Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid - E-Book

Wie ein Engel auf Erden E-Book

Hannelore Kleinschmid

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Beschreibung

Beate Blaugrün, alleinstehend, 53 Jahre, erwacht stumm und zunächst staunend aus einem Koma, in das sie am letzten Tag der DDR nach einem Selbstmordversuch gefallen war. Als Bibliothekarin hatte sie auf dem Bahnhof der thürinigischen Kleinstadt eine Bücherei der Deutschen Reichsbahn betrieben, die nach der Wende niemand mehr bezahlen konnte. Der Vorschlag, statt mit Büchern am Fahrkartenschalter zu arbeiten, trieb die Tochter eines stadtbekannten Arztes zur Verzweiflungstat. Ins Leben zurückgekehrt, wenn auch stumm, entdeckt sie nicht nur um sich herum Veränderungen, auch sie selbst hat sich verändert: Hormonströme wie in der Pubertät erregen sie und lenken ihr Sinnen und Trachten darauf, sich einen Mann zu verschaffen. Das geschenkte Leben soll ausschließlich der Lust dienen. Vom Koma zurückgeblieben sind Unsicherheiten in den Bewegungen, so dass sie sich daran gewöhnt, einen Gehstock zu benutzen. Erinnerungslücken scheinen sie nicht zu plagen. So findet sie das Wochenendgrundstück ihrer Eltern, das unerreichbar im DDR-Grenzgebiet lag, und richtet es her. Aber in der Kindheit ahnt sie einen weißen Fleck, der sie manchmal beunruhigt. Als in ihrer Umgebung Männer verschwinden, taucht bei Beate Blaugrün ein Polizeikommissar auf. Er ihr gefällt. Ist das Liebe, fragt sie sich.

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2020

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WIE EIN ENGEL AUF ERDEN

1. Teil

1.

Gott will, dass ich mich als Engel auf Erden fühle. Als Selbstmörderin ließ er mich nicht in sein Himmelreich ein, obwohl ich eine Ewigkeit an Petrus` Tor geklopft habe. Jetzt bin ich mit 53 Jahren ein medizinisches Wunder und erhalte Westrente.

Invalide zu sein, erinnert in meinem Alter an die Einbeinigen aus dem letzten Weltkrieg. Außerdem stempelt es ab. Man gilt als irgendwie behindert und nicht ganz zurechnungsfähig. Folglich sehe ich mich als Frührentner wie die halbe DDR, von der ich mittlerweile weiß, dass es sie nicht mehr gibt. Eine Frührentnerin bin ich als realsozialistische Frau indes nicht, denn wir hatten fast ausschließlich männliche Berufe. Selbst Margot Honecker, deren Gatte unter dem Schutt der jüngsten Geschichte inzwischen zunehmend mit zwei „n“ geschrieben wird, die blauhaarige Diktatorin sozialistischer Pädagogenscharen war nur Minister und keine „in“. Aber das ist an dieser Stelle unwesentlich.

Beate Blaugrün landete nicht mit einer Todesanzeige im vereinigten Deutschland, sondern nach ausgepumptem Magen bewusstlos im Krankenbett. Dort verspürte und vernahm ich nichts von den Wehen der Wende. Mit ausgeschaltetem Bewusstsein glitt ich hinüber in den Kapitalismus bundesrepublikanischer Prägung. Auch nach dem Ende des sozialistischen Gesundheitswesens tropfte die Infusion in meine Venen. Als selbstgeschaffenes Opfer der Einheit wurde ich zum Überleben animiert. Das unterscheidet mich von den Volkseigenen Betrieben.

Meines Wissens habe ich zwischenzeitlich weder das Jenseits besucht noch irgendwelche geistig und seelisch erweiternden Erlebnisse verbuchen können. Weitestgehend bin ich Beate Blaugrün geblieben, die man gern übersieht.

Zuerst hörte ich nur Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Es brummte und dröhnte um mich herum, und erst nach langer Zeit erkannte ich den grellen auf- und abschwellenden Lärm als Stimme eines Menschen. Wie lange ich danach wieder ins Nichts fiel, weiß ich nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, starrten meine offenen Augen eines Tages ins Licht. Eine Stimme explodierte so nahe bei mir, dass sie mich zu durchzucken schien und mein Körper von einem Krampf geschüttelt wurde.

"Sie erwacht! Sie erwacht! Sie kommt zu sich. Rufen Sie den Doktor! Schnell! Schnell!“ Aufseufzend fügte dieselbe Stimme hinzu: „Das Warten war nicht vergebens."

Damals habe ich diese Worte nicht begriffen. Aber Karin hat sie mir inzwischen gut hundertmal wiederholt. Sie ist meine beste Freundin. Im Grunde genommen, ist sie der einzige Mensch auf Erden, der mir nahesteht. Karin Ispen kümmert sich und verschwendet meinetwegen manchen Gedanken.

Sanftes Schwarz erlöste mich nach dem einen Augenblick aus Licht und Lärm. Erst beim dritten Erwachen hielt die Welt mich fest. Jedenfalls bis jetzt.

Ein langer, mühseliger Prozess begann, währenddessen ich mich mehr als einmal fragte, warum ich das alles auf mich nahm, wo ich doch hatte sterben wollen. Kein einziger Muskel meines Körpers war annähernd funktionsfähig. Meine Augen starrten aus dem Kopf heraus ins Krankenzimmer und erkannten nichts. Tage vergingen, ehe meine Ohren das Geräuschchaos zu ordnen anfingen. Ich erinnere mich, dass mir Karins Gesicht immer wieder erschien. Leise, ja monoton redete sie auf mich ein. Täglich erzählte sie mir von neuem, was geschehen war und wie wunderbar strahlend die lebendige Zukunft vor mir lag. Vorerst aber lag ich im Bett, verständnislos wie ein Neugeborenes, hilfloser als ein Baby. Für Karin war ich es tatsächlich: neu- oder wiedergeboren.

Die Ärzte beratschlagten über meine Aussichten, je ein Glied zielgerichtet bewegen und Zusammenhänge begreifen zu können. Wie üblich taten sie das ohne Rücksicht darauf, dass ich persönlich vor ihnen herumlag. Je mehr Zeit verging, desto schlechter standen meine Chancen, dem Rollstuhl und dem Pflegeheim zu entkommen. Tröstlicherweise mehrten sich die Momente, in denen ich Dinge und Menschen wiedererkannte.

Mit den Erinnerungen war und ist das allerdings so eine Sache. Oft weiß ich nicht, ob mir Karins Berichte Bilder vorgaukeln, wie es früher, damals, vor dem schwarzen Loch, alles gewesen ist, oder ob ich mich von allein darauf besinne.

2.

Zunächst landete ich im Irrenhaus.

„Du gehörst nach Pfaffi!“ war eine der übelsten Beschimpfungen meiner Kindertage gewesen. „Von den Idioten dort“ redeten die Leute, wenn sie die Patienten der Nervenheilanstalt Pfaffenroda meinten. Die braven Bürger schämten sich auch als Genossen der „Klapsmühle“, zu der die Kranken, Lahmen und Bedürftigen des ganzen Bezirkes in unsere Stadt gebracht wurden. Naja, in ihren Randbereich. Bereits im vergangenen Jahrhundert hatte man die Backsteinhäuser und -Villen hinter einer hohen Mauer verborgen, die mit Glasscherben und Stacheldraht obenauf in den bösen tausend und den nachfolgenden rosaroten Jahren von Büschen und Bäumen überwuchert wurde. Um die Anstalt zog sich parkähnliches Gelände, das dank des Mangels an Arbeitskräften den allmählichen Übergang vom sozialistischen Gärtnereiwesen zum Urwald veranschaulichte. Der Ort blieb tabuisiert, obgleich er fußläufig vom Stadtzentrum entfernt war.

Als Kinder wagten wir uns gelegentlich bis in die Nähe der Mauer, und die erhoffte Begegnung mit einem Patienten jagte schon vorab eine Gänsehaut über den Rücken. Bei unzähligen Geschichten über Geisteskranke gruselte es uns wunderbar.

Behutsam versuchte Karin, mich auf die Zeit in der Irrenanstalt vorzubereiten. Die Medizinmänner und -frauen priesen das wunderbare Wunder und meinten mich. Sie zogen im Laufe der Zeit alle Schläuche aus mir heraus und erklärten meine Körperfunktionen für weitestgehend normal. Dass ich mich nur unzureichend bewegen und gar nicht laufen konnte, schien nur mir unangenehm aufzufallen. Keiner störte sich daran, dass mein Mund stumm blieb. Oder doch? Warum wollte man mich in die Klapse abschieben?

Ich traute meinen Ohren nicht, als Karin, ohne zu stottern, vom Rehabilitationszentrum Pfaffenroda sprach und die Wendungen erklärte, die die Nervenheilanstalt vollbracht habe, um zu überleben. Meine grauen Zellen hatten dereinst gelernt, dass Kliniken zum Überleben von Patienten da sind und nicht umgekehrt die Patienten für das Überleben der Kliniken. Doch ich stufte diesen Gedanken als rückwärtsgewandt ein. Er war wohl sozialistisch geprägt.

„Pfaffi!“ dachte ich und ließ über mich ergehen, was ich nicht verhindern konnte. Zu meinen Lebenserfahrungen gehört, dass man als Patient so gut wie nichts verhindern kann. Es gibt keinen Zustand, in dem der Mensch mehr ausgeliefert ist. 

Zum Abschied legte mich das Krankenhauspersonal auf eine Trage, und die Sanitäter schnallten mich fest, weil das den Vorschriften entspricht, wie mir erklärt wurde, obgleich ich nicht gefragt hatte.

Ohrensausen zeigte mir, wie sehr ich mich aufregte entgegen meiner Absicht, gelassen zu sein. Unter dem Torbogen der Heilanstalt, den ich vom Krankenwagen aus nicht sehen konnte, schwanden mir die Sinne, während der Fahrer mit dem Pförtner verhandelte und der Schlagbaum geöffnet wurde. Mein Kopfinneres fiel in Ohnmacht. Mein angeschnallter Körper fiel nicht, er blieb liegen.

„Aber das Kind ist nicht verrückt!“ Ich hörte die erregte Stimme meines Vaters.

„Das sagen sie alle.“ wurde energisch erwidert. „Alle Eltern sagen das!“

3.

Heute bin ich sicher, dass mir allein Karins geduldige Wiederholung meiner Geschichte auf die Beine geholfen hat. Es klang in meinen Ohren beinahe salbungsvoll, wenn sie vom Wunder meiner Wiedergeburt sprach, die sie, ohne rot zu werden, als frühere Rote mehr als einmal Auferstehung nannte.

Meine Beine waren noch sehr zittrig, als erstmalig die paar Schritte zum Rollstuhl gelangen, und die Knie waren noch immer wacklig, als mich Karin zum ersten Mal im neuen Leben in meine alte Wohnung brachte. Wir fuhren in ihrem schönen Westauto, das ich mit Blicken bewunderte.

Alte und neue Häuser in leuchtenden Farben grüßten mich unterwegs unbekannterweise, während die altersgrauen Gebäude dazwischen sich trübsinnig und schicksalsergeben dem Verfall überließen. Kurz bevor wir das Viertel mit den eintönigen Wohnblocks erreichten, an das ich mich in vielen Jahren als mein Zuhause gewöhnt hatte, staunte ich über die hellerleuchtete Tankstelle. Ich konnte mich nicht erinnern, was sich früher an diesem vielversprechenden Fleck befunden hatte.

"Die Tankstelle ist super." schien Karin meine Gedanken zu lesen. "An allen Ecken und Enden findest du neuerdings Tankstellen, die zu jeder Zeit alles Mögliche für teures Geld verkaufen. Erinnerst du dich noch, wie lange wir manchmal mit dem Trabbi in der Schlange vor der einzigen Zapfsäule weit und breit gestanden haben? Naja, dafür spielte das Geld nicht so eine verdammt wichtige Rolle wie heute."

Augenscheinlich kamen Karin und Fritz mit dem Geldverdienen unter realkapitalistischen Verhältnissen gut zurecht. Immerhin hatte Karin ihren Trabbi gegen den silbrig glänzenden Wagen eingetauscht, der nahezu geräuschlos dahinglitt. Schwindlig vom Schauen lehnte ich in seinen Polstern. Fürsorglich hatte mich Karin angegurtet. Fragen gingen mir durch den Kopf. Aber ich genoss die neue Erfahrung, dass man nichts versäumt, wenn man ein paar unbeantwortete Fragen erträgt.

"Gleich wirst du staunen!" versprach meine Freundin. "Eure Häuser sehen nämlich irgendwie richtig toll aus. Erstaunlich, was so ein bisschen Farbe bewirken kann. Wenn sie hält!"

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich auf Karin und am Geländer hängend in den ersten Stock des Hauses hievte, in dem sich meine bejahrte Zwei-Raum-Neubauwohnung befand. Ich wusste, dass das Herzrasen nicht allein von der körperlichen Anstrengung herrührte, sondern vor allem von der Aufregung. In wenigen Augenblicken würde ich meinem Früher begegnen. Was würden mir meine Habseligkeiten über Beate Blaugrün sagen? Was würde ich in dem Zimmer empfinden, in dem ich hatte Schluss machen wollen?

Für die frühere Beate schien es typisch zu sein, dass die Aktion Selbstmord nicht geglückt war. Warum ich mich umzubringen versucht hatte, reimte sich mein komatös geleerter Kopf mühselig zusammen. Wie Mosaiksteinchen fügte ich die Gründe aneinander. Doch wie verzweifelt ich am 2. Oktober 1990 gewesen sein musste, konnte ich nicht mehr nachempfinden. Es kam mir lächerlich vor, dass ich Dramatik in mein kleines Leben hatte bringen wollen. Aber Durchschnittsmenschen wie ich verzweifeln eben am Dasein, wenn Veränderungen sie aus den vertrauten Bahnen zu werfen drohen. Oder wenn jemand wie ich das denkt!

Jedenfalls fühlte ich nichts von meiner damaligen Depression, als ich vor dem Bett stand, auf dem mich niemand anders als Karin gefunden hatte. Nur ein einziger Gedanke beherrschte mich, während ich - nach Atem ringend - meiner Wohnung wiederbegegnete: Sie war fürchterlich eng und vollgestopft mit allem möglichen Zeug. Hier bekam man keine Luft. Die schweren Möbel aus der Hinterlassenschaft meiner Eltern wirkten erdrückend. Dass ich das nie bemerkt hatte, wunderte mich.

Nachdem mein Vater "nach langem, mit großer Geduld ertragenem Leiden" - wie ich in der Todesanzeige log - "eingeschlafen" war, floh ich die großen dunklen Räume, in denen ich mein Leben, seitdem ich denken konnte, zerronnen war. Mit meinem kleinen Gehalt als Bibliothekarin bei der Deutschen Reichsbahn hätte ich die Miete schwerlich aufbringen können, obgleich ihre Geringfügigkeit zu den sozialistischen Errungenschaften zählte. Die Riesenräume im ersten Stock der alten Villa, in denen sich die Vorhänge bei geschlossenen Fenstern bewegten, wenn draußen Wind wehte, fraßen Kohlenberge, waren aber nur schwer warm und sauber zu halten. Das hatte ich ausgiebig am eigenen Leibe erfahren. Mein Vater, der Arzt Doktor Blaugrün, hatte, solange meine Mutter lebte, stets eine Haushaltshilfe bezahlt. Erst nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, musste seine einzige Tochter als Dienstmädchen zur Verfügung stehen. Tatsächlich stand sie zur Verfügung, die brave Beate, deren Beruf der Herr Akademiker nie ernstnahm.

„Bücherwurm, mach mal!" pflegte er anzuordnen. Fünfzehn Jahre habe ich als gehorsame Tochter den Haushalt geführt und mit ihm, ohne je zu widersprechen, die Wohnung geteilt.

Warum fing ich kein neues Leben an, nachdem die Zwänge abfielen und ich von Vater und Wohnung befreit war?

Ich weiß es nicht. Die herrschsüchtige Stimme hatte mich so lange im Zaum gehalten, was bei meiner Art nicht schwer war. Auch ohne sie blieb ich die gehorsame Tochter.

Für mich kinderloses Fräulein verhießen die Bestimmungen über Wohnraumlenkung in der Ehemaligen nach Vaters Tod eine Ein-Raum-Wohnung. Doch mein geschäftstüchtiger Erzeuger hatte mich vorausschauend in einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft angemeldet, so dass ich eine AWG-Wohnung mit zwei Zimmern beziehen durfte.

Braunkohle gab es im Land, und Kohleöfen erlaubten billiges Bauen. Zudem bedeutete für die werktätigen Menschen Ofenheizung eine echte sozialistische Hilfe zur Gesunderhaltung. Treppauf und treppab zu laufen, war für Bürger mit sitzender Tätigkeit staatliche Fürsorge. Asche runter und Kohlen hoch - lautete der Rhythmus, dessen Tempo sich daraus ergab, wie warm es einer haben wollte.

Als ich jetzt gegen die kalte Ofenwand gelehnt stand, umschlossen mich meine vier Wände alptraumhaft, obwohl Karin die Wohnung gelüftet und einen Blumentopf zur Begrüßung auf den Couchtisch gestellt hatte. Das Gewächs mit den weißen Blüten, das an einen gebogenen grünen Plastikstab gefesselt war, sah ich zum ersten Mal. Trotz der vielen Blüten tat es mir leid. "Geht es dir nicht gut?" fragte die einzige Freundin. Offenbar spiegelte meine Miene etwas von dem Alptraum wider, der mich umfangen hielt.

In meiner neuen Situation erlaubte die Frage keine eindeutige Antwort. Wenn ich nickte, besagte das: Ja, es geht mir nicht gut. Wenn ich den Kopf schüttelte, hieß es: Nein, es geht mir nicht gut. Um irgendeine Antwort zu geben, schüttelte ich den Kopf.

Gewöhnt alle Schwierigkeiten des realsozialistischen Alltags zu meistern, würde mich Karin gewiss von Möbelstücken befreien können, die diese beiden Zimmer überfüllten.

4.

Als Karin mich nach dem ersten Besuch in meiner Wohnung wieder nach Pfaffi fuhr, starrte ich aus dem Fenster, schweigend, wie es meine neue Art war. In der Beziehung zu Karin fiel das nicht weiter auf. Wenn ich mich auf den Erinnerungspfad in die DDR begebe, höre ich Karin reden, sehe mich von Zeit zu Zeit nicken und zu einem wehleidigen Aber ansetzen, dem selten ein vollständiger Satz folgte.

Im Laufe unserer Bekanntschaft wurde ich zu ihrem dritten Kind. Darin lag wohl der wahre Grund für unsere wunderbare Freundschaft. Das Mutter-Kind-Verhältnis war der Leim für unsere Bindung. Dabei war sie, seitdem ich sie kannte, nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern zusätzlich für das Wohl und Wehe einer ganzen sozialistischen Kinderkombination zuständig, die Krippe und Kindergarten vereinte in einem Bauwerk, wie es sich überall in der Republik zweckgebunden wiederfand.

In Karins Herz war so viel Raum, dass sie mich im zarten Alter von vierzig Jahren als Vollwaise in ihren Familienkreis aufnahm.

Wir liefen zusammen. Wir joggten hintereinander her oder nebeneinander, und es war die schönste Zeit in meinem Leben. In meinem ersten Leben, füge ich zur Unterscheidung hinzu, denn das neugewonnene soll - wie ich mir selbst dauernd denke - nichts als genussreiche Zeiten bringen. Die Depressionen schicke ich sonst wohin, lasse sie den Bach runter und allein in die Hölle gehen. Im neuen Leben schlucke ich alle Pillen, derer ich habhaft werden kann. Wenn sie mir zu rosiger Stimmung verhelfen, muss nicht eine einzige von ihnen durch die Abflussrohre in die Kanalisation schwimmen.

Dass ich mit Karin joggte, machte Fritz zwar manchmal eifersüchtig - sofern ein wortkarger Mann das überhaupt zu zeigen vermag -, in mir weckte der Dauerlauf jedoch Begeisterungsschübe. Übrigens bin ich keineswegs lesbisch. So zu denken, wäre falsch. Unter Karins Fittichen war ich zehn Jahre lang Kind und durfte es sein! Mehr war da nicht. Das schwöre ich.

Bei dieser ersten Ausfahrt wurde mir nicht klar, ob Erinnerungslücken oder die Veränderung der Welt bewirkten, dass ich mich fremd fühlte. Energisch musste ich mich gegen die Angst wehren, die sich ausbreiten wollte und hohnlachend all meine Hoffnungen auszulöschen drohte, ich nähme von nun an das Leben auf die leichte Schulter. 

5.

Wie eine sichere Fluchtburg kam mir das Krankenzimmer  - oder genauer: das Zimmer in der Rehabilitationseinrichtung - vor, in das ich erschöpft zurückkehrte. Ohne mich auszuziehen, sank ich auf das Bett und drehte mich zur Wand. Nach kurzem Zögern verließ Karin den Raum. Beim Hinausgehen wurde sie noch viele gute Wünsche los.

Sie meinte es immer nur gut. Ich wusste das. Aber manchmal machte sie mich nervös.

In dem weißen Zimmer, das noch immer untrüglich nach Krankenhaus roch, lag ich ganz allein, entspannt und unbeweglich.

In diesem Zustand fühlte ich mich wohl. Er diente der Vorbereitung auf das neue Leben. Ich übte, indem ich meine Augen schweifen ließ, die Sachen zu benennen, die ich sah.

Das war anfangs kein Kinderspiel, sondern schweißtreibende Arbeit. Manchmal trieb mir die Verzweiflung Tränen in die Augen, weil mir ein Begriff wie Lichtschalter oder Fenstervorhang oder Türgriff nicht einfallen wollte. Dass das Ding in der Schublade des Nachttisches Pinzette heißt, kostete mich eine Woche quälenden Grübelns.

Irgendwie steckte die Neugier auf den Westen in mir, wie sie dereinst fast alle Bürger der Ehemaligen geplagt hatte. Jedenfalls kämpfte ich auf der körperlichen Ebene um gezielte, koordinierte Bewegungen und auf der geistigen um Wörter und Begriffe, wie sie zu Dingen und Lebewesen, Erscheinungen und Handlungen gehörten.

Vor dem Einschlafen konzentrierte ich mich im Finstern auf meinen Körper und suchte nach den Bezeichnungen für die einzelnen Teile: Großer Zeh, Zehnagel, Ferse und Fersenbein, Knie und Kniescheibe, Oberschenkel, Hüfte, Bauch und Nabel und dazwischen - wie nennt sich das?

Ich weiß nicht mehr, ob es in der dritten oder vierten oder fünften Woche geschah, in der ich das Spiel wiederholte. Vielleicht war es auch der vierte oder fünfte Monat meiner Rehabilitation. Wichtig ist, dass es überhaupt geschah!

Als ich meine Oberschenkel hinauf dachte, spürte ich zum ersten Mal im neuen Leben, dass ich eine Frau bin. Ich überließ mich dem aufkeimenden Gefühl und vergaß die Suche nach Begriffen. Was mich da überkam, hatte in meinem vorigen Leben keinen Namen gehabt. Vor lauter Scham oder Verschrobenheit benutzte ich die Wörter nie, mit denen die vermutlich schönsten Dinge im Leben vom Volksmund bedacht werden. So sehr war ich Opfer meiner Erziehung, dass ich nicht einmal im Geiste ordinär war.

Erotische Literatur gehörte im Sozialismus selbst für mich als Bibliothekarin zu den Engpässen. Vom Kamasutra bis zu Henry Miller herrschte nichts als Mangelware. Nur selten fanden sich in den Bücherschränken von Leuten, die nicht ausgebombt waren, bemerkenswerte fotografische Kulturgeschichten und Bände mit abgegriffenen Seiten.

Mein Vater verleugnete solcherlei Besitz. Da ich nach seinem späten Tod keinen einzigen Papierschnipsel entdeckte, der ihn als Pornographie liebenden Mediziner ausgewiesen hätte, muss er sein Bekenntnis zu den Roten so weit getrieben haben, dass er unanständiges Schriftwerk vernichtete.

Als alte Jungfer hatte ich mich stets mit mir selbst zufriedengeben müssen. Einige Gläser Wein halfen mir dabei. Aber Alkoholprobleme bekam ich nie. Dafür gibt es ausreichend Zeugen.

Meinen Händen gestattete ich, was in Worte zu fassen, ich mir nicht erlaubte. Als geeigneter Ort erschien mir die Höhle unter der Bettdecke, in der ich meinen hochroten Kopf versteckte.

Da mich nie jemand berührte, musste ich es selbst tun. Ich malte mir Begegnungen mit wunderbaren Männern aus, bis es schließlich ein Fingerspiel war, mich zu beglücken. So tröstete ich mich darüber hinweg, dass kein liebevoller, zärtlicher, gutaussehender, sportlicher, intelligenter Mann auf das Kissen an meiner Seite gefunden hatte. Insgeheim war ich sogar stolz, weil Phantasie und Konzentration ausreichten, auf meiner lieblosen Lagerstatt nicht jedes Gefühl vertrocknen zu lassen.

Pornos, Massagestäbe und andere Hilfsmittel, die die andere Beate reichmachen, brauchte ich nicht. Wäre es anders gewesen, hätte ich mich damit begnügen müssen, altjüngferlich zu welken. Sexutensilien gehörten ebenfalls zu den Mangelwaren im realen Sozialismus. Es sei denn, man besaß schmuggelfreudige Westbekannte und -verwandte. In manchem Freundeskreis wurden zu aller Ergötzung Privatfotos herumgereicht, auf denen Klaus` Ehefrau Bärbel gerade den Büstenhalter löst und ein Foto weiter aus dem Slip steigt. Selbstverständlich saß eine unverheiratete Person wie ich nicht in diesen anregenden Runden. Außerdem hätte ich mich spätestens nach dem siebten anzüglichen Witz zurückgezogen. Aber dazu hatte ich nie Gelegenheit.

Ich war ein hässliches Kind.

Wer wird nicht zum unglücklichen Menschen, wenn ihn dicke Brillengläser und Hasenzähne verunzieren? Auch der Wunsch meines Vaters nach einem Sohn trug nicht dazu bei, mich in eine harmonische Beziehung zu meinem Selbst zu bringen.

Bereits in der sechsten Schulklasse wusste ich, dass ich nie einen Mann finden würde. Ich habe recht behalten wie in vielen Dingen, die mein erstes Leben betrafen. Und das Ach-wo und Das-siehst-du-nicht-richtig und Warum-denn-nicht? beweisen mir, wie scheinheilig und lügnerisch die Welt veranlagt ist.

An jenem Tag, der nach meinem Erwachen als besonderer hervorgehoben zu werden verdient, lag ich gefühlvoll im Krankenbett. Ich versuchte mich zu erinnern, mit welchen Bewegungen an welchem Fleck meine Finger die Jünglinge ersetzt hatten, die nicht zu mir gekommen waren. Beglückenderweise arbeitete mein Gedächtnis in diesem Bereich nach und nach fast vollkommen.

Während ich in dem öden weißen Zimmer ganz allein auf der Matratze lag, tat ich mir Gutes in bekannter Weise und erlebte Unbekanntes. Eine Explosion erschütterte mich. Ich bäumte mich auf, um dann entspannt auf die gesundheitsfördernde Unterlage zu sinken. Mein ganzer Körper wurde von göttlichen Empfindungen durchströmt. Das neue Leben erschien mir in rosigem Licht. 53 Jahre musste ich werden, ehe sich mir die Krone aller Gefühle offenbarte. Jedenfalls nahm ich an, sie nun endlich gespürt zu haben.

6.

Seitdem ich zu neuem Leben erwacht war, brachte mir Karin, die mich fast jeden Tag besuchte, Zeitungen und Zeitschriften mit. Als die Muskulatur in Händen, Armen und Schultern sich langsam auf die vergessenen Funktionen besann, sah ich mir zunächst die erste und die letzte Seite der Blätter an. Die bunten Geschichten aus aller Welt, Autounfälle und Verbrechen reizten mich am ehesten, Buchstabe für Buchstabe Wort um Wort zusammenzusetzen.

Immer wieder ermahnte ich mich, die Gräuel dieser Welt wie eine Außerirdische zu betrachten. Das geschenkte Leben wollte ich nicht ernstnehmen. Nachdem ich freiwillig den Tod gewählt hatte, wäre beinahe alles zu Ende gewesen. Dass ich noch atmete, war ein Geschenk, das ich mal als Gabe Gottes und mal als Kunstbeweis der modernen Medizin wertete.

Vom Tod aus gesehen, gab es im Grunde genommen nichts, das schwer wog und einen Menschen unglücklich machen durfte. War diese Erkenntnis nicht eine wunderbare Weisheit? Daran wollte ich mich fortan klammern.

Ich lag im weißen Bett, hatte das Kopfteil hochgestellt, die Knie angezogen und blätterte in der Zeitung vom Vortag. Nach zähem Üben bildeten sich nun wieder wie früher beim Lesen Bilder vor dem geistigen Auge. Irgendwie - ich weiß nicht warum - faszinierte mich der Hautarzt, der Prostituierte in seine Wohnung verschleppt und ermordet haben sollte. Ausführlich wurde geschildert, wie er sie betäubt, benutzt und in der Badewanne umgebracht hatte, um sie als Tote ein weiteres Mal zu missbrauchen.

Handelt es sich eigentlich um eine Vergewaltigung, wenn die Frau bereits eine Leiche ist, fragte ich mich. Und überhaupt, kann eine Frau, die ihren Körper verkauft, vergewaltigt werden?

Lange starrte ich auf das Zeitungsbild des Doktors. Er blickte nett und ein wenig verlegen in die Kamera. Wer konnte ahnen, welche Abgründe sich hinter der unauffälligen Fassade verbargen?

Ich lächelte dem Konterfei zu - mit zusammengepressten Lippen, wie ich es mir als Kind angewöhnt hatte. Auch nachdem ich die Hasenzähne hatte ziehen lassen, hielt ich meinen Mund beim Lachen geschlossen. Zwar sehe ich vermutlich besser aus, aber zu meiner großen Enttäuschung brachten mir die Kunstzähne nichts. Ich fühlte mich genauso hässlich wie vorher.

Der Hautarzt war ein Mörder. Seine Opfer hatte er entsetzlich zugerichtet. Zerstückelt worden seien sie, hieß es. Ich stellte mir vor, wie er es tat. Blut sah ich und ein großes Küchenmesser. Das Messer war scharf. Bewegte man es ein wenig, sprang die Haut auf. Zuerst blieb sie weißlich. Dann traten Bluttropfen hervor. Ein Rinnsal entstand. Woran erinnerte es?

Ein lauter Knall riss mich hoch. Erschrocken blickte ich mich um. Der Wind hatte das Fenster aufgestoßen. Eine Tasse war heruntergefallen. Ich wusste nicht, wie sie auf die Fensterbank geraten war. Die Zeitung war auf den Boden gerutscht. Ich hatte geträumt.

Mein Körper war gereizt bis an den Rand einer Explosion. Mit der Hand drückte ich beinahe brutal zu und löste das wunderbare Gefühl aus.

Als ich mich wieder entspannte, verdrängte ich jeden beunruhigenden Gedanken. Ich hatte geträumt. Sonst war nichts geschehen. Doch das Bild von dem Messer, das die Haut ritzt, suchte mich heim. Es ließ mich nicht los und verstörte mich. Was hatte das Küchenmesser mit mir zu tun? Warum erregte mich der Schnitt auf der Haut, der zögerlich blutet?

Mein Herz klopfte spürbar. Mein Puls flog. Mein Kopf fühlte sich leer an. Ich konnte nicht ergründen, was mir geschah.

Das Koma hatte keine Erinnerungslücken hinterlassen.

Oder doch? Wusste ich wirklich alles, was gewesen war?

Ein Mensch über Fünfzig kann nicht mehr beliebig jedes Ereignis aus seinem Gedächtnis hervorkramen.

Ich bildete mir ein, alles über mich zu wissen. Aber wenn ich jetzt an den sommersprossigen Jungen dachte, der mit seiner Familie in der Kellerwohnung unter Blaugrüns hauste, verschwamm das Bild im Nebel. Warum fiel mir der unscheinbare Knabe ein?

Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Ich wusste nicht, weshalb mir das wichtig erschien, geradezu lebenswichtig.

Doktor Blaugrün, der Medizinmann, deckte alles zu. Er schirmte mich ab, streng, mit drohender Gebärde. Unvermittelt hörte ich seine Stimme dröhnen: „Lass das, Beate! Tu das nie wieder!“ Das Nie klang langgezogen, als wollte es nie aufhören.

Blaugrün hatte mein Leben im Griff, sogar über den Tod hinaus. Bis ich nicht mehr hatte leben wollen unter seiner ungnädigen Fuchtel!

Mein Vater hatte mir vieles verboten. Unerbittlich mischte er sich ein. In der Schule beneidete mich niemand um den strengen Doktor. Geschrien hat er selten. Mit hochrotem Kopf „Tu das NIE wieder!“ gebrüllt hatte er vermutlich nur ein einziges Mal.

So sehr ich auch grübelte, ich konnte das Grau nicht durchdringen. Stattdessen spürte ich fast schmerzhaft eine Leere im Hirn. Es ist das Koma, dachte ich. Oder der geistige Abbau im Alter beginnt bereits.

Falls ich nicht erinnerte, was sich damals abgespielt hatte, würde es für immer verhüllt bleiben. Geschwister besaß ich nicht. Die Eltern waren tot. Nahe Verwandte gab es nicht hier in der Stadt. Auch keine entfernten. Die lebten seit Jahrzehnten in fernen Welten.

Ich streichelte mich. So konnte ich das Unbehagen verdrängen. Später malte ich mir meinen Traummann aus und stellte mich mutig dem Gedanken an sein Glied.

Ist einer bewusstlos - so dachte ich aus welchem Grund auch immer -, kann eine Frau wenig mit ihm anfangen. Hingegen vergeht sich mancher Mann sogar an einer toten Frau.

Zwar sah man in der Ehemaligen die Gleichberechtigung als verwirklicht an, aber biologisch gesehen waren Frauen in einer wichtigen Hinsicht benachteiligt.

 

7.

 

Es klopfte. Da ich nicht herein sagte, was das Personal im Krankenhaus wusste, zählten alle offenbar immer bis drei oder vier, bevor sie die Tür öffneten. So geschah es auch diesmal. Hereintrat der junge Arzt im Praktikum, dessen Anblick mich erfreute. Also fiel es mir nicht schwer, mich aus meinen Träumen zu reißen.

Schlank und muskulös, hielt sich der Jungmediziner, was bei großgewachsenen Personen selten der Fall ist, ausgesprochen gerade. Spräche ich, fragte ich ihn, ob sein Vater ihm auch immer den Gehstock auf dem Rücken quer durch die angewinkelten Arme geschoben und "Geh gerade!" verlangt habe. Für mich war das eine Tortur gewesen, die mir bis heute Spaziergänge verleidet. Gebracht hat sie nichts, weil mein gekrümmter Rücken nicht durch Nachlässigkeit, sondern durch den Scheuermann bedingt ist. Als praktischer Arzt hätte mein Vater verformte Wirbel in Betracht ziehen sollen. Aber ich spürte sowieso, dass die Quälerei mehr mit seiner Enttäuschung zu tun hatte, nur eine Tochter statt eines Sohnes gezeugt zu haben, als mit meiner Körperhaltung.

 

Der junge Arzt erschien mir als Musterbeispiel seines Berufsstandes. Aus blauen Augen blickte er die Patienten ernsthaft an und erweckte den seltenen Eindruck, zuhören zu können. Allerdings war ich unfähig, das auszuprobieren.

Als ich wieder schreiben konnte, notierte ich jeden Tag zwei bis drei Fragen für die Ärzte und Physiotherapeuten. Nach dem täglichen „Wie-geht-es-uns-denn-heute?“, das ich mit Schütteln oder Nicken beantworten durfte, ohne dass je eine Reaktion darauf erfolgte, wurden im weißen Kreis ein paar Wortfetzen gewechselt, die ich nie verstand. Letzteres ist ärztliche Gepflogenheit und hatte nichts mit dem Zustand meiner Ohren oder meines Gehirns zu tun. Manchmal gelang es mir, den Zettel in eine Ärzte- oder Pflegerhand zu drücken und auf die erste Frage einen schnellen Satz zu hören.

 

In den Zeitungen standen Überschriften, einen Gesundheitsminister Seehofer und seine Reformen betreffend. Von Kostendämpfung war die Rede, und dass alles viel zu teuer sei. Wenn die wöchentliche Reha-Visite an meinem Bett vorbeihastete, überlegte ich, warum das teuer sein sollte. Für diesen mir unbekannten Minister beeilte sich das medizinische Personal jedenfalls aus Leibeskräften.

 

Holger Vormüller schien anders zu sein. Die misstrauische Stimme in meinem Hinterkopf warf ein: Noch ist er anders! Wird er ein richtiger Doktor, lernt er das Vorbeihasten schnell.

Jetzt aber trat der schöne Medizinmann an mein Bett und blickte schüchtern, woraufhin ich in seine markanten Züge unter dem blonden lockigen Haar lächelte, um ihn zu ermutigen.

"Liebe Frau Blaugrün," begann er, "ich habe da ein Anliegen." Das hatte ich mir gedacht, war jedoch in der glücklichen Lage, mich mit schlichtem Weiterlächeln begnügen zu können. 

"Sie haben sicherlich vernommen, dass Ihr Erwachen aus dem Koma an ein Wunder grenzt, noch dazu, wo Sie offensichtlich kaum Ausfallerscheinungen haben. Natürlich macht der vorübergehende Verlust der Sprache Ihnen zu schaffen."

Ein netter Junge, dachte ich, was weiß er schon vom Leben und noch dazu von einem zweiten Leben!

„Ich schreibe meine Doktorarbeit, und der Zufall will es, dass ich mir das Thema gewählt habe, inwieweit das menschliche Gehirn dazu in der Lage ist, ausgefallene Funktionen zu ersetzen. Mal vereinfacht gesagt."

Dazu dachte ich keinen Kommentar, sondern ahnte, was folgen würde. Immerhin hatte man mir bereits mehr als einen Fragebogen vorgelesen, und ich hatte mit Kopfnicken oder -schütteln geantwortet, nachdem ich so wunderbar erwacht war und dadurch zum Ruhme des städtischen Gesundheitswesens beitrug.

Holger Vormüller fragte mich etwas umständlich, ob ich in der Lage und willens sei, ihn - was der Chef genehmigt habe - zu einer Tagung in die frühere Bezirksstadt zu begleiten, die zur Landeshauptstadt aufgestiegen war. Ich ahnte, dass ich als Versuchskaninchen auftreten sollte. Ich wiegte mein Haupt und kritzelte auf einen Zettel: "Bedenkzeit!"

Freundlich lächelnd und in unangemessen väterlichem Tone Wohlbefinden wünschend, trat der junge Arzt ab.

Mein Kopf beschäftigte sich nicht mit seiner Frage, sondern mit seinem Bilde. Ich zog ihn aus, legte ihn auf mein Bett im Schlafzimmer und ließ ihn dort liegen, wo ich - nur noch mit einem Hauch am Lebend hängend - gelegen hatte, als mich Karin fand.

Wieder einmal bemerkte ich, wie es mich überkam, ohne dass ich der geringsten Nachhilfe bedurfte.

Ich wollte mir keine Gedanken darüber machen, welches Chaos im Hormonhaushalt einer Frau herrschen muss, die die Wechseljahre im schwarzen Loch verbracht hatte, sondern genoss meine neuen Möglichkeiten ausgiebig, bis eine Schwester ins Zimmer trat. Weil sie nicht angeklopft hatte, durfte sie über mein verzücktes Lächeln staunen, falls sie wollte.

 

8.

 

An einem Abend, an dem die Sonne blutrot unterging, redete Karin hastig, wie sie gekommen war. Ohne Punkt und Komma sagt man dazu. Ich betrachtete die Sonne und malte mir aus, wie befriedigend es sein müsse, wenn man malen und das grandiose Schauspiel im Bild festhalten könnte. Plötzlich erschrak ich. Was war das? Was hatte Karin gerade gesagt? Die Worte waren durch mich hindurchgerauscht, aber ein einziges hatte getroffen. Vorsichtshalber achtete ich von nun an, auf Karins Worte.

"Weißtdueigentlichwielangedujetztschonaufgewachtbist?" Sie hatte eine Frage gestellt, auf die sie keine Antwort erwartete. Es gelang mir nicht, Wörter aus dem Buchstabensalat zu filtern. Ich zog die Stirn in Falten. Zufällig sah Karin mich an. Daraufhin schüttelte ich ganz sacht den Kopf. Kein richtiges Nein sollte das sein, sondern ein bisschen Zweifel. "Washastdu?" fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. Sie hatte eine Erleuchtung: "Ich rede zu schnell, oder? Fritz beschwert sich dauernd darüber." Ich nickte und war wieder einmal erstaunt, wie gut der Mensch ohne Worte auskommt.

"Also" sagte meine beste Freundin, "also," wiederholte sie langsam, "seitdem du aufgewacht und Rekonvaleszentin bist, machst du tolle Fortschritte. Das hat der Oberarzt vorhin zu mir gesagt. Ich bin ihm auf dem Flur begegnet. Sie denken daran, dich zu entlassen."

Wahrscheinlich wurde ich blass, denn Karin fuhr fort: "Das ist ein Riesenerfolg für dich. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Wie du weißt, kann ich alles organisieren. Ich bin doch jetzt Amtsleiterin im Sozialamt und kenne mich aus."

Von der Amtsleiterin wusste ich nichts. Ich hatte es nicht wissen wollen, weil es mich nicht interessierte. Jetzt stieg wie eine Flutwelle Panik in mir auf. Nach Hause! Nach Hause? Was sollte ich in den überfüllten zwei Zimmern! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich mit Alltagsdingen beschäftigte wie Einkaufen, Saubermachen und abends Fernsehen.

In Pfaffenroda gefiel es mir. Ich war für nichts verantwortlich und bekam mehr Beachtung als je zuvor im Leben. Ein Ende dieser Geborgenheit hatte ich nicht in Betracht gezogen. So einfach war das!

"Regdichnichtauf!" steigerte Karin für meinen plötzlich vollgestopften Kopf das Redetempo zu sehr. Ich ließ sie reden, bis ich nach Minuten das Wort Physiotherapie aufschnappte und festhielt. Jemand würde mir helfen und sich kümmern. Ob ich mir dafür einen Mann aussuchen könnte?

 

"Du-wirkst-abwesend." sagte Karin mit deutlichen Pausen zwischen den Worten. "Hast-du-alles-verstanden?" Ich zog es vor, den Kopf zu schütteln. Nun lieferte sie eine leicht verständliche Kurzfassung: "Du darfst damit rechnen, bald hier entlassen zu werden. Wahrscheinlich wirst du aber noch längere Zeit Behandlungen erhalten. Von einem Physiotherapeuten, vielleicht auch von einem Psychologen. Je nachdem, was du brauchst. Dir wird weiterhin geholfen. In der neuen Zeit.“

Mit kläglichem Lächeln nickte ich.

Zum ersten Mal seit langem siegten beim Einschlafen trübe Gedanken. Es gelang mir nicht, in einen lustvollen Traum hinüberzugleiten.

9.

Am nächsten Morgen klopfte Holger Vormüller schon frühmorgens an meine Tür. Noch hatte ich nicht entschieden, ob ich für ihn als Versuchskaninchen auftreten wollte. Doch der junge Arzt fragte nichts, sondern erklärte mir stattdessen meinen Gesundheitszustand. Wie ein Patient sich fühlt, weiß der Halbgott am besten. Mir attestierte der junge Viertelgott, ich sei gesund. Ärgerlich griff ich zu einem Zettel. Das tat ich selten, weil mein Schweigen alles um mich herum so angenehm in Watte packte. Diesmal aber kritzelte ich:

WARUM bin ich stumm?

In mildem Tone begann das Vormüllerchen einem Kindergartenkind zu erklären, dass Kopf und Körper Blaugrün nach allen Tests viel besser funktionieren, als es laut Literatur bei so anhaltendem Koma zu erwarten gewesen sei.

"Was nicht hundertprozentig in Ordnung ist, braucht einfach noch Zeit, um sich zu regenerieren.“ Er sah mir in die Augen, und ich schenkte ihm ein dünnes Lächeln.

Der junge Mensch sah wirklich sehr gut aus. Ob ihm die Frauen scharenweise nachliefen? Ob er in festen Händen war?

Einen Ring tragen die wenigsten, die als Mediziner arbeiten. Dafür machen sie hygienische Gründe verantwortlich. Einen Wimpernschlag lang wollte ich Holger Vormüller auf einem Zettel nach seiner Frau fragen. Doch ich besiegte die aufkeimende Neugier. Warum sollte ich meinen Träumen Fesseln anlegen? Stattdessen erfreute ich mich am Anblick des wohlgeratenen Mannes. Dazu musste ich nichts über seine Lebensumstände wissen.

Bei aller Träumerei durfte ich allerdings nicht so verrückt werden, auf irgendeine glückliche Zweisamkeit in meinem Leben zu hoffen. Von Zeit zu Zeit war ein Blick in den Spiegel angebracht.

"Wir können Sie in Bälde entlassen." erklärte mir Holger Vormüller.

Als Antwort bekam er ein Achselzucken.

"Das alles soll Schritt für Schritt geschehen. Zunächst können Sie den Sonnabend und den Sonntag tagsüber zu Hause oder - wenn Ihnen das nicht zusagt - bei Freunden verbringen. Nachts kehren Sie in unsere Obhut zurück. In Ordnung?"

Ich nickte.

"Wenn Sie das gut verkraften, entlassen wir Sie vom Freitagnachmittag an in den Wochenendurlaub.“

Lächelnd nickte ich ihm zu. Dadurch ermutigt, wagte er die Frage, ob ich mich schon für eine Kongressteilnahme entschieden hätte. Ich wiegte den Kopf und genoss seinen bittenden Blick. Prompt reagierte mein Körper. Doch das blieb dem Vormüllerchen verborgen.

Beglückt gab ich mich, nachdem er im Ärzteschritt davongeeilt war, meinen Phantasien hin, bis ich durch den Oberarzt gestört wurde. Während ich das geschäftige Blablabla über mich ergehen ließ, fühlte ich tief in mich hinein und fühlte mich weiblich wie nie zuvor. Vor den Augen des Mediziners ließ ich es mir gutgehen. Und er bemerkte nichts!

10.

"Sie müssen sich mehr bewegen und anstrengen." sagte die Physiotherapeutin. "Sie müssen Ihre schützende Höhle, will sagen Bett und Zimmer, häufiger verlassen." sagte der behandelnde Arzt, als er vorbeikam. "Sie müssen in den Park gehen, wo die Sonne so wunderbar scheint." sagte die Stationsschwester.

"Ist Ihnen nicht langweilig?" fragte die Hilfsschwester, als sie mit dem Tablett zur Tür hereinstürmte.

Es war ein gutes Gefühl, all diesen Eindringlingen nur einfach mein Gesicht entgegenzuhalten, ohne dass sie meiner Miene irgendeine Antwort entnehmen konnten.

Mir ging es gut in meinem weißen Bett. Noch ging es mir gut. Solange ich noch dableiben durfte.

Ich hatte nur ein einziges Problem. Wie würde ich Karin dazu bringen, mich am Wochenende nicht zu bemuttern? Wenn ich schon gezwungen wurde, die schützende Höhle zu verlassen, wollte ich die Stunden unbeobachtet überstehen.

Noch auf der Türschwelle brachte Karin es fertig, gleichzeitig mit dem GutenAbend und dem Wiegehtesdir zu versprechen, dass sie mich am Sonnabend um halb zehn Uhr morgens abholen werde. Ich schüttelte den Kopf. Meine beste Freundin ging sofort zur hörbaren Wörtertrennung über:

"Du-musst-unbedingt-versuchen, wenigstens-einen-Tag-lang-das-Krankenhaus-zu-verlassen. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir können einen Ausflug machen.“

Unwillig schüttelte ich den Kopf. Jedenfalls hoffte ich, dass meine Miene unwillig aussah.

Wie immer im strengen Kostüm mit heller, bis oben zugeknöpfter Bluse angetan, trat Karin an mein Bett, nahm mild lächelnd meine Hand, drückte sie liebevoll und versicherte, dass ich wirklich keine Angst haben müsste.

"Glaub mir, dass Leben da draußen ist nicht so schlimm, wie du denkst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Für dich ist bestens gesorgt."

Ich sah sie ohne zu zwinkern an.

"Ich bin doch da." versicherte sie.

Ich nickte.

"Also bist du einverstanden, dass ich dich um halb zehn Uhr abhole?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Was hast du denn? Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Glaub mir, du musst nienienie wieder am Schalter Fahrkarten verkaufen."

Davon war ich überzeugt. Wie sollte jemand, der nicht redete, etwas verkaufen? Nickend stimmte ich Karin zu.

"Also hole ich dich ab." schlussfolgerte sie.

Mein Kopfschütteln nervte sie sichtlich, gab mir jedoch im Augenblick ein irres Gefühl von Überlegenheit. Ich wusste, was ich wollte. Doch sie musste sich nach meinen Bedürfnissen durchfragen.

Im ersten Leben war ich allen Menschen, die freundlich zu mir waren, zu Diensten gewesen und hatte mich krampfhaft bemüht, ihnen zu gefallen. Jetzt kümmerten sie sich um mich!

Karin war eine Helfernatur. Das hatte ich, solange wir uns kannten, an ihr bewundert. Also ließ ich sie nur einige Augenblicke zappeln. Sie wartete ungeduldig, bis ich zum Zettelchen griff. Sorgfältig schrieb ich auf:

ICH MÖCHTE AM SAMSTAG ALLEIN SEIN. NICHT BÖSE SEIN! WO IST MEIN WOHNUNGSSCHLÜSSEL? VIELLEICHT AM SONNTAG?

Ernsthaft und viel zu lange schaute sie auf den Zettel. Dann traf mich ein besorgter Blick. Schließlich sagte sie:

"Wie wollen wir uns für Sonntag verabreden?"