Lieber alter Freund - Christine Brückner - E-Book

Lieber alter Freund E-Book

Christine Brückner

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Beschreibung

"Was hat sich an Erinnerungen angesammelt, ich bin erfüllt von Dankbarkeit. Merkst du das? Wie sich durch einen Brief Nähe herstellen läßt? Ich merke es beim Schreiben, Du beim Lesen, beim Wiederlesen." In Christine Brückners Briefesammlung begegnet man Frauen und Männern, deren Lebenswege die Autorin über viele Jahre begleitet hat: dem ehemaligen Lehrer, der Freundin in Polen, der Cousine in Kalifornien, einem viel zu früh gestorbenen jungen Freund, aber auch Lesern, die zu Freunden wurden. "Die Briefe zeugen von der großen Liebe der Schriftstellerin zum Wort, zur Wahrhaftigkeit und zur Kommunikation. Ihre Zeilen sollen Kraft geben und Lebensfreude vermitteln - und das tun sie." - Hessische/Niedersächsische Allgemeine

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Seitenzahl: 171

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Inhaltsverzeichnis

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

INHALT

ES SOLLTE EIN SOMMERBRIEF WERDEN …

Liebe Namensschwester Krystyna!

DER SONNTAGSFREUND

Es ist Sonntagmorgen, lieber Till.

DAS LUSTPRINZIP

Liebe Nanna mit den drei »N«!

HILFS-SÄTZE

In Ihrem letzten Brief,

TU, WAS DU WILLST!

Hi, dear cousin!

DAS HERZ BEKOMMT NARBEN

Ihr lieben alten Schweden.

JEDER SATZ EIN AUSRUF!

Lieber Freund aus Dramburg –

AUS TRÄUMEN PLÄNE MACHEN

Danke, liebe Leserin!

DEN TAG VOR DEM ABEND LOBEN

Lieber Kühner!

JEDER ATEMZUG EIN SEUFZER

Ach, Emma! Liebe Emma!

MÜSSEN JEDEN TAG ESSEN

Lieber alter Freund!

SINGEN AM HOHENTWIEL

Liebe und geneigte Leserin!

DIE FRAGEN BLEIBEN

LEBENSLANG EINE OSTPREUSSIN

Theuerste!

»ES KOMMT NOCH SCHÖNER, CHRIS!«

Dear Sigrid,

DAS MÖGLICHE MÖGLICH MACHEN

Liebe Hallenser Freunde!

DAS LEBEN, DAS ICH SCHREIBE

Pjotr, alter Taiga-Bauer!

Von Christine Brückner sind bei Refinery erschienen:

Die AutorinChristine Brückner (1921 - 1996) zählt zu den renommiertesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie verfasste Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Besonders mit der Poenichen-Trilogie wurde sie einem großen Publikum bekannt.  Mehr über Christine Brückner erfahren Sie über die Stiftung Brückner-Kühner unter http://www.brueckner-kuehner.de/.

Das Buch

»Was hat sich an Erinnerungen angesammelt, ich bin erfüllt von Dankbarkeit. Merkst du das? Wie sich durch einen Brief Nähe herstellen läßt? Ich merke es beim Schreiben, Du beim Lesen, beim Wiederlesen.«

In Christine Brückners Briefesammlung begegnet man Frauen und Männern, deren Lebenswege die Autorin über viele Kahre begleitet hat: dem ehemaligen Lehrer, der Freundin in Polen, der Cousine in Kalifornien, einem viel zu früh gestorbenen jungen Freund, aber auch Lesern, die zu Freunden wurden.

»Die Briefe zeugen von der großen Liebe der Schriftstellerin zum Wort, zur Wahrhaftigkeit und zur Kommunikation. Ihre Zeilen sollen Kraft geben und Lebensfreude vermitteln - und das tun sie.« - Hessische/Niedersächsische Allgemeine

Christine Brückner

Lieber alter Freund

Briefe

Refinery by Ullsteinwww.ullteinbucherlage.de/verlage/refinery

Neuausgabe bei Refinery Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 1992, 1995, 1999 Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin  ISBN 978-3-96048-088-4  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

INHALT

Es sollte ein Sommerbrief werden …

An die Namensschwester Krystyna

Der Sonntagsfreund

An einen Maler, der in Köln lebt und aus Böhmen stammt

Das Lustprinzip

An Nanna mit den drei »N«

Hilfs-Sätze

An meinen Lehrer, Chef und Freund R. H.

Tu, was Du willst!

An eine Cousine in Kalifornien

Das Herz bekommt Narben

An die schwedischen Freunde

Jeder Satz ein Ausruf!

An den Freund aus Dramburg/Drawsko

Aus Träumen Pläne machen

An eine Leserin aus der bayerischen Provinz

Den Tag vor dem Abend loben

An meinen Mann

Jeder Atemzug ein Seufzer

An eine Freundin im Pflegeheim

Müssen jeden Tag essen

An einen uralten Freund in Genf

Singen am Hohentwiel

An eine liebe und geneigte Leserin

Die Fragen bleiben

An einen zu früh gestorbenen Freund

Lebenslang eine Ostpreußin

An Dr. Anni P.

»Es kommt noch schöner, Chris!«

An eine Professorin in Massachusetts

Das Mögliche möglich machen

An meine neuen Freunde in Halle

Das Leben, das ich schreibe

An Peter Jokostra, den Kollegen

ES SOLLTE EIN SOMMERBRIEF WERDEN …

Liebe Namensschwester Krystyna!

Heute morgen habe ich, wie immer, in der Zeitung den Wetterbericht gelesen: »Warschau bewölkt, 17 Grad«. Dabei ist es der 21. August! Während ich die erste Tasse Tee trinke, schicke ich bereits rasche erste Gedanken an die Freunde; meist weiß ich, wo sie sich zur Zeit aufhalten. Viele machen jetzt Ferien, sind in der Türkei, sind in Spanien, neuerdings sind viele auf Rügen. Von Dir weiß ich, daß Du in Warschau bleiben mußt. Aber wenn ich »heiter« lese und »25 Grad«, dann stelle ich mir vor, daß Dein Rollstuhl auf der Terrasse steht und Du in den blühenden duftenden Garten blickst.

Als wir uns noch wenig kannten, hast Du mir ein Foto dieses schönen ländlichen Hauses geschickt, das umsponnen ist von wildem Wein und blühenden Stockrosen. Romantik und Atmosphäre, aber Bequemlichkeit, die Du so nötig brauchtest, scheint es nicht zu haben. Du erwähnst das nicht. Du hast in Jahrzehnten gelernt, mit den Kräften, die Dir geblieben sind, auszukommen, und dabei den Verstand und das Gedächtnis geschult. Du erteilst Unterricht in mehreren Sprachen und: Du pflegst Freundschaften, die, wie in meinem Falle, Brieffreundschaften sind. Von Brief zu Brief sind wir uns nähergekommen; Freundschaft ist entstanden, sogar etwas wie Zugehörigkeit: die gleiche Generation, das gleiche Geschlecht und der inständige Wunsch, einander gute Nachbarn zu sein, eine Polin und eine Deutsche. Manchmal denke ich, wir wären Schwestern, Wahlschwestern, wobei ich die glücklichere bin. Das wissen wir beide. Im Anfang hast Du oft geschrieben: Besuchen Sie mich, Christine, mit dem Flugzeug ist es nicht weit! Aber ich vermeide Flüge, ich kann und will meinen Mann nicht verlassen, auch nicht für wenige Tage, daß weißt Du inzwischen und respektierst es. Hin und wieder tauschen wir Fotos. Deinen Mann kenne ich vom Bildschirm, er hat einige meiner »Ungehaltenen Reden« kommentiert, die Du ins Polnische übersetzt hast und die eine Schauspielerin aus Warschau vorzüglich gespielt hat. Es war wichtig für unsere Freundschaft, daß sie auch in Zusammenarbeit bestand, aber die Rezepte für Rosenkonfitüre, die Du mir schicktest, die waren mir auch wichtig. Es ist eine Frauenfreundschaft!

Unsere Briefe sind lange unterwegs, aber nicht mehr so lange wie früher; sie werden nicht mehr zensiert. Den ersten Brief habe ich an Deinen Mann geschrieben, der ein politischer Häftling war, ein »writer in prison«. Es ist viel geschehen seither! Du bist ein politischer Mensch, in Polen scheint das fast selbstverständlich zu sein. Ihr seid auf andere Weise Polen, als wir Deutsche sind. Du hast das Datum gelesen? Der 21. August 1991 – Putsch in der UdSSR, Gorbatschow gestürzt. Panzer in Moskau. Ich reagiere nicht nur seelisch. Herzbeschwerden, Beklemmungen. Sprich mit Krystyna, dachte ich. Sie ist besonnener, sie gewinnt rascher einen Überblick, dabei seid Ihr in Polen soviel näher an den Geschehnissen. Weglaufen kannst Du nicht. Nach Osten hin habt Ihr die Russen als Nachbarn, vor denen Ihr Euch fürchten mußtet, im Westen die nun vereinigten alten und neuen deutschen Bundesländer, vor denen Ihr Euch nicht mehr fürchten sollt, aber vergessen und vergeben ist das Unheil, das wir über Euer Land gebracht haben, ja nicht. Und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten ist ja auch nicht vergessen und nicht verschmerzt. Alles steigt nun wieder auf: 1953 Panzer in Berlin! 1956 Panzer in Budapest! 1968 Panzer in Prag!

Wie verschwindend klein werden andere Sorgen! Wochenlang wurde hier um eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gefeilscht. Müßten wir Deutschen aus den reichen Bundesländern nicht mit viel größerer Hilfsbereitschaft reagieren? Jeder einzelne! Sei es in Thüringen oder Sachsen, in Rumänien, in Ungarn, im Baltikum. In Polen! Wir müßten doch Zeichen setzen, wozu die Bewohner einer freien Welt fähig sind. Wie oft habe ich schon über die Erziehung des Menschengeschlechtes geschrieben, in meinen Büchern, in meinen Briefen. Wir müssen lernen, freiwillig zu geben, bevor man es uns gesetzlich befiehlt. Was für eine Mißachtung des Bürgers! Warum traut man uns nichts zu? Dagegen wehre ich mich.

Ich wollte Dir einen Sommerbrief schreiben, Krystyna. Wir hatten schöne und lange Sommerwochen. Wir machten kleine Wanderungen durch Wiesentäler, Picknicks am Waldrand, wir gingen zum Baden, hatten Abendbesuch im Gärtchen. Unsere Göttin Hebe (sie stammt aus Rom, besteht aus Gips und Beton, aber wir lieben sie, und das verleiht ihr antike Schönheit) trägt abends eine Kerze auf der ausgestreckten Hand: ein Lichtblick in der dunklen Sommernacht.

Der Schrecken, der aus der UdSSR kam, hat den Sommer vertrieben, es ist trübe, kühl: beklemmend.

Wer wird Dir die Seiten meines Briefes umblättern? Hast Du freundliche Hilfe? Wem diktierst Du die Briefe? Kommt das Enkelkindchen manchmal zu Besuch? Ist es schon groß genug, daß Du ihm Geschichten erzählen kannst? Liedchen singen? Singst Du? Ich kenne ein einziges polnisches Kinderlied, vom Bären, den man nicht wecken darf. In meinem letzten Brief habe ich geschrieben, daß ich bereit sei, Dich für Wochen zu vertreten, damit Du Ferien machen könntest und Dinge tun, die Du seit Jahrzehnten nicht mehr tun kannst. Warum geht das nicht? Jeder Arzt, jeder Pfleger bekommt Ferien und freie Tage, nur die Kranken und Schwerkranken und Behinderten nicht. Es heißt, daß man kühler wird im Alter, weniger empfindsam, gleichgültiger gegenüber der Welt und gegenüber anderen Menschen. Bei mir ist das nicht der Fall. Bei Dir auch nicht! Wo bleibt mein Optimismus? Morgen will ich an einer Kundgebung vorm Rathaus teilnehmen. Es darf nicht nur bei Worten bleiben.

Du hast das kleine Gerät, das die Mücken vertreiben soll, bekommen? Hilft es? Ich kann Falter und Stechmükken mit einer Handbewegung verscheuchen. Du kannst es nicht.

Einige Deiner Briefe habe ich in mein neues Buch »Die Stunde des Rebhuhns« aufgenommen. Krystyna aus Warszawa. Sei umarmt! Sei behütet! »Que le bon Dieu fasse le reste« – das schreibe ich manchmal unter meine Briefe. Das meiste, nicht nur den Rest, müssen wir Gott überlassen. Laß mich Deine Freundin bleiben!

PS: Noch liegt der Brief auf dem Schreibtisch. Über dem Kommentar der Zeitung steht: »Der Kommunismus ist besiegt«.

Wir lassen uns zu rasch bange machen. Wie erleichtert sind wir nun alle. Gott sei Dank!

DER SONNTAGSFREUND

Es ist Sonntagmorgen, lieber Till.

Eben haben Sie angerufen, und nun schreibe ich Ihnen trotzdem noch einen Brief. Wir nennen Sie den »Sonntagsfreund«, weil Sie in schöner Regelmäßigkeit am Sonntag anrufen. In unserer besten und ruhigsten Arbeitszeit! Ein einziges Mal haben wir versucht, dieses lange Telefongespräch auf den Nachmittag zu verlegen, aber damit sind wir bei Ihnen nicht durchgekommen. Sie rufen – wir antworten. Wir respektieren Ihren Gesprächswunsch. Das eine Mal spricht mein Mann mit Ihnen, das andere Mal ich. Was schreibe ich da! Sie sprechen mit uns! Wir hören Ihnen zu, stellen kurze Zwischenfragen, und dann erzählen Sie weiter.

Heute kam Ihr Anruf aus der Klinik. Eine Augenoperation. Die Augen eines Malers, deren Sehkraft nicht mehr zum Kolorieren der kleinen Radierungen ausreichte. Grauer Star. »Ich sah immer nur Nasen und Augen«, berichteten Sie. Man hatte Ihnen einen Karton über den Kopf gestülpt, um das Sehfeld zu begrenzen. »Es beugten sich Engel über mich«, sagten Sie, »und als die Stimme des Professors erklang, da kam sie sehr von oben!«

Sie sind jünger als wir, wie viele Jahre, das weiß ich nicht, aber auch Sie haben noch am Krieg teilgenommen, da wird der Altersunterschied nicht groß sein. Vor einiger Zeit haben Sie gesagt, daß Sie nun ein Rentner seien, eine Rente bekämen und fortan nur noch tun würden, worauf Sie Lust hätten. Mir scheint, daß Sie immer noch große Lust daran haben, Glasfenster für Kirchen im Rheinland zu entwerfen!

Sie rufen gut vorbereitet hier an, Sie haben eine Geschichte parat, von der Sie wissen, daß sie mich erfreut. Heute haben Sie mir von dem Hornisten erzählt, der beinahe Ihr Freund sei. »Der hat unterm Fenster der Klinik zwei Choräle geblasen!« – »Wie schön!« sagte ich, und Sie sagten: »Das galt nicht mir, das galt seiner Frau, sie hat einen Gehirntumor, aber nicht gutartig, sie liegt auch hier im Krankenhaus, mir hat er auch einen Besuch abgestattet. Wenn ich erst wieder sehen kann, blicke ich auf den Turm von St. Gereon, und dahinter fließt der Rhein, und noch ein Stück weiter liegt Holweide.« Dort sind Sie zu Hause.

Ihre »Kleine Allee« gehört zu meinen Lieblingsbildern, eine kolorierte Radierung. Seit Jahrzehnten schicken Sie den Freunden zum Weihnachtsfest ein Weihnachtsbild. Sie beschränken sich nicht auf den überlieferten Esel, den wohlbekannten Ochsen, mal findet sich ein Kätzchen an der Krippe ein, mal reiten die Heiligen Drei Könige auf einem weißen Elefanten gen Bethlehem; Joseph unter den prallen Trauben eines Weinstocks, die Ziehharmonika spielend für Maria und das Jesuskind. Es sind fröhliche Weihnachtsbilder. Kleine sorgsame Radierungen, handkoloriert eine jede. Manchmal verwenden Sie viel Gold, manchmal wenig. Waren es dann goldene oder magere Jahre?

Nichts ist lebensgroß in Ihrer Kunst. So kommt es mir vor. Übergroß die Glasfenster, klein wie Miniaturen Ihre Radierungen. Sie verändern die Welt nach Gutdünken, legen eigene Maßstäbe an. Sie leben anders als alle anderen Menschen, die ich kenne. Mit der Welt sind Sie nur durch den Rundfunk verbunden, ein altes Gerät, von ihm beziehen Sie Ihre Kenntnisse. Am Sonntagmorgen einige Telefonate. Das Haus verlassen Sie nur, um in den verwilderten Garten zu gehen; selten nur holt Sie jemand mit dem Auto ab, wenn ein Projekt an Ort und Stelle besprochen werden muß. Immer wieder bin ich überrascht, daß Sie so gar nicht welt-fern wirken. Sie kommen mit wenig Zutaten aus, umgeben sich mit Heiligen und mit Engeln. Ein Sprachkenner würde hören, daß Sie aus Böhmen stammen, aber es mischen sich nun auch rheinische Töne darunter, Kölner Platt. Bei den Sonntagmorgengesprächen habe ich Mühe, auch nur ein paar Sätze über unser Ergehen loszuwerden. Wenn ich Ihnen ein neues Buch schicke, blättern Sie vielleicht ein wenig darin, lesen werden Sie es nicht, was mich in Ihrem Falle auch nicht kränkt.

Vor fast zwei Jahrzehnten habe ich Ihre »Überlebensgeschichte« geschrieben, sie trägt den Titel »Ein Fest für die Augen«, was nach Ihrer Ansicht jedes Bild sein sollte: ein Fest für die Augen. Viele jener Überlebensgeschichten stimmen heute nicht mehr, da ist jemand gestorben, da hat eine Witwe wieder geheiratet, da ist ein landwirtschaftlicher Betrieb doch noch eingegangen. Ihre Geschichte stimmt noch, in Ihrem Leben hat sich wenig verändert, weiterhin spielt die Kunst die Hauptrolle. Eine Frau, die sich mit der Nebenrolle zufriedengegeben hätte, fand sich nicht. Haben Sie überhaupt danach Ausschau gehalten? Jetzt sind Sie ein altgewordener Single. Ein Hagestolz. Wie sollte man Ihren Familienstand nennen? Sie sind alleinstehend. Sie waren der einzige Sohn der Eltern, und die Eltern waren Flüchtlinge aus Böhmen. Jetzt, wo ich diesen Satz schreibe, fällt mir auf, daß so viele unserer Freunde Flüchtlinge sind. Menschen mit Schicksalen, daran wird es liegen, interessante Lebensläufe. Der Vater ein Lehrer und talentierter Zeichner, die Mutter fleißig und sparsam. Ihr Talent wurde gefördert. Ohne Unterstützung der Eltern hätte das Haus am Rand von Köln nicht gebaut werden können, auch nicht das große Atelier. Und nach dem Tod des Vaters bekam die Mutter ebenfalls eine Rente, und Sie trugen die Sohnesschuld ab, so haben Sie das einmal genannt. Eine Tochter hätte nicht geduldiger pflegen können. Die Mutter ist sehr alt geworden, auch zu alt. Sie haben sie angezogen, gefüttert, sich neben sie aufs Bett gelegt, damit sie ruhig wurde. Erst wenn sie endlich eingeschlafen war, gingen Sie in Ihr Atelier. Einmal haben Sie zu mir gesagt: »So nimmt Gott sie noch nicht«, da habe ich mir mein Teil gedacht. Warum wurde diese alte Frau am Ende des fleißigen und gehorsamen Lebens so unruhig und manchmal wohl auch böse?

Und jetzt? Und wie wird es weitergehen? Manchmal kommt jemand und hilft bei der Gartenarbeit; es bringt Ihnen jemand das Haus in Ordnung; ins Atelier lassen Sie keinen. Manchmal besucht Sie eine alte Freundin, die stellt dann viele böhmische Klöße her und friert sie ein; bringt sich in Erinnerung, wenn Sie sonntags einen Braten herstellen. Von Kalbsnierenbraten und von Lammbraten erfahre ich am Telefon und im selben Atemzug von den Schwierigkeiten und den Freuden, die Ihnen die heilige Barbara, eine der vierzehn Nothelferinnen, bereitet. Soll sie den Kelch auf der flachen ausgestreckten Hand tragen oder ihn doch so halten, als ob man daraus trinken wollte? Ich habe vergessen zu fragen, wie groß diese heilige Barbara sein wird.

Ach, lieber Sonntagsfreund! Rufen Sie uns weiterhin am hellen Vormittag an und stören Sie uns! Ihr Anruf gehört zu den Ritualen unserer Sonntage, aber nun muß ich Sie doch bitten: Lesen Sie meinen Brief, damit Sie erfahren, was ich von Ihnen halte. Das neue Buch schicke ich Ihnen trotzdem! Neben die Widmung werde ich die Seitenzahlen schreiben; ein paar Sätze über den Malerfreund finden sich auch in diesem Buch. Nebenan im Zimmer schreibt Kühner, den Sie »Pummerer« nennen, ich will ihn jetzt nicht stören, aber ich bin sicher, daß er Sie so herzlich grüßt, wie ich es tue. Die Augen sind in Ordnung? Müssen Sie in Zukunft eine Brille tragen? Lassen Sie auch in Zukunft jedes Bild »ein Fest für die Augen« sein!

DAS LUSTPRINZIP

Liebe Nanna mit den drei »N«!

Morgen wollen wir nach Juist fahren, wo wir gern sind. Und was tut mein Fuß? Zunächst einmal tut er weh, so sehr, daß ich nicht auftreten kann. Aus heiterem Himmel, keine Verstauchung, vermutlich wieder eine Tücke meiner maladen Wirbelsäule. Was soll ich auf einer autofreien Nordseeinsel, wenn ich nicht laufen kann? Ich lamentiere. Doch, gesalbt habe ich, und ein elastischer Verband gibt dem Gelenk Halt. Etwas Halt!

Am Schreibtisch stört der Fuß mich nicht, also schreibe ich Dir jetzt einen ausführlichen Brief, weil ich so froh bin, so von Herzen froh! Dein Mann war selbst am Telefon! Er ist bereits wieder zu Hause. Die Operation ist gut verlaufen. Ist es ein Vorzug, wenn man als ehemaliger Chefarzt in seiner alten Klinik operiert wird? Wenn man die Diagnosen selbst stellen kann?

Weitere Narben.

Wie lange ist es her, daß Euch seine Gallenkoliken aus San Francisco vertrieben, kaum daß Ihr gelandet wart? Und dann gleich zurück und unters Messer. Damals Gallensteine. Diesmal Nierensteine. Darf man denn gar nicht mehr planen? Sollen wir etwa zu Hause mit einem gepackten Klinikköfferchen auf das nächste Unheil warten? Man kann die Stärke des Windes messen, Windstärke 7; die Stärke eines Pferdes in PS. Warum kann man nicht auch die Stärke eines Menschen messen? Wie groß könnte oder müßte sie sein? Körperlich, geistig. Wieviel an Anstrengung ist von uns zu erwarten?

Ich habe hier eine Bekannte; sie macht sämtliche Reisen mit, die ihr Seniorenheim veranstaltet. »Sterben kann ich auch mit dem Montblanc vor Augen«, sagt sie, »vielleicht sogar angenehmer.« Könnte man sich eine solche Einstellung zu eigen machen? Du nicht? Ich auch nicht!

Gestern abend saßen wir mit einem Gast zusammen; wir hatten auf der Terrasse zu Abend gegessen, Euren »Mundelsheimer Käsberg« getrunken und über Gott und die Welt gesprochen, nimm das ganz wörtlich! Unser Gast schloß das Gespräch mit einem Satz ab, der mich noch immer beschäftigt. »Bevor ich mir meinen eigenen Tod vorstelle, stelle ich mir doch lieber den Weltuntergang vor«, sagte er. Wir lachten, wie er es erwartete, aber ich vermute, daß es ihm ernst war, halbernst zumindest. Ganz fremd ist mir dieser Gedanke nicht!

Das Telefon klingelte, ich wurde unterbrochen. Der Verleger rief an und berichtete, daß er in der Schweiz war, wo seine Söhne leben, wo es die geliebte Enkeltochter mit Namen Laura gibt. Morgens erscheint die Fünfjährige an seinem Bett und sagt: »Großvater! Spielst du mit mir Schwarzer Peter?« Um sieben Uhr! Ich habe mich erkundigt, ob er es getan hat und ob er überhaupt Schwarzer Peter spielen kann. Er sagte: »Ich tue alles, was Laura von mir wünscht. Sie kennen Laura nicht!« Siehst Du, liebe Nanna mit den drei »N«, das habe ich nie kennengelernt: Enkelkinder, die früh um sieben mit mir im Bett Schwarzer Peter spielen möchten. Kinderlosigkeit war nie oder nur sehr selten ein Problem für mich, anders ist es mit Enkelkindern, jetzt, wo ich einen größeren Lebensüberblick habe, Eigenheiten erkennen kann, vermutlich geduldiger wäre, allerdings auch nicht sehr strapazierbar. Doch: ich sehe es leidlich nüchtern! Mein Mann hat mich ja zum Stiefgroßmütterchen zweier Buben gemacht, sie leben allerdings weit weg. Neulich hatten wir ein Familientreffen, da sah ich sie wieder. Wir machten einen Waldspaziergang, wobei der Jüngste, der hellblond ist, blauäugig, anmutig, sich Farn und Schachtelhalm pflückte, sich schmückte und wie ein Waldprinz aussah, er hätte in einem Sommernachtstraum mitspielen können. Ein angeborenes Bedürfnis nach Schönheit.

Eine Gelegenheit zum Spielen oder Vorlesen ergab sich nicht, meine Großmutter-Talente wurden nicht erprobt.