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Die reiche Familie lehnt den Ehemann ab, den die Braut trotzig durchsetzt. "Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig!" Es geschah im vorigen Jahrhundert, als die heute 75-Jährigen noch jung waren, so ähnlich oder ganz anders. Die Autorin dachte sich ihr Teil und fand Agatha Christie bewundernswert, entschied sich aber, nachdem drei Verlage (gefühlt hundert!) absagten, für die Schublade, bis sie sich in Coronazeiten daran erinnerte und die digitale Bucherstellung nutzte, um aus dem Manuskript, in Schreibmaschine mit Durchschlägen und Tipp-Ex geschrieben, ein Print- und ein elektronisches Buch zu machen. Der arme Ehemann landet übrigens im Gefängnis, und sein Bruder reist von Berlin nach Österreich, um dem "Kleinen" aus der Patsche zu helfen, die sich zunehmend bedrohlicher entwickelt. Nach dem Willen der Autorin fließt wenig Blut, aber Tote gibt es dennoch! Nägel kauen kann durchaus, wer Nägel kaut, wenn es spannend wird. Und nicht todernst ist!
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Lieber Mord als Scheidung
Wenn ich's recht bedenke, begann die Geschichte, von der ein Alltagstyp wie unsereiner nie glaubt, sie könne ihm persönlich oder in seinem Umkreis passieren, damit, dass wir den Höhepunkt nicht erreichten. Ich werde mich allerdings hüten, aus solcherlei Geschehnissen, auch wenn sie sich zeitweilig bedenklich häuften, Rückschlüsse auf meine Potenz zu ziehen. Jeder, der mir zuhört, wird alsbald wissen, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Übrigens: ich heiße Anders, Fridolin, angenehm!
Nehmen wir zum Beispiel den Morgen, als die Sache – wie schon gesagt - anfing, für mich jedenfalls.
Ich kniete über ihr. Wir waren erregt und deshalb nicht gerade leise. Das mittlerweile zehnjährige Bett knarrte mit einigen überstrapazierten Sprungfedern seinen Kommentar. Wir gingen an dem Tage, als wir die Wohnung einrichteten und unsere Liegestatt Wand an Wand mit dem Kinderzimmer aufschlugen, davon aus, dass der Schlaf jüngster und junger Menschen, sind sie erst einmal in die Arme von Morpheus gesunken, im Traumland durch nichts mehr zu stören ist. Bis sie dort eintauchen, können sie jedoch für Eltern durchaus zu einer nervenzerrenden Plage werden. Wenn sie Wand an Wand liegen.
Womit wir gerade beschäftigt waren, bildet immerhin die Grundlage menschlicher Existenz, so dass man die Rücksichtnahme zeitweilig herunterfahren darf.
Das Ächzen der Sprungfedern verstärkte sich. Wie aus dem Nichts stiegen Gedanken an das hundertjährige Bett in meiner ehemaligen Studentenbude in mir auf, das seine Funktion gerade in dem Moment aufgab, als ich mich anschickte, meine zukünftige Frau zu entjungfern. Mit lautem Krachen landete die Matratze auf dem Fußboden. Die Tür öffnete sich, und meine achtzigjährige Wirtin blickte herein. Genauso errötend wie wir, erkannte sie die Lage sekundenschnell und entschuldigte sich:
"Tut mir leid, Herr Anders, dass ich Sie beim Allerschönsten gestört habe."
Das zusammengekrachte Bett hatte damals unerwünschte Auswirkungen. Da uns der Schreck in alle Glieder gefahren war, vertagten wir unser Tun auf einen günstigeren Zeitpunkt. Ich versichere, dass er nicht mehr lange auf sich warten ließ.
Nur gemach! Dies ist der Bericht von einem verdächtigen Tod und seinen Folgen. Jedoch werde ich für meine Überzeugung streiten, dass ich ihn an der Stelle beginnen darf, an der die Ereignisse für mich ihren Anfang nahmen.
Mir wurde bald heiß und heißer. Ich musste mich mit aller Kraft zurückhalten. Die Erinnerung an das Bett bei der Frau Wirtin half mir dabei. Elke dirigierte mich unmissverständlich in eine Lage, in der sie für gewöhnlich über eine gewisse Zeitspanne die Initiative an sich reißt und ich mich bei aller Lust vornehmlich darauf konzentriere, das Ende hinauszuzögern.
Als wir gerade, eng vereint, eine neuerliche Drehung um hundertachtzig Grad vollzogen, klingelte das Telefon. Zu allem Unglück hatten wir am Vorabend wieder einmal vergessen, die Klingel leiser zu stellen, die tagsüber den Wunsch anderer, mit uns zu telefonieren, in jeden Winkel der Wohnung trug. Der Apparat stand im Arbeitszimmer, das uns gegebenenfalls auch als Gästezimmer diente. Nicht selten - ja ich fragte mich manchmal, ob die zählbare Zunahme als Alterserscheinung zu werten sei - wurde der Raum auch demjenigen zur Zufluchtsstätte, der für eine Nacht aus der Enge unseres französischen Bettes aussteigen wollte.
Ungebremst schallte das Telefon durch die Wohnung. Prompt erwachte das Kinderzimmer. Fußgetrappel setzte ein. "Ich!" - "Nein! Ich!“ wurde gerufen. Dann schimpfte die jüngere Tochter hinter dem zwei Jahre älteren Sohn hinterher: "Immer musst du, du Blöder", und auf nicht zu missdeutende Weise näherten sich Laufschritte der Schlafzimmertür, während das Telefonklingeln mitten in seiner höchsten Phonzahl abbrach.
Wir lösten uns voneinander, griffen blitzesschnell nach den Bettdecken, die unsere Unaufmerksamkeit zu einem Hinabgleiten auf den Teppichboden veranlasst hatte, und versuchten, uns bis zum Hals zuzudecken, fein säuberlich getrennt, jeder auf der gewohnten Betthälfte liegend. Noch war das Bettdeckenziehen nicht beendet, da ging die Tür auf und vorwurfsvoll tönte die Stimme der fünfjährigen Miriam: "Hört ihr denn nicht: Telefon!“ Im selben Tonfall fügte sie die Klage hinzu, dass sich Jonas stets und ständig vordrängele.
Im Geiste auf unsere nun zugedeckten Gefühle einredend, um sie zu beschwichtigen und auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten, hatten wir noch nicht die Kraft zu einer Antwort gefunden, als schon der Sohn mit der Lautstärke eines etwa zwei Meter entfernt startenden Düsenjets herantobte und schrie: "Papal Papa! Es ist Christoph! Du sollst dich beeilen. Er hat nicht so viel Kleingeld! Wieso hat er kein Geld? Wofür braucht er das?"
Verständlicherweise fand das wissbegierige Kind in dieser Morgenstunde keinen geduldigen Lehrmeister. Ich bemühte mich zuerst in die Unterhose, denn ich schlief für gewöhnlich im Adamskostüm, und dann ins Arbeitszimmer an den Telefonapparat.
Christoph, mein dreizehn Jahre jüngerer Bruder, gab sich im Allgemeinen als äußerst selbstbewusster junger Mann. Er redete fast ausnahmslos in einem Ton, der beim Gesprächspartner keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass das Gehörte unumstößlich das Richtige sei. Hätte ich nicht seine Stimme erkannt, hätte ich es für unmöglich gehalten, dass an anderem Ende der Leitung mein Bruder sprach. Das heißt: er stotterte und stammelte, und ich verstand nur Bahnhof. Das lag mit Gewissheit nicht an meinem, sondern an seinem Zustand. Christoph brachte stockend hervor, er riefe vom Bahnhof aus an und müsste mir etwas ungeheuer Wichtiges mitteilen. Er habe einen Brief an mich abgeschickt. Er sagte das alles so umständlich, dass die Telefonleitung Klick machte, weil das Geld alle war, noch bevor auch nur die blasseste Ahnung in mir aufstieg, um welche Angelegenheit es sich handeln könnte.
Meine Frau lag genauso gerade, brav, bis zum Hals zugedeckt, auf dem Rücken im Bett, wie ich sie verlassen hatte. Kopfschüttelnd berichtete ich ihr, wie das Telefongespräch vonstattengegangen war. Kopfschütteln war auch ihre Reaktion. Dazu muss man wissen, dass Christoph selten bei uns anrief. Eigentlich geschah es nur, wenn er einen Prüfungserfolg melden wollte, den er kurz, laut und ohne auf Antwort zu warten, hinausposaunte.
"Ob er vielleicht betrunken war und die Nacht durchgezecht hat?" grübelte ich laut, während ich wieder ins Bett stieg in der immer aufs Neue vergeblichen Sonntagshoffnung, die Kinder würden ausgerechnet diesmal mindestens zwei Stunden lang friedlich und nur mit sich selbst beschäftigt spielen.
Meine Frau Elke entgegnete: "Seit seiner Gelbsucht hat er doch immer Rücksicht auf die Leber genommen."
Ich erlebte die ungewöhnlichste Zeit meines 35-jährigen Daseins. Doch ich war zu angewidert, als dass ich die Spannung hätte genießen können. Ich erlebte leider kein beneidenswertes Abenteuer, sondern todernstes Leben. Es ging um Christoph. Ihm musste ich helfen. Wieder einmal musste ich für den kleinen Bruder in die Bresche springen. Er stand kurz vor der Vollendung seines 23. Lebensjahres, als er in der Klemme steckte wie nie zuvor. In Untersuchungshaft saß er, eine Mordanklage wurde vorbereitet. Vieles sprach gegen ihn. Aber ich glaubte ihm, als er schwor, dass er unschuldig sei.
Schließlich bin ich sein Bruder.
Mir hatte schon damals - ehrlich gesagt - nichts Gutes geschwant, als Elke die Einladung zur Hochzeit präsentierte.
Ich kam aus dem Büro nach Hause, sie trat auf mich zu und sagte, hintergründig lächelnd: "Ich habe etwas für dich, mein Bester. Etwas, das du erwartet hast, wenn auch nicht in dieser Form! Moment bitte!" Dann verschwand sie im Wohnzimmer. Ich blieb mitten im Flur stehen, um ihr das Spiel nicht zu verderben. Sie kam mit dem Goldrandteller wieder heraus, dessen reiche und schwülstige Verzierung uns immer als ein Höhepunkt an Kitsch erschien, obgleich wir wussten, welcher Wert durch das Markenzeichen repräsentiert wurde. Der Teller war ein Geschenk gewesen, also ein geschenkter Gaul. Jetzt lag ein Brief darauf, und meine Frau spöttelte: "Unverhofft kommt oft!“, eine Redewendung, die bei uns gerade „in“ war. Ich nahm den Teller.
Gleich darauf sah ich mich zu einer Verteidigung genötigt. Noch jetzt glaube ich, nichts dafür zu können, dass ich zur erheblichen Wertminderung des Goldrandtellers beigetragen habe. Er fiel auf den Boden, und zwar aus meinen Händen, die eine goldbedruckte Einladung hielten, während mein Grinsen einfror. Der Teller zerbrach in zwei Teile.
"Und ich hatte mir gedacht, wir könnten das herrliche Stück als Hochzeitsgeschenk benutzen! Wäre doch sehr passend gewesenl" klagte meine Frau Elke. Prompt ging einmal mehr die Kinderzimmertür auf. "Ihr streitet.“ triumphierte mein Sohn Jonas. "Ihr habt den goldigen Teller kaputtgemacht." jammerte Tochter Miriam. "Aber uns wird immer gesagt, wir sollten schön aufpassen und nichts kaputtmachen." ergänzte Jonas.
"Schert Euch ins Kinderzimmer!“ verlangte ich ziemlich lautstark. "Ihr seht doch, dass wir etwas zu besprechen haben." erklärte meine Frau. Unter Gekicher ging die Kinderzimmertür wieder zu. Überflüssigerweise wies mich Elke nun darauf hin, dass ich nicht losschreien sollte. Gelassen verwahrte ich mich gegen die immer gleichen Anschuldigungen von ihrer Seite.
Mit den Scherben des wertvollen Tellers und der Golddruckeinladung begaben wir uns ins Wohnzimmer.
"Ich brauche einen Schnaps." stellte ich beim Hineinsinken in meinen Lieblingssessel fest, der sich so vorzüglich meinen Formen angepasst hatte, dass meine Frau behauptete, er sei schiefgesessen – in nur drei Jahren. Jetzt sagte sie allerdings: "Einen Schnaps kann ich auch gebrauchen." Kommentarlos erhob ich mich wieder und verteilte in meiner gutmütigen Art Whisky. Ich holte sogar noch Eiswürfel aus der Küche, die ich, da ich mich unbeobachtet fühlte, der Einfachheit halber mit den Fingern herausklaubte.
"Man sieht noch die Fingerabdrücke;" sagte Elke. Aber in Anbetracht des kaputten Tellers schwieg ich großmütig.
"Prost!“ meinte sie daraufhin und machte eine Geste, mit mir anstoßen zu wollen: "Auf das junge Paar!“ Ich fand die Angelegenheit gar nicht komisch, und so bedachten wir gemeinsam, wie Festivität und Ehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schieflaufen würden. Nach einigen Momenten des Schweigens bekannte sich Elke zum Resultat ihrer nachmittäglichen Überlegungen:
"Ich komme nicht mitf" erklärte sie. Ihr Tonfall machte mir klar, welch schweren Stand ich hätte, wollte ich sie eines Besseren belehren. Schließlich waren wir seit zehn Jahren verheiratet und kannten uns noch länger. Wir hatten inzwischen unsere Erfahrungen miteinander machen können und gelernt, uns weitgehend so zu akzeptieren, wie wir waren. Die Freunde meinten, deswegen schon, unsere Ehe sei beneidenswert gut. Diese Meinung färbte im Laufe der Zeit auf uns ab. Allmählich wuchs unser Glaube daran, dass wir gute Eheleute seien.
Folglich reagierte ich auf den Entschluss meiner Frau, nicht an Christophs Hochzeit teilnehmen zu wollen, ohne Protest. Ich hätte auch gar keine Zeit dazu gehabt, denn wir wurden aus dem Wohnzimmer verbannt. Jonas und Miriam verkündeten unmissverständlich: "Sesamstraße“. Wir räumten die Plätze, unsere Gläser in der Hand. Erste Station war die Küche, in der Elke routinemäßig die abendlichen Fischstäbchen für die Kinder in einer Pfanne auf dem Herd plazierte, obgleich dieselben von Zeit zu Zeit als arg gesundheitsschädlich getestet wurden. Uns erschien meistens ein bisschen Schaden weniger schlimm als Protestgeheul gegen zu gesundes Essen. Gut eingespielt im Elternteam, stellte ich Teller und Gläser samt der Riesenflasche Ketchup auf den Tisch. Dann gingen wir ins Gäste- und Arbeitszimmer. Endlich konnte ich fragen, warum meine Ehefrau nicht mit mir in meine alte Heimat fahren wollte. Sie erklärte, dass derlei Festlichkeiten nicht kindgemäß seien und sie demzufolge daheimbleiben müsse. Ich gab mich als friedliebender Mensch. Überdies fand ich den Gedanken reizvoll, einmal ohne Familie zu reisen.
"Was sagst du sonst dazu?" erkundigte ich mich.
"Wir sind schuld." antwortete sie. Wir schwiegen gemeinsam und nippten an den leeren Gläsern, bis uns die Wirklichkeit einholte.
Da ich seit Jahren Vater- und Mutterersatz für meinen Bruder Christoph, die arme Waise, war, verließ ich umgehend Frau und Kinder, setzte mich in den Wagen und fuhr in das Land, in dem er studierte. Was seinen Fleiß und seine Strebsamkeit anging, so hatte er mir bis dato die Erziehung leicht und keine Sorgen gemacht. Zudem war er weder dem Alkohol noch irgendwelchen Drogen verfallen, so dass ich kaum eingreifen musste, um ihn auf dem Pfad gesunder Tugenden zu halten.
Es war mehr die Haltung zur Welt an sich, hinsichtlich derer wir zu keiner Übereinstimmung gelangten. Noch pubertätsgebeutelt hatte er mich als liberalen Scheißer beschimpft, wobei diese Kritik damals von links kam, so etwa aus Che Guevaras Reihen. Verbissen suchte er als Sechzehnjähriger nach dem einen Satz, nach der einen Weisheit, die ihm die Welt erschließen und ewig helfen würde, das jeweils einzig Richtige zu tun. Meinen bescheidenen Hinweis, die Menschheit suche seit jeher nach diesem Rezept - weitgehend erfolglos –, verachtete er. In jener Zeit waren unsere Gespräche kurz, dafür umso lautstärker.
An- und eingebunden, wie ich durch die eigene Familie war, kam der kleine Bruder zu kurz. Jedenfalls litt er unter solchen Gefühlen und suchte in seiner konsequenten, entschlusskräftigen Art einen Ausweg, indem er sich nach dem Abitur hin zur alten Heimat unserer Familie wandte, die von ihm außer Stippvisiten nur das Babygeschrei erlebt hatte. In diese alte Heimat, über eine Grenze hinweg, schoß ich nun auf der Autobahn, die jede Landschaft stadtlos-langweilig macht. Zur standesamtlichen Trauung wollte ich pünktlich sein. Elke hatte den Goldrandteller sorgfältig geklebt, die gekreuzten Schwerter waren von dem Bruch nicht berührt gewesen. Die Kinder halfen hingebungsvoll, ihn samt einem wertvolleren, weil nicht geflickten Kerzenleuchter zu einem großartigen Geschenkpaket von unbestimmbarer Form zu verpacken, das in eine Decke gehüllt, im Kofferraum meines Autos verstaut war. Ich musste das Grinsen als hämisch bezeichnen, mit dem meine Frau den schwarzen Nadelstreifenanzug in den Koffer legte. Die Frage, ob sie für mich eine Fliege erwerben sollte, überging ich würdevoll. Auch den Nadelstreifenanzug nahm ich kommentarlos hin, betrachtete ich ihn doch als schwerwiegenden Fehltritt in meiner 35-jährigen Existenz. Was in mich gefahren war, als ich mich im Neonlicht des Herrengeschäftes vor dem schlankmachenden Spiegel für das feierliche Stück begeisterte, weiß ich bis heute nicht. Nachdem ich das erste Mal damit aufgetreten war, wusste ich jedoch, dass ich nicht bei mir gewesen sein konnte. Nebenbei bemerkt sah ich in dem Anzug allen Angaben und meinen eigenen Augen zufolge blendend aus, aber eben doch wie einer, der meine Rolle spielt, und zwar in einer Fehlbesetzung.
Ich fuhr viel zu schnell. Am Ziel meiner Reise erwartete mich die Rolle, die mir trotz langjähriger Übung nicht auf den Leib geschrieben war. Wieder einmal würde ich Vater und Mutter ersetzen, auf dem Standesamt und als Atheist in der Kirche. Ich sollte einer Eheschließung den Segen geben, die überhaupt nicht in mein Gesichtsfeld passte. Gegnerischer als ich eingestellt war, während ich mich der vertrauten, fremden Stadt näherte, konnte die geballte Kraft eines Elternpaares nicht gegen die Hochzeit ihres Einzigen auftreten.
Eine Freundin der Familie namens Hilde Huberti nahm mich mit offenen Armen auf. Vom Bräutigam entdeckten wir keine Spur, obgleich sich sein derzeitiges Domizil im selben Haus befand und ich meine Ankunft angekündigt hatte. Nur kurz schwelgten wir bei Kaffee und Kuchen, der haushoch dem der nördlichen Gefilde des deutschen Sprachraums überlegen ist, in den Erinnerungen an die bessere Vergangenheit. Dann sprangen wir hinein in die gegenwärtigen Ereignisse, von denen zu berichten, meine Gastgeberin höchst begierig war. Die ganze Stadt redete nach ihrer Aussage nur von der sensationellen Heirat, dabei lebten hier mehr als zweihunderttausend Leute. Christoph war der erste, dem es zu gelingen schien, eine der vier Töchter des reichsten Mannes dieser Gegend zu ehelichen. Wie mir die Huberti mit vor Erregung vibrierender Stimme mitteilte, war mein Bruder dafür nach vorherigem Unterricht zum Katholizismus übergetreten.
Unsere ehrbaren Eltern waren nicht in die Lage geraten, uns Erwähnenswertes zu vererben. So nahm Christoph lediglich die Bildungschancen der heutigen Gesellschaft als sein künftiges Kapital wahr. Nur ein Optimist begänne an dieser Stelle von der alles überwindenden Kraft der Liebe zu träumen. Einen solchen Gedankenflug gestattete mir die Freundin unserer Familie nicht. Prosaisch verkündete sie: "Er, das heißt: sie kriegt ein Kind. Deshalb die Hast, denn es wird Zeit, das Brautkleid anzuziehen." Sie fügte noch hinzu, dass es sich die Familie der Braut ja leisten könne, den teuersten und erfahrensten Schneider zu Rate zu ziehen. "Aber ehrlich gesagt," überlegte sie weiter, "geheiratet werden sollte nicht! Oder jedenfalls erst dann, wenn er das Studium abgeschlossen hat."
Ich erwiderte nichts, weil ich vollauf damit beschäftigt war, die Nachricht zu verdauen, dass ich Onkel werden würde. Ich kniff die Augen zusammen, um den Gedanken an Kitsch und Kolportage auszulöschen. Fehlte doch eigentlich nur noch, dass Christoph als Sohn einer verarmten, aber ehrbaren Adelsfamilie enttarnt würde. Aber ich wusste es besser! Inzwischen hörte ich das Lob der Strebsamkeit und des Fleißes im Allgemeinen und im Besonderen meinen Bruder betreffend. Im Gegensatz zu vielen jungen Leuten heutzutage lege er zudem Wert auf sein Äußeres. Vergammelte Jeans seien längst in der Altkleidersammlung gelandet, wo sie hingehörten. Mit klarem Blick auf das Gute bevorzuge er Markenartikel. Vielleicht war es eine Fehlinterpretation meinerseits anzunehmen, dass bei diesen Worten Hilde Hubertis kritischer Blick meine ausgebeulten, jedoch äußerst bequemen Cordjeans und die Lederjacke traf, deren Taschen man ansah, wie viele wichtige und weniger wichtige Dokumente und Taschentücher sie bereits transportiert hatten.
Christoph sei gepflegt und höflich, wisse sich zu benehmen und habe Niveau, sagte sie zu diesem Thema abschließend. Als Vater- und Mutter-Ersatz hätte ich auf das Urteil stolz sein müssen und wollte gerade ein entspanntes Lächeln auf meine Züge legen, als mich ein weiterer Dolchstoß guten Bürgersinnes traf. "Sie ist fünf Jahre älter." wurde mir eröffnet. "Und er ist doch noch so jung". Ich gestattete mir den Hinweis, dass ich in nahezu demselben Alter meine Frau kennengelernt und kurz darauf mit ihr in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt hätte, bis wir vor zehn Jahren heirateten.
Mittlerweile waren wir vom Kaffee zum Sekt übergegangen und hatten zu diesem Zweck auch Tisch und Sitzgelegenheit gewechselt. Da mein Inneres immer noch Auto fuhr, stieg der Sekt mir schneller als gewöhnlich zu Kopf. Zudem benutzte ich ihn, um meinen Durst zu stillen. Im Ergebnis dessen wurde ich zusehends heiterer und gewann die richtige Einstellung zu den Dingen, die ohnehin ihren Lauf nahmen.
Wir hörten Tritte von kräftigen Füßen auf der Treppe. Sie stiegen an der Tür der Wohnung vorbei. "Das ist er." stellte die befreundete Dame fest. Ich war mit der Überlegung, ob ich mich zu Christoph in die Studentenbude gehen sollte, noch zu keiner Entscheidung gelangt, als Sturm geklingelt wurde. Ziemlich blass, aber mit roten, scharf abgegrenzten Flecken im glatten Gesicht, kam Christoph ins Zimmer und in meine elterlich-brüderlich ausgestreckten Arme. Wir umfassten uns, hielten uns fest, und ich begrüßte ihn mit: "Na, mein Kleiner!“ Zu seinen Kümmernissen gehörte nämlich, dass er meine Körperlänge um etwa drei Zentimeter verfehlt hatte. Erfahrungsgemäß hilft das Recken des Kopfes wenig bei dem Bemühen, größer zu wirken, und seine sportlichen Aktivitäten hatten ihn lediglich kräftiger und breiter werden lassen, als ich es war. Christoph wies überall da Muskelpakete auf, wo mein viel zarterer Körperbau allmählich Rundungen bekam.
"Du hättest ruhig ausführlicher telefonieren oder zur gedruckten Einladung ein paar Worte schreiben können." sagte ich mit mütterlichem Vorwurf in der Stimme, nachdem wir uns zur Sektflasche gesetzt hatten. Sohnesgemäß erwiderte er kurz, aber beleidigt: "Selber nicht gekümmert!“ Einlenkend nahm ich als der Vernünftige den Gesprächsfaden wieder auf, während sich unsere wohlerzogene Freundin rücksichtsvoll entfernte.
"Wollen wir das Vergangene begraben und uns gemeinsam der Gegenwart zuwenden?" fragte ich. Christoph war einverstanden. Überraschend und sehr laut rief er jedoch plötzlich aus:
"Diese Hochzeit findet nicht statt!“
In Anbetracht des Gerüchts vom herankeimenden Leben war ich mehr als erstaunt. Ebenso erging es der befreundeten Dame, die mit einer jungfräulichen Sektflasche durch die Tür trat und die letzten Worte gehört hatte. Christoph erklärte bereitwillig, aber wutschnaubend: "Ich habe einen Ehevertrag unterschrieben. Ein angehender Jurist hat sich das Papier angesehen und mir gesagt, mit meiner Unterschrift riskiere ich nichts. Meine liebe Braut hatte mich aufgeklärt, dass ihre Familie ohne diesen Vertrag nicht in die Heirat einwilligen würde."
"Da ich so etwas nicht besitze", gestand ich ein, "bitte ich dich, mir die Sache mit dem Vertrag zu erklären.“
"Nur ein einziger Paragraph ist von Interesse." antwortete Christoph. "Er besagt, dass ich keinen Anspruch auf Evelines Vermögen habe. Wir werden, nein, wir würden in Gütertrennung leben."
"Na, viel ist ja da von deiner Seite nicht zu trennen." warf ich ein. Beleidigt wehrte er sich: "Das war in der Vergangenheit nicht deine Sorge und sollte in Zukunft nicht deine Sorge sein!“
Die befreundete Dame Huberti fragte - das Gespräch belebend, – wo der Grund für die nicht stattfindende Hochzeit liege, wenn er doch den Vertrag unterzeichnet habe.
"Heute rief sie mich an" sagte Christoph, „und verlangte, dass ich morgen nach der Trauung noch einmal denselben Vertrag unterzeichne." Er machte runde Augen, die seiner Empörung Ausdruck gaben, während wir nur Bahnhof verstanden und unsere Gesichter keiner Spur der tatsächlichen Intelligenz zeigten. Der potentielle Ehemann erlöste uns jedoch vom Nichtverstehen.
"Die Familie wollte sichergehen", sagte er, "dass ich mich nicht nach der Trauung plötzlich weigere, überhaupt einen Ehevertrag zu unterschreiben. Deshalb also die Unterschrift vorher, die allerdings angezweifelt werden kann, da sie ja in unverheiratetem Zustand gegeben wurde. Aus diesem Grunde will die Familie noch eine Unterschrift von mir, wenn wir getraut sind. Aber nun will ich nicht mehr. Das hätten sie mir zuvor sagen müssen, finde ich.“
Wir fanden, dass er mit seinem Protest recht hatte. Wir waren sowieso in einer Stimmung, in der wir Protest gut fanden.
"Ich habe Eveline gesagt," erklärte Christoph, "dass ich den Zirkus nicht mitmache. Daraufhin meinte sie, dann ich bräuchte gar nicht erst zum Standesamt zu kommen. Und ich erwiderte, dass sie folglich auch das Hochamt in der Kirche absagen könne. Sie begann zu heulen, und fast zeitgleich knallten wir die Hörer auf die Gabeln der Telefone. Das war heute früh. Inzwischen steht mein Entschluss fest: es wird nicht geheiratet!“
Wenn ich mich hier in die Pflicht nehme, aufzuschreiben und zu hinterlegen, was in den vergangenen Monaten in unserer Vaterstadt, die übrigens auch diejenige unserer Mutter war, mit meinem Bruder Christoph geschah, weil ich festhalten möchte für Kinder und Kindeskinder, warum und durch wessen Verschulden es zu diesen Geschehnissen kam, dann nehme ich mir zugleich die Freiheit, selbst zu bestimmen, unter welchen Gesichtspunkten ich mich mit den Vorgängen befasse. Man muss bedenken, dass ich dieses Unterfangen an meinen Feierabenden nach der täglichen Lohnschreiberei durchführe und mir deshalb jedes Mal von neuem einen gewissen Anreiz schaffen muss, mich nicht untätig vor den Fernsehapparat zu setzen.
Übergehen wir, dass der alte Burger persönlich zum Telefon griff, um seinen Nein sagenden Schwiegersohn in spe zu sprechen und die Heirat zustande zu bringen. Übergehen wir die Schrecknisse der standesamtlichen Trauung, die die erste Wiederbegegnung des Brautpaares nach dem bis dahin größten Krach brachte, und die Eiseskälte, in der anschließend im Hause Burger genau 85 Minuten lang Sekt und Sahneparfait gereicht wurden, wobei neben dem Eis nur die Disharmonie vollkommen war.
An diesem Tage waren weder mein Bruder noch seine Gattin für mich zu sprechen. Ehrlich gesagt, konnte ich nicht begreifen, warum hier geheiratet wurde. Keiner hatte Zeit, mir diese Fragen zu beantworten. So trottete ich sinnend durch die Straßen der Stadt.
Am nächsten Tag standen vor der Kirche viele Schaulustige. Die Burgers waren stadtbekannt, beachtet wegen ihres Vermögens, den Gerüchten ausgesetzt, wann immer sie Gelegenheit boten. Die Hochzeit war eine solche Gelegenheit. Man kam, um die Parade abzunehmen.
"Der Schwiegersohn ist ein Habenichts.“ wurde getuschelt.
"Er studiert noch." wussten andere.
"Sie soll schwanger sein."
"Das werden wir ja sehen, ob sie heiraten müssen."
"Vielleicht sieht man es noch nicht!"
“Ich sehe so etwas!“ behauptete eine füllige Dame gegenüber einer ebenfalls fülligen Dame. Beide mit Hut über dem Kostüm, ein Unterarmtäschchen unter den Oberarm geklemmt, große Brillen mit modischen Gestellen auf der Nase, die die sich ausbreitende Faltenlandschaft großflächig verdeckten und nur die bewegte Mundpartie freiließen. Ich stand, mit mir selbst eine Gruppe bildend, neben den Damen.
“Ich sehe es an der Nase“, betonte die Wortführerin, "ob eine schwanger ist. Die Nase wird dann nämlich spitz.“
Gerade lobte ich im Stillen meine Einsamkeit, die mir Gelegenheit bot, schweigend zu beobachten, als die Welle der nichtssagenden Höflichkeiten auch mich erreichte. Vor dem Trauzeugen, einem guten Bekannten der zu früh verstorbenen Eltern, half es nichts, dass ich mich in den ungewohnten Nadelstreifen wie unter einer Tarnkappe fühlte. Meine allmählich gerundete Männlichkeit an der Schwelle der besten Jahre machte mich für viele zum Unbekannten, die nur den schmächtigen, verlegenen Jüngling aus der ersten Hälfte meines bisherigen Lebens kannten.
Herr Doktor von Meierbeer stieß plötzlich zu mir vor und begrüßte mich stimmgewaltig. Blicke trafen mich. Überdeutlich erreichte mich das Gezischel der neben mir ausharrenden Beobachterinnen: "Sehen Sie nur, er hat ein Loch im Strumpf! Zur Hochzeit ein Loch im Strumpf!“
"Dabei ist er der Trauzeuge." wusste die eine der vollschlanken Kaffeehaus-Freundinnen.
"Naja, die Frau ist ihm davongelaufen." ergänzte die andere.
"Und das schon vor Jahren." folgte sogleich gut informiert. "Komisch, dass er keine neue gefunden hat.“ wunderte sich die ansonsten Allwissende.
"Psst!“ wurde sie statt einer Entgegnung gemahnt.
"Dort kommt seine Mutter, die Rätin von Meierbeer".
„Sie muss mindestens 80 Jahre alt sein, die Rätin von Meierbeer.“
Genüsslich saugten sie Titel und Adelsprädikat in sich hinein und stießen sie wieder aus, obgleich - wie ich wusste - in diesem Land die Von- und Zu-Bezeichnungen per Gesetz abgeschafft worden waren. Vielleicht ließen sie sich gerade deswegen nicht ausmerzen.
Der Doktor begrüßte mich überschwänglich. Er erkundigte sich in einem einzigen Atemzug nach der Frau, den Kindern, dem Beruf und meinen Überlegungen, die Zukunft betreffend. Während ich noch unentschieden war, ob er meine persönliche Zukunft oder die der Menschheit meinte, und zögerte, welche Frage ich zuerst beantworten sollte, ließ er seinen wissenden Blick in die Runde schweifen, winkte einigen Bekannten mit lässiger Geste, und ich begriff, dass er an einer Antwort gar nicht interessiert war und eine ernsthafte als lästig und störend empfunden hätte.
Inzwischen traten die herbeigewinkten Personen zu uns und begannen mit dem Herrn Doktor ein Begrüßungszeremoniell, als sei man sich im vergangenen Jahrhundert das letzte Mal begegnet und nicht vorvorgestern auf der Geburtstagsfeier für die von allen hochverehrte Tante Grete - oder was auch immer der Anlass gewesen sein mochte, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach- zukommen.
In der richtigen Annahme, dass ich die Leute nicht einsortieren konnte, wurden sie mir vorgestellt. Wie galant hätte ich agieren können, hätte ich als Kind nicht der Erwachsenenmacht getrotzt und ihrem Versuch widerstanden, mich zum Handkuss zu dressieren.
Nun stand ich stocksteif unter all den höflichen Menschen und murmelte als Antwort auf Namen und Titel nichts weiter als: "Anders".
Mein Name veranlasste zum allgemeinen Ah-Sagen, dem die Erkenntnis folgte: "Sie sind der Bruder."
Ich war der Bruder, und mein normales Jeans-Ich schwebte hämisch grinsend über mir und amüsierte sich auf meine Kosten. Die Umstehenden bemerkten nichts von diesem Zwiespalt, sondern lobten mit großem Ernst und Anstand mein bisheriges Wachstum und das damit verbundene Aussehen.
Aus Hilfslosigkeit reckte ich den Hals und spähte nach meinem Bruder. Der Bräutigam im Smoking mit einer weißen Nelke im Knopfloch, deren Stiel nach längerer Debatte brutal mit einer Sicherheitsnadel durchbohrt und befestigt worden war, hatte sich, als wir uns zu Fuß der Kirche näherten, die in der Fußgängerzone lag, sofort zu einer Kleinstdelegation von Kommilitonen begeben und harrte dort schutzsuchend aus. Meine Fürsorge lehnte er ab, da ich mich nicht in der Lage gezeigt hatte, seinen schnellen Sinneswandel hinsichtlich der Heirat nachzuvollziehen.
Die befreundete Dame, die sich als Vertretungsmutter für uns zuständig fühlte, beendete gerade ihre Pirsch durch die Menge und gesellte sich zu mir, ihre Aufregung kaum verbergend. Sie drängte sogleich darauf, in die Kirche zu gehen. Übrigens müsse der Bräutigam selbstverständlich vor der Braut hineingehen, weil er sie ja erst sehen dürfe, wenn sie von ihrem Vater vor den Altar geleitet werde.
Ruhig, aber wiederum viel zu laut widersprach Doktor von Meierbeer: "Wir stürmen nicht als erste in die Kirche, verehrteste Freundin. Immer gemach!“ Er war groß und gewichtig, und obgleich nur von der Statur her, gab er sich stets auch so.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Braut war mit ihrer Familie eingetroffen. Alle sechs Burgers lächelten kopfnickend zur Masse hin. Ich weiß nicht, ob es mein Vorurteil war, oder ob ihnen ihr Geld beim Nicken tatsächlich etwas Huldvolles verlieh.
Der Zug formierte sich für den Kirchgang.
Ich bekam einen Stoß in die Rippen. Gleichzeitig stieß die Freundin Huberti die Worte aus: "Du musst gehen. Als Verwandter des Bräutigams gehörst du dazu. Geh nach vorn!“
Ich revanchierte mich auf der Stelle, indem ich ihr den Arm bot und drohend flüsterte: "Nicht ohne dich!"
Dann schritten wir in eine Situation, die mein unbeteiligtes Ich im Nachhinein zu mitleidsvoller Betrachtung von so viel Unwissenheit veranlasste. Der Zug bewegte sich auf den Altar zu. Auf zwei Stühlen, kurz vor der ersten Stufe, ließ sich das Brautpaar nieder. Zwei dahinter aufgestellte Stühle waren für die Trauzeugen bestimmt. Auf dem zur rechten nahm Diethart Meierbeer - so der Name verbürgerlicht – Platz, und wieder hörte ich es durch das feierliche Orgelspiel hindurch murmeln: "O Gott, er hat ein Loch im Strumpf!“
Zu seiner Linken setzte sich, in schwarze Spitze gekleidet, die älteste der Burger-Töchter, Rotraut, die ich bis dahin erst einmal gesehen und die mich bis dato keines Blickes gewürdigt hatte.
Die Brauteltern und ihr Anhang waren - von mir aus gesehen - auf die Kirchenbänke linkerhand zugesteuert. Als ich mich schnellentschlossen ins Kirchengestühl rechts wenden wollte, spielte meine Begleiterin nicht mit. Sie zog mich weiter nach vorn. Wir landeten schließlich mehr schlecht und noch weniger recht - ich erröte gegen meinen Willen bei der Erinnerung - vor allen anderen auf einer viel zu schmalen, Bank ohne Lehne. Voller Pein erinnerte ich mich an die Ankündigung meines Bruders, das Zeremoniell werde gut eine Stunde dauern. Ich sandte in den ersten Minuten schon Beileidsbekundungen an meinen verlängerten Rücken. Danach konnte ich noch immer nicht der Predigt folgen, weil in mir eine Ahnung aufstieg, dass wir auf einer Gebetsbank saßen, auf dem schmalen Gestühl also, auf das der Betende die Bibel, das Gesangbuch oder die Hände legt, wenn er kniet.
Dieser Erkenntnisprozess wurde durch ein Röhren des Mikrophons unterbrochen, denn auch in dieses ehrwürdige Gotteshaus hatte die Technik mit all ihren Fehlerquellen Einzug gehalten, und der Priester las in rotbäckiger Ehrfurcht vor der hohen Familie und anderen Stadtgrößen seine Predigt mit Rückkopplung ins Mikrophon.
Mein Hinterteil zwang mich zu einem Entschluss. Ich flüsterte Hilde Huberti zu, dass wir beim ersten Wechsel von Priesterworten zu Gesang den Rückzug in die zweite Reihe antreten sollten. Mir erschien es zwar einigermaßen unpassend, dennoch stieg ich der Einfachheit halber über das Bänklein nach hinten. Die Tatsache, dass der Priester den Segen für das Brautpaar aus einem Buche ablas, wobei er ihn sogar unterbrechen musste, um umzublättern, wie auch die weitere Tatsache, dass das Brautpaar zeitgemäß sein Ja-Wort nicht hatte auswendig lernen müssen, sondern von einem von Priesterhand hilfreich vorgehaltenen Blatte ablesen durfte, entbanden mich zunehmend von dem Schamgefühl über mein unangemessenes Verhalten und von der Unsicherheit, die mir Kirchenpracht noch immer einflößt.
Ich erwies mich bei Christophs kirchlicher Trauung als vollkommen unfähig, in mir ein feierliches Gefühl zu erzeugen. Zu sehr störten mich die technischen Pannen, zu unangebracht fand ich die Worte, die gesprochen wurden.
Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass ich mich während der bevorstehenden Festivität damit beschäftigen müsste, die harte Schale von Evelines Schwester Rotraut zu durchbrechen, höhere Angestellte im väterlichen Betrieb, unverheiratet mit 32 Jahren und von der Stadt zur alten Jungfer gestempelt.
Vor der Kirche überschlugen sich dann Ausbrüche hochgradiger Bewunderung. Der kleine unbeholfene Priester wurde wortreich gelobt und die Schönheit sowohl des kirchlichen Aktes als auch des Paares laut gepriesen. Alles lächelte, denn man wurde fotografiert. Von nicht wenigen wurde es als spezielles Verdienst der Braut oder ihres Vaters angesehen, dass just in diesem Augenblick die Sonne durch die Wolken brach und der Szenerie den Anschein strahlender Harmonie gab.
"Ein herrliches Bild“ jubelten Kirchgänger und Schaulustige. "Ein glückliches Paar" sagten viele, die es besser wussten.
Hoch und heilig bei meiner Ehre und allen guten Geistern hatte ich mir geschworen, die Rolle eines unbeteiligten Beobachters beizubehalten. Dass mir das nicht geglückt war, begriff ich, als ich in den frühen Morgenstunden des Sonntags eine Viertelstunde lang unter der Dusche stand und heißes Wasser auf meine Haut prickeln ließ in dem dringenden Bedürfnis, mich von dem verlogenen Schleim zu reinigen, der sich meinem Gefühl nach stundenlang über mich ergossen hatte.
Obwohl es drei Uhr nachts war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die sauber- und daheimgebliebene Elke ans Telefon zu holen. Ich ließ den Apparat dreizehnmal klingeln und wollte schon wütend werden, als sich endlich die vertraute, wenn auch vor Gähnen und Müdigkeit heiser klingende Stimme meldete.
"Es war schrecklich." stöhnte ich. "Schlimmer als in deinen schlimmsten Träumen."
"Was weißt du denn von meinen Träumen?" entgegnete meine Frau. "Sag mir etwas Liebes!“ flehte ich.
"Ich bin viel zu müde." sagte sie. "Ich habe zu lange in die Röhre gestiert, um meine Sehnsucht nach dir zu betäuben."
Gerade wollte ich mich über diese Liebe begeistern, als sie fortfuhr: "Wie du weißt, sind die Kinder an einem verregneten Wochenende wie diesem unerträglich. Da sehnt sich der Mensch einfach nach einer Wachablösung. Dabei fällt mir ein," gähnte sie, "dass ich den Sonntag im Regen noch vor mir habe und nicht den ganzen Vormittag schlafen kann wie du.“
Ich fühlte mich zutiefst missverstanden, überwand mich aber zu einer Verabschiedung per Kuss durch das neutrale Telefon. Dann ging ich seufzend zu Bett. Die sanften Schaukelbewegungen, die ich verspürte, rührten sicherlich nicht von der Matratze, sondern von meinem Zustand her. In einem Anfall von Ehrlichkeit machte ich mir klar, dass ich Elke aus purem Egoismus geweckt hatte. Ich wollte sehen, ob wenigstens in meinem Heim die Welt noch in Ordnung war. Ich selbst hatte guten Grund zu einem schlechten Gewissen, waren doch die im Verlaufe des Abends und der Nacht von mir gestarteten Annäherungsversuche nicht meinetwegen unschuldig ausgegangen.
Die Burger-Familie hatte sich die Ehre gegeben, etwa hundert Bürger der Stadt und ihrer Umgebung zu einem Empfang zu bitten. "U.A.w.g." stand unter der Einladung.
Immerhin erkannte ich auf Anhieb, was sich hinter den Buchstabencode verbarg, und kam der Bitte um Antwort nicht nach. Das Stadtereignis fand in dem Ableger einer internationalen Hotelkette statt, der erst unlängst seine Pforten geöffnet hatte und an dessen Errichtung der Chef der Burger-Werke nicht unbeteiligt war, wie man mir im Folgenden so oft vertraulich mitteilte, dass ich es glauben musste.
Die Familie, reduziert um eine ihrer Töchter, nach der sich die Gäste den Empfang lang untereinander, aber nie bei den Gastgebern selbst erkundigten, und mein Bruder hatten sich am Eingang des Saales aufgebaut. Übrigens scheint es das einzige Mal gewesen zu sein, dass Christoph sich sozusagen im Familienkreis aufhalten durfte.
Es ging zu wie auf einem Neujahrsempfang. Hätten die Gäste diese Einschätzung meinerseits geahnt, wären viele aus Unkenntnis stolz gewesen. Ich kann einen Neujahrsempfang beurteilen, denn ich habe einmal von berufswegen an einem solchen Zeremoniell auf Regierungsebene teilgenommen. Der zuständige Kollege wie auch sein Vertreter und dessen Vertreter samt dem Stellvertreter waren ausgefallen, so dass ich in meiner Funktion als Vertreter des Letzteren ausgesandt wurde. Man begeisterte sich, einander zu sehen, wünschte sich das Beste vom Besten in wohlgesetzten Worten und teilte einander mit, wie angenehm diese Begegnung sei.
Ich staunte, dass die Wangen des jungen Paares noch keine konkaven Einbuchtungen aufwiesen, obwohl jeder seine Vertrautheit durch einen Wangenkuss demonstrierte. Man denke: Hundert Küsse und mehr!
Dann stand oder wandelte man, hielt sich am Sektglas fest, heuchelte intensive Aufmerksamkeit für die anderen und drängte sich dennoch unaufhaltsam zu den Leckerbissen am Kalten Buffet vor, denn kaum einer hatte zu Mittag gegessen, da man nach der kirchlichen Trauung um zwei Uhr nachmittags auf angemessene Verpflegung zu hoffen wagte. Vergeblich mühten sich viele, mit dem Glas in der einen und dem Teller in der anderen Hand, in Ermangelung einer dritten eine der Gaumenfreuden zum Munde zu führen. Gegenseitig versicherte man sich, wie großartig alles angerichtet sei. Über Burgers ergoss sich Lob ohne Ende, als wüsste nicht jeder, dass die Hotelküche gearbeitet und der Chef der Burger-Werke nur in die pralle Börse gegriffen hatte.