Lieben heißt vertrauen - Charlie Hugo - E-Book

Lieben heißt vertrauen E-Book

Charlie Hugo

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Beschreibung

Johanna Ditmar, genannt Jo, stolpert sprichwörtlich in das Leben der erfolgreichen Unternehmerin Susanne Kostner hinein und zerbricht zur Begrüßung gleich ihre wertvolle Vase. Dennoch fühlt sich Susanne zu Jo hingezogen. Als sie erfährt, dass Jo an der Universität in Berlin ein Labor in die Luft gesprengt und sich damit jeglicher Karrierechancen beraubt haben soll, kann auch das nichts an ihren Gefühlen für Jo ändern. Im Gegenteil, sie bietet ihr sogar Hilfe an, obwohl Jo sie immer wieder hartnäckig von sich stößt. Aber Susanne gibt nicht auf, denn Jo ist schon lange nicht mehr nur eine Angestellte für sie. Doch was ist in Berlin wirklich passiert, dass Jo sich dermaßen eingemauert hat und niemandem mehr vertrauen kann?

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Charlie Hugo

LIEBEN HEISST VERTRAUEN

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-264-0

Coverillustration: © atagon – Fotolia.com

1

Klirr!

»Oh Gott, die schöne Vase!«, hörte Susanne ihre Sekretärin Annett Mehling entsetzt ausrufen.

Ihr wurde kalt. Die Vase. Die Vase . . .

Schnell stieg sie die letzten Stufen zu ihrem Büro hinauf, und als sie um die Ecke bog, bestätigte sich ihre Befürchtung: Die Vase, die bisher auf dem Absatz gestanden hatte, lag zerbrochen am Boden. Sie sah, wie sich eine Frau darüberbeugte.

»Du meine Güte, wissen Sie überhaupt, was Sie da angerichtet haben?« Das war wieder die aufgeregte Stimme ihrer Sekretärin.

»Tut mir leid. Da kann ich nichts mehr machen«, sagte die Frau, die auf dem Boden hockend die Scherben betrachtete. Ihre Stimme klang jedoch nicht wirklich bedauernd, sondern nur verärgert.

»Nein, Sie hätten vorher aufpassen müssen«, beklagte sich Annett Mehling vorwurfsvoll. Dann blickte sie auf, und ihre Augen weiteten sich erschrocken. »Frau Kostner! Oh je . . . das . . . das tut mir so leid.«

Langsam trat Susanne auf den Scherbenhaufen zu, der für einen Moment ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Vater. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er ihr die Vase überreicht hatte als Symbol dafür, dass er ihr die Firma anvertraute. Seither hatte sie hier gestanden, und Susanne hatte sie jeden Tag gesehen, was sie an ihre Verpflichtung erinnerte und auch an die Freude, die ihr Vater ihr damals mit diesem Vertrauensbeweis gemacht hatte.

Ihr Blick löste sich von den Scherben und musterte die Frau, die immer noch neben der Vase hockte. »Sie haben das getan?«, fragte sie mit eisiger Stimme.

»Ja, ich . . .« Die Frau fuhr sich verlegen durch das kurze Haar. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht.«

»Na, das will ich doch stark hoffen«, erwiderte Susanne hart. »Diese Vase ist unbezahlbar. Wer sind Sie überhaupt? Was haben Sie hier zu suchen?« Die Fragen schossen wie spitze Pfeile aus ihrem Mund.

»Ich . . . Mein Name ist . . .« Die Frau brach ab, und ihre Augen huschten an Susanne vorbei über den Flur, als ob sie auf der Suche nach einem Fluchtweg wären.

»Ist ja auch egal«, entgegnete Susanne knapp. »Räumen Sie das weg, Frau Mehling. Das hat keinen Sinn mehr.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging in ihr Büro.

Dort angekommen, ließ sich Susanne langsam in den Bürostuhl sinken. Noch immer sah sie den Scherbenhaufen vor sich, zum Greifen nahe. Erst jetzt ließ sie die Flut an Emotionen zu, die sie beim Anblick der Bruchstücke schier überrollt hatten. Ihre Vase. Die Vase ihres Vaters war in tausend Scherben zerbrochen. Fassungslos angesichts der Ohnmacht, nichts mehr daran ändern zu können, nahm sie die Hände vors Gesicht. Das hier war kein Problem, das sie mit geschicktem Management lösen konnte. Sie musste es einfach hinnehmen.

Nun würde sie jeden Morgen ein leerer Sockel begrüßen und sie auf den Verlust hinweisen. Sie würde nicht mehr an die Worte erinnert werden, die der Vater ihr mit auf den Berufsweg gegeben hatte. Das war vorbei. Unwiederbringlich.

Susanne erschauerte. Kopfschüttelnd nahm sie die Hände vom Gesicht. Ihre Augen brannten von der Fülle an Tränen, die nach Freilassung verlangten und doch nicht durften.

Wut kroch bei dem Gedanken an die Frau in ihr hoch. Mit verkniffenem Blick fixierte sie einen unbestimmten Punkt auf dem Schreibtisch. Was hatte diese Frau hier zu suchen gehabt? Ihre Kleidung ließ vermuten, dass sie wohl kaum in diesem Gebäude arbeitete. Hier trug keiner einen Blaumann. Also was wollte sie hier, fernab der Fertigungshallen? Susannes flache Hand landete bei dem letzten Gedanken mit einem lauten Knall auf der Tischplatte.

Das Telefon läutete und riss sie aus ihren Gedanken. Schnell besann sie sich. Sie atmete mehrmals tief durch und straffte ihren Rücken. Dann nahm sie den Hörer ab. »Kostner«, meldete sie sich. Es klang harscher als beabsichtigt. Das kurze Innehalten hatte nicht die gewünschte Wirkung gehabt, nämlich ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen.

»Dir auch einen guten Morgen«, schallte es ihr fröhlich entgegen. »Wenn du deine Kunden auch so begrüßt, brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen, dass du auch in Zukunft zu viel arbeiten könntest. Das sollte sich dann bald von selbst erledigt haben.« Vergnügt lachte es am anderen Ende.

»Ach, du bist es.« Susanne atmete erleichtert aus und ließ sich in die Lehne zurückfallen. Vielleicht würde ein kurzes Gespräch mit ihrer Tante Hedwig helfen, ihre Nerven zu beruhigen. »Es tut mir leid. Ich war in Gedanken.«

»Na, das waren wohl nicht die angenehmsten.«

Susannes Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie wieder an die Frau dachte. »Nein, nicht die angenehmsten.« Sie atmete hörbar aus. »Papas Vase ist zu Bruch gegangen.« Ohne dass Susanne es verhindern konnte, baute sich eine neue Welle der Wut auf und entlud sich diesmal ungebremst. »Am liebsten würde ich die Frau feuern!«

»Kindchen«, schalt ihre Tante beinah mütterlich, »das hat sie doch bestimmt nicht mit Absicht getan.« Kurz blieb es still in der Leitung. Als Susanne schon zu einer Gegenantwort ansetzen wollte, sprach ihre Tante weiter. »Unfälle passieren nun mal. Und sei mir nicht böse, aber früher oder später musste das geschehen.«

»Sie stand ganze siebenundzwanzig Jahre an der Stelle, bis diese Frau hier aufgetaucht ist«, schimpfte Susanne. Doch eine kleine Stimme in ihr gab auch der Tante recht. Nur wollte sie ihr kein allzu großes Gehör verschaffen. Zu tief saß der erlittene Verlust.

»Wer ist die Frau überhaupt?«

Susanne presste die Lippen zusammen. »Das weiß ich nicht. Und ehrlich gesagt will ich das auch gar nicht wissen. Eine Angestellte von mir. Sie muss in einer der Hallen arbeiten. Am liebsten würde ich sie entlassen.«

Wenn diese Frau nicht gewesen wäre, dann wäre die Vase jetzt noch ganz.

Ihre Tante lachte amüsiert auf. »So bösartig bist du nicht.«

Susanne richtete sich langsam auf und seufzte ergeben. »Ja, das ist wahr. Rein sachlich betrachtet, ist es nur eine Bagatelle. Kein Grund für eine Kündigung.« Mit der freien Hand fuhr sie sich über die Stirn, wie um die schlechten Gedanken wegzuwischen.

»Na, siehst du.«

Susanne hatte das Gefühl, dass ihre Tante beruhigt klang. Anscheinend war sie sich doch nicht so sicher gewesen, dass sie die Frau nicht kündigen würde. Das ließ sie stutzen, doch hatte sie keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

»So, und jetzt kommen wir zu meinem eigentlichen Anliegen.« Susanne konnte förmlich das fröhliche Zwinkern durch das Telefon hören. »Wie steht es mit heute Abend? Bleibt es bei unserem gemeinsamen Essen?«

»Natürlich, es steht dick und fett in meinem Kalender.« Wie zur Bestätigung zog Susanne den Kalender aus der Tasche und schlug ihn vor sich auf, was ihre Tante Hedwig natürlich nicht sehen konnte.

»Das muss ja noch lange nichts heißen. Ich kann mich da an eine jüngere Susanne erinnern, der unerwartet immer noch ganz knapp ein Termin dazwischengekommen ist. Acht Uhr am Abend, wohlgemerkt.« Der tadelnde Unterton war nicht zu überhören.

»Ich weiß.« Innerlich verdrehte Susanne die Augen. Tante Hedwig konnte oder wollte nicht verstehen, dass es in der Firma viel zu tun gab. Sie konnte nicht wie ihre Mitarbeiter einfach nach acht Stunden heimgehen. Es gab Entscheidungen zu treffen, die nur sie fällen konnte. Doch dafür benötigte sie Vorbereitung und Hintergrundwissen, was erfahrungsgemäß sehr zeitaufwendig war.

»Es wäre doch schade, wenn wir uns nicht sehen würden, wo ich schon diese Woche in der Stadt bin«, wurde Susanne in ihren Gedanken unterbrochen.

»Keine Sorge, ich bin pünktlich heute Abend im Restaurant«, versprach sie.

»Dann ist ja gut. Und bis dahin sei nett zu deinen Angestellten«, tönte es fröhlich aus der Leitung. »Bis heute Abend.« Schon knackte es.

Schmunzelnd legte Susanne auf und lehnte sich in ihren großen Bürostuhl zurück. Es hatte ihr gutgetan, kurz ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können, aber auch von ihrer Tante auf nette Art und Weise wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Der Verlust schmerzte, das war nicht zu leugnen, doch konnte ihre Angestellte wirklich nichts dafür.

Wie durch Zauberhand erschienen vor ihr plötzlich deren Augen, die sie von unten herauf angeschaut hatten, erschrocken, ein klein wenig schuldbewusst, aber auch trotzig und irgendwie . . . anziehend. Es lag etwas hinter diesem Blick . . .

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. »Jetzt bist du aber völlig übergeschnappt, Susanne. Du findest sie anziehend? Wird Zeit, dass du dich an die Arbeit machst.« Entschlossen gab sie sich einen Ruck und schlug den obersten Hefter auf.

Kaum hatte sie sich darin vertieft, klopfte es an die Tür.

»Ja bitte.« Sie blickte nur kurz auf und widmete sich gleich wieder ihrer Arbeit. Annett Mehling brachte ihr einen Kaffee.

Normalerweise verließ ihre Sekretärin danach sofort wieder das Büro, doch heute blieb sie vor dem Schreibtisch stehen.

Notgedrungen unterbrach Susanne ihre Arbeit und schaute sie auffordernd an.

»Es tut mir so leid wegen der Vase.«

»Ist schon gut, Frau Mehling, Sie können nichts dafür.« Susanne bemühte sich um einen möglichst geschäftig wirkenden Gesichtsausdruck. Sie wollte sich jetzt nicht mehr mit dieser Angelegenheit auseinandersetzen. Die Sache war für sie erledigt.

»Ich weiß, aber für Sie muss es ein schmerzhafter Verlust sein.« Neugierig betrachtete die Sekretärin sie.

Susanne ließ die Papiere, die sie noch in der Hand hielt, auf den Tisch gleiten und rückte sich im Stuhl zurecht. Eine Hand umfasste dabei mit eisernem Griff die Stuhllehne.

Es widerstrebte ihr, sich mit der Sekretärin über ihre Gefühle zu unterhalten, erst recht, wenn es um ihren Vater ging. Das Thema hatte sie ihr gegenüber immer ausgeklammert, und das sollte auch weiterhin so bleiben.

»Sagen Sie, wie heißt eigentlich die junge Frau, die den Schaden angerichtet hat?«, wechselte Susanne das Thema.

Kurz zuckten Annett Mehlings Augenbrauen. »Johanna Ditmar.«

»Johanna Ditmar«, murmelte Susanne leise vor sich hin und senkte den Blick. Was für ein schöner Name. Der passte sehr gut zu ihren feurigen Augen. Ihre Mundwinkel hoben sich bei dem Gedanken leicht an.

Als sie es bemerkte, räusperte sie sich schnell. »Wenn Sie sonst nichts weiter auf dem Herzen haben, würde ich gern weiterarbeiten wollen.«

»Ja natürlich«, antwortete Annett Mehling spitz und machte kehrt.

Susanne schüttelte über sich selbst den Kopf und schaute ihrer Sekretärin hinterher. Schon zum zweiten Mal hatte sich die junge Frau auf seltsame Art und Weise heute Morgen in ihre Gedanken geschlichen. Was hatte das nur zu bedeuten?

2

Am Nachmittag traf sich Susanne mit einer Gruppe Investoren aus München, um den Ausbau des Vertriebsnetzes zu besprechen und ihnen den Fertigungsprozess zu zeigen.

Nach dem Rundgang durch die Produktionshallen betraten sie nun gemeinsam die letzte Halle. Susanne ging voraus und erläuterte immer wieder die einzelnen Arbeitsschritte. »Wie Sie sehen, funktioniert aufgrund der kürzlich durchgeführten Optimierung der Arbeitsprozesse die Kontrolle und Verpackung der Gerüstelemente jetzt reibungslos. Jedes einzelne Bauteil wird noch einmal gründlich auf etwaige Mängel überprüft, bevor es an die Kunden ausgeliefert wird. Insgesamt sind mit diesem Arbeitsschritt dreißig Mitarbeiter betraut.«

Während Susanne sprach, versuchte sie, in den einzelnen Gesichtern die Stimmung abzulesen. Es war immer gut, einen Anhaltspunkt zu haben, was die Vertragspartner dachten, bevor es zu den Detailfragen kam. Allerdings konnte sie kein verwertbares Mienenspiel erkennen. Alle trugen sie ein Pokerface. Susanne konnte es durchaus verstehen. Wer ließ sich schon gern vor den finalen Abschlussverhandlungen in die Karten schauen?

»Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist unser kleiner Rundgang beendet, und wir können für die weiteren Besprechungen in den Konferenzraum zurückkehren.«

Susanne wandte sich bereits in Richtung Ausgang, als ihr Blick auf halber Drehung am Rücken eines Arbeiters hängenblieb. Oder war es eine Arbeiterin? Das war schwer auszumachen. Aber was hatte ihre Aufmerksamkeit erregt? Sie schaute genauer hin und entdeckte die Kopfhörer. Wegen des Arbeitsschutzes war das Musikhören über Kopfhörer am Arbeitsplatz verboten.

Suchend schaute sich Susanne nach dem Hallenleiter um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.

Eigentlich hatte sie keine Lust, den Mitarbeiter selbst auf das Verbot aufmerksam zu machen. Allerdings war ihr bewusst, dass alle anderen ihre Anwesenheit mitbekommen hatten. Wenn sie also den Vorfall unkommentiert ließ, konnte sie davon ausgehen, dass ihre Mitarbeiter das als Freifahrtschein für sich auslegen würden. Das konnte sie nicht zulassen.

Noch einmal wandte sie sich an ihre Besuchergruppe. »Gehen Sie doch bitte mit Herrn Frenzel schon vor. Mich müssen Sie für einen kurzen Moment entschuldigen. Ich komme sofort nach.«

Mit einem Kopfnicken in Richtung ihres Mitarbeiters entließ sie die Gruppe und setzte sich mit energischen Schritten in Bewegung. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln, wie ein Kollege wild zu gestikulieren anfing. Doch seine Warnungen wurden offensichtlich ignoriert, denn die Kopfhörer blieben an ihrem Platz. Aber selbst wenn sie jetzt abgenommen würden, eine Standpauke würde es dennoch geben.

Um die Sache schnell hinter sich zu bringen, klopfte Susanne dem Arbeiter auf den Rücken, der erschrocken zusammenzuckte. »Hey«, er fuhr herum, »was soll das? Ich habe mich fast zu Tode . . .« Erschrocken weiteten sich die Augen. »Frau Kostner?«

Auch Susanne war überrascht. »Sie?«

Nie hätte sie gedacht, noch einmal der Frau mit den ausdrucksstarken Augen zu begegnen. Schnell unterdrückte sie ein aufkommendes Lächeln.

Was war denn heute nur los mit ihr? Anstatt die Frau zurechtzuweisen, freute sie sich über das unverhoffte Wiedersehen? Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Resolut rief sie sich zur Ordnung, schließlich ging es hier um geschäftliche Dinge.

Sie setzte einen missbilligenden Blick auf. »Sie tragen Kopfhörer während der Arbeit?« Das war natürlich eine rein rhetorische Frage.

Schnell riss sich die Frau die Kopfhörer von den Ohren.

Susanne registrierte, dass sie noch recht jung war und auch einen Kopf kleiner als sie. Sie musste zu Susanne aufsehen, wie schon am Morgen. Und auch jetzt enthielt ihr Blick etwas Erschrockenes, aber auch Trotziges.

Bevor Susanne auch nur ansatzweise beginnen würde, die auf sie gerichteten Augen näher zu ergründen, sprach sie schnell weiter. Sie wollte sich keinesfalls von dem Anblick beirren lassen. »Aus arbeitsschutztechnischen Gründen ist das Musikhören in den Hallen verboten. Das sollten Sie wissen.« Sie wartete auf eine Entschuldigung oder Erklärung.

Doch anstatt irgendetwas in der Art abzugeben, zog die junge Frau es vor zu schweigen. Es machte den Eindruck, als wollte sie sich nicht zu der Angelegenheit äußern. Nur der zuvor undurchschaubare Ausdruck ihrer Augen hatte sich verändert. Jetzt war Susanne sich ganz sicher, dass ihr purer Trotz entgegenblickte.

Sie musterte Johanna Ditmar eingehender. »Wieso tragen Sie eigentlich keine Sicherheitsschuhe? Das ist ebenfalls Vorschrift.«

Nun kam Leben in ihr Gegenüber. Die Brust hob und senkte sich mehrmals, und die Wangen nahmen eine leichte rötliche Verfärbung an. Die Hände hatte Johanna zu Fäusten geballt. »Das mache ich doch sofort.« Unterdrückte Wut schwang in dem Satz mit. »Gleich nachdem ich die Vase abgestottert habe, kaufe ich mir ein Paar Sicherheitsschuhe. Oder noch besser, Sie erhöhen mir meinen Lohn, dann kann ich mir die Schuhe schon morgen leisten«, zischte es drohend. Die Augen schossen dabei Funken ab wie ein Vulkan, der glühende Lava spukte.

Hoppla. Für einen kurzen Moment war Susanne irritiert. Bei den Kopfhörern war jede Ermahnung an Frau Ditmar kommentarlos abgeprallt, aber auf die Sicherheitsschuhe reagierte sie reichlich übertrieben?

Mit kühlem Blick musterte sie die Frau. »Wieso den Lohn erhöhen? Die Schuhe werden Ihnen gestellt, wussten Sie das nicht?«

Johanna verschränkte die Arme und schaute sie herausfordernd an. »In der Theorie sollte es so sein. Aber in der Praxis sieht das ja wohl anders aus.«

Susannes Blick verfinsterte sich. Trotz allem Verständnis, aber was zu viel war, war zu viel. Sie war die Chefin und die junge Frau ihre Angestellte. Damit sollte ihr wohl ein gewisses Maß an Respekt entgegengebracht werden.

Für einen kurzen Moment wandte sie ihren Blick ab und sah sich um. Andere Angestellte waren auf die Szene aufmerksam geworden und verfolgten gespannt, was passieren würde. Wenn Susanne ihre Achtung nicht verlieren wollte, musste sie Johanna Ditmar hier und jetzt in die Schranken weisen. Normalerweise sprach sie nur ungern Abmahnungen vor Publikum aus, doch jetzt musste das sein.

Mit zusammengekniffenen Augen trat sie dicht an Johanna heran. Sofort stieg ihr ein angenehmer, süßlich-herber Duft in die Nase. Leise und eindringlich sagte sie: »Frau Ditmar, ich kann Ihnen nur raten, sich in Ihrem Ton mir gegenüber zu mäßigen, sonst läuft das ganze hier auf eine Abmahnung hinaus.«

Dann wich sie etwas zurück. Dieser Duft brachte sie völlig durcheinander. Wollte sie nicht eigentlich eine Abmahnung aussprechen? War das jetzt wirklich nur eine Warnung geworden? Wo sie Johanna Ditmar heute Morgen noch wegen einer Bagatelle hatte feuern wollen? Sobald es um diese Frau ging, schien Susannes berufliche Professionalität mit Abwesenheit zu glänzen. Und dabei gab es keinen vernünftigen Grund, sie bevorzugt zu behandeln. Unhöflich war sie, respektlos. Schöne Augen hatte sie, und dieser Duft . . .Reiß dich zusammen, das allein kann dich doch nicht schwachmachen!

Susanne atmete tief ein und sah auf die Uhr. Das hier dauerte jetzt schon viel zu lange. Die Investoren warteten, und mittlerweile schien niemand mehr in dieser Halle zu arbeiten. Außerdem wollte die Situation langsam ihrer Kontrolle entgleiten.

»Was ist also mit den Arbeitsschuhen?«, fragte sie daher mit möglichst neutralem Tonfall.

Johanna gab ihre Abwehrhaltung tatsächlich auf und vergrub ihre Hände tief in den Taschen. Sie schien nach Worten zu ringen, antwortete nicht sofort.

»Ich warte auf eine Erklärung.« Ungeduldig blickte Susanne auf sie herab.

Unsicher sah Johanna ihr kurz in die Augen, dann richtete sie den Blick schnell auf einen unbestimmten Punkt in der Halle. »Es stimmt«, begann sie zögernd, »es gibt ein gewisses finanzielles Kontingent, das von der Firmenleitung für den Kauf von Arbeitsschutzbekleidung gestellt wird.« Nervös knetete sie dabei ihre Hände. »Als nun letztes Jahr die Produktion ausgeweitet und mehr Mitarbeiter eingestellt worden sind, hat wohl niemand daran gedacht, die Zuweisungen für die Bekleidung zu erhöhen.«

Johanna Ditmar war ja tatsächlich für Überraschungen gut. Eine solch gewählte Formulierung hatte Susanne ihr gar nicht zugetraut. Offensichtlich war die Warnung angekommen.

»Kurz gesagt, für die Neuen hat das Budget nicht mehr ausgereicht.« Johanna hob den Kopf und sah Susanne fest in die Augen. »Wir müssen die Arbeitskleidung selbst kaufen, weil die Gelder nicht an die neue Mitarbeiterzahl angepasst worden sind«, fügte sie noch entschlossen hinzu.

Das musste Susanne erst einmal verdauen. Hatten alle in der Firmenleitung, sie eingeschlossen, bei den Gesprächen zur Kapazitätserweiterung geschlafen? Zudem hätte der zuständige Hallenleiter Alarm schlagen müssen. Mit dem musste sie also auch noch ein Hühnchen rupfen. »Wer ist hier eigentlich Hallenleiter, und wo steckt der die ganze Zeit?« Susanne schaute sich suchend um.

»Meier. Stefan Meier«, erwiderte Jo eine Spur zu voreilig, wie Susanne skeptisch bemerkte.

Doch das verdrängte sie gleich wieder. Sie musste der Sache mit den Geldern für den Arbeitsschutz unbedingt auf den Grund gehen. Allerdings änderte das nichts an der gegenwärtigen Situation. Frau Ditmar hatte ein Recht auf Arbeitsschutzbekleidung.

»Kaufen Sie sich alle nötigen Bekleidungsstücke für die Arbeit, und reichen Sie die Rechnung dann in der Buchhaltung ein. Ich werde dort Bescheid geben.«

Johanna öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie brachte kein Wort heraus. Aus ihren großen Augen sprach Erstaunen über Susannes Reaktion.

Dieser Punkt geht also doch an mich, dachte sie zufrieden. Sie hatte sich nicht von irgendwelchen Gefühlen ablenken lassen, sondern intuitiv mit der sanfteren Methode Führungsstärke gezeigt. Und es hatte funktioniert. Johanna Ditmar war nur eine Angestellte von vielen, es gab keinen Grund mehr, noch weiter über sie nachzudenken.

Sie ließ ihren Blick ostentativ durch die Halle schweifen um sicherzugehen, dass auch alle zuhören würden. »Es geht nicht darum, irgendwelche Vorschriften einzuhalten. Es geht um Ihre Sicherheit, Frau Ditmar«, sagte sie laut. Das ging schließlich alle etwas an. »Was passiert, wenn Ihnen ein Baugerüstteil auf den Fuß fällt? Oder Sie Warnungen von Kollegen nicht hören, weil Sie Kopfhörer aufhaben?«

Johannas nickte nur und schloss langsam ihren Mund wieder.

»Also besorgen Sie sich die Kleidung, und die Kopfhörer bleiben draußen.« Damit wandte sich Susanne ab und ging davon.

»Jo, was war das denn?«, platzte es aus Betti heraus. Ohne Johanna eine Verschnaufpause zu gönnen, fiel ihre Kollegin sofort über sie her.

»Nichts.« Jo hatte keine Lust auf diese nervenaufreibenden Gespräche.

»Aber sie kannte dich«, beharrte Betti. »Ich arbeite schon acht Jahre in der Firma, Frau Kostner bin ich währenddessen nicht einmal persönlich begegnet. Und . . .«, sie machte eine übertriebene Pause, »meinen Namen kennt die bestimmt nicht«, schob sie bissig hinterher. »Also, woher kennst du sie?« Wartend blockierte sie Jos Arbeitsabschnitt.

»Das geht dich gar nichts an.« Jo bemühte sich, Betti zur Seite zu schieben, doch die baute sich bei dem Versuch nur noch mehr vor ihr auf. Immer musste sie alles ganz genau wissen. Mit oberflächlichen Informationen ließ sie sich nur selten abspeisen.

»Natürlich geht uns das was an«, widersprach Betti und verschränkte die Arme. »Sie scheint dich ja zu mögen, oder was glaubst du, warum du dir ein solches Benehmen herausnehmen kannst?«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Einen von uns«, dabei zeigte sie auf alle umstehenden Kollegen, »hätte die an Ort und Stelle gefeuert.«

»Und woher weißt du das so genau?«, konnte Jo sich nicht verkneifen zu fragen. »Hast du nicht eben gesagt, dass du ihr noch nie persönlich begegnet wärst?«

»Ach was, das ist doch allgemein bekannt. Das weißt du genauso gut wie ich. Die Frau hat nichts für den einfachen Arbeiter übrig. Vor allem nicht, wenn der ihr Kontra bietet.« Betti gab ihre herausfordernde Körperhaltung auf. Jetzt war sie ganz in ihrem Element: Klatsch und Tratsch. »Vor ein paar Jahren hat sich ein Mitarbeiter immer mal wieder kleinere Mengen Lack für sein Gerüst zuhause abgefüllt. Das fällt bei den Mengen, die hier tagtäglich verbraucht werden, gar nicht ins Gewicht. Dennoch hat sie ihn ohne Abmahnung sofort gefeuert, als das rauskam. Ich sage dir, die sitzt auf ihrem Geld. Sie würde nie mir nichts, dir nichts für ein paar Arbeitssachen Geld lockermachen.« Betti hatte sich an das Band gelehnt. Sie genoss es offenkundig, an ihrer Chefin kein gutes Haar zu lassen.

In Jo regte sich Widerstand gegen solch ein Verhalten. Wenn Susanne Kostner auch kein sehr gefühlsbetonter Mensch zu sein schien, hatte sie diese Behandlung nicht verdient. Ihr gegenüber war sie vorhin sehr fair gewesen, als sie sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Hätte jemand anderes ihr Verhalten an den Tag gelegt, hätte sie sich höchstwahrscheinlich über die fehlende Erziehung aufgeregt.

Nun war sie es selbst gewesen, die die Grenzen des Anstandes über die Maßen strapaziert hatte. War das peinlich. Doch ihr hatte noch immer die Auseinandersetzung mit der Sekretärin in den Knochen gesteckt. Sie hatte sich einiges gefallen lassen müssen, weshalb sie beim Anblick von Susanne Kostner sofort rotgesehen hatte. Erst die eindringliche Warnung hatte sie wieder zu Verstand gebracht. Gerade noch rechtzeitig, wie sie fand.

»Schau dir unseren Sozialraum an«, fuhr Betti fort. »Da ist ewig nichts mehr dran gemacht worden. Für ihre Untergebenen hat die Frau nichts übrig. Hauptsache, sie hat es schön bequem und warm in ihrer Luxusvilla.«

Jo fiel es schwer, Bettis Beschuldigungen nichts entgegenzusetzen. Sie wusste, wenn sie das tat, würde sie ihre Kollegin heute nicht mehr loswerden. Also musste sie notgedrungen weiter zuhören, ab und zu über ihre vermeintlich logischen Schlussfolgerungen anerkennend nicken, und die Sache war ausgestanden.

»Also, woher kennt sie dich?« Betti kam zum Ausgangspunkt ihres Gespräches zurück.

Jo seufzte innerlich. Ohne eine Erklärung würde ihre Arbeitskollegin wohl nicht so schnell lockerlassen. Doch was sollte sie erzählen? Sie wusste am allerwenigsten, warum sich Susanne Kostner ihr gegenüber so anders verhielt, als es der Flurfunk zu berichten wusste.

»Okay«, lenkte sie ein. »Ich habe sie heute Morgen kurz kennengelernt, als ich das Paket vom Meier rübergebracht habe. Ich habe mir gerade den Empfang bei der Sekretärin quittieren lassen, als sie dazukam. Da muss sie meinen Namen mitbekommen haben.«

Mit angehaltenem Atem wartete Jo ab. Würde Betti sich mit einer so profanen und zugegebenermaßen erfundenen Erklärung abspeisen lassen? Sie würde sich allerdings hüten, ihr nur ansatzweise von den tatsächlichen Vorkommnissen zu erzählen. Das Vergnügen wollte sie ihr nicht bereiten. Außerdem, wenn es Betti wusste, hätten es bis morgen alle anderen Arbeiterinnen und Arbeiter auch erfahren. Darauf konnte sie sehr gut verzichten.

»Was, mehr steckt nicht dahinter? Da machst du so ein Geheimnis draus?« Enttäuscht machte Betti endlich Jos Bandabschnitt frei.

Da war sie noch einmal heil aus der Sache rausgekommen. Jo wusste natürlich, dass sie eine spannende Geschichte erwartet hatte, um für eine Weile dem allzu monotonen Arbeitsalltag entfliehen zu können. Doch sie hatte selten und heute erst recht keine Lust auf den Austausch von Klatsch und Tratsch.

3

Susanne hielt inne und nahm einen tiefen Atemzug von der kalten, klaren Luft. Es war bereits nach halb acht, zu spät um noch einmal nach Hause zu fahren und sich fürs Dinner umzuziehen. Sie wusste, wenn sie zu spät kam, gab sie ihrer Tante nur neue Munition für eine weitere Debatte über ihre Prioritäten im Leben.

Sie schloss den letzten Knopf am Kragen ihres Mantels und setzte sich langsam Richtung Auto in Bewegung. Die gefrorenen Schneeberge an den Rändern des schwach beleuchteten Parkplatzes glitzernden im Laternenlicht. So spät am Abend lag der große Parkplatz bereits verlassen. Mit Ausnahme ihrer klackernden Schritte und ihres Atems war nichts zu hören und zu sehen.

Als sie bereits ein Stück des Weges zurückgelegt hatte, hörte sie in der Ferne plötzlich eine Autotür geräuschvoll zuschlagen. Etwas verwundert schaute sie sich um und sah eine Frau neben einem Auto nicht unweit von ihrem stehen. Die Frau schien auf sie zu warten, zumindest blickte sie ihr entgegen, ohne sich selbst in Bewegung zu setzten.

Susanne verlangsamte ihre Schritte und zögerte kurz. Wer mochte das sein, um diese Uhrzeit? Für gewöhnlich war sie die Letzte. Nur auf den Hallen zugehörigen Parkplätzen war um diese Zeit manchmal noch Betrieb.

Sie umfasste fest den Griff ihrer Aktentasche, straffte die Schultern und ging ruhig weiter. Es würde sich gleich herausstellen, wer da auf sie wartete.

Je länger sie die immer deutlicher werdende Gestalt betrachtete, desto mehr beschlich sie eine Vorahnung. Sie war ihr nicht wirklich vertraut, aber auch nicht gänzlich unbekannt.

Johanna Ditmar? Susanne glaubte, dass ihre müden Augen mit ihr einen Scherz treiben wollten und war deshalb versucht, sich mit der Hand darüberzufahren. Ungläubig blinzelnd schaute sie noch einmal in die Richtung. Tatsächlich. Frau Ditmar stand auf dem Parkplatz und wartete auf sie. Daran gab es auf dieser kurzen Distanz keinen Zweifel mehr. Was konnte die Frau nach Feierabend so Dringendes auf dem Herzen haben, dass sie hier draußen in der Kälte auf sie wartete? Eine Entschuldigung für ihr Verhalten würde es wohl kaum sein, vermutete Susanne.

Innerlich wappnete sie sich für das bevorstehende Aufeinandertreffen. Es hieß zwar, aller guten Dinge sind drei, allerdings war sie sich noch nicht ganz im Klaren darüber, inwieweit es sich bei den zufälligen Treffen mit ihrer Angestellten tatsächlich um etwas Gutes handelte.

»Hallo, Frau Kostner«, begrüßte Jo sie verhalten, fast schüchtern.

»Guten Abend, Frau Ditmar. Warten Sie etwa auf mich?« Interessiert musterte Susanne sie.

»Nein . . . also . . . äh, ja . . . also nicht direkt«, stotterte Jo. Ein flehender Blick traf Susanne.

»War das jetzt ein Ja oder Nein?«, fragte sie irritiert, aber auch amüsiert. Ihre Augen ruhten dabei geduldig auf Jo. Jetzt war sie doch neugierig geworden, was ihre Angestellte auf dem Herzen hatte, dass sie dermaßen ins Stocken geriet. Bisher hatte sie Johanna eher wortgewandt und energisch kennengelernt. Die Johanna, die nun vor ihr stand, mit Händen in den Taschen und frierend, war das ganze Gegenteil.

Jo schluckte. »Mein Auto springt nicht an, und der Akku von meinem Handy ist auch leer, und da dachte ich . . . Also, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht Starthilfe geben könnten. Es sind ja nicht mehr viele da«, sie schluckte nervös. »Genau genommen nur noch wir beide«, murmelte sie in ihren dicken Schal.

Das Zittern in der Stimme war für Susanne nicht zu überhören gewesen. Entweder war die junge Frau mit der Situation völlig überfordert, oder sie wartete bereits eine Ewigkeit auf Hilfe.

Susanne wollte ihr helfen, doch wusste sie nicht so recht, wie sie das anstellen konnte. »Haben Sie denn ein Starterkabel dabei?«, fragte sie daher vorsichtig.

»Nein.« Jos Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Ich habe kein Kabel. Sie wohl auch nicht, wenn Sie mich danach fragen.« Jegliche Spannung wich aus ihrem Körper.

Susanne nickte. »Sie vermuten richtig.« Sie blickte Jo kurz nachdenklich an. »Hm, da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.« Bedauernd zuckte sie mit den Schultern.

»Da kann man nichts machen.« Mutlos schaute Jo zur Straße außerhalb des Firmengeländes.

Susanne überlegte, ob sie die junge Frau nach Hause fahren sollte. Sie würde eh schon zu spät ins Restaurant kommen. Sie weiter allein und frierend auf dem Parkplatz in der Kälte stehen zu lassen, nur um heute noch auf einen Abschleppdienst zu warten, konnte sie jedenfalls nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.

In Gedanken setzte Susanne automatisch ihren Weg zum Auto fort und bemerkte dabei nicht, dass Jo ihr nicht folgte.

Als sie die Fahrertür öffnete, blickte sie sich verwundert nach um. Jo stand zitternd noch am gleichen Fleck. »Wollen Sie da festfrieren?«, rief sie.

»Wie bitte?« Ein erstaunter Blick traf Susanne.

»Kommen Sie, ich fahr Sie nach Hause. Ihr Auto muss wohl die Nacht hier verbringen, aber Sie nicht.« Susanne lächelte Jo aufmunternd zu.

Erleichtert atmete Jo aus. Sie schnappte sich ihre Tasche und beeilte sich, zu Susanne zu gelangen. »Vielen Dank«, stieß sie freudig aus und rutschte auf den Beifahrersitz.

Sofort umwehte Susanne wieder der süßlich-herbe Duft, den sie bereits am Nachmittag wahrgenommen hatte. Ihr Puls beschleunigte sich schlagartig. »Wo kann ich Sie denn hinbringen?«, fragte sie, während sie den Wagen ausparkte und auf die Straße lenkte.

Aus Jos Gesicht wich augenblicklich jede Freude. Betreten wandte sie den Blick nach draußen. Die Hände kneteten dabei die Mütze in ihren Händen, als wollte sie einen Teig mürbemachen.

Susanne warf von der Seite einen verstohlenen Blick auf die junge Frau. Wie verletzlich sie auf einmal wirkt. Sie hatte richtig Mitleid mit ihr. Sie sieht süß aus, wie sie dasitzt.

Beim letzten Gedanken erschrak Susanne über sich selbst. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich weiter. Wie konnte sie nur so etwas über eine Angestellte denken? Wo sie sich immer rühmte, in allen Situationen die berufliche Distanz zu wahren. Das musste augenblicklich aufhören. Johanna Ditmar war ihre Untergebene, nichts anderes.

Jo räusperte sich. »Am Neustädter Ring.« Die Worte hatten nach einer Ewigkeit leise ihren Mund verlassen.

Susanne stutzte. Obwohl es klar war, dass Jo nicht im Villenviertel wohnte, so hatte sie doch nicht mit dieser Adresse gerechnet. Darum war sie so nervös gewesen. Ihr war es schlichtweg peinlich, wo sie lebte. Das erklärte dann wohl auch ihr schlechtes Benehmen, wenngleich jetzt davon nichts mehr zu merken war, wie Susanne verwundert auffiel.

Um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, beschloss Susanne, es nicht weiter zu kommentieren.

Jo honorierte es dankbar, wie Susanne nach einem weiteren Seitenblick feststellte. Sie wirkte bereits etwas entspannter und schaute sich die Gegend an, während Susanne den Mercedes durch den abendlichen Verkehr lenkte.

Nach einer Weile empfand sie die eingetretene Stille zwischen ihnen erdrückend. Aber eigentlich konnte es ihr nur recht sein. Worüber sollten sie beide sich auch unterhalten, als über die heutigen Ereignisse? Und darüber war es besser zu schweigen.

Immer wieder wanderte jedoch ihr Blick verstohlen nach rechts, wenn es der Verkehr zuließ. Mittlerweile hatte es wieder angefangen zu scheinen. Warum war sie nur so nervös? Sie hatte doch keinen Grund dazu. Sie fuhr lediglich eine Mitarbeiterin nach Hause. Natürlich war das noch nie vorgekommen, aber es hatte sie ja auch noch nie jemand darum gebeten.

Moment mal, stutzte sie. Sie hat mich nicht darum gebeten, ich habe es ihr auch nicht wirklich angeboten, sondern sie gleich vor vollendete Tatsachen gestellt. Susanne zwang sich zur Ruhe. Sie hatte keine Alternative gehabt, außer die Frau festfrieren zu lassen. Kein Grund also, die Fragwürdigkeit ihres Handelns zu hinterfragen oder gar deswegen nervös zu werden.

Nachdem sie eine Weile still nebeneinandergesessen hatten, unterbrach Susanne das belastende Schweigen. »Wie kommen Sie eigentlich morgen zur Arbeit?«, fragte sie. »Soviel ich weiß, streikt derzeit der öffentliche Nahverkehr.«

Jo verzog schmerzlich das Gesicht.

Darüber hat sie wohl noch gar nicht nachgedacht.

»Das war der Grund, warum ich heute Morgen mein Auto nehmen musste«, murrte Jo.

Da hatte Susanne wohl den richtigen Nerv getroffen. »Sie mögen wohl nicht gern Autofahren?«

»Doch, schon. Aber im Winter lasse ich es lieber stehen«, lautete die knappe Antwort.

»Die Streiks sollen sich ja über die gesamte Woche erstrecken«, bemühte sich Susanne, das Gespräch am Laufen zu halten.

»Ich weiß«, nuschelte Jo.

Zu viele Worte verlor diese Johanna wohl nicht gern. Die Unterhaltung gestaltete sich zäher als gedacht.

Vor einem baufälligen Plattenbau stoppte Susanne den schnittigen Mercedes. Den Motor ließ sie laufen.

Schnell griff Jo zu ihrer Tasche im Fußraum und hatte gleich danach auch schon den Türgriff in der Hand. »Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben.«

»Keine Ursache, und denken Sie an Ihre Arbeitsschutzbekleidung.«

Jos Stirn legte sich in Falten. »Keine Sorge, das steht ganz oben auf meiner Prioritätenliste.« Sie konnte nur mühsam ihren Ärger unterdrücken.

Da war es wieder, das Temperament. Innerlich schüttelte Susanne den Kopf über diese Frau. Sie ließ sich jedoch nicht beirren. Zu ihrer eigenen Beruhigung war sie jetzt wieder ganz Chefin. »Gut. Wie gesagt, das ist nur zu Ihrem eigenen Schutz.«

Sie konnte das Missfallen über die erneute Belehrung deutlich in Jos Gesicht ablesen, doch unterblieben diesmal heftige Widerworte.

»Haben sie sich schon überlegt, wie Sie morgen zur Arbeit kommen?«

Jo biss sich kurz auf die Unterlippe. Als sie bemerkte, dass sie von Susanne dabei beobachtet wurde, ging ein Ruck durch sie, als ob ein Schalter umgelegt würde. »Da wird mir schon was einfallen«, winkte sie lässig ab. »Ich frage einfach einen Kollegen, ob der mich mitnehmen kann.«

Doch ihre Augen hatten eine andere Antwort gegeben. Susanne wusste nicht, was sie auf diese Aussage hin erwidern sollte. Sie musste die Antwort akzeptieren, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es gelogen war. Am Ende warf ihr Johanna sonst noch Einmischung in ihre privaten Angelegenheiten vor. Den Vorwurf wollte sie sich ersparen. Wer weiß, was dann in den nächsten Tagen wieder in der Firma für ein Gerücht die Kreise zog. Nein, da ließ sie es lieber dabei bewenden. Sollte Johanna Ditmar selbst sehen, wie sie morgen früh zur Arbeit kam. Das war besser so.

»Na gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.«

Kaum war Jo ausgestiegen und hatte die Tür des Mercedes zugeschlagen, rauschte Susanne auch schon davon.

4

»Da bist du ja endlich. Heute Morgen hattest du mir versichert, pünktlich zu sein«, tadelte Tante Hedwig, noch während sie Susanne ein Begrüßungsküsschen auf die Wange drückte.

»Ach, Tantchen«, seufzte Susanne. »Manchmal klappt es eben nicht so, wie man will, und es kommt einem doch noch etwas dazwischen.«

»Ja, ja, das sagst du immer. Mich beschleicht trotzdem das Gefühl, dass das nur für mich gilt. Bei deinen Kunden glänzt du bestimmt immer mit Pünktlichkeit. Aber jetzt bist du ja da.« Sie setzte sich wieder. »Lass uns etwas bestellen. Ich verhungere nämlich gleich.«

Susanne entledigte sich schnell ihres Mantels, den der Kellner ihr zuvorkommend abnahm, und nahm ebenfalls an dem eingedeckten Tisch Platz.

Der Kellner goss ihnen beiden jeweils ein Glas aus der bereitstehenden Karaffe Wasser ein und zog sich dann zurück.

Während Hedwig durch ihre Lesebrille die Speisen auf der Karte zu entziffern versuchte, fragte sie wie beiläufig: »Dann erzähl doch mal, wer dich zu so später Stunde noch aufgehalten hat.«

»Woher weißt du, dass mich jemand . . .« Schelmisch grinsend brach Susanne ab. »Hast du mich wieder aufs Glatteis geführt.«

»Das war nicht besonders schwer«, bemerkte Hedwig nüchtern. »Was hätte dich sonst aufhalten sollen? Deine Bilanzen?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »So spannend sind die auch nicht, hoffe ich zumindest.« Die letzten Worte hatte sie mehr an sich selbst gerichtet. »Sonst, mein Mädchen, sehe ich schwarz für deine Zukunft.«

Der Startschuss war gefallen. Keine zwei Minuten hatte sie Susanne Zeit gelassen, um sie erneut auf ihren Lebensstil hinzuweisen, der ihrer Meinung nach der falsche war.

Bedachtsam schlug Hedwig die Karte zusammen und legte sie zur Seite. »Also, was gab es zu so später Stunde noch Dringendes zu erledigen?« Ihre volle Aufmerksamkeit war auf ihre Nichte gerichtet, wie Susanne zu ihrem Bedauern feststellen musste.

Das konnte ja heiter werden. Wo ihre Tante fast so etwas wie Gedankenlesen konnte. Noch nie war Susanne es gelungen, ihr etwas zu verheimlichen. Eigentlich war sie mit der Auswahl der Speisen noch nicht fertig, dennoch legte Susanne die Karte beiseite. Sie benötigte ihre volle Aufmerksamkeit für das kommende Gespräch. Ihre Tante schien es jedenfalls nicht mehr eilig zu haben mit der Bestellung.

»Kannst du dich noch an unser Gespräch heute Morgen erinnern? An die junge Frau?« Selbstvergessen fuhr Susanne über den Fuß ihres Wasserglases. Irrte sie sich, oder funkelte das Glas genauso intensiv wie Johannas Augen beim Abschied vorhin? »Ihr Name ist Johanna Ditmar«, rutschten ihr die Worte unbemerkt aus dem Mund. Noch immer starrte sie verträumt auf das Glas.

Hedwig begann wissend zu schmunzeln. »Na, sieh einer an.« Sie nahm ihre Brille ab und verstaute sie im Etui.

Susanne erschrak. Der Ausruf hatte ihren Gedanken jäh ein Ende gesetzt und sie in die Wirklichkeit zurückgeholt. »Was hast du gesagt?«

Hedwig machte sich keine Mühe, ihr allzu offensichtliches Grinsen zu verbergen. »Ich dachte, du hättest dich nach unserem Telefonat beruhigt und die Frau gleich wieder vergessen.«

»Hatte ich auch. Aber warte, bis ich dir erzählt habe, was sie sich heute noch geleistet hat.«

Den Kopf nun in die gefalteten Hände gestützt, hörte Hedwig aufmerksam zu.

Susanne erzählte ihr von dem Vorfall in der Halle und der ungewöhnlichen Begegnung auf dem Parkplatz.

»Aha«, kommentierte Hedwig ihre Ausführungen nüchtern.

Irritiert blickte Susanne auf. »Was meinst du mit ›aha‹?«

»Nichts weiter.« Hedwig musterte sie lächelnd.

Susanne konnte förmlich sehen, wie es im Kopf ihrer Tante arbeitete. »Sag schon, irgendetwas geht dir doch durch den Kopf. Was willst du so unbedingt loswerden?«

Milde lächelnd griff sie über den Tisch und nahm Susannes Hand.

Susannes erster Impuls war es, ihre Hand wegzuziehen. Doch entschied sie sich, ihrer Tante den Gefallen zu tun und es dabei zu belassen.

»Nun ja, wenn du mich schon fragst . . .«

Susanne hatte gar keine andere Wahl gehabt. Ihre Tante wartete doch nur darauf, ihr ihre Gedanken mitzuteilen.

»Ich würde sagen, das ist ein Zeichen«, kommentierte Hedwig die Ausführungen mit einem Zwinkern.

»Ein Zeichen?«, echote Susanne. Sie warf ihrer Tante einen skeptischen Blick zu.

Diese beugte sich ein Stück zu Susanne vor, als ob sie sichergehen wollte, dass nicht jeder um sie herum mitbekam, was sie zu besprechen hatten. »Du triffst dreimal an einem Tag die gleiche Frau. Und wir sprechen hier nicht von flüchtigen Begegnungen, sondern von sehr einprägsamen Aufeinandertreffen.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Nun ja, das sollte dir zu denken geben.«

»Sollte es das?« Konsterniert saß Susanne da. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit Zeichen und Orakeln. Jetzt war Hedwig tatsächlich übergeschnappt.

Sie hatte heute in der Tat zufällig dreimal mit der gleichen Mitarbeiterin zu tun gehabt, von der sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Aber deswegen gleich etwas in diese Treffen hineininterpretieren? Ihre Tante wollte sie wohl unbedingt an die Frau bringen.