Liebe Silja, ... - Birte Viermann - E-Book

Liebe Silja, ... E-Book

Birte Viermann

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Beschreibung

Silja ist ein lebensfroher Mensch, der eine ganz eigene Art hat, das Leben magisch zu machen. Sie hat wunderbare Freunde, Erfolg im Job und vielfältige Interessen. Dann kommt ME/CFS* und sie muss auf all das Stück für Stück verzichten, bis sie schließlich entscheidet, dass der heilsamste nächste Schritt ist, ihr Leben zu beenden. Dies ist die Geschichte davon, wie ihre Schwester Birte und ihr Umfeld damit zurechtkommen, und wie sie alle gemeinsam Siljas letzte Zeit erleben. Es ist eine Geschichte über Pflege, Trauer und Schmerz, aber auch eine Geschichte von unglaublichem Zusammenhalt, tiefer menschlicher Nähe und -­ letztendlich ­ Liebe zum Leben. *Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, eine schwere und häufige Multisystemerkrankung, die aber kaum bekannt ist. Keywords: ME/CFS, LongCovid, PostCovid, Pflege, assistierter Suizid, Sterbehilfe, Trauer, Sterben, Trauerprozesse, persönliche Entwicklung, Beziehungen.

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Pfaff. Ausgeschüttet und hingeschmatzt am boden klebend.

Versuche mich aufzurichten aber der boden zieht und zerrt mich runter schon fast gewaltsam wie ein vater der seine tochter bei einem bombenattentat zu boden zieht um ihr deckung zu gewähren. Er lässt mich nicht hoch. Zieht mich runter als sei es zu meinem eigenen besten. Immer gegen einen widerstand ankämpfen. Nervt. Quält, zerrt. Ich habe keine große stimme mehr, die ich dagegen erheben könnte.

Mein aber ich will das anders tönt nicht mehr weit und erstickt mir zunehmend in der kehle. Habe immer weniger kraft wie eine verwelkende blume. Es sind schon ein paar trockene blütenblätter zu boden gesegelt. Ich gebe mich dem prozess hin. Mache immer auf jeder stufe was noch geht und harre der dinge, die da kommen mögen. Frage mich schon gar nicht mehr, wie es weitergeht, da es ja immer irgendwie weitergeht. Aber sonst passiert ja auch nicht mehr viel. Und so kraftlos wie ich jetzt bin kommt mir das nicht mal schlimm vor. Ich spüre beim in die tasten greifen wie mich auch hier nach und nach die kraft verlässt und ich demnächst den computer zuklappen werde. Vielleicht wird das genauso sein.

Ein leben, das immer leiser wird, in immer kleineren intervallen stattfindet und sich immer mehr zurückzieht aus der sichtbarkeit, aus der hörbarkeit, bis es irgendwann verstummt.

Silja Viermann

Soll ich?

Ein schmetterling auf meinem finger. Die flügel zart zusammen gelegt. Diese welt aus zellen und strukturen, die höchstleistungen vollbringen – fliegen, was ein mensch nie könnte. Er klappt einen flügel runter und sieht aus als könnte er sich nicht entscheiden ob losfliegen oder bleiben.

Na gut, mein schmetterling, eine kurze weile darfst du dieses spiel noch spielen, auf meiner hand sitzen als ob sie ewig wärt und dann hebst du ab. Hebst einfach ab, unstoppable and you go for it.

You gooooooooooooooooooo

Silja Viermann

(Weitere Texte von Silja finden sich unter birte-viermann.de/LiebeSilja.)

Inhaltsverzeichnis

Liebe Silja, - April 2022

Liebe*r Lesende*r

Thema: Erstes Gespräch über Sterbehilfe - 3. Oktober 2021

Erinnerungen – Schwesterngeschichte(n), für die ich dankbar bin

Pflegeerfahrung: Willkommen im Retreat

Liebe Silja, - 12. Dezember 2021

Liebe Silja, - 28. Dezember 2021

Liebe Silja, - 10. Januar 2022

Pflegeerfahrung: So viel wird egal

Liebe Silja, - 22. Februar 2022

Pflegeerfahrung: „Silja“ wird „sie“

Liebe Silja, - 16. März 2022

Pflegeerfahrung: Netzwerk und Selbstfürsorge

Thema: Mein eigener Tod und mein spirituelles Weltbild - 18. März 2022

Pflegeerfahrung: Wir sind immer zu spät

Liebe Silja, - 22. März 2022

Schwesterngeschichte(n): „Die Kinder spielen schön zusammen“

Liebe Silja, - 25. März 2022

Liebe Silja, - 27. März 2022

Liebe Silja, - 29. März 2022

Pflegeerfahrung: Schuld

Liebe Silja, - 14. April 2022

Pflegeerfahrung: Gegensätzliche, berechtigte Bedürfnisse

Liebe Silja, - 15. April 2022

Liebe Silja, - 16. April 2022

Liebe Silja, - 16. April 2022

Liebe Silja, - 17. April 2022

Liebe Silja, - 19. April 2022

Liebe Silja, - 20. April 2022

Liebe Silja – oder vielleicht liebe Birte? - 21. April 2022

Pflegeerfahrung: It takes a village

Meine Abschiedsgespräche mit Silja - 22 ./23. April 2022

Liebe Silja, - 1. Mai 2022

Liebe Silja, - 1. Mai 2022

Zwischenupdate Tod und spirituelles Weltbild um den - 4. Mai 2022

Liebe Silja, - 5. Mai 2022

Liebe Silja, - 7. Mai 2022

Liebe Silja, - 9. Mai 2022

Schwesterngeschichte(n): Mehr Distanz in der Jugend

Liebe Silja, - 11. Mai 2022

Thema: Freitodbegleitung mit der DGHS

Liebe Silja, - 11. Mai 2022

Liebe Silja, - 12. Mai 2022

Pflegeerfahrung: Spaß

Liebe Birte, - 13. Mai 2022

Liebe Silja, - 13. Mai 2022

Liebe Birte, - 14. Mai 2022

Liebe Silja, - 16. Mai 2022

Liebe Silja, - 19. Mai 2022

Pflegeerfahrung: Orgafrust

Liebe Silja, - 20. Mai 2022

Liebe Silja, - 22. Mai 2022

Schwesterngeschichte(n): Erwachsen und auf Augenhöhe

Liebe Silja, - 23. Mai 2022

Liebe Birte, - 24. Mai 2022

Liebe Silja, - 24. Mai 2022

Pflegeerfahrung: Drinnen und draußen

Liebe Silja, - 30. Mai 2022

Liebe Birte, - 1. Juni 2022

Liebe Silja, - 2. Juni 2022

Liebe Silja, - 4. Juni 2022

Liebe Silja, - 7. Juni 2022

Schwesterngeschichte(n): Die große Liebe zu Berlin

Zeittunnel: Siljas Tod - 8. Juni 2022

Zeittunnel - 9. Juni

Zeittunnel: Im Friedwald - 10. Juni

Zeittunnel - 11. Juni

Zeittunnel - 12. Juni

Zeittunnel - 13. Juni 2022

Zeittunnel - 14. Juni

Zeittunnel - 15. Juni

Zeittunnel - 16. Juni

Zeittunnel: Abschluss in Berlin - 17. Juni

Zeittunnel: Zurück in Essen - 18. Juni

Ende des Tunnels - 19 .–23. Juni 2022

Liebe Silja, - 24. Juni 2022

Liebe Silja, - 25. Juni 2022

Schwesterngeschichte(n): Persönlichkeitsentwicklung als gemeinsame Berufung

Trauererfahrung: Die Reaktion der Leute - 25. Juni 2022

Trauererfahrung: Geht’s uns zu gut? - 29. Juni 2022

Liebe Silja, - 30. Juni 2022

Trauererfahrung: Wann geht es einem zu schlecht? - 30. Juni 2022

Liebe Silja, - 4. Juli 2022

Schwesterngeschichte(n): Lange, glückliche Fernbeziehung

Begräbniswochenende - 15 .–18. Juli 2022

Schwesterngeschichte(n): Wie wir zusammen ticken

Trauererfahrung: Alte Erlebnisse - 20 .–22. Juli 2022

Liebe Silja, - 29. Juli 2022

Liebe Silja, - 2. August 2022

Schwesterngeschichte(n): Schöne Zeiten zusammen in Amsterdam

Trauererfahrung: Zeit allein in Berlin - 5 .–7. August 2022

Trauererfahrung: Der Freude auch Platz machen - August 2022

Liebe Silja, - 6. September 2022

Liebe Silja, - 18. September 2022

Trauererfahrung: Gemeinsam trauern - 20. September 2022

Schwesterngeschichte(n): Lluis, die Insel und die schönste Zeit Deines Lebens

Trauererfahrung: Symbole - 23. September 2022

Liebe Silja, - 24. September 2022

Trauererfahrung: Wohnungsauflösung - 4. Oktober 2022

Liebe Silja, - 8. Oktober 2022

Trauererfahrung: Unvorstellbarkeit - 9. Oktober 2022

Schwesterngeschichte(n): Humor

Liebe Silja, - 26. Oktober 2022

Liebe Silja, - 14. November 2022

Schwesterngeschichte(n): Genuss

Liebe Silja, - 26. November 2022

Trauererfahrung: Meilensteine - 20. Dezember 2022

Liebe Silja, - 26. Dezember 2022

Liebe Silja, - 30. Dezember 2022

Liebe Silja, - 20. Januar 2023

Trauererfahrung: Wo steht mein Leben jetzt? - 22. Januar 2023

Das Erbe integrieren – Aufenthalt im Spahotel - 26 .–31. Januar 2023

Die Klarheit wächst - 29. Januar 2023

Ich bekomme Antworten - 30. Januar 2023

Liebe Silja, April 2022

– so muss es heißen, das Buch.

Ich muss schreiben über das, was in diesem Jahr mit uns passiert. Deine Krankheit, wie es mir damit geht, all die Erlebnisse drum herum, Dein Wunsch zu sterben.

All das kann ich besser tragen, wenn ich schreibe – und jetzt weiß ich, dass ich Dir das schreiben muss.

Du kannst nicht mehr sprechen, und kaum noch zuhören.

Schon vor Monaten hast Du geweint, als Du gemerkt hast, dass Du nicht einmal mehr alles sagen kannst, was nötig ist – und erst recht nicht alles, was Du sagen wollen würdest. Als ob die Krankheit selbst diesen minimalen Selbstausdruck ganz langsam erstickt.

Seit Monaten kommunizieren wir nur noch über Pflegehandlungen und Bürokratie.

Das letzte Mal, dass wir uns über mehr unterhalten haben, war vor drei Wochen über die Sterbehilfe. Fünf Minuten lang.

Das letzte Mal, dass wir über Belangloses einfach gequatscht haben, war wahrscheinlich Silvester, wo es Dir mal eine Stunde ziemlich gut ging.

Manchmal weiß ich nicht, ob es schlimmer ist, immer erst im Nachhinein zu sehen, dass etwas wahrscheinlich zum letzten Mal passiert ist, oder ob es schwieriger wäre, sich das in dem Moment bewusst zu machen.

Bisher habe ich immer einfach im Moment gelebt und genossen, was ging. Ich glaube, das ist eigentlich gut. Aber dann trifft es mich eben manchmal im Rückblick.

Und deshalb will ich erzählen. Ich will nicht einfach nur die Organisatorin Deines Lebens (und Deines Todes) sein, und dann geht jeder, der Dich liebt, allein mit seinem Schmerz um.

Ich will unsere Geschichte erzählen, eine Schwesterngeschichte.

Ich will schreiben, was ich Dir so gern erzählen würde, aber nicht kann.

Ich wünsche mir, dass Du mir so hilfst, mit meiner Trauer zurechtzukommen. Dass ich durch das Schreiben wissen kann, dass wir das zusammen machen, und dass Du nochmal sichtbar und fühlbar wirst. Dass ich Dich in diesem Text spüre, und dass andere die Schwester sehen, die ich hatte.

Ich will von verschiedenen Sachen erzählen.

Wie unser Alltag ist.

Welche wunderbaren Geschenke und Menschen diese schwierige Situation auch mit sich bringt.

Wie ich die Krankheit erlebe.

Was durch die Pflege mit mir, Dir und unserer Beziehung passiert.

Wer wir sind und welche Geschichte wir teilen.

Was Du für mein Leben bedeutet hast, und wo ich Dich vermissen werde, und worin ich mir wünsche, Dich nicht zu verlieren.

Ich hoffe, dass das alles hier Platz findet.

Und dass es mir Frieden gibt – und Dir ja vielleicht irgendwie auch.

Liebe*r Lesende*r,

worum geht es also in diesem Buch?

Ich habe meine Schwester Silja in den letzten Jahren auf ihrem Weg mit der schweren, aber wenig bekannten Krankheit ME/CFS begleitet.

Silja ist fast zehn Jahre krank gewesen und brauchte am Ende vierundzwanzig Stunden am Tag Hilfe und Pflege. Aufgrund der massiven und konstanten Verschlechterung ihres Zustands hat sie sich schließlich entschieden, im Rahmen einer Freitodbegleitung ihr Leben zu beenden.

In diesem letzten Jahr ist unglaublich viel passiert – für Silja und alle Menschen um sie herum, im Umgang mit den Themen Pflege und Krankheit, in der Beziehung, die ich zu meiner Schwester hatte/habe, und auch in meiner Beziehung zu Leben und Tod im Allgemeinen.

Über all das muss und will ich hier schreiben, weil es mir hilft, und weil so viele dieser Aspekte im Alltag in unserer Gesellschaft so wenig präsent sind – obwohl wir alle sterben werden, und obwohl die meisten Menschen wohl schon Nahestehende verloren und manchmal auch begleitet und gepflegt haben.

Bei allem Schweren, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, hat es mir unheimlich gutgetan, mich immer von nahen (und manchmal gar nicht so nahen) Menschen getragen und unterstützt zu fühlen. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch vielleicht für andere ein bisschen Unterstützung sein kann und dass es uns anstößt, miteinander zu reden über diese schwierigen und eigentlich allgegenwärtigen Themen.

Ich möchte noch auf zwei Dinge hinweisen: Das Buch ist im Wesentlichen ein persönlicher Verarbeitungsprozess.

Manchmal wird die Krankheit ME/CFS erwähnt, die so unbekannt ist, dass Betroffene oft falsch behandelt werden und zusätzlich leiden. Wenn mein Buch ein bisschen dazu beiträgt, dass es mehr Wissen und damit mehr Verständnis für die Erkrankten gibt, freut mich das.

Das Buch ist aber ausdrücklich kein medizinisches, und alle erwähnten Fakten basieren auf meinem Gedächtnis (das sich irren kann) und der Einzelfallgeschichte meiner Schwester. Im Informationsteil am Ende weise ich darauf hin, wo es allgemeinere Informationen zu ME/CFS gibt.

Ähnliches gilt für die Erwähnung von Anträgen, Behandlungen oder Verwaltungsabläufen: Es geht immer um Siljas Geschichte, und keine der Informationen dazu ist als Leitfaden zu verstehen. Auch hierzu gibt es eine kleine Sammlung von Links und Anlaufstellen im Infoteil.

Und jetzt heiße ich Dich willkommen in diesem Buch über meine Schwester und darüber, was sie ausgemacht hat. Das hier ist mein Abschied von Silja. Es ist noch eine kurze Zeitlang eine Art Zuhause für mich und meinen Trauerprozess.

Und dann hoffentlich berührend, hilfreich oder inspirierend für Dich.

ME/CFS und wie ich dazu komme, meine Schwester zu pflegen

Meine Schwester Silja ist vor etwa zehn Jahren mit Anfang dreißig an ME/CFS erkrankt, ohne das damals zu wissen.

ME steht für myalgische Enzephalomyelitis, CFS für Chronisches Fatigue-Syndrom. ME/CFS ist eine schwere Multisystemerkrankung, die quasi alles im Körper beeinträchtigen kann: Nervensystem, Herz und Kreislauf, Stoffwechsel, Hormone, Immunsystem … Die Krankheit kann sehr unterschiedlich verlaufen, hat sich bei meiner Schwester aber immer kontinuierlich verschlimmert.

Silja hat sich über die Jahre von eigentlich jedem Lebensbereich verabschieden müssen – erst war sie öfter krank, konnte nicht mehr so viel arbeiten und weniger Freizeitaktivitäten unternehmen. Dann musste sie irgendwann das Arbeiten ganz aufgeben, konnte das Haus nicht mehr verlassen und nur noch kurz Gesellschaft haben. Sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen, den Weg ins Bad nicht mehr schaffen, über lange Zeiten gar nichts mehr tun außer ruhen. Sie konnte nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben, nicht mehr fernsehen, nicht mehr im Internet surfen. Sprechen ging weniger und weniger, bis es an den meisten Tagen ganz unmöglich war.

Sie hatte ständig verschiedene Schmerzen und Beschwerden wie Migräne, Herzrasen, Bauchkrämpfe, Halsschmerzen, Muskelschmerzen, Tinnitus und vieles mehr.

Sie hat über die Jahre immer versucht, ihre Krankheit zu verstehen und sich bestmöglich zu verhalten, hat unendlich viele Behandlungsmöglichkeiten ausprobiert und jeden Lebensaspekt verändert in der Hoffnung, eine Besserung herbeizuführen.

In den letzten zwei Jahren hat sie mich ein bisschen in ihren Krankheitsalltag einbezogen. Meist wollte sie niemanden belasten und hat alles selbst geregelt, was auch wieder eine riesige Kraftanstrengung für sie war. Im letzten Jahr war ich dann für ihre Interaktion mit Behörden und Ärzten zuständig (allein das war gefühlt eine Halbtagsstelle) und habe einen kleinen Teil der täglichen Pflege übernommen.

In den letzten Monaten vor Siljas Tod, der Zeit, in der dieses Buch beginnt, bin ich eine Woche pro Monat in Berlin und 24/7 für Silja da. Ich schlafe in ihrem Wohnzimmer, koche für sie, bringe Medikamente und Anwendungen, regele den Haushalt. Den Rest der Zeit macht das ihr Partner Lluis, mit ein bisschen Hilfe von wunderbaren Freunden und Pflegenden, die ab und an tagsüber kommen.

Daneben, also in der Zeit, in der ich zu Hause mein normales Leben führe, organisiere ich ein Pflegeteam (Leute kennenlernen, informieren, Schichtpläne zusammenstellen), recherchiere Infos zu Medikamenten, Heilweisen, Produkten, führe Gespräche mit Ärzt*innen und Behörden, stelle und bearbeite Anträge (Pflege, Assistenz, Pflegehilfsmittel …) und vieles andere mehr.

Das ist der Alltag, in dem ich irgendwann anfange, meiner Schwester zu schreiben, weil ihre Kraft für Gespräche nicht mehr reicht.

Thema: Erstes Gespräch über Sterbehilfe 3. Oktober 2021

Ich bin in Berlin, werde langsam mehr und mehr Teil von Siljas Pflege und Alltag und verstehe ein bisschen, was für sie passiert und wie es sich anfühlt. Meist reden wir über praktische Sachen, die anstehen, aber heute geht es weit darüber hinaus.

Silja erzählt mir, dass sie darüber nachdenkt, ihr Leben zu beenden, aber dass sie das uns – ihrem Partner Lluis, ihren Eltern, mir, ihren Freunden – nicht antun könne, weil wir sie so sehr lieben. Ich habe eine ganz klare, unmittelbare Reaktion darauf: „Natürlich kann ich es verstehen, und ich werde es absolut akzeptieren, wenn Du dieses Leben nicht mehr führen willst.“ Es fühlt sich komplett falsch an, dass Silja leiden sollte, weil wir sie lieben. Dass das wichtiger sein könnte als das, was sie will. Das kann nicht sein. Ohne das Thema weiter zu überschauen, sage ich ihr das.

– Und sie ist so erleichtert. Wir sitzen beieinander, halten uns in den Armen und weinen. Es fühlt sich richtig an, dass wir dieses schwere Thema gemeinsam angehen.

Ich weiß, dass noch gar nicht ganz bei mir angekommen ist, was das bedeuten könnte. Es macht mich traurig, zu wissen, wie verzweifelt Siljas Krankheit sie macht und wie allein sie mit diesen Gedanken bisher gewesen ist. Ich verspreche ihr, das Thema zu recherchieren und sage zu, dass ich auch diesen Weg so gut wie möglich mit ihr gehen würde.

Und ich vermute, dass alle anderen, die sie liebt, das ähnlich sehen werden – auch wenn ich verstehen kann, dass sie Angst hat, mit Lluis darüber zu sprechen, weil es ihm so weh tun wird.

Wir beenden das Gespräch beide mit schönen, seltsamen und gemischten Gefühlen. Silja ist erleichtert, dass das Thema möglich ist. Das allein gibt ihr für den Moment Energie. Ich bin froh, dass ich da sein konnte und dass ihr meine Reaktion guttut.

Ich beginne, an tausend praktische Details zu denken. Und ich merke eine Art schlechtes Gewissen: Was bin ich für ein Mensch, dass ich das besprechen und recherchieren kann?

Sollte ich mich nicht schlechter fühlen? Mache ich mich interessant mit einer dramatischen Geschichte?

Das sind also auch Punkte, um die ich mich in den kommenden Wochen und Monaten für mich selbst kümmern muss.

Aber heute darf ich erstmal genießen, dass ich etwas tun konnte, was Silja glücklich macht.

Erinnerungen – Schwesterngeschichte(n), für die ich dankbar bin

Wir haben eine gemeinsame Geschichte, die Dein ganzes und fast mein ganzes Leben gedauert hat. Es gab so viele wichtige gemeinsame Phasen und Entwicklungen. Einige davon möchte ich hier teilen, unter anderem, weil Du so viel mehr warst als das Leiden (und die Wunder) Deiner letzten Zeit.

Meine kleine Schwester

Ich glaube, eine der ersten Erinnerungen, die ich an Dich habe, ist das Gefühl meiner Nase in Deinen weichen Babyhaaren.

Wie wunderbar Du riechst und Dich anfühlst, und wie unsere Mutter mir sagt, dass ich ganz vorsichtig sein muss.

Bin ich natürlich.

Und stolz.

Ich bin drei Jahre alt und finde es großartig, eine Schwester zu bekommen. Ich liebe Deine kleinen Finger, Deine Bewegungen, die Dir selbst noch neu sind, mein Staunen über diesen kleinen Körper.

Ich bin superneugierig, wie man so ein Baby versorgt und behandelt und freue mich total, wenn ich helfen kann (oder unsere Eltern mir das Gefühl geben, dass ich helfe ;)

Es ist aufregend und interessant und voller Liebe, dass Du in der Welt bist.

Natürlich sind wir auch Kinder, die sich mal streiten oder auf den Wecker gehen.

Aber hier in dieser ersten Zeit entsteht eine Basis aus Liebe und Fürsorge. Aus guten Wünschen für Dich und Bemühen, Dinge richtig zu machen. Damit es Dir gut geht in der Welt.

Damit Du alles hast, was Du brauchst.

Ich mag es, mich so mit Dir verbunden zu fühlen.

Pflegeerfahrung: Willkommen im Retreat

Ich werde sicher noch oft darüber schreiben, was an der Pflegesituation schwierig ist, daher sollte ich vielleicht mal mit einer Tatsache beginnen, die mich selbst überrascht hat und die sich die ganze Zeit durchzieht: Ich bin gern bei Silja, um sie zu pflegen.

Es ist so gut wie immer so, dass es mir besser mit ihrer Krankheit geht, wenn ich in Berlin bin, als wenn ich weit weg bin. Es tut gut, wenigstens ein kleines bisschen tun zu können.

Und ich bin einfach gern bei meiner Schwester, immer schon. Auch wenn wir zunehmend weniger miteinander sein können in der Zeit, die ich in ihrer Wohnung verbringe, gibt es doch immer wieder Momente von Zusammensein, die wir einfach genießen. Die Freude darüber, in Siljas Nähe zu sein, überwiegt immer alles Schwere.

Meine Aufgaben sind im Grunde einfach: Haushalt, leichte Pflegetätigkeiten, Dinge anreichen, Verwaltung und Kommunikation mit dem Team und Behörden. Es gibt nicht eine einzige Sache, die ich wirklich ungern mache, und die Dinge, die mir schwerer fallen, tu ich doch einfach gern für Silja, und sie gehen mir leichter von der Hand, als wenn ich das gleiche für mich selbst tun müsste.

Außerdem – und das ist ein bisschen überraschend – ist es fast eine meditative Erfahrung, mich so auf die unmittelbaren Bedürfnisse von jemand anders einzustellen. Es gibt keine langfristigen Pläne, es ist nie klar, was man an einem Tag schaffen kann. Das Ziel ist, mich punktgenau darum zu kümmern, was ein anderer Mensch braucht, und es macht den Kopf im Grunde leer, alles andere hintenanzustellen.

In der Woche, die ich in Berlin verbringe, steht nichts im Kalender. Mich um meine Dinge zu kümmern ist komplett Kür – schön, wenn es klappt, aber auch ok, es vollkommen zu vergessen. Ich bin den ganzen Tag ausgefüllt, ich tue nur unmittelbar sinnvolle Dinge, ich verschiebe nichts, ich pushe mich zu nichts, ich denke nicht darüber nach, was ich tun sollte. Ich mache einfach.

Ich habe immer mal daran gedacht, dass ich vielleicht ein Meditations-Retreat machen sollte – hier kommt es mir so vor, als bekäme ich das sozusagen mit der Situation mitgeliefert.

Liebe Silja, 12. Dezember 2021

ich muss mich mal bedanken, dass Du so ein Luxuspflegefall bist.

Ich bekomme all meine Aufträge mit Vorrecherchen, manchmal tabellarisch zusammengestellter Info, manchmal Listen von Links und Kontaktadressen. Deine Priorisierungen sind glasklar und für mich eigentlich immer zu hundert Prozent nachvollziehbar.

Du bist nicht launisch. Du lässt Dich in Deinen Entscheidungen nicht von Angst oder Frust beeinflussen. Mir fallen hundert Geschichten ein von Gepflegten, die sich überfordern, die keine fremde Hilfe annehmen wollen, die ihre Umgebung mit ihren Macken stressen usw.

Das haben wir alles nicht.

Wir sind uns über fast alles superschnell einig. Es fällt mir leicht, Deine Entscheidungen mitzutragen und zu vertreten.

Ich weiß, dass hier öfter von den wenigen Momenten die Rede ist, wo das nicht der Fall ist, aber das sind eigentlich die Ausnahmen.

Zeiteinteilung, Beurteilung, welche Unterstützung nützlich ist, Einschätzung der uns umgebenden Menschen, Entscheidungen, wofür wir Geld ausgeben – wir denken so ähnlich, dass es fast ist, wie mit einer weiteren Ausgabe meiner selbst zusammenzuarbeiten. Das war schon früher bei Projekten manchmal so, und es kommt uns jetzt natürlich voll zugute.

Außerdem hast Du zwanzig Jahre persönlicher Entwicklung hinter Dir, beruflich und privat. Du kannst Dinge klar sagen, Du schaffst es immer wieder, mit den unglaublichen Realitäten Deiner Krankheit zurechtzukommen, Du siehst über den Horizont Deines Leidens hinaus.

Du schaffst es immer noch, zu genießen, was zu genießen ist.

Und Du hast Dir einen tollen Sinn für Humor bewahrt.

Du weißt, wie viel Aufwand das ist, was ich für Dich tue, und arbeitest mir zu, so gut es geht.

Es ist wie schon so oft gesagt: Die Krankheit ist scheiße, der Rest drum herum ideal. Das gilt auch und total und jeden Tag wieder für Dich und die Art, wie Du mir und uns allen die Aufgaben erleichterst.

Ich sehe, wie enorm die Situation und die Anforderungen sind.

Aber ich sehe auch, dass es die absolute Luxus- und Anfängerversion ist, das mit Dir und für Dich zu machen.

Danke Dir dafür.

Liebe Silja, 28. Dezember 2021

es tut mir leid, dass Du so in Angst lebst. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr das so ist.

Wir sind mitten in einer chaotischen Zeit zusammen. Lluis ist weg über Weihnachten, ich bin zwei ganze Wochen hier und war vorher lange nicht da.

Deshalb ist es auch eine Art Schock, wie krass die Dinge eigentlich sind: wie empfindlich Du bist, wie viel Hilfe Du brauchst und wie sehr es Dich raushaut, wenn Sachen nicht klappen.

Die Heizung in Deinem Zimmer ist kaputt, die Temperatur, die Du brauchst (vierundzwanzig Grad) kann die zweite Heizung allein nicht halten. Ich rufe die Wohnungsbaugesellschaft an, die uns sagt, dass es schwer ist, über Weihnachten einen Monteur zu bekommen, warte tagelang auf den Anruf und verbringe Stunden in irgendwelchen Hotlines.

Wir finden einen Moment, wo ich Dich allein lassen kann, schnell zum Baumarkt laufe und einen Elektroheizer nach Hause trage.

Langsam erst merke ich, wie viel Angst Dir das macht. Es ist ja so, dass Du Dich nicht mal eben noch zusammenreißen kannst, sondern dass direkt schlimme Symptome auf Dich zukommen, wenn Deine Grundbedürfnisse nicht so erfüllt werden, wie Du das brauchst. Egal, ob das Essen ein paar Minuten zu spät kommt, Du zu viel sprechen musst oder eben der Raum zu kalt wird – Dein Körper reagiert sofort, mit massivem Tinnitus, Migräne, Erkältungs- und Grippesymptomen und vielfältigen Schmerzen.

Wir betten Dich um ins Wohnzimmer, wo es wärmer ist, und Du bist drei Tage lang total durch. Ich verstehe jetzt ansatzweise, was ein Crash ist. Das nennen ME/CFS-Betroffene den Zustand nach Anstrengung und Überlastung, in dem sich sämtliche Symptome oft massiv verschlechtern, und der Stunden, Tage oder dauerhaft anhalten kann.

Du brauchst Zeit, um Dich von dieser Krise, die für Gesunde eine Kleinigkeit wäre (eine von zwei Heizungen ist kaputt!) zu erholen, und mein Leben wird natürlich auch anstrengender dadurch.

Ich schlafe in Deinem Schlafzimmer und verbringe die Tage in der Küche auf Holzstühlen, die mir Rückenschmerzen machen, aber ich will Dich nicht stören und gehe möglichst selten durch das Wohnzimmer und in mein Bett. (Am letzten Tag fällt mir ein, dass im Bad ein bequemer Sessel steht, den ich die ganze Zeit hätte benutzen können, so it goes …)

Wir bestellen einen Monteur, denken, es wird besser, betten Dich um – und holen Dich zurück ins Wohnzimmer, als wir sehen, dass die Temperatur trotzdem nicht reicht. Dazwischen koordinieren wir uns mit den anderen Nachbarn, um die Sache dringlicher zu machen, damit überhaupt jemand geschickt wird zwischen den Feiertagen.

Daneben geht die Waschmaschine kaputt, Sicherungen fliegen raus, ich renne wieder zum Baumarkt.

Am Ende bekomme ich meine Periode mit so starken Schmerzen, dass ich eigentlich lieber liegen würde, aber Deine Bedürfnisse sind nun mal wichtiger und dringender.

Eigentlich sind diese Weihnachtsferien ziemlich furchtbar. Ich verstehe jetzt gut, dass Lluis total erschöpft ist, wenn er wochenlang am Stück allein für Dich verantwortlich ist.

Neben all den akuten Sachen schreibe ich Anträge, in denen ich meinen Aufwand protokollieren muss und stelle fest, dass ich tatsächlich knappe zwölf Stunden am Tag nur für Tätigkeiten brauche, die mit Deiner Pflege zu tun haben...

Auf jeden Fall verstehe ich jetzt Deine Krankheit ein bisschen besser.

Einerseits bin ich Dir dankbar, wie wenig Du klagst. Andererseits habe ich nicht kapiert, wie schlimm die Dinge tatsächlich für Dich sind, und vieles einfach für Überempfindlichkeit gehalten.

Das tut mir leid.

Und es lässt mich vieles in einem anderen Licht betrachten.

Ich frage mich, ob ich das nicht viel eher hätte verstehen müssen. Oder ob Du nicht krasser hättest formulieren sollen, wenn Du Deinen Zustand beschrieben hast.

Oder hast Du das? Wollte ich lieber glauben, dass Du mich immer nur anrufst, wenn es gerade schlimm ist? Wollte ich lieber glauben, dass es auf und ab geht statt stets bergab, wie Du gesagt hast?

Es tut mir leid, wie viel ich nicht verstanden habe, und wie viel Du leidest.

Und Du hast natürlich auch Recht damit, dass es nichts besser gemacht hätte, wenn Du mehr darüber gesprochen hättest.

Aber was für ein Extradilemma: Wenn Du als Kranke sagst, wie schlimm es Dir geht, ist es für die anderen schwer zu hören, und sie wenden sich vielleicht ab. Wenn Du es nicht sagst, halten sie Dich für wehleidig und nehmen Deine Bedürfnisse und Beschwerden nicht ernst.

Als ob Du nicht genug schwierige Dinge jonglieren würdest.

Liebe Silja, 10. Januar 2022

die derzeitige Situation lässt mich immer wieder darüber nachdenken, was es bedeutet, dass Du meine kleine Schwester bist, und ich Deine große.

Wir haben keinen großen Altersabstand – gut drei Jahre –, das hat im Erwachsenenalter wenig ausgemacht.

Nach etwas Eingewöhnung in die Tatsache, dass ich Dich als Erwachsene natürlich nicht mehr automatisch als unerfahrener und weniger kompetent ansehen sollte (wie man das als älteres Kind anscheinend schnell tut), waren wir immer sehr auf Augenhöhe, eher wie Freundinnen. Manchmal mit einer Art Bonus von mehr Nähe, manchmal mit dem Malus von geteilter Familiengeschichte und Marotten, die mehr nerven als bei Freunden.

Auf jeden Fall ist es lange her, dass ich Dich als irgendwie kleiner oder schwächer wahrgenommen habe. Ich habe Deine Klarheit und Weisheit geschätzt, Deinen Humor, Deine Bereitschaft, Dich in Themen einzuarbeiten. Jetzt, wo ich Deine Verwaltung übernehme, sehe ich, was Du für eine riesengroße Arbeit geleistet hast. Die Organisation Deines Lebens finde ich schon schwierig, und ich bin weder durch eine Krankheit in meiner Kraft gehemmt noch betreffen die damit verbundenen Ängste und Kränkungen mich selbst.

Ich bin immer wieder beeindruckt, sowohl von Deinen kognitiven Fähigkeiten, als auch davon, wie Du selbst in Deiner schwierigen Situation immer wieder die Dinge annimmst, lernst und den nächsten Schritt machst.

Ich schaue zu meiner kleinen Schwester auf, wenn ich das miterlebe.

– Und dann, mitten in der aktuellen Situation, wo ich plötzlich wieder Dinge für Dich tun und entscheiden muss, taucht ein ganz altes Schwestergefühl in mir auf:

Du bist die Kleine, und ich muss Dich beschützen.

Als ich mich vor Monaten das erste Mal damit beschäftigt habe, dass Du nicht wieder gesund werden könntest, kam das ganz stark: Not on my watch! Es ist meine Aufgabe, dass Du ok bist.

Ich habe verstanden, dass das nicht der Grund meines Leidens an der Situation sein kann.

Es ist schön, eine tiefe Verbundenheit mit Dir zu spüren.

Aber Teil unserer Rollen als Erwachsene ist auch, dass ich Dich als eigenen, starken und klaren Menschen sehe: Ich darf meine brilliante, warme, wache und witzige Schwester vermissen – aber ich muss und darf meine kleine Schwester nicht retten wollen.

Dem rettenden Anteil ginge es letztlich nur um mein Bild von mir, und nicht um Dich und mich, wie wir heute sind.

Pflegeerfahrung: So viel wird egal

Wenn man krank ist, werden Selbstverständlichkeiten eines normalen erwachsenen Lebens optional oder zum Luxus.

Feiern und Gebräuche werden bedeutungslos.

Bis zu ihrem Geburtstag im Oktober 2021 hat Silja noch ein bisschen gefeiert. Pakete aufgemacht, Fotos davon geschickt.

Das Weihnachten danach geht komplett unter. Ich schmücke den Infusionsständer mit einer Lichterkette und den geschenkten Socken, tue das aber mehr für mich und die Eltern zu Hause. Silvester sorgen wir uns, wie wir Silja am besten vor dem Lärm um Mitternacht abschirmen. Es ist keine Energie da, um das neue Jahr mit irgendeiner Art von Bewusstheit zu beginnen wie sonst. Silja ist einfach froh, dass niemand im Haus feiert, und versucht, zu schlafen.

Es gibt im Grunde keine Privatsphäre.

Anfangs lege ich einmal Siljas Unterwäsche zusammen, bevor ich gehe, und berichte ihr, dass ich das gemacht habe, damit es der Freund, der die nächste Pflegeschicht übernimmt, nicht tun muss. Sie lacht nur und sagt, dass ihr das schon lange egal ist und dass er das natürlich auch schon gemacht hat.

Später laufen alle möglichen Informationen über meine Schwester bei mir zusammen, etwa zu Anträgen oder Arztterminen. Ich sehe aber auch alle ihre privaten E-Mails, wenn ich mal was in ihrem Postfach suche, um das ich mich kümmern muss.

Hygiene und Ästhetik bekommen einen anderen Stellenwert.

Silja war früher fast nie ungeschminkt unterwegs, hat sich gern Kleidung gekauft, legte Wert auf ihre Figur.

Dass sie sich nicht mehr duschen und waschen kann, ist einfach eine Tatsache – und ist überraschend problemlos, sowohl gesundheitlich als auch ästhetisch. Vielleicht haben die Leute im Internet Recht, die sagen, man solle nur alle paar Wochen die Haare waschen. Oder vielleicht hat Silja genau den Haar- und Hauttyp, mit dem das funktioniert. Jedenfalls sehen ihre Haare total ok aus und ihr Körpergeruch bleibt fast normal, außer zu Zeiten, wo sie fiebert und mehr schwitzt.

Trotzdem ist es natürlich unangenehm für sie, dass sie kaum noch ihre Kleidung wechseln kann und dass sie zunimmt in ihren letzten Wochen.

Silja kann insgesamt recht gut mit diesen Dingen umgehen, was ein großer Vorteil ist. Es hilft ihr, quasi im Moment präsent zu sein, also einfach zu merken, dass diese Dinge gerade nicht gehen und der Körper liegenbleiben und ruhen will, und nicht damit zu hadern, dass es so ist.

Für uns alle um sie herum passiert ein ähnlicher Prozess: Es wird klar, dass solche Dinge vielfach einfach Luxus sind.

Privileg gesunder Menschen, die die Energie haben, sich darüber Sorgen zu machen. Und dass im jeweiligen Moment etwas anderes wichtig ist.

Es ist das erste Mal ungewohnt, meiner Schwester die Hose runterzuziehen und sie aufs Klo zu setzen, dann nicht mehr. Mir hilft einerseits, dass ich seit Jahren mit Körpern arbeite und da keine Berührungsängste habe – und andererseits ist Silja einfach der gleiche Mensch, der sie immer war, und sie kann das gerade nicht, also muss ich es eben machen.

Dadurch ändert sich weder mein Bild von ihr noch ihre Würde noch sonst irgendwas.

Über diese Schwelle müssen alle, die Silja pflegen, und am Ende ist es einfach, wie es ist, und kein Problem.

Liebe Silja, 22. Februar 2022

ich bin verletzt. Sauer und genervt.

Und ich finde Dich undankbar.

Wir hatten besprochen, dass ich in Berlin arbeiten kann, wenn ich regelmäßig komme, und Du wolltest mir einige Deiner ehemaligen Klient*innen vermitteln. Die Energie hat dazu nie gereicht, und das ist natürlich ok.

Ich habe es dann weitestgehend selbst organisiert. Es fühlt sich schön an, neben der Zeit mit Dir ein bisschen was anderes zu tun. Und es gibt mir ein Gefühl finanzieller Sicherheit, dass ich auch während ich in Berlin bin keinen kompletten Verdienstausfall habe.

Außerdem liebe ich es immer, mit neuen Leuten und an neuen Orten zu arbeiten.

Nun hat sich aber letztes Mal schon abgezeichnet, dass es zunehmend schwieriger wird, Dich länger allein zu lassen.

Bei unserem Telefonat heute Abend bittet mich Lluis dann, die nächsten Monate nicht zu arbeiten. Es täte Dir zu sehr weh, weil Du es selbst nicht mehr kannst. Und es wären zum Teil Leute, die Du kennst, Du würdest das alles irgendwie mitkriegen, und es wäre eine zusätzliche Belastung.

Das verstehe ich ja, ABER.

Genau das sage ich Lluis. Dass ich kurz auflegen muss und mich gleich wieder melde.