Liebe wider Willen - Deeanne Gist - E-Book

Liebe wider Willen E-Book

Deeanne Gist

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Beschreibung

North Carolina, Ende des 19. Jahrhunderts: Als die junge Tillie Reese ihre Stelle in Biltmore House antritt, ist sie von dem Luxus fasziniert, der sie dort umgibt. Und von Mack Danvers, einem alles andere als angepassten jungen Mann aus den Bergen, der anfängt, im Haushalt der Familie Vanderbilt zu arbeiten. Als Tillie den Auftrag bekommt, Mack Benehmen beizubringen, funkt es zwischen den beiden. Doch ist die junge Frau bereit, sich von ihrem Lebenstraum zu verabschieden, als Zofe von Edith Vanderbilt durch die ganze Welt zu reisen? Und überhaupt: Was ist Gottes Wille für ihr Leben?

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Über die Autorin

Deeanne Gist hat bislang neun Romane verfasst, von denen bislang sechs auf Deutsch erschienen sind („Die widerspenstige Braut“, „Die unbeugsame Dame“, „Die eigenwillige Jungfer“, „Das kratzbürstige Frauenzimmer“, „Eine Braut auf Bestellung“ und „Auf verborgenen Wegen“). Sie ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt in Texas.

Deeanne Gist

Liebe

wider Willen

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Silvia Lutz

Das amerikanische Originalerschien im Verlag Bethany House Publishersunter dem Titel „Maid to Match“.© 2010 by Deeanne Gist© 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2013ISBN 978-3-96122-063-2V002Umschlaggestaltung: Hanni Plato; Jennifer ParkerUmschlagfotos: Mike Habermann; AlamyBearbeitung: Nicole ScholSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze

Kapitel 1

Biltmore EstateIn der Nähe von Asheville, North CarolinaAugust 1898

Wie ein Schmetterling, der sich aus dem Kokon befreit, der ihn gefangen hält, ließ Tillie Reese den kahlen, in Brauntönen gehaltenen Dienstbotenbereich hinter sich und tauchte in den Luxus von Biltmores Erdgeschoss ein. Diese Stunden vor Tagesanbruch liebte sie am meisten. Alles war noch dunkel, niemand rührte sich, und sie hatte das gesamte Stockwerk – das gut und gern zweitausend Quadratmeter einnahm – ganz für sich allein.

Sie war diesen Weg schon unzählige Male gegangen und fand sich auch ohne Kerze oder Lampe gut zurecht. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie wäre die Herrin dieses Schlosses. Elegant gekleidet glitt sie über das Parkett und sann darüber nach, ob der Küchenchef an diesem Tag Petites Bouchées oder Puits d’amour zubereiten sollte. Ob sie an diesem Morgen Yeats, Browning oder Dickens lesen sollte. Ob sie die Kutsche kommen lassen und eine Spazierfahrt unternehmen oder auf einem der Vollblutpferde, die im Stall standen, einen Ausritt machen sollte.

Die junge Frau verstärkte ihren Griff um die Dienstbotenkiste und atmete tief ein. Der Duft der Politur, die sie aus Leinöl, Essig, Terpentin und Wein zubereitet hatte, kitzelte in ihrer Nase. Sie gestattete sich einen Nieser. Das wäre streng verboten gewesen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre.

Das Klappern ihrer Absätze hallte in dem großen, weitflächigen Raum wider, als sie das Atrium durchquerte, das mit Palmen, exotischen Pflanzen, blühenden Sträuchern und einer großen Fontäne, die erst noch eingeschaltet werden musste, ausgestattet war. Schließlich erreichte sie die Gobelin-Galerie und blieb stehen. Sie lauschte der Stille und genoss die Anonymität der Dunkelheit.

Es werde Licht.

Sie betätigte den weißen Schalter. Elektrische Lichter strahlten auf und beleuchteten einen Raum, der so lang war, dass zwei bescheidene Häuser darin Platz gefunden hätten. Mehrere Gruppen von salbeifarbenen Brokatsofas und -sesseln füllten den Raum. Riesige Wandteppiche säumten eine Wand. Ihnen gegenüber befanden sich große Fenster und Türen, die auf die Terrasse hinausführten.

Das leise Summen der Edison-Glühbirnen wünschte ihr einen guten Morgen. Die Aufregung und das Staunen über die elektrischen Lichter erfüllte sie jedes Mal wieder aufs Neue. Aber an diesem Morgen rang noch etwas anderes um ihre Aufmerksamkeit, und plötzlich fühlte sie sich in dem hellen Licht bloßgestellt, verwundbar und nackt.

Die junge Frau drückte auf den schwarzen Knopf. Sogleich umhüllte die Dunkelheit sie wieder, so als hätte sie den Deckel einer Truhe zugeschlagen. Alles war still. Nicht das leiseste Flüstern war zu hören.

Sie hielt den Atem an und spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Und sie gab den Gedanken, die sie seit dem Vorabend verdrängt hatte, Raum.

Bénédicte ging weg. Sie kehrte nach Frankreich zurück und ließ die neue Mrs Vanderbilt ohne Zofe zurück.

Zofe. Nach der Hausdame die höchstmögliche Stellung für eine Frau. Die Zofe war die Bedienstete, die sich vom ersten Hausmädchen den Morgentee bringen ließ, während das zweite Hausmädchen ein Feuer in ihrem Zimmer anmachte.

Die Zofe war die Bedienstete, die ein Bad nehmen konnte, sooft sie wollte. Die Mrs Vanderbilt auf ihren Reisen begleitete. Die Mrs Vanderbilt Bücher – Bücher! – vorlas. Von der erwartet wurde, dass sie sich genauso modern kleidete wie Mrs Vanderbilt. Doch der größte Vorteil war der, dass eine Zofe wesentlich mehr Geld verdiente und dadurch ihrer Familie und notleidenden Menschen helfen konnte.

Tillie würde als erstes Dienstmädchen für diese Stelle sicher in Betracht gezogen werden. Die Hausdame hatte sie vor dem Frühstück zu einem privaten Gespräch zu sich bestellt. So Gott wollte, würde es bei diesem Gespräch um die Stelle gehen.

Nachdem sie diesem Gedanken noch ein letztes Mal nachgehangen hatte, verbannte sie ihn sorgfältig wieder aus ihrem Kopf. In Fantasien zu schwelgen, während sie die Galerie in Ordnung bringen sollte, war bestimmt nicht der richtige Weg, um zur Zofe befördert zu werden.

Sie betätigte erneut den weißen Knopf, und schon durchflutete helles Licht wieder den Raum. Wenn das ganze Erdgeschoss bereit sein sollte, bevor der Herr des Hauses und seine frisch angetraute Gattin den Tag begannen, musste sie sich an die Arbeit machen.

* * *

Fröhliches Geplapper, Lachen und das Klappern von Geschirr erfüllte den Speisesaal der Dienstboten, aber Tillie war schweigsam. Sie mied den Augenkontakt mit der langen Reihe livrierter Männer, die ihr gegenübersaßen, und mit der genauso großen Zahl an Frauen, die in ihrer Dienstkleidung auf ihrer Seite des Tisches saßen. Besonders achtete sie darauf, nicht zu ihrem Bruder zu schauen. Ein Blick auf Allan genügte und er wüsste, dass etwas geschehen war.

Das sechzehnjährige Mädchen, das die Dienstboten im Speisesaal bediente, füllte zum zweiten Mal Tillies Milchglas. „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss Tillie? Sie haben Ihre Leber und Ihren Speck kaum angerührt.“

„Es schmeckt gut, Nell. Wirklich köstlich.“

Nell warf einen Blick auf die Uhr, sagte aber nichts, während der Minutenzeiger einen Schritt weiter auf die Halbstundenmarke zurückte.

Tillie nahm einen großen Bissen Kartoffeln. Sie würde schnell essen müssen, wenn sie vor halb neun fertig sein wollte. Aber nach ihrem Gespräch mit der Hausdame weigerte sich ihr Magen, das Essen aufzunehmen.

„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“ Mrs Winter, die an der Stirnseite des Tisches saß, sprach ihre Aufforderung nur ein einziges Mal aus. Schlagartig wurde es still im Raum. Als Hausdame unterstand sie direkt den Vanderbilts und hatte damit sogar eine höhere Stellung inne als der Butler.

Sie wechselte einen kurzen Blick mit diesem, der am anderen Ende des Tisches saß, dann ließ sie ihren Blick über die langen Reihen von Männern und Frauen schweifen, die zwischen ihnen saßen. „Wie Sie wissen, hat Bénédicte beschlossen, nach Frankreich zurückzukehren, sobald Ersatz für sie gefunden wurde.“

Aller Augen richteten sich auf Mrs Vanderbilts Zofe, die direkt rechts von Mrs Winter saß und damit gegenüber von den Laufburschen, den Hilfsbutlern und den Lakaien. Der dunkelgrüne Stoff ihres Kleides, der mit rosa und gelben Blumen durchsetzt war, ließ ihre olivfarbene Haut leuchten.

Tillie hatte gehört, dass Bénédicte sich aufgrund der Sprachbarriere und der Isolation auf Biltmore nicht ganz wohlfühlte. Sie wollte wieder nach Hause.

Neben Bénédicte saß Tillie. Rechts von Tillie das erste Zimmermädchen, dann das erste Hausmädchen und so weiter bis zum Ende des Tisches, wo die Wäscherinnen und die Spülmädchen saßen.

„Statt jemanden aus Frankreich oder England oder auch nur aus Newport zu holen“, fuhr Mrs Winter fort, „hat Mrs Vanderbilt beschlossen, eine unserer jetzigen Bediensteten mit Bénédictes Aufgaben zu betrauen.“

Die Aufmerksamkeit richtete sich schlagartig auf Tillie und die drei Mädchen rechts neben ihr, die höchsten weiblichen Dienstboten.

„Nach reiflicher Überlegung hat sie die Wahl auf Tillie oder Lucy eingegrenzt.“

Dixie Brown beugte sich über ihren Teller und lenkte Tillies Aufmerksamkeit auf sich. Es war unübersehbar, dass ihre Freundin aufgeregt war und sich für sie freute.

Tillie bedachte sie mit einem leichten Lächeln und warf dann einen Blick auf ihren Bruder. Allan hatte die Brauen zusammengezogen. Sie konnte an seiner Miene nicht ablesen, was er dachte.

Mrs Winter trank einen Schluck Kaffee. „Bis Mrs Vanderbilt sich auf eine der beiden festlegt, werden Tillie und Lucy einige von Bénédictes Aufgaben übernehmen. Dies führt dazu, dass einige von Ihnen die Arbeiten, die die beiden nicht erledigen können, übernehmen werden.“

Gleich rechts von Tillie saß Lucy Lewers hoch aufgerichtet und selbstsicher auf ihrem Stuhl. Ihre karamellfarbenen Haare hatte sie sauber unter einer schneeweißen Haube hochgesteckt, die nicht mehr als ein Stück Rüschenstoff war. Lange Wimpern in der gleichen Karamellfarbe wie ihre Haare umrahmten ihre Augen. Ihre Haut war makellos, ihr Profil perfekt. Mit leicht erhobenem Kinn schaute sie alle anderen am Tisch an, als stünde ihre Beförderung unmittelbar bevor.

„Beeilen Sie sich mit dem Essen“, tadelte Mrs Winter die Anwesenden. „Die Arbeit ruft.“

* * *

Allan hielt Tillie auf dem Weg zur Morgenandacht auf.

„Warum hast du mir nichts verraten?“ Er ergriff sie am Arm, schob sie in die Speisekammer und schloss die Tür hinter sich. Er war fünfzehn Zentimeter größer als sie und hatte breite Schultern und genauso dichte, schwarze Haare wie sie.

„Ich habe es selbst erst vor dem Frühstück erfahren.“ Sie rieb sich die Stelle, an der er sie etwas zu fest gehalten hatte.

„Was willst du jetzt machen?“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ich mache? Ich werde mir meine Hände wund arbeiten, wenn es sein muss, und Gott um Gnade bitten. Was glaubst du denn, was ich tun werde?“

Er rieb sich den Nasenrücken. „Das verändert alles. Dann bist du eine von ihnen.“

Sie wusste, dass die Hausdame, der Butler, der Chefkoch, die Zofe und der Kammerdiener eine Sonderstellung unter den Dienstboten einnahmen. „Aber ich will eine von ihnen sein. Kannst du dir vorstellen, welche Möglichkeiten mir das eröffnet? Und die Bezahlung? Die Kleider? Die Privilegien? Die Reisen?“

„Die Reisen? Dir wird schon übel, wenn du eine Kutsche nur siehst. Wie willst du das schaffen?“

Sie versteifte sich. „Ich bin jetzt älter. Ich bin sicher, dass mir das Schaukeln nicht mehr so viel ausmacht wie früher, als ich klein war. Denk doch nur an die Freiheiten, die ich jeden Tag haben werde. Ich kann dann –“

„Freiheiten?“, schnaubte er. „Bei dieser Stelle gibt es so etwas wie Freiheit nicht. Du musst Tag und Nacht springen, wenn die Herrschaft dich ruft.“

„Aber das ist es doch gerade. Ich werde die Vertraute von Edith Stuyvesant Dresser Vanderbilt sein!“

„Du bist dann aber nicht mehr im dritten Stock bei Dixie und den anderen Mädchen. Du hängst im ersten Stock bei ihr und der großen, mächtigen Mrs Winter fest. Es gibt dann für dich keinen Kuchen, keinen Tee, keinen Tratsch mit uns anderen mehr. Du musst dich mit dem Butler, dem Kammerdiener und dem Chefkoch in Mrs Winters Zimmer zurückziehen.“

„Und ich darf den gleichen Kuchen essen wie die Vanderbilts!“ Tillie schüttelte ironisch den Kopf. „Das wird bestimmt eine große Belastung sein.“

Er kniff den Mund zusammen. „Du wirst nicht heiraten können.“

Sie runzelte die Stirn. „Keiner von uns kann heiraten. Es sei denn, er will seine Stelle verlieren.“

„Man könnte aber heiraten. Es würde nur bedeuten, dass man nicht mehr im Haus arbeiten kann. Man müsste auf einem von Mr Vanderbilts Höfen oder in der Molkerei oder so etwas arbeiten.“

„Warum sollte ich das wollen, wenn ich doch hier arbeiten kann? Bist du verrückt?“ Sie griff nach der Türklinke.

Er legte seine Hand auf die ihre. „Die Stelle als Zofe raubt dir die besten Jahre deines Lebens, Tillie. Und sobald dein erstes graues Haar zu sehen ist oder die ersten Fältchen auftauchen, ist Schluss damit. Nur die jungen und schönen Mädchen können Zofen sein.“

„Graue Haare? Du erzählst mir etwas von grauen Haaren? Ich bin erst achtzehn.“

„Ich weiß, wie alt du bist.“

„Warum machst du dir dann solche Sorgen? Ich werde einen Teil von meinem Lohn sparen. Und wenn die Zeit kommt, macht es mir nichts aus, meine Stelle aufzugeben, weil ich genug Geld habe, von dem ich für den Rest meines Lebens leben kann.“

„Allein. Ohne jemanden, der dir Gesellschaft leistet. Und ganz bestimmt kannst du dann nicht den Lebensstil beibehalten, den du dir angewöhnt hast.“

Sie verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. „Ich dachte, du würdest dich für mich freuen. Wenn ich diese Stelle bekomme, wird Mama auf Wolke sieben schweben.“

„Conrad ist in dich verliebt.“

Sie erstarrte und ließ dann langsam die Arme sinken. „Conrad? Der Lakai?“

Die junge Frau malte sich den schlaksigen, jungen Mann vor Augen, der so dürr war, dass er seine Strümpfe ausstopfte, um halbwegs ansehnliche Waden zu haben.

„Kennst du einen anderen Conrad?“, gab Allan zurück.

Wut erfüllte sie. „Er sollte sich das lieber schnell aus dem Kopf schlagen. Ich interessiere mich nicht für ihn und auch für keinen anderen, und falls er mir diese Chance vermasselt, will ich seinen Kopf auf einem silbernen Tablett.“ Sie pochte ihrem Bruder mit dem Finger auf die Brust. „Verstanden?“

„Du magst ihn nicht einmal ein bisschen? Alle Mädchen machen ihm schöne Augen.“

„Dann sollten sie sich dabei lieber nicht von Mrs Winter erwischen lassen. Sonst verlieren sie nämlich ihre Stelle, nicht er.“ Sie holte tief Luft. „Ich will diese Stelle, Allan. Ich will sie mehr, als ich jemals irgendetwas anderes in meinem Leben gewollt habe. Du musst Conrad sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Hörst du?“

Mit einem Seufzen trat er von der Tür weg. „Ja, ich höre, was du sagst.“

Kapitel 2

Ich werde mich nicht übergeben. Ich werde mich nicht übergeben.

Tillie konnte dieses Mantra noch so oft wiederholen, die Übelkeit legte sich einfach nicht. In diesem Augenblick fuhr das Kutschenrad durch ein Schlagloch und rüttelte ihren Magen noch mehr durcheinander. Sie biss die Zähne zusammen und schaute aus dem Fenster, aber als sie sah, dass die Bäume und Blätter wie Ozeanwellen an ihr vorbeirollten, wurde es noch schlimmer.

Oh, warum konnten wir nicht mit offenem Verdeck fahren?

In einer offenen Kutsche hatte sie sich viel besser unter Kontrolle. Die geschlossenen Kutschen hingegen bereiteten ihr große Probleme. Denk an etwas anderes.

Edith Vanderbilt saß ihr gegenüber und las „Der Prinz und der Bettelknabe“. Ihr Körper schaukelte im Rhythmus der Bewegungen der Kutsche. Sie hatte braune Haare und nussbraune Augen, war fünfundzwanzig, fast einen Meter achtzig groß und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass Tillie sich neben ihr fast klein vorkam, obwohl sie selbst auch einen Meter siebzig groß war.

Die abgestandene Luft in der Kutsche wurde von Minute zu Minute dicker. Tillies Nasenflügel zogen sich bei dem vergeblichen Versuch, frischen Sauerstoff aufzunehmen, zusammen. Denk an etwas anderes.

Mrs Vanderbilt hatte Mr Vanderbilt in Paris kennengelernt und geheiratet, obwohl sie ursprünglich aus New York kam. Deshalb entsprachen die Kleider, die sie mitgebracht hatte, der neuesten europäischen Mode.

Tillies Übelkeit verschlimmerte sich zunehmend. Sie schob einen Finger zwischen ihren Kragen und ihren Hals und hoffte, dass sie dadurch etwas mehr Luft bekam.

Du bist kein Kind mehr. Du bist eine erwachsene Frau. Denk an etwas anderes.

Die blaue Serge, die Mrs Vanderbilt trug, war anders als alles, was Tillie je gesehen hatte. Der Rock lag an den Seiten eng an und war kunstvoll mit abgestuften Zöpfen in verschiedenen Farbnuancen und Stilen verziert. Die Schulterstücke, die über den leichten Puffärmeln lagen, liefen spitz zu und waren im selben Stil geschnitten.

Ein Kribbeln setzte hinter Tillies Augen ein. Die Übelkeit saß jetzt in ihrer Speiseröhre. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Tu das nicht, Tillie. Tu es nicht.

Sie konzentrierte sich stärker auf das Kleid. Würde dieses Kleid dann eines Tages ihr gehören, der Zofe, wenn ihre Herrin es aussortierte?

Feuchtigkeit sammelte sich in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken und unter ihren Armen. Sie öffnete den Mund und atmete leise tief ein und blies dann die Luft wieder aus. Denk an etwas anderes.

Sie betrachtete ihre Herrin genauer. Diese besaß nicht die Sanduhrfigur, die gegenwärtig so beliebt war, sondern war gertenschlank. Tillies Figur lag irgendwo dazwischen. Aber wenn ihr Mieder weiter sein müsste, könnte sie ein paar Zentimeter von der Länge des Rocks nehmen.

Die Kutsche fuhr in das nächste Schlagloch. Tillie schloss die Augen und presste die Finger, die in einem dünnen Damenhandschuh steckten, auf den Mund.

„Geht es Ihnen gut, Tillie?“

Bitte, Gott, mach, dass die Übelkeit verschwindet. Ich kann mich doch nicht bei meinem ersten Einsatz übergeben!

Sie schluckte die Galle mühsam wieder hinunter. „Mir geht es gut, Ma’am. Danke.“

Mrs Vanderbilt steckte eine Schleife zwischen die Seiten ihres Buches und legte es beiseite. Dann klopfte sie an das Dach der Kutsche. Diese fuhr sogleich langsamer und blieb dann ganz stehen. Das Fahrzeug schaukelte, als der Fahrer von seinem Sitz sprang. Dann wurde die Tür geöffnet.

„Stimmt etwas nicht, Ma’am?“

„Ich denke, ich würde gern den Rest der Fahrt mit offenem Verdeck fahren, Earl. Würde Ihnen das etwas ausmachen?“

Er hielt ihr die Hand hin. „Natürlich nicht, Ma’am.“

Sie legte ihre Hand in die seine und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen. „Kommen Sie, Tillie. Wir vertreten uns ein wenig die Beine, ja?“

Der junge Kutscher hielt auch ihr eine Hand hin.

Tillie presste den Mund zu. Tränen traten ihr in die Augen, und ihre Schultern zuckten bei ihrem Versuch, sich nicht übergeben zu müssen.

Earl beugte sich zu ihr herein, um nachzusehen, was der Grund für die Verzögerung war, und riss die Augen auf. „Oh, zum Kuckuck.“

Er packte sie an der Taille, zog sie aus der Kutsche und trug sie buchstäblich zum nächsten Baum. Sie fühlte sich zu elend, um sich dagegen zu wehren, und wartete, bis er sie losgelassen hatte. Dann sank sie auf die Knie, da sie nicht länger gegen die Übelkeit ankommen konnte.

* * *

„Das macht doch nichts.“ Mrs Vanderbilt lächelte sie vom gegenüberliegenden Sitz der offenen Kutsche an. Sie hatte darauf bestanden, dass Tillie vorwärts fuhr, während sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß. Tillie hatte sich sehr dagegen gesträubt, ihr das aber nicht ausreden können.

Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, war Tillie, nachdem sie sich vor Mrs Vanderbilt und Earl gedemütigt hatte, auch noch in Tränen ausgebrochen. Stumme Tränen, aber trotzdem Tränen. Tränen, die einfach nicht versiegen wollten. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Sie hatte ihre Chancen, Zofe zu werden, verspielt.

Dieser Gedanke führte zu neuen Tränen. Sie gab nicht vor, sich mit dem Taschentuch damenhaft die Augen abzutupfen, sondern wischte sie ab. Dann schnäuzte sie sich, obwohl sie ganz genau wusste, dass auch das nicht kultiviert war. Aber geschwollene Augen, ein fleckiges Gesicht und eine rote Nase waren eben auch nicht damenhaft.

Sie rieb sich den Kopf. Ihrer Mutter würde das Herz brechen. Es wäre besser gewesen, wenn Tillie nie als Kandidatin ausgewählt worden wäre, um dann von der Liste gestrichen zu werden, bevor der Wettbewerb überhaupt begonnen hatte.

Und das nicht nur wegen ihrer Mutter, sondern auch wegen Tillies eigenen ehrgeizigen Plänen. Zofe zu werden war ihre einzige Möglichkeit, in der Welt voranzukommen und einen Blick über die Grenzen von Asheville, North Carolina, hinaus zu werfen. Aber jetzt war diese Chance vertan. Und das alles nur, weil sie nicht in einem Fahrzeug fahren konnte, ohne dass ihr übel wurde.

Mrs Vanderbilt neigte den Kopf zur Seite. „Meine Schwester litt unter dem gleichen Problem wie Sie.“

Tillie schluchzte.

„Sie hat immer gelitten, wenn sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, wenn das Verdeck geschlossen war oder wenn sie beim Fahren stickte.“

Tillie nickte. „Das ist bei mir genauso. Es tut mir so leid, Ma’am.“

„Unsinn. Vergessen Sie es.“ Mrs Vanderbilt hielt ihr Buch hoch. „Diesen Band habe ich in der Bibliothek meines Mannes gefunden. Er stammt von einem gewissen Mark Twain und ist ausgesprochen gut.“

Tillie zerknüllte das feuchte Taschentuch in ihren Händen. „Ich habe noch nie etwas von ihm gelesen.“

„Sie lesen gern?“

„Ich liebe es zu lesen!“ Ihr Blick wanderte in die Ferne, und sie betrachtete die Blue Ridge Mountains, die den Horizont säumten. „Als Mädchen erstellte ich mir meine eigene Bibliothek. Ich schrieb auf die erste Seite jedes Buches ‚Privatbibliothek‘ sowie eine Nummer und meinen Namen.“

Mrs Vanderbilt lehnte sich zurück. „Und welche Bücher hatten Sie in Ihrer Bibliothek?“

„Lassen Sie mich nachdenken … ‚Die Drei Musketiere‘, ‚Ben Hur‘, ‚Macbeth‘, ‚Oliver Twist‘.“

„Eine ausgesprochen abenteuerlustige Liste.“

Die junge Frau senkte den Blick. „Ich hatte drei ältere Brüder und wollte unbedingt einer von ihnen sein.“ Sie zuckte die Achseln. „Also habe ich Bücher wie ‚Stolz und Vorurteil‘ nur heimlich nachts gelesen.“

Mrs Vanderbilt verzog belustigt den Mund. „Und haben Ihre Brüder Sie als eine von ihnen akzeptiert?“

„Nein, Ma’am. Sie sahen in mir immer zuallererst ein Mädchen und dann eine lästige Plage.“

Ihr Gegenüber nickte. „Ich habe nur Schwestern, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie dazugehören wollten. Manchmal ging es mir auch so.“

Die Kluft zwischen Tillies und Mrs Vanderbilts Welt war unüberwindlich, aber trotzdem war ihre Herrin so umgänglich, so normal, dass Tillie ganz überrascht war. In den Herrenhäusern, in denen sie früher gearbeitet hatte, waren ihre Arbeitgeber bestenfalls hochnäsig gewesen und schlimmstenfalls tyrannisch. Es war ihr verboten gewesen, mit der Dame des Hauses zu sprechen, es sei denn, um eine Nachricht zu überbringen, und selbst dann hatte sie dies mit so wenigen Worten wie möglich tun müssen.

Jetzt hingegen saß sie hier und führte richtig eine Konversation mit Mrs Vanderbilt. Und obwohl ihre Herrin von einem Kindheitswunsch erzählte, würden nicht einmal ihre eigenen Schwestern es wagen, jetzt ihre Stellung infrage zu stellen.

„Wo befindet sich Ihre Bibliothek?“, fragte Mrs Vanderbilt. „Ich nehme an, sie befindet sich nicht in Ihrem Zimmer auf Biltmore.“

„Oh, nein, Ma’am. Sie befindet sich im Haus meiner Eltern. Aber sie leben auf dem Gelände. Mein Vater ist Maler. Er malt Mr Vanderbilts Insignien auf … nun ja, auf alles, worauf sie erwünscht sind.“ Die junge Frau deutete nach rechts und links. „Er hat sie zum Beispiel auf die Türen dieser Kutsche gemalt.“

Mrs Vanderbilts Augen leuchteten auf und sie zog die Brauen hoch. „Wirklich? Wenn wir stehen bleiben, muss ich sie mir unbedingt genauer ansehen.“ Dann nahm sie ihr Buch – „Der Prinz und der Bettelknabe“ –wieder zur Hand und fasste für Tillie kurz zusammen, was bisher geschehen war. „Ich würde Sie ja bitten, mir vorzulesen, aber unter den gegebenen Umständen wäre das keine so gute Idee.“

„Ich könnte es versuchen, Ma’am.“

Ihre Herrin schmunzelte. „Nein, nein. Ich bestehe darauf: Ich werde Ihnen vorlesen.“

Kapitel 3

Es war ein Tag wie aus dem Märchenbuch. Mit Ausnahme des Debakels am Straßenrand natürlich. Aber sobald Earl das Verdeck geöffnet hatte und Mrs Vanderbilt anfing, laut vorzulesen, beruhigte sich Tillies Magen, und sie erreichten Asheville, als der Prinz und der Bettelknabe gerade beschlossen, die Rollen zu tauschen.

Tillie hatte jedoch keine Zeit, weiter über das Buch nachzudenken. Das berauschende Gefühl, in der Stadt zu sein, mit Mrs Vanderbilt einkaufen zu gehen und ihre Einkäufe zu tragen, erforderte Tillies ganze Aufmerksamkeit. Die Vanderbilts wurden in der Gegend wie Könige behandelt, und obwohl jeder Mr Vanderbilt mochte, wurde seine junge Frau fast abgöttisch geliebt.

Das hatte Tillie schon sehr oft gehört, aber da sie den größten Teil ihrer Arbeiten im Haus verrichtete, bevor die Familie am Morgen aufstand, hatte sie bisher keine Gelegenheit gehabt, es mit eigenen Augen zu sehen. Den ganzen Tag über versuchten die Stadtbewohner, Mrs Vanderbilt jeden Wunsch zu erfüllen, und genauso bemühten sie sich auch um Tillie, und das einfach nur deshalb, weil sie die Herrin des Schlosses begleitete.

Ladenbesitzer versuchten, ihre Wünsche zu erraten. Der Buchladen, den sie besuchten, füllte sich mit Kunden, die so taten, als blätterten sie in Büchern. Ein junger Mann auf dem Gehweg errötete sichtlich, als sie an ihm vorübergingen. Und Kinder liefen neben ihrer Kutsche her und warfen Blumen.

Diese Erfahrung faszinierte und begeisterte Tillie. Während sie ihre Röcke auf dem Sitz der Kutsche zurechtrückte, genoss sie diese Augenblicke und bewahrte diese Erinnerungen tief in ihrem Herzen.

Als Earl die Kutsche in Richtung Süden lenkte und sich den Außenbezirken der Stadt näherte, flüsterte Mrs Vanderbilt: „Sobald wir die Stadt hinter uns gelassen haben, tauschen wir die Plätze.“

Tillies Wangen glühten. „Mir geht es schon viel besser, Ma’am. Das ist nicht nötig.“

„Trotzdem. Und nächstes Mal fahren wir mit dem Kabriolett, damit wir beide in Fahrtrichtung sitzen können.“

Nächstes Mal? Nächstes Mal? Wollte Mrs Vanderbilt damit andeuten, dass Tillie immer noch im Rennen war? Das war fast nicht möglich. Aber –

„Earl?“ Mrs Vanderbilt richtete sich abrupt auf. „Was ist da vorne los?“

Tillie drehte sich auf ihrem Sitz herum. Am Ende der Black Bottom Street befand sich die alte baufällige Militärschule. Seit dem Bürgerkrieg hatte dieses Gebäude ein erfolgloses Unternehmen nach dem anderen beherbergt, bis es schließlich in ein Heim für mittellose Waisenkinder umgewandelt worden war. Falls sie die Stelle als Zofe bekäme, stünde dieses Waisenhaus ganz oben auf der Liste der Einrichtungen und Personen, die sie mit ihrem Geld unterstützen wollte. Natürlich würde sie zuerst ihre Familie unterstützen. Bislang war ihr beides unmöglich gewesen.

Kahler Boden und alte, kaputte Ackergeräte umgaben das dreistöckige Ziegelgebäude, von dem der Putz abbröckelte, in dem Fensterscheiben fehlten und dessen Dach stellenweise eingebrochen war. Auf dem Lehmboden vor dem Haus stand eine Schar Kinder Schulter an Schulter und feuerte zwei erwachsene Männer an, die in eine Rauferei verwickelt waren. Einer der Kämpfenden trug einen Anzug, der andere nur Hose und Hemd.

„Was ist hier los, Earl?“, wiederholte Mrs Vanderbilt.

Der Angesprochene verlangsamte die Kutsche. „Das weiß ich nicht genau, Ma’am. Ich sehe nur, dass mein Zwillingsbruder offenbar daran beteiligt ist.“

„Ihr Zwillingsbruder? Sie haben einen Zwillingsbruder?“

„Ja, Ma’am.“

Tillies Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den beiden raufenden Männern. Sie brauchte nicht lang, um herauszufinden, wer von diesen Earls Zwillingsbruder war. Die wichtigsten Kriterien für Kutscher und Lakaien waren eine stattliche Körpergröße und gutes Aussehen. Earl besaß beides und dazu eine gehörige Portion Muskeln. Das Gleiche galt für seinen Zwillingsbruder.

„Halten Sie die Kutsche sofort an!“, forderte Mrs Vanderbilt ihn auf. „Versuchen Sie, die beiden zu trennen, und bringen Sie ihn dann zu mir.“

„Ja, Ma’am.“

Earl hielt an, nahm seinen Hut ab und sprang dann von seinem Kutschsitz. Mehrere Kinder drehten sich um, aber die Streitenden nahmen keine Notiz von ihm.

Earls Frack und seine Kniebundhose aus rostbraunem Samt bildeten einen deutlichen Gegensatz zu der einfachen, schmucklosen Kleidung der Waisenkinder. Und obwohl sein Erscheinen und das der eleganten Kutsche die Kinder ablenkten, ließen sie die Rauferei nicht aus den Augen.

In diesem Moment holte Earls Bruder aus und traf seinen Gegner mit der Faust auf die Nase. Ein knackendes Geräusch drang bis zu ihnen herüber.

Der Kopf des Mannes flog regelrecht nach hinten und er verdrehte die Augen. Sekunden später knallte er auf den Boden und landete flach auf dem Rücken. Eine Staubwolke stieg um ihn herum auf.

Tillie konnte ihre Verzweiflung kaum verbergen. Der Mann, der soeben zu Boden geschlagen worden war, war der neue Waisenhausdirektor. Sie rang die Hände auf ihrem Schoß. Seit er im vergangenen Jahr die Leitung des Hauses übernommen hatte, hatte Mr Sloop bei den Kindern wahre Wunder gewirkt. Die staatlichen Mündel liefen nicht mehr in verwahrloster Kleidung schmutzig durch die Stadt und hatten nur Unsinn im Kopf. Sie badeten sich, kleideten sich anständig und liefen nicht außerhalb des Geländes herum, außer um sonntags die Gottesdienste zu besuchen.

Mr Sloop hatte angefangen, das alte Gebäude zu renovieren, und brauchte dringend mehr Gelder. Tillie würde gern ihren Beitrag leisten, aber das war bei ihrem jetzigen Lohn nicht möglich.

Earls Zwillingsbruder beugte sich über den am Boden Liegenden, zog Mr Sloop am Kragen wieder hoch und holte mit der Faust erneut aus.

Earl trat in den Kreis und ergriff das Handgelenk seines Bruders. „Er liegt schon am Boden, Mack.“

Ohne seinen Griff zu lockern, fuhr der Angesprochene herum. Schmutzige, blonde Haare fielen über seine zornig dreinblickenden Augen. Ein Blutrinnsal lief von seinem Mund in seinen ungepflegten Bart. Seine Augen wurden klar, als er seinen Bruder erkannte, und seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. „Halte lieber Abstand, Bruder. Sonst machst du deine feine Kleidung noch schmutzig.“

„Was ist hier los?“ Earl machte keine Anstalten, das Handgelenk seines Bruders loszulassen.

Mack sah zu einem der Kinder.

Earls Augen folgten seinem Blick, bis er an einem Mädchen in einem braunen Baumwollkleid mit einem weißen Matrosenkragen hängen blieb. Der kindliche Stil ihres Kleides konnte nicht verbergen, dass sie dabei war, zu einer jungen Frau heranzuwachsen.

„Celia?“

Tillie erhaschte einen Blick auf einen dunklen Bluterguss auf der Wange des Kinders, bevor das Mädchen auf dem Absatz kehrtmachte und durch die Eingangstür des Waisenhauses davonrannte.

Earl richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Paar brauner Augen, die seinen eigenen ähnelten. Nur dass aus ihnen große Verachtung sprach. Ob es Verachtung für Earls Livree, für seine Stellung oder für Earl selbst war, konnte Tillie nicht genau sagen.

„Du fängst eine Rauferei an, weil er Celia geschlagen hat?“ Earls Unverständnis war unüberhörbar. „Sie ist nur ein Mädchen, Mack. Was macht das schon?“

Mrs Vanderbilt versteifte sich sichtlich. Auch Tillie atmete hörbar ein. Sie war nicht sicher, was sie mehr aufregte: Earls Vorurteile oder seine Annahme, der Direktor hätte Celia geschlagen, was er bestimmt nie tun würde, dessen war sich Tillie sicher.

Ein leises Knurren, das aus Macks Kehle aufstieg, jagte ihr ein Schaudern über die Arme. Seine Muskeln traten vor, weil er das regungslose Gewicht des Direktors immer noch in seiner geballten Hand hielt.

Die Kinder wichen schlagartig zurück.

„Nimm die Hände von mir, Earl.“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich habe Mrs Vanderbilt in der Kutsche und sie will dich sprechen.“

„Ich will sie aber nicht sprechen!“

Röte stieg an Tillies Hals hoch. Konnte er nicht sehen, dass sie in Hörweite waren?

„Das ist egal“, entgegnete Earl. „Sie hat mir gesagt, dass ich dich zu ihr bringen soll, und genau das habe ich vor. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du bereitwillig mitkämst. Ich will mir meine feine Kleidung nicht schmutzig machen.“

Mack betrachtete seinen Bruder einen Moment, dann seufzte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Direktor. Dieser war immer noch ohne Bewusstsein.

Der junge Mann zog ihn näher an sich heran. „Wenn Sie meine Schwester noch einmal anrühren, war das, was Sie heute erlebt haben, noch gar nichts.“

Mit dieser Warnung an den bewusstlosen Mann schleuderte er Mr Sloop auf die Erde. Earl ließ Macks Handgelenk los und forderte ihn mit einer ausholenden Handbewegung auf, vor ihm herzugehen.

„Ich hoffe, es dauert nicht lang.“

Die Kinder wichen zurück und bildeten eine Gasse. Sie waren zu schüchtern, um sich der Kutsche zu nähern. Keines von ihnen schien sich um ihren Direktor Sorgen zu machen. So gern Tillie sich auch um ihn gekümmert hätte, so zwang sie sich doch, sitzen zu bleiben. Schließlich lief ein älterer Junge ins Haus. Hoffentlich holte er Mrs Sloop.

Als die Brüder näher traten, konnte Tillie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie völlig identisch aussahen. Sie hatten eindeutig den gleichen Körperbau, die gleiche Körpergröße und die gleichen Augen, aber da Mack schmutzig war und sein Bart alles andere verbarg, war sie sich nicht sicher.

Sie wusste jedoch, was Mrs Vanderbilt dachte. Zwei Lakaien, die nicht nur groß gewachsen waren und gut aussahen, sondern sich wie ein Ei dem anderen glichen, würden in ihren Kreisen zum Gesprächsthema werden.

„Ma’am, das ist mein Bruder, Mack Danver.“

Mack schaute ihr direkt in die Augen. Die Herausforderung in seinem Blick war unübersehbar.

Mrs Vanderbilt neigte den Kopf leicht. „Ich finde es ehrenwert, dass Sie Ihre Schwester verteidigen, Mr Danver, aber ich habe gewisse Zweifel an der Wahl Ihrer Mittel.“

Der Angesprochene zuckte verächtlich mit den Achseln. „Wahrscheinlich habe ich überreagiert. Sie ist schließlich nur ein Mädchen. Nicht viel mehr als ein Haustier.“

Tillie atmete erschrocken aus.

Mrs Vanderbilt zog eine Braue hoch. „Sie kommen aus den Bergen, nehme ich an? Was führt Sie in die Stadt?“

Doch Mack hatte sich bereits zum Gehen gewandt.

Earl ergriff ihn erneut am Arm. „Unser Vater ist schon eine Weile tot, aber unsere Mutter ist erst vor Kurzem gestorben. Deshalb mussten wir unsere Familie aufteilen: Unsere Geschwister kamen bis auf Celia in anderen Familien unter und leben auf dem Berg. Da ich auf Biltmore wohne und Mack als Hausmeister für das ‚Battery Park Hotel‘ arbeitet, mussten wir Celia hier in Sloops Waisenhaus unterbringen.“

Mrs Vanderbilt lehnte sich an die Kissen des Landauers zurück. „Wie würde es Ihnen gefallen, in Biltmore House zu arbeiten, Mr Danver?“

Tillie starrte ihre Herrin mit großen Augen an. Sie könnte verstehen, wenn er als Stallbursche oder in der Molkerei arbeiten sollte, bis er vorzeigbar wäre und einige Dinge gelernt hätte. Aber im Haus? Sofort? Ohne Referenzen?

Mack drehte den Kopf zur Seite und spuckte aus. „Ich glaube nicht, dass ich dort arbeiten möchte.“

„Mein Mann zahlt seinen Bediensteten New Yorker Löhne. Sicherlich viel mehr, als Sie im ‚Battery Park‘ verdienen. Mit dem Verdienst, den Sie in Biltmore erhalten würden, könnten Sie Ihre Schwester in kürzester Zeit aus dem Waisenhaus holen.“

„Sie kommt schon zurecht.“

„Meines Wissens, Sir, behalten Waisenhäuser ein Kind selten, bis es erwachsen ist.“

Seine Augen blickten die reiche Frau kalt an. „Dann kann sie sich als Junge verkleiden und sich mit einer Pistole verteidigen. Ich arbeite nicht für einen Haufen feiner Leute, die am Ende der Welt wohnen.“

Mrs Vanderbilt schaute ihn einen langen Moment durchdringend an. „Dann haben Sie also Angst?“

Mack schüttelte Earls Hand ab und trat einen Schritt vor. „Ich fürchte mich vor nichts.“

„Wirklich nicht?“

Er gab ihr keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Er sah aus, als wäre er bereit, seine Aussage mit den gleichen Mitteln zu unterstreichen, die er auch bei dem armen Mr Sloop angewandt hatte.

Schließlich nickte Mrs Vanderbilt. „Falls Sie Ihre Meinung ändern, kommen Sie zum Haus, und sagen Sie, dass ich Sie hinbestellt habe.“

* * *

Tillie stand vor Mrs Winters Schreibtisch.

„Es genügt nicht, nur leicht über die Oberfläche zu wischen“, sagte die Hausdame. Ihre blonden Haare wurden langsam silbern und neue Falten bildeten sich in ihren Augen- und Mundwinkeln. „Die Ränder und Beine der Tische und auch die Rückseiten und Beine der Stühle und Sofas müssen ebenfalls kräftig eingerieben werden.“

„Ja, Ma’am.“ Sie hatte angenommen, sie wäre wegen des kleinen Zwischenfalls auf dem Weg in die Stadt zu Mrs Winter bestellt worden. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass Alice in der Gobelin-Galerie schlampige Arbeit geleistet haben könnte.

„Das ist sonst überhaupt nicht Ihre Art, Tillie.“

„Ja, Ma’am. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie wollte die Schuld nicht auf Alice schieben. Bestandteil ihrer Probezeit war es, ihre Aufgaben an andere zu delegieren, wenn das nötig war. Aufgrund der Fahrt nach Asheville war eine solche Situation eingetreten.

Trotzdem fielen diese Zimmer im Erdgeschoss in ihren Aufgabenbereich, da sie das erste Dienstmädchen war. Sie würde dafür sorgen müssen, dass Alice beim nächsten Mal keinen Zentimeter ausließ.

Mrs Winter nahm die Brille ab. Ihre blauen Augen blickten sie nun milder an. „Wie ich gehört habe, haben Sie sich heute in der Stadt sehr gut gehalten.“

„Danke, Ma’am.“ Jetzt kommt es.

„Mrs Vanderbilt war ausgesprochen beeindruckt.“

Aber …

„Morgen oder übermorgen wird sie mit Lucy über die Besitztümer der Familie fahren. Mrs Vanderbilt hat vor, eine Aufstellung aller Angestellten und ihrer Familien zu erstellen.“

„Ja, Ma’am.“

„In dieser Zeit wird Bénédicte Ihnen Mrs Vanderbilts Schlafzimmer, ihre Schränke und Schubladen zeigen. Es ist wichtig, dass Sie sich den exakten Platz von allen Sachen und Mrs Vanderbilts Vorlieben merken.“

Sie war immer noch im Rennen. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. „Ja, Ma’am.“

Die Hausdame setzte ihre Brille wieder auf und machte eine Notiz auf dem Blatt Papier, das vor ihr lag. „Das wäre dann alles.“

Kapitel 4

Mack trat aus dem Friseurladen. Er fuhr sich mit der Hand über die Wange und versuchte, sich an die glatte Haut in seinem Gesicht zu gewöhnen. Er hatte vor, zur Polizei zu gehen und zu sehen, was er gegen den Direktor des Waisenhauses unternehmen könnte, aber er wusste, dass der Polizeichef ihn nicht ernst nehmen würde, wenn er nicht ordentlich aussah.

Sein erster Weg hatte ihn deshalb ins Badehaus geführt. Seine Kleidung war so schmutzig gewesen, dass man darauf bestanden hatte, sie in die Wäscherei zu bringen, während er ein Bad nahm. Dann lieh man ihm saubere Kleidung, bis seine eigene geschrubbt und getrocknet war. Es war nicht so, dass er es genoss, im Schmutz zu leben, es war nur so, dass sein Arbeitgeber dem Hausmeister, der für die Nachtschicht zuständig war, nicht erlaubte, die Waschzuber oder Badewannen des Hotels zu benutzen. Nicht einmal eine Blechwanne. Und er konnte sich den Besuch im Badehaus nicht leisten. Jeder Cent wurde für den Tag gespart, an dem er Celia aus Sloops Waisenhaus herausholen konnte.

Der junge Mann atmete tief durch. Es war ein herrliches Gefühl, wieder sauber zu sein. Als er die Mule Alley überquerte und in die Saloon Row einbog, surrte eine lästige Fliege an seinem Ohr und der Geruch von Alkohol lag in der Luft.

Ein unauffälliges Ziegelhaus am Ende der Straße beherbergte die Wäscherei. Er fand es amüsant, dass ein solcher Ort hinter dem Rotlichtbezirk der Stadt angesiedelt war. Aber bei genauerem Nachdenken war das vielleicht passend. Manchmal musste man durch den Schmutz gehen, bevor man sauber werden konnte.

Natürlich hatten die Stadtväter keine tiefgründigen Lebensweisheiten vermitteln wollen. Sie wollten die Dampfwolken und die zum Trocknen aufgehängte Wäsche schlicht nicht in der Stadt haben.

Er trat durch die Tür der Wäscherei und wurde sofort von nasser Hitze eingehüllt. Die Luft war so sehr von Laugen und Bleichmitteln erfüllt, dass seine Lunge brannte und er einen Moment lang keine Luft bekam. Waschbretter, Bürsten und eine große, eiserne Mangel nahmen den größten Teil des Raumes ein. Eine junge Frau rührte in einem Waschzuber. Ihre Schultern waren breit, und ihr Nacken war so kräftig wie der eines Mannes, während ihre Großmutter eines der Bügeleisen nahm, die auf einer heißen Platte erhitzt wurden.

Die Wäscherin hielt inne und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Earl? Was hast du denn mitten in der Woche in der Stadt zu tun? Solltest du nicht oben im Schloss sein?“

Mack zögerte. Es war lange her, dass ihn das letzte Mal jemand mit Earl verwechselt hatte.

Sie stemmte die Hände auf ihre Hüften. „Jetzt komm schon herein und schau nicht so ernst. Ich wollte sowieso mit dir sprechen. Du musst etwas wegen deiner Schwester drüben bei Sloop unternehmen.“

Er runzelte die Stirn und schloss die Tür. „Meine Schwester?“

„Ach, tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche.“

„Tut mir leid, aber ich weiß es wirklich nicht.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Man sollte meinen, einem Mann, der Frauen so gern mag wie du, müsste man das nicht ausdrücklich erklären.“

Er kniff die Augen zusammen. „Was?“

„Forbus Sloop ist Stammkunde bei Daphne Devine. Es überrascht mich, dass du ihn dort noch nicht getroffen hast.“

Mack fragte nicht, woher sie wusste, welche Männer das Bordell besuchten. Sie hatte durch ihr Seitenfenster freien Blick auf Miss Daphnes Etablissement. Sein Blick wanderte zu dem zweistöckigen, weißen Schindelhaus, dessen Fensterläden zugezogen waren, um das Tageslicht auszusperren.

Er wusste, dass sein Bruder dort Stammgast war. Er gab all das Geld, das er verdiente, im Bordell und für Alkohol aus. Wenn er sich nur ein wenig einschränken würde, hätten sie genug Geld, um Celia aus Sloops Waisenhaus herauszuholen. Aber das würde nicht passieren.

„Was hat das, was Sloop treibt, mit meiner Schwester zu tun?“, fragte er.

Ihre roten, aufgesprungenen Hände umklammerten den Griff des Rührstabs. „Das kann ich dir sagen: Sie bekommt langsam weibliche Rundungen. Und sie lebt unter dem Dach dieses jämmerlichen Kerls, und seine Frau will nicht sehen, wie widerlich er ist.“

Seine Brust zog sich zusammen. „Willst du damit sagen, dass er Celia etwas getan hat?“

„Ich will damit sagen, dass Celia fast jede Woche neue Blutergüsse hat. Was, glaubst du, macht Forbus so rasend, dass er sich mit den Fäusten austoben muss?“

Mack wollte sich das nicht einmal vorstellen. „Woher weißt du das?“

„Ich hole und liefere die Wäsche der Sloops.“ Sie drückte den Stampfer in das Wasser und zog ihn wieder heraus.

„Wie lange läuft das schon?“

„Seit zwei Monaten. Aber das letzte Mal war der Bluterguss schlimmer als sonst. Ich habe gehört, dass dein Bruder ihn bemerkt und Forbus in Stücke gerissen hat.“

Er schaute sie finster an. „Das habe ich nicht getan.“

Die junge Frau hielt inne. Dann wurden ihre Augen langsam größer. „Meine Güte. Du bist gar nicht Earl. Du bist sein Bruder. Was ist mit dir passiert? Du siehst ja genauso aus wie Earl.“

„Ich habe mich rasiert. Das ist alles.“ Er rieb sich wieder das Kinn. „Und ich bin ganz anders als mein Bruder.“

Sie nahm ihre Arbeit wieder auf. „Heißt das, dass du etwas unternehmen wirst?“

Er nickte. „Ich denke schon. Sobald du mir meine Kleidung gibst.“

* * *

Mack hatte nicht viel Kontakt mit den Behörden. Er besaß ein angeborenes Misstrauen gegenüber Autoritätspersonen und Polizeihauptmann Hovious bestätigte seine Meinung.

Der zweihundertfünfzig Pfund schwere Polizist lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sein Bauch hing über seinen Gürtel. „Das ist doch wirklich der Gipfel der Unverschämtheit. Forbus Sloop war vor noch nicht mal zwei Stunden hier und hat über Sie die gleiche Beschwerde vorgebracht. Er sah ziemlich ramponiert aus.“

„Er misshandelt die Mädchen.“

„Ich kenne Forbus persönlich. Er ist ein glücklich verheirateter Mann.“

„Der mehr Zeit im Bordell verbringt als zu Hause.“

Der Polizist grinste. „Tun wir das nicht alle, Bruder? Tun wir das nicht alle?“

Mack schaute ihn reglos an. „Ich möchte mit dem Polizeichef sprechen.“

Hovious zupfte etwas Grünes zwischen seinen Zähnen heraus. „Der Chef ist nicht da. Und selbst wenn er hier wäre, würde er das Gleiche sagen. Diese Stadt steht in Sloops Schuld. Er kümmert sich um diese ganzen verwahrlosten Kinder und sorgt dafür, dass sie sauber sind. Bevor er kam, war Asheville von diesen kleinen Bettlern übersät.“

„Ich möchte trotzdem, dass sich jemand darum kümmert.“

„Tut mir leid, aber wir haben Dringenderes zu tun.“

Mack ballte die Fäuste und trat einen Schritt vor.

Hovious kniff die Augen zusammen und stand dann langsam auf. „Das würde ich Ihnen nicht raten, Danver.“

Der Hauptmann trug keine Waffe. Kein Polizist trug eine Waffe. Das war auch nicht nötig. Sie besaßen genug Muskelkraft, um ihre Ziele zu erreichen. Und wenn sie ihren Worten noch mehr Nachdruck verleihen mussten, wirkten die Knüppel, die sie an ihrer Seite trugen, wahre Wunder.

Mack bemühte sich, seine Arme nicht drohend zu heben. „Sagen Sie dem Polizeichef, wenn meine Schwester noch mehr Blutergüsse bekommt, kriegt er Schwierigkeiten.“

„Und wenn sie gegen eine Tür läuft oder so was?“

„Das möchte ich niemandem geraten haben.“ Mack verließ das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Wenn er Celia helfen wollte und die Polizei ihn dabei nicht unterstützte, musste er sich an andere Stellen wenden. Und er müsste auf jeden Fall eine einflussreiche Person einbeziehen.

Der einzige Mensch, den er kannte und der dafür infrage kam, war ein alter Freund seines verstorbenen Vaters. Er war Präsident des Colleges gewesen, an dem sein Vater unterrichtet hatte. Er hatte seinen Vater überhaupt erst nach Asheville gebracht und war jetzt Abgeordneter von Buncombe County.

Mack warf einen Blick auf die riesige Uhr, die an der Wand der Rotunde hing. Vielleicht erwischte er Leonard Vaughan noch, bevor dieser Feierabend machte. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass er sich für ihn Zeit nehmen würde.

Der junge Mann schritt durch die Gänge des Rathauses, bis er schließlich eine Tür fand, auf deren Glasscheibe Vaughans Name stand. Er klopfte und lugte durch die Scheibe. Ein Mann auf der anderen Seite bedeutete ihm einzutreten.

Das Büro roch nach Büchern und Zigarren. Der riesige Eichenschreibtisch war sauber aufgeräumt, als hätte Vaughan gerade alle seine Unterlagen in die Schubladen geräumt, um nach Hause gehen zu können.

„Kann ich etwas für Sie tun, junger Mann?“, fragte er und stand auf, während er eine Schublade zuschob.

Als er das vertraute Gesicht des besten Freundes seines Vaters sah, zog sich Macks Brustkorb zusammen. Er betrachtete die Veränderungen, die die Jahre bei seinem Gegenüber hinterlassen hatten: Der Haaransatz war etwas nach hinten gewandert, er war grau an den Schläfen und hatte Falten um die Augen. Wie sein Vater wohl in diesem Alter ausgesehen hätte?

Mack zog den Hut. „Guten Tag, Sir. Mein Name ist Danver. Es freut mich, Sie zu sehen.“

Vaughan erstarrte und zog dann die Brauen hoch. „Earl?“

„Mackenzie, Sir.“

„Meine Güte!“ Er lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen, und nahm ebenfalls wieder Platz. „Wie ich sehe, bist du sogar noch größer geworden als dein Vater. Ist Earl auch so groß?“

„Auf den Zentimeter genau.“

„Unglaublich.“ Nach einem Moment wurden seine Gesichtszüge wieder ernst. „Mein Beileid zum Tod deiner Mutter. Ich war bei euch, sobald ich aus Europa zurückgekehrt war und von ihrem Tod gehört hatte, aber eure Hütte stand leer. Ich konnte nur in Erfahrung bringen, dass die Familie sich hatte trennen müssen.“

„Ich habe versucht, die Familie zusammenzuhalten, aber Earl wollte seine Stelle auf Biltmore nicht aufgeben und nach Hause kommen. Er hat eine Schwäche für Frauen und Alkohol entwickelt. Und so blieb es an mir, die Kinder in anderen Familien unterzubringen.“

„Wie alt sind die Kinder jetzt?“

„Celia ist dreizehn. Die Jungen sind neun, acht und sieben.“ Er seufzte. „Nicht mehr so klein, wenn ich es mir recht überlege.“

„Und was ist passiert?“ Vaughan zog eine Schublade auf und bot Mack eine Zigarre an.

Der junge Mann lehnte dankend ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Für mich hat sich natürlich nichts geändert. Seit unser Vater tot ist, habe ich dafür gesorgt, dass ich im Hotel genügend Geld verdiene, um für Mutter und die Kinder Essen auf den Tisch zu bringen. Aber seit sie nicht mehr da ist, ist es für Celia zu schwer.“

„Sie meint wahrscheinlich, dass sie in die Fußstapfen deiner Mutter treten müsste?“

Mack nickte. „Ich konnte die Jungen nicht zu mir nehmen. Aber ich konnte auch nicht kündigen und Celia unterstützen.“

„Was hast du dann getan?“

„Ich beschloss, so viele Doppelschichten wie möglich zu machen. Doch als ich das nächste Mal auf den Berg kam, war Großvater in die Hütte gezogen und hatte den Jungen gesagt, dass sie nichts im Haushalt tun müssten. Dafür wäre Celia da. Und falls sie nicht gehorchte, würde er sie schlagen.“

„Das ist ja furchtbar!“ Vaughan schnitt die Spitze seiner Zigarre ab und schnalzte mit der Zunge. „Wahrscheinlich sollte mich das nicht überraschen. So war er schon immer.“

Mack biss die Zähne zusammen. „Aber Vater hat uns beigebracht, Mädchen und Frauen zu achten. Ich kann mich noch erinnern, wie Earl und ich hinter seinem Rücken darüber gelacht haben, weil wir das lächerlich fanden. Aber als ich nach Hause kam und sah, dass die Jungen keinen Finger krummmachten, während Celia säte, hackte, Futter einsammelte, Holz spaltete, kochte, wusch und alles andere machte, gingen mir endlich die Augen auf.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Mack fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Mir wurde klar, dass ich nicht das Geld verdienen konnte, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, und gleichzeitig Celia und die Jungen vor dem Einfluss unseres Großvaters schützen konnte. Also brachte ich Ikey, Otis und John-John zu Familien auf der anderen Seite des Berges, wo die Leute ihren Kindern Lesen und Schreiben beibringen. Aber bei Celia war es etwas anderes. Auch wenn die meisten Clans ihre Frauen gut behandeln, konnte ich mich nicht überwinden, sie dort zu lassen, wo ich sie nicht beschützen konnte. Deshalb brachte ich sie in Sloops Waisenhaus.“

Vaughan zündete seine Zigarre an. „Ich muss sagen, dass sie es dort gut haben wird. Dieser Sloop ist ein feiner Mensch.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Der Politiker blies das Streichholz aus und warf es in einen Aschenbecher. „Du musst dir nur anschauen, was er für diese Kinder getan hat. Sie streunten durch die Straßen und trugen nur Fetzen am Leib. Seit er da ist, haben sie ein Dach über dem Kopf und einen vollen Bauch. Hast du gesehen, was er aus dem Salon gemacht hat? Er renoviert systematisch das gesamte Gebäude. Er hat gerade sein Büro renoviert und –“

„Er schlägt die Mädchen.“

Vaughan, der gerade seine Zigarre zum Mund führen wollte, hielt auf halbem Weg inne.

„Ich habe schon eine ganze Weile den Verdacht gehegt, aber als ich gestern Celias Gesicht sah …“ Der junge Mann umklammerte die Lehnen seines Stuhls.

„Bist du sicher? Sie ist nicht vielleicht gegen eine Tür gelaufen?“

„Ich bin mir sicher. Und das geht schon eine ganze Weile so.“

Vaughan sank auf seinem Stuhl zurück. „Schlägt er nur Celia oder auch noch andere Mädchen?“

„Das weiß ich nicht, aber ich habe den Verdacht, dass sie nicht die Einzige ist.“

„Warst du bei Chief Pilkerton?“

„Ich komme gerade von der Polizei. Man hat mich hinausgeworfen und mir gesagt, dass ich nicht wiederkommen soll.“

Vaughan rieb sich den Kopf. „Das überrascht mich nicht. Pilkerton und Sloop kennen sich schon lange.“

„Ich bin aber nicht bereit, mich damit abzufinden. Zwar habe ich Sloop klargemacht, dass er die Finger von Celia zu lassen hat, aber es gefällt mir trotzdem nicht, sie dort zu lassen.“

Vaughans Blick wanderte in die Ferne und er schüttelte den Kopf. „Das kann ich einfach nicht glauben.“

„Deshalb bin ich hier.“

Vaughan schaute ihn an. „Sag mir, wie viel du brauchst. Ich kann dir die Summe bis morgen geben.“

Mack versteifte sich. „Ich bin nicht gekommen, weil ich Geld von Ihnen will.“

„Dein Vater war mein bester Freund, mein Junge. Es wäre mir eine Ehre, wenn du mir erlauben würdest, dir zu helfen.“

„Nein, Sir.“

Der Politiker schüttelte seufzend den Kopf. „Dieser vermaledeite Stolz der Bergbewohner. Ihr lehnt Hilfe genauso schnell ab, wie ihr einen Schlag erwidert. Ich weiß nicht, wie oft ich deine Mutter gebeten habe, meine Hilfe anzunehmen, aber sie hat es kategorisch abgelehnt.“

Mack beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf seine Knie und faltete die Hände. „Ehrlich gesagt wollte ich Sie trotzdem um einen Gefallen bitten.“

Vaughan zog an seiner Zigarre. „Sag, was ich für dich tun kann, und ich tue es.“

* * *

Tillie saß am Tisch ihrer Eltern und genoss die Liebe und das Lachen in ihrer Familie. Es war ihr erster freier Tag, seit sich ihre gute Nachricht herumgesprochen hatte. Ihre Mutter hatte es fast genauso schnell erfahren wie Tillie selbst. Wie sie vorhergesehen hatte, war Mama ganz aus dem Häuschen gewesen.

„Hat Mrs Vanderbilt ihre Sachen mit echten Goldmünzen bezahlt?“, wollte die kleine Martha mit ihren großen, blauen Augen wissen. „Hast du ihre Goldmünzen getragen?“

Die Reese-Kinder waren schubweise zur Welt gekommen. Tillie und Allan gehörten zum ersten Schub; sie waren die Einzigen, die noch in North Carolina wohnten. Die mittleren Jungen, die zwischen ihnen geboren worden waren, waren in den Westen gegangen.

Der zweite Schub war zur Welt gekommen, als Tillie sechs gewesen war – ein Baby pro Jahr, drei Jahre hintereinander. Dann hatte ihre Mutter wieder einige Zeit Ruhe gehabt. Gussie und Ricky, die ältesten dieser Gruppe, hatten einen großen Teil der Last getragen und sich um die Jüngeren gekümmert.

Als Tillie mit zwölf Jahren von zu Hause fortgegangen war, um Haushaltshilfe in einer wohlhabenden Familie in Asheville zu werden, war der nächste Schub gekommen. Die fünfjährige Martha war eine davon.

„Niemand trägt sein Geld mit sich herum“, erklärte Gussie Martha. „Das ist so … gewöhnlich. Die Rechnung wird dem Verwalter zugeschickt.“

Tillie und Allan wechselten einen Blick. Gussie wurde im Frühling zwölf und würde dann auch von zu Hause ausziehen. Zur Vorbereitung hatte Mama sie „Das Handbuch für die junge Bedienstete“ lesen lassen.

„Hat sie sich Diamanten und Kleider und neue Schuhe gekauft?“, flüsterte Martha atemlos. Ihre schwarzen Ringellocken baumelten bedrohlich über ihrem Essen, während sie sich zu Tillie vorbeugte.

„Das darf sie dir nicht verraten.“ Gussie reichte ihrem jüngsten Bruder Ennis eine Scheibe Brot. „Mrs Vanderbilt erwartet von den Leuten, die ihr dienen, absolute Diskretion.“

Mama schnitt ein Stück Fleisch von ihrem Hasenbraten ab. Dabei geriet ihr massiver Busen in Bewegung. Dafür, dass sie oben und unten sehr umfangreich war, besaß sie doch eine relativ schmale Taille, die durch ihre eng zusammengezogenen Schürzenbänder noch betont wurde. „Das mag so sein, Gussie, aber wir sind hier ja nicht in Newport. Hier weiß ganz Asheville, was Mrs Vanderbilt gekauft hat, noch bevor sie den Laden verlassen hat. Wenn Tillie es uns also erzählen will, ist das bestimmt in Ordnung. Wir sind immerhin ihre Familie.“

Gussie schnaubte, aber alle im Raum wurden still. Tillie konnte fast sehen, wie ihre Ohren wuchsen, während alle auf ihre Antwort warteten. Selbst der kleine Ennis schaute sie mit vollem Mund erwartungsvoll an.

Sie trank einen Schluck Milch und zögerte. Die Städter würden wochenlang ausführlich über jeden von Mrs Vanderbilts Schritten sprechen, aber das waren die Stadtbewohner. Nicht die Dienstboten. Nicht ihre persönliche Zofe. Wenn sie die Grenzen nicht klar einhielt, würde sie vielleicht bald nicht mehr wissen, wo sie anfingen und wo sie endeten. Doch bevor sie eine Antwort geben konnte, kam ihr Allan zu Hilfe.

„Ich glaube, die guten Leute in Asheville haben weniger über Mrs Vanderbilt gesprochen als über Tillie“, erklärte er.

Mama lächelte erfreut. „Wirklich? Was haben sie denn gesagt?“

Er spießte mit seiner Gabel einige Erbsen auf. „Earl Danver hat dafür gesorgt, dass jeder weiß, dass er doppelt so lange brauchte wie sonst, um in die Stadt zu kommen, weil Tillie sich nach jedem Schlagloch übergeben musste.“

Mama schlug mit ihrem Löffel auf Allans Fingerknöchel. Das hatte sie nicht mehr getan, seit er zwölf gewesen war.

„Halt den Mund, Allan Reese! Ich will kein Wort mehr davon hören und auch nichts mehr über diesen gemeinen Earl Danver.“

Allan hob die Augenbrauen, während er seine verletzte Hand massierte. „Ich fürchte, das ist kein Geheimnis mehr, Ma. In den Räumen der Dienstboten machen sich alle darüber lustig und Tillie musste deshalb einigen Spott ertragen.“

„Was haben sie gesagt, Allan?“ Rickys breites Grinsen schien von einem Ohr zum anderen zu reichen. „Haben sie ihr einen Spitznamen gegeben?“

„Ricky!“ Mama hob drohend ihren Löffel, aber der Zehnjährige hatte seine Hände schon in Sicherheit gebracht.

„Hat sie einen?“

Allan richtete sich steif auf und schaute ihn von oben herab an. „Tut mir leid, junger Mann, aber deine Schwester kann sich auf die Diskretion der Dienerschaft verlassen, die mit ihr zusammenarbeitet.“