheten gelernt hatte, zur Verfügung. Deshalb bestand eine der wichtigsten Aufgaben der ersten Generationen darin, aus dieser Botschaft eine systematische Lehre zu machen. Im Laufe der ersten Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten wurde diesbezüglich vieles unternommen. Zahlreiche Gelehrte kommentierten den Koran, die prophetischen Aussagen wurden gesammelt, und es entstand eine Disziplin, die sich mit der Authentizität dieser Aussagen beschäftigte, da nicht alles, was überliefert wurde, tatsächlich vom Propheten stammte. Darüber hinaus entwickelten sich weitere Disziplinen, z.B. die rationale Theologie (kalām), die Normenlehre bzw. die Rechtswissenschaften (fiqh) oder die Methodologie der Normenlehre (usūl al-fiqh).

Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang zwischen der Lehre des Propheten und dem, was darunter verstanden wurde, zu unterscheiden. Wenn im Verlauf dieser Untersuchung von Normen die Rede ist, dann handelt es sich in den meisten Fällen um die Interpretationen und Deutungen der Gelehrten. Nicht selten dominiert hingegen die Vorstellung, die Muslime hätten ein festes Gesetzbuch namens Scharia, in dem alle Normen und Regeln detailliert «von Gott» erklärt wären. Ein solches Werk oder Verständnis der Scharia existiert indes nirgendwo bei den Muslimen. Scharia bedeutet die Summe der gesamten göttlichen Kunde (wahy) in ihrer absoluten Form, das heißt, in ihrer göttlichen Form. Für die Menschen ist sie in dieser Absolutheit unzugänglich. Muslime sprechen daher eher vom Verständnis der Scharia oder vom Verständnis der göttlichen Kunde (wahy) bzw. der prophetischen Botschaft. Dieses Verständnis ist allerdings immer subjektiv und kontextabhängig und besitzt in keinem Fall eine universelle Geltung. Es ist sozusagen eine menschliche und zeitliche Konkretisierung von etwas, das absolut und transzendent ist. Bei diesem Prozess des Verstehens der göttlichen Kunde (wahy) spielten nicht nur die überlieferten Texte eine Rolle, sondern auch der kulturelle und historische Raum, die Vernunft, die menschlichen Bedürfnisse und viele weitere Faktoren, die in der Methodologie der Normenlehre behandelt und bis heute unter Muslimen diskutiert werden.

Wie wir noch sehen werden, findet man in diesen Normen auch Vorstellungen aus vorislamischer Zeit. Die muslimische Normenlehre (fiqh) entstand in einem bestimmten kulturellen Kontext, der nicht nur die Entstehungsphase, sondern auch die spätere Entwicklung der Rechtsvorstellungen geprägt hat. Mehr noch hinterließ der kulturelle Kontext vor dem Aufkommen des Islams noch für Jahrhunderte seine Spuren bei den Muslimen. Vieles, was heute als Teil der muslimischen Praxis wahrgenommen wird, hat seine Wurzeln gar nicht in der muslimischen Normenlehre, sondern beruht auf jahrhundertealten Traditionen und Lehren, die somit viel älter als die Botschaft des Propheten Muhammad sind. Aus diesem Grund ist es erforderlich, zuerst einen Überblick über die Vorstellung von Sex und Ehe in den wichtigsten Kulturen um die Arabische Halbinsel zu geben, bevor wir zum muslimischen Diskurs kommen. Denn nur so können Normen und Regeln, die die muslimischen Rechtsgelehrten später festlegten, in ihrem historischen Kontext erfasst werden. Der Fokus wird auf die byzantinisch-christlichen, sassanidisch-zoroastrischen und die arabisch-heidnischen Kulturräume gelegt.

Byzanz und das sassanidische Reich

Im Norden der Arabischen Halbinsel erstreckten sich zwei große Reiche: westlich das Byzantinische Reich, das im 6. Jahrhundert Herr über den mediterranen Raum war, östlich das Sassanidenreich vom heutigen Irak bis Pakistan. Bei den Byzantinern, die stark durch das orthodoxe Christentum geprägt waren, galt als einzig mögliches Verhältnis zwischen einem Mann und einer Frau, das auch eine intime Beziehung erlaubte, die Ehe.[1] Daher waren Ehebruch und außerehelicher Sex strikt verboten und wurden je nach Gesetzgebung hart bestraft. Kaiser Konstantin I. (gest. 337) führte beispielsweise die Todesstrafe für außerehelichen Sex ein. In der Regierungszeit von Justinian I. (gest. 565) allerdings wurde die Strafe für Ehebruch durch die Möglichkeit der Versöhnung gemildert. Spätere Gesetze erlaubten es dem Mann, im Falle eines Ehebruchs der Frau Selbstjustiz zu üben.[2] Des Weiteren war die Ehe zwischen Blutsverwandten bis zum siebten Grad verboten.[3]

Nach der Vorstellung der frühen Kirchenväter gab es nur einen Gott, nur einen Christus und nur eine Kirche. Dementsprechend sollte und konnte es nur eine Form der Ehe, nämlich die strikte Monogamie, geben. Der eheliche Bund, der als etwas Heiliges, ja als ein Sakrament bzw. ein Mysterium betrachtet wurde, sollte idealerweise zwei Zwecke erfüllen: die Einhaltung der Keuschheit und die Sicherung der Nachkommenschaft.[4] Für die Heirat war die Zustimmung der Braut und des Bräutigams und oft ihrer Eltern oder Vormunde erforderlich. Auch die Eheschließung vor einem Priester mit dessen Segnung wurde im Laufe der Zeit immer wichtiger, sodass später nur die kirchliche und institutionalisierte Form der Ehe als solche Anerkennung fand.[5] Ferner gab es ein Mindestalter, das mit der Pubertät zusammenhing: 12 Jahre für Mädchen und 14 Jahre für Jungen. Im Normalfall war der Bräutigam älter als die Braut.[6]

Die Kirche lehnte das Konzept der unbeschränkten Scheidung ab. Im Jahr 331 verbot Konstantin I. den Ehegatten, sich aus willkürlichen Gründen scheiden zu lassen. Nur wenn der Mann des Mordes, der Zauberei oder des Grabüberfalls schuldig war, durfte die Frau die Scheidung und ihre gesamte Brautgabe verlangen. Wollte die Frau aus anderen Gründen geschieden werden, dann ging sie mit leeren Händen und musste auf eine Insel verbannt werden.[7] Justinian I. erließ eine Reihe von Regelungen, nach denen die Scheidung vorgenommen werden konnte. Danach wurde die einvernehmliche Scheidung verboten, es sei denn, beide Ehepartner legten Mönchsgelübde ab. Die Liste der Scheidungsgründe wurde stark eingeschränkt, schloss jedoch beispielsweise die Rebellion gegen den Kaiser, Unzucht oder ein Fehlverhalten der Ehefrau ein. Letzteres war auch konkret beschrieben und beinhaltete das Essen und Baden mit anderen Männern, das Wohnen außerhalb ihres Hauses, den Besuch von Zirkusspielen und Theatern sowie die Jagd auf wilde Tiere. Später, unter der Herrschaft von Justin II. (gest. 578), wurde das Recht auf Scheidung wieder eingeführt.[8] Es blieb aber ein verpönter Akt, und in der christlichen Tradition verlor die Scheidung bis ins 20. Jahrhundert hinein nie ihren negativen Beigeschmack.

Sex und Körperlichkeit hatten im Byzantinischen Reich und im Christentum allgemein eine negative Konnotation. Sex wurde als eine Folge der Ursünde betrachtet und durfte nur im Rahmen der Ehe praktiziert werden.[9] Laut Geoffrey Parrinder wurde die paulinische Gegenüberstellung von «Fleisch» und «Geist» in einer dualistischen Form verstanden, sodass Sex als Gegenteil von Heiligkeit angesehen wurde.[10] Einige Kirchenväter betrachteten den Geschlechtsverkehr als ein für die Fortpflanzung notwendiges Übel und verurteilten daher alle sexuellen Beziehungen, die dem Vergnügen dienten, als Unzucht (porneia). Laut Johannes Chrysostomos (gest. 407) war der legitime Geschlechtsverkehr weniger wichtig für die Fortpflanzung als für die Vermeidung der Unzucht.[11] Die Kirche schloss zwar die Ehe in die Sakramente ein, empfahl jedoch gleichzeitig eine teilweise Abstinenz auch in der Ehe.[12]

Ein asketisches Ideal blieb der Zölibat, das von der Mehrheit christlicher Heiliger angenommen wurde. Diese stellten ja auch die Vorbilder für den vollkommenen Christen dar. In der christlichen Vorstellung bildeten sie einen Kontrast zu der in der spätantiken heidnischen Gesellschaft herrschenden sexuellen Dekadenz.[13] Die normative Situation sollte uns allerdings nicht zu einer falschen Vorstellung verleiten, denn eine Art Doppelmoral war in der byzantinischen Gesellschaft doch verbreitet. So gab es durchaus wie in jeder Gesellschaft Prostitution und Konkubinat. Die Männer hatten ihre sexuellen Abenteuer, aber sie erwarteten von den Frauen eine christlich-moralische Reinheit. Die Jungfräulichkeit, die durch die Marienverehrung im Christentum eine theologische Dimension gewann, wurde von unverheirateten Frauen erwartet und war ohnehin ein Ideal, besser noch als die Ehe.[14]

Darüber hinaus wurde über die weltliche Liebe oder gar die Erotik nicht öffentlich gesprochen. Wie Averil Cameron konstatiert, war die byzantinische Gesellschaft

bis mindestens zum zwölften Jahrhundert eine Gesellschaft ohne erotische Literatur oder erotische Kunst im üblichen Sinne; die leidenschaftliche Sprache der physischen Liebe wurde stattdessen auf geistige Beziehungen und insbesondere auf die Beziehung zwischen dem Asketen und Gott angewandt.[15]

Es war ein Diskurs, der explizit den Sex und das Erotische unterdrückte und ihre Abwesenheit feierte. Im Vergleich zu den Byzantinern hatten die östlichen Nachbarn der Araber, die Sassaniden, ein relativ freies Eherecht. Zwar war die Haltung gegenüber dem Sex ebenfalls nicht eindeutig – die sexuelle Lust wurde in vielen Schriften als etwas Dämonisches betrachtet[16] und die Frau als Eigentum angesehen[17] –, doch gab es mehrere Eheformen, die darauf hinweisen, dass hier unbefangener mit dem Thema umgegangen wurde als in Byzanz. Die bekannte Form, die pādixšāyīhā, die als autorisierte Ehe übersetzt werden kann, wurde zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen, nachdem die Genehmigung der Familie oder des Vormundes eingeholt sowie ein detaillierter Ehevertrag aufgesetzt worden war. In dem Vertrag wurden z.B. die Zeugen oder die Höhe der Brautgabe festgehalten. Diese Form der Ehe war nicht so streng reglementiert wie im Christentum. So waren Mehrehen erlaubt und auch weitere Beziehungen mit Konkubinen nicht ausgeschlossen. Mehrere Frauen oder Konkubinen zu haben, war jedoch eher unter den Herrschern oder Aristokraten verbreitet, da dies als Zeichen von Wohlstand galt. Zudem konnte man eine Ehe auch für eine bestimmte Zeitspanne schließen, also eine Form der Zeitehe eingehen.[18]

Eine weitere Besonderheit bei den Sassaniden bzw. den Anhängern des Zoroastrismus bestand in der Erlaubnis zum Inzest. Ziba Mir-Hosseini schreibt in ihrem Artikel zum zoroastrischen Familienrecht in der Encyclopedia Iranica: «In der Tat war die am meisten verdienstvolle Art der Ehe, die als ein Allheilmittel für alle Todsünden außer Sodomie angesehen wurde, die Ehe mit der Verwandtschaft.» Um genauer zu sein: Hier ist die Vereinigung zwischen Vater und Tochter, Sohn und Mutter, Bruder und Schwester gemeint. Diese Eheform, die wahrscheinlich am Anfang nur innerhalb des Adels praktiziert wurde, fand im Laufe der Zeit Eingang in alle Teile der persischen Gesellschaft. Viele Monarchen heirateten ihre Schwestern, Töchter oder gar Mütter. So wird sogar berichtet, dass der Priester Ardā Wīrāz alle seine sieben Schwestern zur Frau nahm.[19] Später, unter muslimischer Herrschaft, stimmte die Mehrheit der Juristen einer Verwandtenheirat unter Zoroastriern zu – was eigentlich in der muslimischen Normenlehre streng verboten ist. Es gab jedoch unterschiedliche Meinungen bei Fragen des Erbrechts und des Unterhalts aus zoroastrischen Ehen vor muslimischen Gerichten.[20]

Was den Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern anging, so war die Position der Zoroastrier streng. Der Akt stellte eine unsühnbare Handlung dar, und sowohl der aktive als auch der passive Partner wurden mit Dämonen gleichgesetzt, handelten sie dabei doch im Sinne des Bösen. Die Strafen variierten je nach Epoche und hingen davon ab, ob man zum Akt gezwungen worden war oder nicht. Ein Mann, der gegen seinen Willen zum Analverkehr gezwungen worden war, erhielt eine Bastonade von achthundert Schlägen mit der Pferdepeitsche. Ansonsten galt die Todesstrafe für diejenigen, die den Akt freiwillig ausgeführt hatten. Die Tötung von jemandem, der Analverkehr betrieben hatte, galt als gute Tat und gehörte zu den Strafen, die keiner Erlaubnis der Hohepriester bedurften.[21]

Zwar entstanden in den ersten Jahrhunderten nach dem Aufkommen der Botschaft des Propheten Muhammad auf dem Boden von Byzantinern und Sassaniden muslimische Großreiche, aber viele Bräuche und Ideen aus den früheren Zeiten blieben in der Gesellschaft bestehen. Dies darf man nicht aus den Augen verlieren, wenn man die Entwicklung der muslimischen Normenlehre verstehen möchte. Denn die muslimischen Rechtsgelehrten lebten in oder kamen aus Gebieten, die von den hier beschriebenen Kulturen für Jahrhunderte geprägt worden waren. Viele muslimische Normen zielten darauf ab, schon bestehende Sitten und Regeln zu relativieren, wenn es nicht möglich war, sie abzuschaffen.

Die Araber vor dem Islam

Die arabischen Stämme vor dem Islam, unter denen es sesshafte und nomadische gab, wurden im Norden insbesondere von Byzantinern oder Persern und im Süden von jüdischen Stämmen, die in der Region um das heutige Medina, aber auch im Jemen und Ostafrika lebten, beeinflusst. Allerdings weisen die Bräuche der alten Araber spezielle Elemente auf, kannten sie doch mehr Formen der Beziehung zwischen Mann und Frau als die Byzantiner oder Perser. Am bekanntesten ist die Vereinigung zwecks Fürsorge (nikāh al-buʿūla). Diese Form kommt dem, was wir heute unter Ehe verstehen, am nächsten. Es handelt sich um eine einvernehmliche, von beiden Eltern bzw. Vormunden akzeptierte Beziehung. Allerdings war die Brautgabe dabei ein fester Bestandteil, sodass eine Vereinigung ohne diese als ungültig betrachtet wurde.[22] Die Bezeichnung «Vereinigung zwecks Fürsorge» trägt diese Beziehungsform deswegen, weil sie den Mann dazu verpflichtet, für die Frau und seine Kinder, aber auch für alle Enkelsöhne, die von seinen Söhnen stammen, zu sorgen. Ursprünglich bedeutet das Wort buʿūla «das Besitzen», und aus der Wurzel b-ʿ-l stammen Ausdrücke wie baʿl (Herr, Meister und Besitzer).[23] So ist auch Baal, der Name einer der bekannten Gottheiten des Alten Orients, auf diese Wurzel zurückzuführen.[24]

Bei dieser Beziehungsform kommen die Frau und die Nachkommen des Mannes unter seine Obhut. Dadurch wurde der Mann an die Spitze einer Machtpyramide gesetzt.[25] Die Frau, die somit stark von dem Mann abhängig war, kann hier als eine Art Eigentum des Mannes verstanden werden, weil sie noch dazu – wie sein anderes Eigentum – vererbt werden konnte, eine Praxis, die nicht nur bei den Altarabern, sondern auch bei vielen anderen antiken Kulturen verbreitet war. Diese Form der Beziehung unterlag weiteren Regelungen. So durfte der Mann seine Tochter und der Großvater seine Enkeltochter nicht heiraten, und sowohl die Vereinigung zwischen Geschwistern als auch die mit Neffen oder Nichten war verboten.[26] Des Weiteren konnten die vorislamischen Araber polygam leben; es gab keine Begrenzung bei der Zahl der Frauen, die sich ein Mann nehmen durfte.[27] Aus diesem historischen Blickwinkel betrachtet kann man es als eine Art Einschränkung und Regulierung einer in der Gesellschaft verankerten Tradition verstehen, dass die muslimische Normenlehre (fiqh) die Zahl der erlaubten Frauen auf vier festlegte.