Liebesdienste - Kate Atkinson - E-Book
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Kate Atkinson

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Beschreibung

»Kate Atkinson raubt uns alle Illusionen. Und das macht Spaß!« Die Literarische Welt Seit der Aufklärung seines letzten Falls hat sich das Leben des unkonventionellen Privatermittlers Jackson Brodie grundlegend verändert. Er ist zu Geld gekommen und hat seinen Job an den Nagel gehängt. Doch glücklich ist er nicht. Im Gegensatz zu seiner Freundin, der Schauspielerin Julia, kann er das süße Nichtstun nicht wirklich genießen. Ein Mann ohne Arbeit, das passt nicht in Brodies Weltbild. Zudem langweilt er sich gehörig, und daran ändert auch der Aufenthalt in Edinburgh nichts. Ziellos streift Brodie durch die Stadt, während Julia für ihr neues Stück probt. Erst als er bei einem Strandspaziergang eine Leiche entdeckt, ist seine Schwermut wie verflogen. Brodie ist wieder ganz der Alte und ermittelt auf eigene Faust – sehr zur Verärgerung der ansässigen Polizei. Als Brodie sich kurz vor der Aufklärung des Mordes wähnt, gerät er selbst in Gefahr … Band 2 der Jackson-Brodie-Reihe Jackson-Brodie-Reihe: Band 1: Die vierte Schwester (Case Histories) Band 2: Liebesdienste (One Good Turn) Band 3: Lebenslügen (When Will There Be Good News?) Band 4: Das vergessene Kind (Started Early, Took My Dog) Band 5: Weiter Himmel (Big Sky) Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 661

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Seit der Aufklärung seines letzten Falls hat sich das Leben des unkonventionellen Privatermittlers Jackson Brodie grundlegend verändert. Er ist zu Geld gekommen und hat seinen Job an den Nagel gehängt. Doch glücklich ist er nicht. Im Gegensatz zu seiner Freundin, der Schauspielerin Julia, kann er das süße Nichtstun nicht wirklich genießen. Ein Mann ohne Arbeit, das passt nicht in Brodies Weltbild. Zudem langweilt er sich gehörig, und daran ändert auch der Aufenthalt in Edinburgh nichts. Ziellos streift Brodie durch die Stadt, während Julia für ihr neues Stück probt.

Erst als er bei einem Strandspaziergang eine Leiche entdeckt, ist seine Schwermut wie verflogen. Brodie ist wieder ganz der Alte und ermittelt auf eigene Faust – sehr zur Verärgerung der ansässigen Polizei. Als Brodie sich kurz vor der Aufklärung des Mordes wähnt, gerät er selbst in Gefahr …

© Helen Clyne

Kate Atkinson wurde bereits für ihren ersten Roman ›Familienalbum‹ mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten. Für ›Das vergessene Kind‹, den vierten Band in der Reihe um den Privatermittler Jackson Brodie, erhielt sie den Deutschen Krimi Preis 2012 und für ihren Roman ›Die Unvollendete‹ den Costa Novel Award 2013. Kate Atkinson lebt in Edinburgh und gilt als eine der wichtigsten britischen Autorinnen der Gegenwart.

Kate Atkinson

LIEBESDIENSTE

Roman

Aus dem Englischen von Anette Grube

Von Kate Atkinson sind bei DuMont außerdem erschienen: Die vierte Schwester Lebenslügen Weiter Himmel

eBook 2021 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2006 by Kate Atkinson Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel ›One Good Turn‹ bei Doubleday, London. ›One Good Turn‹ erschien auf Deutsch erstmals 2007 unter dem Titel ›Liebesdienste‹ bei Droemer, München. © 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Übersetzung: Anette Grube Coverabbildungen: © Shutterstock Coverdesign nach einer Vorlage von Richard Ogle / TW Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN eBook 978-3-8321-7105-6

www.dumont-buchverlag.de

Für Debbie, Glynis, Judith, Lynn, Penny, Sheila und Tessa.Für die, die wir waren,

Male parta male dilabuntur.Unrecht Gut gedeiht nicht.

DIENSTAG

1

Er hatte sich verfahren. Er war es nicht gewohnt, sich zu verfahren. Er war ein Mann, der genaue Pläne machte und sie zielstrebig in die Tat umsetzte, aber jetzt schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben in einer Weise, wie er es seiner Ansicht nach nicht hatte vorhersehen können. Er hatte zwei stumpfsinnige Stunden auf der A1 im Stau verbracht, so dass er erst am späten Vormittag in Edinburgh angekommen war. Dann war er hilflos in ein Netz aus Einbahnstraßen geraten, und anschließend hatte ihm eine Straße, die wegen einer geborstenen Wasserleitung gesperrt war, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf der Fahrt nach Norden hatte es geschüttet, ununterbrochen und unerbittlich, und erst als er die Ausläufer der Stadt erreichte, hatte der Regen etwas nachgelassen. Das Wetter schien jedoch die Menschenmassen nicht weiter abgehalten zu haben – es war ihm zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, dass sich Edinburgh mitten im »Festival« befand und sich ausgelassene Horden herumtrieben, als wäre gerade das Ende eines Kriegs erklärt worden. Sein bislang engster Kontakt zum Edinburgh Festival hatte darin bestanden, dass er eines Abends zufällig die Late Night Review eingeschaltet und einen Haufen Mittelschichtwichser gesehen hatte, die über irgendein unglaublich elitäres alternatives Theaterstück debattierten.

Er landete schließlich im schmutzigen Herzen der Stadt, in einer Straße, die sich auf einem tieferen Niveau als der Rest der Stadt zu befinden schien wie eine verrußte urbane Schlucht. Infolge des Regens war das Kopfsteinpflaster rutschig und schmierig, und er musste vorsichtig fahren, weil es auf der Straße nur so von Menschen wimmelte, die sie aufs Geratewohl überquerten oder in kleinen Knäueln darauf herumstanden, als hätte ihnen noch nie jemand erklärt, dass Fahrbahnen für Autos da waren und Gehwege für Fußgänger. Eine Menschenschlange wand sich die gesamte Straße entlang – Leute, die darauf warteten, in etwas eingelassen zu werden, das aussah wie ein Bombenloch in der Mauer, sich jedoch auf einem großen Plakat neben der Tür rühmte, der »Festival-Veranstaltungsort Nr. 164« zu sein.

Der Name auf dem Führerschein in seiner Brieftasche lautete Paul Bradley, ein Name, den man schnell wieder vergaß. Er hatte sich mittlerweile mehrere Schritte von seinem richtigen Namen entfernt, einem Namen, der sich nicht länger anfühlte, als wäre es jemals der seine gewesen. Wenn er nicht arbeitete, nannte er sich oft (aber nicht immer) »Ray«. Schlicht und einfach. Wie der gute Junge von nebenan, wie der böse Junge von nebenan. Guter Ray, böser Ray. Er liebte es, die Identität zu wechseln, durch die Ritzen zu schlüpfen. Der gemietete Peugeot, den er fuhr, war genau richtig, kein auffälliger Macho-Wagen, sondern ein Auto, das ein gewöhnlicher Mann fahren würde. Ein gewöhnlicher Mann wie Paul Bradley. Sollte ihn jemand fragen, was er tat, was Paul Bradley tat, würde er sagen: »Langweiliges Zeug. Ich bin ein Bürohengst, schiebe in der Buchhaltung Papiere hin und her.«

Er versuchte zu fahren und gleichzeitig den Stadtplan von Edinburgh zu entziffern, um aus dieser höllischen Straße zu entkommen, als ihm jemand fast vor den Wagen lief. Es war ein Typ, wie er ihn verabscheute – ein junger dunkelhaariger Kerl mit einer dicken schwarzen Brille, Zweitagebart und einer Kippe im Mundwinkel. In London gab es Hunderte davon, und alle wollten sie möglichst wie französische Existenzialisten aus den Sechzigerjahren aussehen. Dabei war er überzeugt, dass keiner von ihnen jemals ein Buch über Philosophie aufgeschlagen hatte. Er selbst hatte sie alle gelesen, Plato, Kant, Hegel, er dachte sogar daran, eines Tages einen Abschluss zu machen.

Er trat heftig auf die Bremse, kam vor dem bebrillten Typen zum Stehen, was diesen jedoch veranlasste, zur Seite zu springen wie ein Stierkämpfer in der Arena. Der Typ war wütend, fuchtelte mit der Kippe herum, schrie, zeigte ihm den Finger. Keine Spur von Höflichkeit, keinerlei Manieren – ob seine Eltern stolz auf ihre Leistung waren? Er hasste Raucher, es war eine widerliche Angewohnheit. Er hasste Typen, die einem den Finger zeigten, »Verpiss dich!« schrien und mit ihrem dreckigen, nikotinfleckigen Mund Spucke verspritzten.

Er spürte den Aufprall ungefähr so heftig, als hätte er in einer dunklen Nacht einen Dachs oder Fuchs überfahren, nur dass er von hinten erfolgte und ihn nach vorn stieß. Nur gut, dass Brillenschlange ihren kleinen Paso doble vollführt hatte und aus dem Weg gehüpft war, oder der Typ wäre spätestens jetzt geliefert gewesen. Er schaute in den Rückspiegel. Ein blauer Honda Civic, der Fahrer stieg gerade aus – ein Mordskerl, paketeweise Gewichthebermuskeln, fitnessstudiofit, was nicht hieß überlebensfit, im Dschungel oder in der Wüste hätte er im Gegensatz zu Ray keine drei Monate durchgestanden. Nicht einen Tag hätte er durchgestanden. Der Berg trug Handschuhe, hässliche schwarze Lederhandschuhe mit Löchern an den Knöcheln. Auf dem Rücksitz tobte ein Hund, ein bulliger Rottweiler, genau die Art Hund, die man bei einem Kerl wie ihm erwartete. Der Mann war ein wandelndes Klischee. Der Hund auf dem Rücksitz hatte regelrecht einen Anfall, verspritzte seinen Geifer auf die Fenster, kratzte mit den Krallen am Glas. Der Hund machte ihm keine allzu großen Sorgen. Er wusste, wie man Hunde tötete.

Ray stieg aus und ging zur rückwärtigen Stoßstange, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Der Honda-Fahrer brüllte ihn an. »Du blöde dreckige Fotze, was hast du dir dabei gedacht?« Engländer. Ray wollte etwas sagen, etwas Beschwichtigendes, was den Kerl beruhigte – dem war anzusehen, dass er ein richtiger Dampfkochtopf war, der gleich explodieren würde, der explodieren wollte, so wie er herumstapfte, dieser Schwergewichtsboxer ohne Kondition. Ray nahm eine neutrale Haltung ein, setzte eine neutrale Miene auf, aber dann hörte er, wie die Menschenmenge ein leises kollektives »Aah« des Entsetzens von sich gab, und da sah er den Baseballschläger, der plötzlich aus dem Nirgendwo in der Hand des Kerls aufgetaucht war, und dachte: Scheiße.

Das war sein letzter Gedanke für mehrere Sekunden. Als er wieder denken konnte, lag er auf dem Boden und hielt sich die Seite des Kopfes, die der Typ getroffen hatte. Er hörte das Geräusch splitternden Glases – der Bastard schlug die Fenster seines Wagens ein. Vergeblich versuchte er aufzustehen, schaffte es aber nur bis auf die Knie, als würde er beten, und jetzt näherte sich der Kerl mit halb erhobenem Schläger, wog ihn in der Hand, bereit, aufs Ganze zu gehen und ihm den Kopf einzuschlagen. Ray hob schützend den Arm, wodurch ihm noch schwindliger wurde. Als er auf das Kopfsteinpflaster zurücksank, dachte er unwillkürlich: Himmel, war’s das? Er hatte aufgegeben, tatsächlich aufgegeben – was er nie zuvor getan hatte –, da trat jemand aus der Menge vor, schwang etwas Eckiges, Schwarzes und schleuderte es gegen den Honda-Mann, traf ihn an der Schulter und brachte ihn ins Taumeln.

Er verlor erneut für ein paar Sekunden das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, knieten zwei Polizistinnen neben ihm. Die eine sagte: »Nur die Ruhe, Sir«, während die andere über ihr Funkgerät einen Krankenwagen rief. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, die Polizei zu sehen.

2

Nie zuvor in seinem Leben hatte Martin so etwas getan. Er brachte nicht einmal die Fliegen in seinem Haus um, sondern verfolgte sie geduldig, stellte ihnen mit einem Glas und einem Teller eine Falle und ließ sie dann frei. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Er war fünfzig und hatte noch nie wissentlich Gewalt gegen ein anderes Lebewesen geübt, obschon er manchmal glaubte, dass er eher ein Feigling denn ein Pazifist war.

Er hatte in der Schlange gestanden und darauf gewartet, dass jemand anders sich einmischte, als sich die Szene vor ihnen abzuspielen begann, aber die Leute waren in Zuschauerstimmung, Betrachter eines besonders brutalen Theaterstücks, und sie hatten nicht die Absicht, sich das Vergnügen zu verderben. Auch Martin hatte sich anfänglich gefragt, ob es nur eine weitere Vorstellung war – ein Faux-impromptu-Stück, das entweder schockieren sollte oder unsere Unfähigkeit, schockiert zu sein, bloßstellen wollte, weil wir in einer globalen Mediengesellschaft leben, in der wir zu passiven Voyeuren der Gewalt verkommen sind (und so weiter). Das war der Gedanke, der ihm durch den objektiven, intellektuellen Teil seines Gehirns schoss. Der primitive Teil seines Gehirns dachte jedoch: Oh, Scheiße, das ist schrecklich, richtig schrecklich, bitte, der böse Mann soll weggehen. Es überraschte ihn nicht, dass er in seinem Kopf die Stimme seines Vaters hörte (Reiß dich zusammen,Martin). Sein Vater war seit vielen Jahren tot, doch Martin hörte noch oft das Gebell und Gebrüll seines Exerzierplatz-Tonfalls. Als der Honda-Fahrer alle Fenster des silberfarbenen Peugeot eingeschlagen hatte und auf dessen Fahrer zuging, dabei seine Waffe schwang und sich auf den finalen Siegesschlag vorbereitete, wurde Martin klar, dass der Mann am Boden wahrscheinlich sterben würde, von dem verrückten Mann mit dem Baseballschläger wahrscheinlich vor ihren Augen umgebracht würde, wenn nicht irgendjemand irgendetwas unternahm, und instinktiv, ohne nachzudenken – denn hätte er darüber nachgedacht, er hätte es vielleicht nicht getan –, zog er die Tasche von seiner Schulter und schleuderte sie auf Hammerwerferart dem wahnsinnigen Honda-Fahrer an den Kopf.

Er traf nicht den Kopf des Mannes, was ihn nicht überraschte – er hatte noch nie fangen oder werfen können, er gehörte zu denjenigen, die sich ducken, wenn ein Ball in ihre Richtung fliegt –, aber in der Tasche befand sich sein Laptop, und die harte, breite Kante prallte gegen die Schulter des Honda-Fahrers, der zurücktaumelte.

Bislang war Martin dem Schauplatz eines echten Verbrechens nie näher gekommen als bei einem Besuch des Schriftstellervereins auf dem Polizeirevier von St. Leonard’s. Von Martin abgesehen, bestand die Gruppe ausschließlich aus Frauen. »Sie sind unser Alibimann«, hatte eine Frau zu ihm gesagt, und er hatte aus dem höflichen Lachen der anderen eine gewisse Enttäuschung herausgehört, als hätte er sich als ihr Alibimann zumindest bemühen können, etwas weniger wie eine Frau zu sein.

Kaffee und Kekse wurden serviert – Bourbon-Schokoladenkekse, Waffeln mit rosa Füllung, das Sortiment war beeindruckend –, und ein »ranghoher Polizist« hielt einen vergnüglichen Vortrag in einem neuen Konferenzraum, der aussah, als wäre er für Gruppen wie ihre entworfen worden. Dann wurden sie durch die verschiedenen Teile des Gebäudes geführt, das Callcenter und einen höhlenartigen Raum, in dem zivil gekleidete Leute (»Kriminalpolizisten«) vor Computern saßen, kurz zu den »Schriftstellern« blickten, korrekterweise entschieden, dass sie unwichtig waren, und sich wieder ihren Bildschirmen zuwandten.

Sie mussten sich für eine Gegenüberstellung in einer Reihe aufstellen, von einem Mitglied ihrer Gruppe wurden Fingerabdrücke genommen, und sie wurden – kurz – in eine Zelle gesperrt, wo sie mit den Füßen scharrten und kicherten, um der Klaustrophobie die Spitze zu nehmen. »Kichern«, ging Martin durch den Kopf, war ein ausgesprochen weibliches Wort. Frauen kicherten, Männer lachten. Martin sorgte sich, dass er selbst ein Kicherer war. Und wie für sie inszeniert, wurden sie am Ende der Führung mit einem leichten Schauder der Angst Zeugen, wie hastig ein Einsatzteam zusammengestellt wurde, das einen »schwierigen« Häftling aus einer Zelle holen sollte.

Die Führung hatte keinen großen Einfluss auf die Bücher, die Martin in Person seines Alter Ego »Alex Blake« schrieb. Es waren harmlose altmodische Kriminalromane mit einer Heldin namens »Nina Riley«, einem hitzköpfigen Mädchen, das von ihrem Onkel eine Detektei geerbt hatte. Die Handlung spielte stets in den Vierzigerjahren, kurz nach dem Krieg. Es war eine Ära, zu der sich Martin besonders hingezogen fühlte, der monochrome Mangel, die latent vorhandene, als schäbig empfundene Enttäuschung im Schlepptau des Heroismus. Das Wien von Der dritte Mann, das Londoner Umland in Begegnung. Wie musste es gewesen sein, in einem gerechten Krieg gekämpft, so viele edle Gefühle empfunden zu haben (ja, eine Menge war Propaganda, aber tief im Inneren steckte ein wahrer Kern), von der Last des Individualismus befreit gewesen zu sein? Am Rand von Zerstörung und Niederlage gestanden und es doch geschafft und dann gedacht zu haben: Was jetzt? Natürlich empfand Nina Riley nichts davon, sie war erst zweiundzwanzig und hatte den Krieg in einem Schweizer Mädchenpensionat verbracht. Und sie war nicht real.

Nina Riley war ein Wildfang, aber sie wies keine offensichtlichen lesbischen Tendenzen auf, und ständig machten ihr jede Menge Männer den Hof, denen gegenüber sie sich jedoch bemerkenswert keusch verhielt. (»Es ist«, schrieb ihm eine »verständnisvolle« Leserin, »als wäre die Schulsprecherin einer Schweizer Alpenschule erwachsen und Detektivin geworden.«) Nina lebte in einer geografisch nicht näher bestimmten Version von Schottland, wo es Meer, Berge und wogende Moorlandschaften gab und wo jede größere Stadt in Schottland (häufig auch in England, nie jedoch in Wales, was er vielleicht einmal ändern sollte) mit einer schnellen Fahrt in ihrem schnittigen Bristol Coupé zu erreichen war. Als er das erste Nina-Riley-Buch schrieb, hatte er es als liebevolle Verneigung vor einer früheren Zeit und einer früheren Form verstanden. »Ein Pastiche, wenn Sie so wollen«, sagte er nervös, als er seiner Verlagslektorin vorgestellt wurde. »Eine Art ironischer hommage.« Es erstaunte ihn, dass das Buch verlegt wurde. Er hatte es geschrieben, um sich zu amüsieren, und plötzlich saß er in einem nichtssagenden Londoner Büro und hatte das Gefühl, er müsse den Unsinn, den er verfasst hatte, vor der jungen Frau rechtfertigen, der es anscheinend schwerfiel, sich auf ihn zu konzentrieren.

»Sei’s drum«, sagte sie, sichtlich bemüht, ihn unverwandt anzublicken, »ich sehe ein Buch, das ich verkaufen kann. Eine Art heitere Mordgeschichte. Die Leute lieben Nostalgie, die Vergangenheit ist wie eine Droge. An wie viele Bücher haben Sie bei dieser Serie gedacht?«

»Serie?«

»Hallo.«

Martin wandte sich um und sah einen Mann in einer Haltung nahezu absurder Lässigkeit am Türstock lehnen. Er war älter als Martin, aber jünger gekleidet.

»Hallo«, sagte die junge Lektorin und schenkte dem Mann ihre hingerissene Aufmerksamkeit. Der minimale Wortwechsel schien nahezu unerträglich bedeutungsschwanger.

»Neil Winters, unser Verlagsleiter«, sagte sie mit stolzem Lächeln. »Das ist Martin Canning, Neil. Er hat ein wunderbares Buch geschrieben.«

»Phantastisch«, sagte Neil Winters und begrüßte Martin mit einem Handschlag. Die Hand war feucht und weich wie etwas Totes, das an den Strand gespült worden war. »Das erste von vielen, hoffe ich.«

Ein paar Wochen später wurde Neil Winters in die höheren Sphären des europäischen Mutterschiffs versetzt, und Martin sah ihn nie wieder, nichtsdestoweniger betrachtete er das Händeschütteln als den unzweideutigen Augenblick, in dem sich sein Leben verändert hatte.

Martin hatte vor kurzem die Fernsehrechte an den Nina-Riley-Büchern verkauft. »Als ob man in ein warmes Bad steigt. Das perfekte Futter für den Sonntagabend«, sagte der Produzent der BBC, und es klang wie eine Beleidigung, was es natürlich auch war.

In der zweidimensionalen fiktiven Welt, in der Nina Riley lebte, hatte sie bislang drei Mordfälle, einen Juwelenraub und einen Banküberfall aufgeklärt, ein gestohlenes Rennpferd aufgespürt, verhindert, dass der kleine Prinz Charles aus Balmoral entführt wurde, und in ihrem sechsten Fall, nahezu ohne fremde Hilfe, das Vorhaben vereitelt, die schottischen Kronjuwelen zu stehlen. Das siebte Buch, Der Affenschwanzbaum, lag jetzt als Taschenbuch auf den »Drei Bücher zum Preis von zwei«-Tischen in jeder Buchhandlung. Es sei »düsterer«, war die einhellige Meinung (Blake bewegt sich endlich auf einen reiferen Noir-Stil zu, hatte »ein Leser« bei Amazon geschrieben. Heutzutage ist jeder ein Kritiker), dennoch fand es laut seiner Agentin Melanie nach wie vor »lebhaften« Absatz. Melanie war Irin, weswegen alles, was sie sagte, nett klang, auch wenn es nicht so gemeint war.

Wenn jemand ihn fragte – was häufig der Fall war –, warum er Schriftsteller geworden sei, antwortete Martin für gewöhnlich, dass es, da er sowieso die meiste Zeit in einer Phantasiewelt lebte, eine gute Idee schien, sich dafür bezahlen zu lassen. Er sagte es freundlich, ohne zu kichern, und die Leute lächelten, als hätte er etwas Amüsantes gesagt. Was sie nicht verstanden, war, dass es die Wahrheit war – er lebte in seinem Kopf. Nicht auf intellektuelle oder philosophische Weise, nein, sein Innenleben war bemerkenswert banal. Er wusste nicht, ob das auf alle Menschen zutraf. Verbrachten sie ihre Zeit mit Tagträumen von einer besseren Version des Alltags? Niemand sprach über das Eigenleben seiner Phantasie, außer in Kategorien von so etwas wie Keats’scher Überhöhung. Niemand erzählte von dem Vergnügen, sich vorzustellen, man sitze in einem Liegestuhl auf dem Rasen unter einem wolkenlosen Hochsommerhimmel, betrachte das fürstliche Mahl eines richtigen, altmodischen Fünf-Uhr-Tees, zubereitet von einer mütterlichen Frau mit vollem Busen und makelloser Schürze, die Dinge sagte wie: »Na komm schon, iss auf, Schatz«, denn so redeten mütterliche Frauen mit vollem Busen in Martins Phantasie, eine seltsame Art Sub-Dickens’scher Diskurs.

Die Welt in seinem Kopf war so viel besser als die außerhalb seines Kopfes. Teegebäck, selbst gemachte Schwarze-Johannisbeer-Marmelade, Schlagsahne. Schwalben durchschnitten den blauen, blauen Himmel, segelten und stießen herab wie Battle-of-Britain-Piloten. Das ferne Pop von Leder auf Schlagholz. Der Duft von heißem, starkem Tee und frisch gemähtem Gras. Diese Dinge waren einem furchterregenden wütenden Mann mit einem Baseballschläger gegenüber gewiss unendlich vorzuziehen.

Martin schleppte seinen Laptop mit sich herum, weil die mittägliche Comedy-Veranstaltung, für die er angestanden hatte, nur ein Umweg war auf seinem heutigen (sehr verspäteten) Gang ins »Büro«. Martin hatte vor kurzem ein »Büro« in einem renovierten Block in Marchmont angemietet. Es war einst ein Lebensmittel- und Spirituosengeschäft gewesen, bot jetzt jedoch langweiligen, gesichtslosen Raum – Rigipswände und Laminatboden, Breitbandanschluss und Halogenlampen – für ein Architekturbüro, eine IT-Beraterfirma und für Martin. Er hatte das »Büro« in der vergeblichen Hoffnung gemietet, dass es ihm helfen würde, die Lethargie zu überwinden, die er bei dem Gedanken an sein Projekt (»Tod auf Black Isle«) empfand, wenn er jeden Tag das Haus verließ, um zu schreiben, und sich wie alle anderen an normale Arbeitszeiten hielt. Er betrachtete es als schlechtes Zeichen, dass er an das »Büro« nur als einen Raum dachte, der zwischen Anführungszeichen existierte, mehr ein fiktionales Konzept als ein Ort, an dem tatsächlich etwas geleistet wurde.

»Tod auf Black Isle« war wie ein verzaubertes Buch, gleichgültig, wie viel er schrieb, es schien nie mehr zu werden. »Sie sollten den Titel ändern, er klingt wie ein Tim-und-Struppi-Buch«, meinte Melanie. Bevor Martin vor acht Jahren sein erstes Buch veröffentlicht hatte, war er Religionslehrer gewesen, und aus unerfindlichen Gründen hatte es sich Melanie zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft in den Kopf gesetzt (und es nicht wieder herausbekommen), dass Martin einst in einem Kloster gewesen war. Wie sie auf diese Idee verfallen war, hatte er nie begriffen. Es stimmte, er hatte eine vorzeitige Tonsur wegen seines schütter werdenden Haars, aber davon abgesehen glaubte er nicht, dass an seiner Erscheinung etwas besonders Mönchisches war. Gleichgültig, wie sehr er sich bemühte, Melanie diese fixe Idee auszureden, war es noch immer das, was sie an ihm am interessantesten fand. Melanie war es gewesen, die diese Fehlinformation an seinen Verleger weitergegeben hatte, der sie seinerseits in der Öffentlichkeit verbreitete. Es stand in den öffentlich zugänglichen Informationen über ihn, es stand in der Ausschnittsammlung und im Internet, und sooft Martin zu Journalisten auch sagte: »Nein, das stimmt nicht, ich war nie Mönch«, sie machten es zum Dreh- und Angelpunkt jedes Interviews – Blake widerspricht, wenn seine Priesterschaft erwähnt wird. Oder: Alex Blake weist eine frühe religiöse Berufung weit von sich, aber seinem Charakter haftet noch immer etwas Verschlossenes an. Und so weiter.

»Tod auf Black Isle« schien Martin noch abgedroschener und formelhafter als seine früheren Bücher, etwas, was man im Bett, im Krankenhaus, im Zug oder Flugzeug oder am Strand las und sofort wieder vergaß. Seitdem er mit Nina Riley angefangen hatte, schrieb er jedes Jahr ein Buch, und er glaubte, dass ihm einfach der Dampf ausgegangen war. Sie schleppten sich nebeneinander dahin, er und seine leichtgewichtige Schöpfung, und sie steckten gemeinsam fest. Er sorgte sich, dass sie einander nie entkommen würden, dass er ewig über Nina Rileys alberne Eskapaden schreiben würde. Er wäre ein alter Mann, und sie wäre immer noch zweiundzwanzig, und er hätte ihnen beiden das Leben ausgesaugt. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein und noch mal nein«, sagte Melanie. »Man nennt das eine Goldmine ausbeuten, Martin.« Den letzten Tropfen aus einer Milchkuh herauspressen, hätte es vielleicht jemand anders genannt, der nicht fünfzehn Prozent bekam. Er fragte sich, ob er seinen Namen wechseln – oder, noch besser, seinen richtigen Namen annehmen – und etwas anderes, etwas von wirklicher Bedeutung und wahrem Wert schreiben könnte.

Martins Vater war Berufssoldat gewesen, Hauptfeldwebel einer Kompanie, aber Martin selbst hatte im Leben einen entschieden nichtkämpferischen Weg eingeschlagen. Er und sein Bruder Christopher waren in einem kleinen Internat der Church of England gewesen, das den Söhnen der Streitkräfte eine spartanische Unterkunft bot, eine Stufe über dem Armenhaus. Nachdem er die Atmosphäre kalter Duschen und langer Querfeldeinläufe (Wir machen Männer aus Jungen) hinter sich gelassen hatte, studierte Martin an einer drittklassigen Universität, wo er einen ebenfalls drittklassigen Abschluss in Religionswissenschaft machte, weil es das einzige Fach war, in dem er in der Schule gute Noten gehabt hatte – dank der unbarmherzigen verpflichtenden Bibelstudien, die im Internat die gefährlichen Mußestunden pubertierender Jungen füllten.

Auf das Studium folgte eine Lehrerausbildung, damit er Zeit hatte, darüber nachzudenken, was er »wirklich« tun wollte. Er hatte definitiv nie vorgehabt, tatsächlich Lehrer zu werden, schon gar nicht Religionslehrer, aber mit zweiundzwanzig stellte er fest, dass sich der Kreis irgendwie geschlossen hatte und er für ein geringes Gehalt in einem kleinen Internat im Lake District Jungen unterrichtete, die die Aufnahmeprüfung für eine bessere Privatschule nicht bestanden hatten und sich ausschließlich für Rugby und Masturbieren interessierten.

Er betrachtete sich selbst als jemanden, der schon alt geboren worden war, doch er war nur vier Jahre älter als seine ältesten Schüler, und es schien lächerlich, dass er sie überhaupt unterrichten sollte, insbesondere im Fach Religion. Natürlich war er in den Augen seiner Schüler nicht etwa ein junger Mann, sondern ein »alter Trottel«, auf den sie keinerlei Rücksicht nahmen. Es waren grausame, gefühllose Jungen, aus denen aller Wahrscheinlichkeit nach grausame, gefühllose Männer werden würden. So wie Martin es sah, erhielten sie die passende Ausbildung, um eines Tages die Hinterbänke der Konservativen im Parlament zu füllen, und er empfand es als seine Pflicht, zu versuchen, ihnen ein Konzept von Moral zu vermitteln, bevor es zu spät war – obschon es leider für die meisten bereits genau das war. Martin selbst war Atheist, doch er wollte für sich die Möglichkeit, eines Tages eine Konversion – ein plötzliches Lüften des Schleiers, ein Öffnen seines Herzens – zu erleben, nicht völlig ausschließen. Dennoch hielt er es für wahrscheinlicher, dass er dazu verdammt war, für immer auf der Straße nach Damaskus zu bleiben, der meistbegangenen Straße.

Wenn der Lehrplan es nicht ausdrücklich vorschrieb, neigte Martin dazu, das Christentum so weit wie möglich zu ignorieren und sich stattdessen auf Ethik, vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, sozialwissenschaftliche Studien (auf alles außer auf das Christentum) zu konzentrieren. Wenn ihn ein rugbyspielender, anglikanischer, faschistischer Vater zur Rede stellte, entschuldigte er sich mit der Behauptung, »Verständnis und Spiritualität fördern zu wollen«. Er verbrachte viel Zeit damit, die Jungen für die Lehren des Buddhismus zu interessieren, weil er, mittels Versuch und Irrtum, herausgefunden hatte, dass es die wirksamste Möglichkeit war, sie zu verwirren.

Er dachte: Ich werde das nur kurze Zeit machen, und dann werde ich vielleicht reisen oder mich weiterqualifizieren oder eine interessantere Arbeit finden und ein neues Leben beginnen. Aber stattdessen ging sein altes Leben immer weiter, und er spürte, dass es sich in nichts auflöste, dass es fadenscheinig wurde, und wenn er nichts unternähme, würde er ewig dort bleiben, immer älter als die Jungen werden, bis er pensioniert und irgendwann sterben würde, nachdem er den Großteil seines Lebens in einem Internat verbracht hätte. Er wusste, dass er selbst aktiv werden musste, er war nicht die Sorte Mensch, der einfach irgendetwas passierte. Sein Leben war bislang nicht in Gang gekommen: Er hatte sich nie einen Knochen gebrochen, war nie von einer Biene gestochen worden, war der Liebe oder dem Tod nie nahe gewesen. Er hatte nie nach Größe gestrebt, und dafür war er mit einem kleinen Leben belohnt worden.

Er näherte sich den vierzig und fuhr in einem Schnellzug Richtung Tod – er hatte schon immer zu fiebrigen Metaphern tendiert –, als er einen Creative-Writing-Kurs belegte, der von einer Art Bildungsinitiative für ländliche Gegenden angeboten wurde. Der Kurs fand in einem Gemeindesaal statt und wurde geleitet von einer Frau namens Dorothy, die aus Kendal kam und deren Qualifikation nebulös blieb. Sie hatte ein paar Geschichten in einer Kulturzeitschrift im Norden veröffentlicht, Lesungen gemacht und Workshops gehalten (zum Thema Work in progress), und ein Stück von ihr über die Frauen in Miltons Leben (Miltons Frauen) war erfolglos beim Edinburgh Fringe aufgeführt worden. Das Wort »Edinburgh« musste im Kurs nur erwähnt werden, und Martin wurde krank vor Sehnsucht nach einem Ort, den er kaum kannte. Seine Mutter war in der Stadt geboren, und er hatte die ersten drei Jahre seines Lebens dort verbracht, als sein Vater in der Burg stationiert war. Eines Tages, dachte er, während Dorothy etwas über Form und Inhalt und die Notwendigkeit, »die eigene Stimme zu finden«, plapperte, eines Tages würde er nach Edinburgh zurückkehren und dort leben. »Und lesen!«, rief sie und breitete die Arme aus, so dass ihr voluminöser Samtumhang aufklappte wie Fledermausflügel. »Lesen Sie alles, was jemals geschrieben wurde.« Ein paar Kursteilnehmer murrten aufrührerisch – sie (zumindest einige von ihnen) waren gekommen, um schreiben zu lernen, nicht, um zu lesen.

Dorothy wirkte dynamisch. Sie trug roten Lippenstift, lange Röcke und farbenfrohe Schals und Schultertücher, die sie mit großen Zinn- oder Silberbroschen feststeckte. Sie hatte eine Schwäche für Stiefeletten mit hohen Absätzen, schwarze Strümpfe mit Rautenmuster, lustige, zerknautschte Samthüte. Das war zu Beginn des Herbstsemesters, als der Lake District farbenprächtig herausgeputzt war, aber als er im grauen feuchten Winter versank, kleidete sich Dorothy in weniger theatralische Gummistiefel und Fleecejacken. Und sie war weniger theatralisch. Zu Beginn des Kurses hatte sie des Öfteren beiläufig von ihrem »Partner« gesprochen, der irgendwo ein Stipendium als Stadtschreiber hatte, aber als Weihnachten drohend näher rückte, erwähnte sie ihn nicht mehr, und ihr Lippenstift war nicht länger rot, sondern beige wie ihre Haut.

Aber auch von dieser bunten Ansammlung von Rentnern, Bäuerinnen und Leuten, die ihr Leben ändern wollten, bevor es zu spät war, schien Dorothy enttäuscht. »Es ist nie zu spät!«, erklärte sie mit der Begeisterung eines Evangelisten, aber die meisten von ihnen hatten begriffen, dass es das bisweilen war. Da war ein ruppiger Mann, der sie alle zu verachten schien und auf eine Hughes’sche Art über Raubvögel und tote Schafe auf Berghängen schrieb. Martin vermutete, dass er einen ländlichen Beruf ausübte – Bauer oder Wildhüter –, aber es stellte sich heraus, dass er ein arbeitsloser Geologe aus der Ölbranche war, der in den Lake District gezogen und ein Einheimischer geworden war. Da war ein Mädchen, Typ Studentin, die sie tatsächlich verachtete. Sie trug schwarzen Lippenstift (ein beunruhigender Gegensatz zu Dorothys Beige) und schrieb über ihren eigenen Tod und seine Auswirkungen auf die Leute in ihrer Umgebung. Und da waren ein paar nette Damen, Mitglieder des Frauenverbands, die überhaupt nicht schreiben zu wollen schienen.

Dorothy drängte sie, kleine autobiografische Texte über Angst und Beichtstuhlgeheimnisse, therapeutische Texte über ihre Kindheit, ihre Träume, ihre Depressionen zu verfassen. Stattdessen ließen sie sich aus über das Wetter, Urlaub, Tiere. Der ruppige Mann schrieb über Sex, und alle starrten auf den Boden, während er laut vorlas, nur Dorothy hörte ausdruckslos und mit Interesse zu, den Kopf schräg gelegt, die Lippen aufmunternd gespannt.

»Na gut«, sagte sie und gab sich geschlagen, »schreiben Sie als ›Hausaufgabe‹ über einen Besuch oder einen Aufenthalt im Krankenhaus.« Martin fragte sich, wann sie anfangen würden, Literatur zu verfassen, aber der Pädagoge in ihm reagierte auf das Wort Hausaufgabe, und er machte sich gewissenhaft an die Arbeit.

Die Damen vom Frauenverband schrieben sentimentale Texte über Besuche bei Alten und Kindern im Krankenhaus. »Charmant«, sagte Dorothy. Der ruppige Mann schilderte in grusligen Details, wie ihm der Blinddarm herausgenommen wurde. »Kraftvoll«, sagte Dorothy. Das unglückliche Mädchen schrieb über seinen Krankenhausaufenthalt in Barrow-in-Furness, nachdem es versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. »Eine Schande, dass sie es nicht geschafft hatte«, flüsterte die Bäuerin, die neben Martin saß.

Martin war nur einmal im Krankenhaus gewesen, mit vierzehn – Martin hatte feststellen müssen, dass jedes Jahr seiner Teenagerzeit eine neue Hölle mit sich brachte. Auf dem Rückweg aus der Stadt war er an einem Rummelplatz vorbeigekommen. Sein Vater war damals in Deutschland stationiert, und Martin und sein Bruder Christopher verbrachten die Sommerferien dort, um sich von den Unbilden des Internats zu erholen. Weil es sich um einen deutschen Rummelplatz handelte, war der Ort für Martin irgendwie noch furchterregender. Er wusste nicht, wo Christopher an diesem Nachmittag war, wahrscheinlich spielte er Kricket mit anderen Jungen vom Stützpunkt. Martin hatte den Rummelplatz bereits abends erlebt, als die Lichter, die Gerüche und das Geschrei eine dystopische Vision heraufbeschworen, die zu malen Bosch ein Vergnügen gewesen wäre. Tagsüber wirkte der Ort weniger bedrohlich, und in seinem Kopf hörte er, wie die Stimme seines Vaters, die so etwas (leider) gern tat, schrie: »Stell dich dem, wovor du Angst hast, Junge!« Er bezahlte den Eintritt und schlenderte zaghaft um die Attraktionen, denn nicht die Atmosphäre auf dem Rummelplatz machte ihm die größte Angst, sondern die Fahrgeschäfte. Als Kind hatte er sich schon vor den Schaukeln auf Spielplätzen gefürchtet.

Er kramte in seiner Tasche nach Kleingeld und kaufte sich an einem kleinen Stand einen Kartoffelpuffer. Seine Kenntnisse der Sprache waren zweifelhaft, aber bei Kartoffel glaubte er sich auf der sicheren Seite. Der Kartoffelpuffer war fett und schmeckte merkwürdig süß und lag ihm wie Blei im Magen, so dass sich die Stimme seines Vaters wirklich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sich erneut zu Wort zu melden, nämlich genau den Augenblick, als Martin an einer riesigen Schiffschaukel vorbeiging. Er kannte das deutsche Wort dafür nicht, wusste aber, dass es auf Englisch »Piratenboot« lautete.

Die Schiffschaukel hob sich und fiel in einer unglaublichen Parabel vom Himmel, die Schreie der Schaukelnden folgten der Flugbahn in einem Auf und Ab des Entsetzens. Allein die Vorstellung, ganz zu schweigen von der Greifbarkeit des Ereignisses direkt vor seiner Nase, jagte ihm einen so vollkommenen Schrecken ein, dass er schon aus Prinzip den Rest des Kartoffelpuffers in einen Abfalleimer warf, eine Karte kaufte und in die Schaukel stieg.

Es war sein Vater, der ins Krankenhaus kam, um ihn abzuholen. Er war dorthin gebracht worden, nachdem er schlaff und halb bewusstlos auf dem Boden der Schiffschaukel aufgefunden worden war. Nichts Psychisches war die Ursache, und es hatte auch nichts mit Mut zu tun, sondern es stellte sich heraus, dass er höchst empfindlich auf G-Kräfte reagierte. Der Arzt, der ihn entließ, lachte und sagte in perfektem Englisch: »Wenn du meinen Rat hören willst, dann bewirb dich nicht als Kampfpilot.«

Sein Vater war im Krankenhaus an seinem Bett vorbeigegangen, ohne ihn zu erkennen. Martin versuchte zu winken, aber sein Vater übersah die schwach wedelnde Hand des Sohnes auf der Bettdecke. Schließlich wies eine Schwester den Weg zu seinem Bett. Sein Vater trug Uniform und wirkte auf der Station fehl am Platz. Er ragte vor Martin auf und sagte: »Du bist eine verdammte Memme, Martin. Reiß dich zusammen.«

»Es gibt Dinge, die nichts mit Charakterschwäche zu tun haben. Es gibt Dinge, die eine Person aufgrund ihrer Konstitution nicht bewältigen kann«, schloss Martin. »Aber das war natürlich in einem anderen Land, in einem anderen Leben.«

»Sehr gut«, sagte Dorothy.

»Es war ein bisschen dünn«, sagte der ruppige Mann.

»Mein ganzes Leben war bislang ein bisschen dünn«, sagte Martin.

Zur letzten Stunde des Kurses brachte Dorothy Wein, Cracker und ein großes Stück roten Cheddar mit. Sie holten sich Pappbecher und -teller aus der Küche des Gemeindesaals. Dorothy hob den Becher und sagte: »Also, wir haben überlebt«, was Martin für einen Trinkspruch recht seltsam fand. »Hoffentlich«, fuhr sie fort, »werden wir uns alle im Frühjahrssemester wiedersehen.« Ob es an den Weihnachtsfeiertagen lag, die kurz bevorstanden, oder an den Luftballons oder der Dekoration aus glitzernder Folie oder tatsächlich an der unerwarteten Vorstellung, überlebt zu haben, wusste Martin nicht, aber eine gewisse festliche Stimmung erfüllte sie. Sogar der ruppige Mann und das selbstmörderisch veranlagte Mädchen ließen sich von der Feierlaune mitreißen. Weitere Weinflaschen wurden aus Rucksäcken und DIN-A4-großen Taschen gezogen – zwar waren sie nicht sicher gewesen, ob es zum Abschluss eine »Fete« geben würde, aber sie hatten sich vorbereitet.

Martin nahm an, dass all diese Elemente, vor allem aber der Wein zu der überraschenden Tatsache beitrugen, dass er am nächsten Morgen in Dorothys Bett in Kendal erwachte.

Ihr blasses Gesicht war verquollen, und sie zog die Decke hoch und bat: »Schau mich nicht an, morgens sehe ich schrecklich aus.« Es stimmte, sie sah schrecklich aus, aber das hätte Martin natürlich nie gesagt. Er wollte sie nach ihrem Alter fragen, aber er vermutete, das würde es noch schlimmer machen.

Später, bei einem teuren Abendessen, das sie, wie Martin meinte, verdienten, weil sie mehr als nur den Kurs überlebt hatten, in einem Hotel, das auf den Lake Windermere hinausging, prostete sie ihm mit einem guten stählernen Chablis zu und sagte: »Weißt du, Martin, du bist der Einzige in dem Kurs, der ein Wort neben das andere setzen kann, ohne dass ich verdammt noch mal kotzen möchte, entschuldige den Ausdruck. Du solltest Schriftsteller werden.«

Martin rechnete damit, dass sich der Honda-Fahrer vom Boden aufrappeln und in der Menge nach dem Täter suchen würde, der das Geschoss auf ihn abgefeuert hatte. Er versuchte, zu einer anonymen Gestalt in der Schlange zu werden, so zu tun, als würde er nicht existieren. Er schloss die Augen. In der Schule hatte er sich oft an diesen uralten, verzweifelten Zaubertrick wie an einen Strohhalm geklammert, wenn er schikaniert wurde – sie würden ihn nicht schlagen, wenn er sie nicht sah. Er stellte sich vor, wie der Honda-Fahrer auf ihn zuging, den Baseballschläger hoch erhoben, um mit Schwung den vernichtenden Schlag auszuführen.

Als er die Augen wieder öffnete, stieg der Honda-Fahrer zu seinem Erstaunen gerade in seinen Wagen. Als er davonfuhr, begannen ein paar Leute in der Menge zaghaft zu klatschen. Martin war nicht sicher, ob sie Missfallen über das Verhalten des Honda-Fahrers oder Enttäuschung darüber ausdrücken wollten, dass er die Sache nicht bis zum Ende durchgezogen hatte. Wie auch immer, die Leute waren nur schwer zufriedenzustellen.

Martin kniete sich auf den Boden und sagte »Alles in Ordnung?« zu dem Peugeot-Fahrer, und dann wurde er höflich, aber bestimmt von zwei Polizistinnen beiseitegeschoben, die dazugekommen waren und das Heft in die Hand genommen hatten.

3

Gloria hatte nicht gesehen, was passiert war. Sie vermutete, dass sich das Gerücht entlang dem Rückgrat der Menschenschlange ausgebreitet hatte wie bei der stillen Post: Jemand wurde ermordet. »Wahrscheinlich hat sich jemand vorgedrängelt«, sagte sie zu der schnatternden Pam neben sich. Gloria war stoisch, wenn sie Schlange stand. Leute, die sich beschwerten oder mit den Füßen scharrten, als wäre ihre Ungeduld ein Zeichen von Individualität, gingen ihr auf die Nerven. Schlange stehen war wie das Leben selbst, man hielt den Mund und machte weiter. Es war eine Schande, dass sie für den Zweiten Weltkrieg gerade zu spät geboren war, sie besaß genau die Art von Langmut, die zu Kriegszeiten gefordert war. Stoizismus war Glorias Ansicht nach eine überaus unterschätzte Tugend in der modernen Welt.

Sie konnte verstehen, dass man Vordrängler umbringen wollte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie mittlerweile jede Menge Leute kurzerhand exekutieren lassen – Leute, die Abfall auf die Straße warfen, zum Beispiel, sie würden es sich bestimmt zweimal überlegen, ob sie Bonbonpapier einfach so fallen ließen, wenn sie dafür am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden konnten. Gloria war früher gegen die Todesstrafe gewesen – sie erinnerte sich, dass sie während ihrer zu kurzen Zeit an der Universität gegen die Vollstreckung der Todesstrafe in einem weit entfernten Land, das sie auf der Landkarte nicht einmal gefunden hätte, demonstriert hatte, aber jetzt tendierten ihre Gefühle in die entgegengesetzte Richtung.

Gloria mochte Regeln, Regeln waren eine gute Sache. Gloria mochte Regeln, die bestimmten, dass man nicht schnell fahren oder im Halteverbot parken durfte, Regeln, die festlegten, dass man keinen Abfall zurücklassen oder Gebäude beschmieren durfte. Sie hatte es satt, dass Leute sich über das Geblitztwerden oder über Strafzettel für falsches Parken beschwerten, als wären sie eine Ausnahme. Als sie jünger war, hatte sie von Sex und Liebe phantasiert, davon, Hühner zu halten und Bienen zu züchten, größer zu sein, mit einem schwarzweißen Collie über eine Wiese zu laufen. Jetzt träumte sie davon, Türsteherin zu sein, mit dem ultimativen Abrechnungsbuch dazustehen und die Namen der Toten abzuhaken, die vor sie traten, sie durchzunicken oder den Daumen nach unten zu halten. Allen diesen Leuten, die an Bushaltestellen parkten oder bei Rot über eine Fußgängerampel gingen, würde es sehr leidtun, wenn Gloria sie erst über ihre Lesebrille hinweg anstarrte und sie aufforderte, Rechenschaft abzulegen.

Pam war nicht, was Gloria eine Freundin genannt hätte, sondern jemand, den sie so lange kannte, dass sie den Versuch aufgegeben hatte, sie loszuwerden. Pam war mit Murdo Miller verheiratet, dem besten Freund von Glorias Mann. Graham und Murdo waren in Edinburgh auf dieselbe teure Schule gegangen, die ihrem grundsätzlich flegelhaften Charakter einen höflichen Anstrich verliehen hatte. Sie waren jetzt beide wesentlich wohlhabender als ihre ehemaligen Mitschüler, eine Tatsache, die Murdo kommentierte mit: »Das beweist wieder mal alles.« Gloria dachte, dass es gar nichts bewies, außer dass sie womöglich gieriger und ruchloser waren als ihre einstigen Klassenkameraden. Graham war der Sohn eines kleinen Bauunternehmers (»Hatter-Häuser«) und hatte seine Karriere auf einer Baustelle seines Vaters als Ziegelträger begonnen. Jetzt war er Multimillionär und ein großer Bauunternehmer. Murdo war der Sohn eines Mannes, dem eine kleine Sicherheitsfirma gehörte (»Haven Security«), und hatte als Rausschmeißer an einer Kneipentür angefangen. Jetzt leitete er eine große Sicherheitsfirma – Clubs, Kneipen, Fußballspiele, Konzerte. Graham und Murdo hatten viele gemeinsame Geschäftsinteressen, Interessen, die weit gefächert waren und wenig zu tun hatten mit Bauen oder Sicherheit und die Treffen auf Jersey, den Cayman und Virgin Islands erforderten. Graham hatte die Finger in so vielen Angelegenheiten, dass zehn längst nicht mehr genug waren. »Geschäfte erzeugen Geschäfte«, erklärte er Gloria. »Aus Geld wird mehr Geld.« Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer.

Graham und Murdo lebten mit allem Drum und Dran der Honorigkeit – Häuser, die zu groß waren, und Autos, die sie jedes Jahr gegen ein neueres Modell austauschten, Ehefrauen, die sie behielten. Sie trugen blendend weiße Hemden und handgefertigte Schuhe, sie hatten schlechte Leberwerte und ruhige Gewissen, aber unter ihrer alternden Haut waren sie Barbaren.

»Habe ich dir erzählt, dass wir die Garderobe im Erdgeschoss neu gemacht haben?«, fragte Pam. »Schablonendruck mit keltischem Muster. Am Anfang war ich mir nicht sicher, aber mittlerweile gefällt es mir.«

»Mhm«, antwortete Gloria. »Faszinierend.«

Pam war es gewesen, die zu dieser mittäglichen Radioaufzeichnung hatte gehen wollen (Edinburgh Fringe Comedians), und Gloria war mitgekommen in der Hoffnung, dass zumindest einer der Comedians komisch wäre, aber ihre Erwartungen waren nicht hoch. Im Gegensatz zu manchen Bewohnern von Edinburgh, die die Eröffnung des jährlichen Festivals ähnlich betrachteten wie die Ankunft des Schwarzen Todes, gefiel Gloria die Atmosphäre, und sie besuchte hin und wieder eine Theateraufführung oder ein Konzert in der Queen’s Hall. Was Comedy anbelangte, hatte sie jedoch ihre Zweifel.

»Wie geht’s Graham?«, fragte Pam.

»Ach, du weißt doch«, sagte Gloria, »Graham ist Graham.« Das stimmte, Graham war Graham. Mehr, oder weniger, hatte Gloria über ihren Mann nicht zu sagen.

»Dort steht ein Polizeiauto«, sagte Pam und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser zu sehen. »Ein Mann liegt auf dem Boden. Er scheint tot zu sein.« Sie klang aufgeregt.

Gloria hatte in letzter Zeit viel über den Tod nachgedacht. Zu Beginn des Jahres war ihre ältere Schwester gestorben, und vor ein paar Wochen hatte sie eine Postkarte von einer alten Schulfreundin erhalten, die sie informierte, dass eine aus ihrer Gruppe kurz zuvor an Krebs gestorben war. Die Nachricht, »Jill ist letzte Woche eingeschlafen. Die Erste, die von uns gegangen ist!«, schien ihr unnötig munter. Gloria war neunundfünfzig und fragte sich, wer als Letzte von ihnen ginge und ob es sich um einen Wettbewerb handelte.

»Polizistinnen«, zwitscherte Pam glücklich.

Ein Krankenwagen fuhr vorsichtig durch die Menge. Die Schlange hatte sich beträchtlich nach vorn geschoben, so dass sie jetzt beide das Polizeiauto sehen konnten. Eine Polizistin forderte die Menge lautstark auf, den Veranstaltungsort nicht zu betreten, sondern zu bleiben, wo sie waren, weil sie Zeugenaussagen zu dem »Zwischenfall« aufnehmen würden. Unbeeindruckt betraten die Leute einer nach dem anderen die Lokalität.

Gloria war in einer Stadt im Norden aufgewachsen. Larry, ihr Vater, ein mürrischer und ernster Mann, verkaufte Versicherungen von Tür zu Tür an Leute, die sie sich kaum leisten konnten. Gloria glaubte nicht, dass Versicherungen heute noch so verkauft wurden. Ihre Vergangenheit schien bereits eine antiquierte Kuriosität – ein virtueller Ort, der vom Museum der Zukunft wiedererschaffen wurde. Wenn ihr Vater seine alte Aktentasche nicht gerade von einer unfreundlichen Türschwelle zur nächsten schleppte, sondern zu Hause war, versank er vor dem Kamin in einem Sessel, verschlang einen Krimi nach dem anderen und trank in Maßen Bier aus einem kleinen Glaskrug. Ihre Mutter Thelma hatte Teilzeit in einer Apotheke am Ort gearbeitet. Dabei trug sie einen knielangen weißen Kittel, dessen medizinische Erscheinung sie mit einem großen Paar vergoldeter Ohrringe mit Perlen kontrastierte. Sie behauptete, dass sie aufgrund ihrer Arbeit in der Apotheke in die intimen Geheimnisse der Leute eingeweiht sei, aber soweit die junge Gloria es beurteilen konnte, verkaufte sie vor allem Einlegesohlen und Watte, und ihre aufregendste Arbeit bestand darin, vor Weihnachten das Schaufenster mit Lametta und Geschenkschachteln von Yardley zu dekorieren.

Glorias Eltern führten ein langweiliges, freudloses Leben, das auch das Tragen von vergoldeten Ohrringen mit Perlen und das Lesen von Kriminalromanen kaum aufheiterten. Damals ging Gloria davon aus, dass ihr Leben einmal völlig anders verlaufen würde – dass ihr gloriose Dinge widerfahren würden (wie ihr Name implizierte), dass sie innerlich wie äußerlich strahlen und ihr Weg leuchten würde wie der Schweif eines Kometen. So kam es nicht!

Beryl und Jock, Grahams Eltern, unterschieden sich nicht sonderlich von Glorias Eltern, sie hatten lediglich mehr Geld und standen weiter oben auf der sozialen Leiter, aber sie hatten die gleichen bescheidenen Erwartungen ans Leben. Sie wohnten in einem »Edinburgh Bungalow« in Corstorphine, und Jock besaß ein relativ kleines Bauunternehmen, mit dem er einen anständigen Lebensunterhalt verdiente. Graham selbst hatte ein Jahr Tiefbau in Napier studiert (»eine blödsinnige Zeitverschwendung«), bevor er bei seinem Vater einstieg. Innerhalb eines Jahrzehnts saß er im Besprechungszimmer seines eigenen Großreichs, Hatter-Häuser – Reelle Häuser für reelle Menschen. Gloria hatte sich diesen Slogan vor vielen Jahren einfallen lassen und wünschte jetzt inbrünstig, sie hätte es nicht getan.

Graham und Gloria hatten in Edinburgh und nicht in ihrer Heimatstadt geheiratet (Gloria war als Studentin nach Edinburgh gegangen), und ihre Eltern kamen mit einer günstigen Tageskarte und waren wieder weg, kaum dass die Torte angeschnitten war. Die Torte war eigentlich der Weihnachtskuchen von Grahams Mutter, wurde jedoch hastig für die Hochzeit umfunktioniert.

Beryl machte ihren Kuchen immer im September und ließ ihn in weiße Tücher gewickelt in der Speisekammer reifen, packte ihn jede Woche vorsichtig aus und begoss ihn mit einem kleinen Gläschen Brandy. An Weihnachten waren die Tücher mahagonifarben gefleckt. Beryl sorgte sich wegen des Kuchens für die Hochzeit, da Weihnachten noch weit entfernt war (die Hochzeit fand Ende Oktober statt), aber sie setzte eine entschlossene Miene auf, verzierte ihn wie gewöhnlich mit Marzipan und Zuckerguss, und statt des Schneemanns steckte sie ein Brautpaar aus Plastik in die Mitte, das in einem nicht überzeugenden Walzertakt erstarrt war. Alle nahmen an, dass Gloria schwanger sei (sie war es nicht), als wäre das der einzige Grund, warum Graham sie heiratete.

Vielleicht hatte ihre Entscheidung, nur standesamtlich zu heiraten, ihre Eltern aus der Fassung gebracht. »Wir sind keine Christen, Gloria«, hatte Graham gesagt, was auch stimmte. Graham war ein aggressiver Atheist, und Gloria – geboren ein Viertel Leeds’sches Judentum, ein Viertel irisch-katholisch und aufgewachsen als West-Yorkshire-Baptistin – war eine passive Agnostikerin, obschon sie in Ermangelung von etwas Besserem »Church of Scotland« auf das Aufnahmeformular des Krankenhauses geschrieben hatte, als sie sich zwei Jahre zuvor an einem entzündeten Fußballen hatte operieren lassen, privat in Murrayfield. Wenn sie sich überhaupt eine Vorstellung von Gott machte, dann als vages Wesen, das hinter ihrer linken Schulter herumflatterte wie ein nörgelnder Papagei.

Vor langer Zeit hatte Gloria auf einem Barhocker in einer Kneipe auf der George IV Bridge in Edinburgh gesessen, einen (so unglaublich es jetzt auch schien) gewagt kurzen Minirock getragen, unsicher eine Embassy geraucht, einen Gin mit Orangensaft getrunken und gehofft, hübsch auszusehen, während um sie herum ihre Kommilitonen hitzig über Marxismus diskutierten. Tim, ihr damaliger Freund – ein schlaksiger Jugendlicher mit der Afrofrisur eines Weißen, bevor Afrofrisuren gleich welcher Art in Mode waren –, war einer der Lautesten der Gruppe, er fuchtelte jedes Mal mit den Händen, wenn er Warentausch und Mehrwertrate sagte, während Gloria an ihrem Gin mit Orangensaft nippte, weise nickte und hoffte, dass niemand von ihr einen Beitrag erwartete, weil sie nicht den leisesten Schimmer hatte, wovon sie sprachen. Sie studierte im zweiten Jahr Geschichte, allerdings auf eine eher oberflächliche Weise, die das Politische (die erste schottische Unabhängigkeitserklärung und den Ballhausschwur) zugunsten des Romantischen (Rob Roy, Marie Antoinette) vernachlässigte und sie bei ihren Dozenten nicht gerade beliebt machte.

Sie erinnerte sich jetzt nicht mehr an Tims Nachnamen, sondern nur noch an die große Wolke aus Haar, die einer Pusteblume ähnelte. Tim erklärte der Gruppe gerade, dass sie jetzt alle zur Arbeiterklasse gehörten. Gloria runzelte die Stirn, weil sie nicht zur Arbeiterklasse gehören wollte, aber alle um sie herum murmelten zustimmend – wiewohl sie durch die Bank aus Arzt-, Anwalts- oder Unternehmerfamilien stammten. Da verkündete eine laute Stimme: »So eine Scheiße. Ohne Kapitalismus wärt ihr nichts, der Kapitalismus hat die Menschheit gerettet.« Und das war Graham.

Er trug eine Lammfelljacke, eine Art Gebrauchtwagenverkäuferjacke, und trank allein in einer Ecke der Bar ein Bier. Er war ihr wie ein Mann erschienen, dabei war er noch nicht fünfundzwanzig gewesen, und das war nichts, wie Gloria jetzt wusste. Und dann hatte er sein Bier ausgetrunken, sich zu ihr umgedreht und gesagt: »Kommst du mit?«, und sie war von ihrem Barhocker gerutscht und ihm gefolgt wie ein Hündchen, weil er so überzeugend und attraktiv war, verglichen mit jemandem mit Pusteblumenhaar.

Und nun ging alles den Bach runter. Gestern hatte eine Sondereinheit des Betrugsdezernats überraschend der Zentrale von Hatter-Häuser in der Queensferry Road einen höflichen Besuch abgestattet, und jetzt fürchtete Graham, dass sie jeden dunklen Winkel seiner Geschäfte ausleuchten würden. Er war spät und sichtlich mitgenommen nach Hause gekommen, hatte einen doppelten Macallen geschluckt, ohne etwas zu schmecken, war dann aufs Sofa gefallen und hatte wie ein Blinder auf den Fernseher gestarrt. Gloria briet ihm ein Lammkotelett, wärmte ihm Kartoffeln auf, und als sie fragte: »Haben sie deine geheimen Bücher gefunden?«, lachte er grimmig und sagte: »Meinen Geheimnissen werden sie nie auf die Spur kommen, Gloria«, aber zum ersten Mal in den neununddreißig Jahren, die sie ihn kannte, klang er nicht großspurig. Sie hatten ihn im Visier, und er wusste es.

Die Wiese war es gewesen. Er hatte Land im Grüngürtel gekauft, das nicht als Bauland ausgewiesen war. Er hatte es günstig bekommen – Land, das kein Bauland war, war schließlich nur eine Wiese –, aber dann, Hokuspokus Fidibus, ein halbes Jahr später war die Baugenehmigung erteilt, und jetzt wurde am nordöstlichen Stadtrand eine scheußliche Siedlung aus »Familienhäusern« mit zwei, drei und vier Schlafzimmern gebaut.

Eine hübsche kleine Summe für jemanden im Planungsreferat, mehr war nicht nötig, eine Transaktion, wie Graham sie schon hundertmal zuvor durchgeführt hatte, das Getriebe schmieren, nannte er es. Für Graham war es eine kleine Sache gewesen, seine korrupten Methoden waren so viel weitreichender und tiefgehender angelegt als eine grüne Wiese am Stadtrand. Aber es brauchte oft nur ganz wenig, damit große Männer stolperten.

Kaum war der Krankenwagen mit dem Peugeot-Fahrer verschwunden, begannen die Polizistinnen, Aussagen aufzunehmen. »Hoffentlich ist was drauf«, sagte eine von ihnen und deutete auf die Kamera hoch oben an einer Mauer, die Gloria nicht bemerkt hatte. Gloria gefiel die Vorstellung, dass Kameras alle überall beobachteten. Letztes Jahr erst hatte Graham das neueste Sicherheitssystem im Haus installiert – Kameras und Infrarotsensoren und Panikschalter und weiß Gott was. Gloria mochte die hilfreichen kleinen Roboter, die mit ihren Augen den Garten überwachten. Einst sah das Auge Gottes alles, jetzt war es die Kameralinse.

»Er hatte einen Hund«, sagte Pam und lockerte sich unsicher das apricot gefärbte Haar.

»An den Hund erinnert sich jeder.« Die Polizistin seufzte. »Ich habe mehrere sehr präzise Beschreibungen des Hundes, aber der Honda-Fahrer wird wahlweise als ›dunkelhaarig‹, ›blond‹, ›groß‹, ›klein‹, ›mager‹, ›dick‹, ›Mitte zwanzig‹ und ›um die fünfzig‹ beschrieben. Niemand hat sich das Autokennzeichen notiert, man sollte meinen, dass zumindest einer das hinkriegen würde.«

»Das sollte man meinen«, sagte Gloria. »Das sollte man wirklich meinen.«

Sie waren zu spät für die BBC-Radioaufzeichnung. Pam war hocherfreut, dass sie ein Drama statt der Comedy erlebt hatten.

»Und am Donnerstag gehe ich aufs Literaturfestival«, sagte sie. »Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?« Pam war Fan irgendeines Krimiautors, der auf dem Literaturfestival lesen sollte. Gloria hatte nichts für Kriminalromane übrig. Sie hatten das Leben aus ihrem Vater gesaugt, und außerdem: Gab es nicht schon genügend Verbrechen auf der Welt, musste man noch mehr hinzufügen, und seien es fiktive?

»Das ist nur eine kleine Flucht aus dem Alltag«, sagte Pam kleinlaut.

Wenn man flüchten wollte, stieg man Glorias Ansicht nach in einen Wagen und fuhr davon. Glorias Lieblingsroman war noch immer ganz entschieden Anne auf Green Gables, der in ihrer Jugend eine Lebensweise repräsentiert hatte, die zwar ideal, aber auch jetzt noch nicht vollkommen unmöglich war.

»Wir könnten irgendwo eine schöne Tasse Tee trinken«, sagte Pam, aber Gloria entschuldigte sich und sagte: »Habe zu Hause was zu erledigen.«

Pam fragte: »Was denn?«

»Irgendwas«, sagte Gloria. Sie nahm an der eBay-Auktion eines Paars Staffordshire-Windhunde teil, die in zwei Stunden zu Ende gehen sollte, und sie wollte beim Finish dabei sein.

»Also wirklich, du bist eine Frau mit Geheimnissen, Gloria.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte Gloria.

4

Blendendes Licht erhellte plötzlich ein weißes Viereck, so dass die umgebende Dunkelheit noch schwärzer wirkte. Aus verschiedenen Richtungen betraten sechs Personen das Viereck. Sie schritten rasch aus, ihre Wege kreuzten sich, und er dachte an Soldaten, die auf einem Exerzierplatz einen komplizierten Drill vollführten. Einer blieb stehen, schwang die Arme und ließ die Schultern rotieren, als bereitete er sich auf eine anstrengende körperliche Übung vor. Alle sechs begannen Nonsens zu reden. »Unikum New York, Unikum New York, Unikum New York«, sagte ein Mann, und eine Frau antwortete: »Brautkleid bleibt Brautkleid, Blaukraut bleibt Blaukraut«, während sie eine Art Tai-Chi-Übung machte. Der Mann, der die Arme geschwungen hatte, sprach jetzt ins Leere, schnell und ohne Atem zu holen: »Du-schläfst-schlechter-als-wäre-eine-Maus-gezwungen-im-Ohr-einer-Katze-zu-wohnen-ein-kleines-Kind-das-zahnt-sollte-neben-dir-liegen-es-schreit-als-wärest-du-ein-unruhiger-Schläfer.« Eine Frau hielt in ihrem rasenden Gang abrupt inne und verkündete: »Faltige, flaumige Welpen, faltige, flaumige Welpen, faltige, flaumige Welpen.« Es war, als würde man die Insassen eines altmodischen Tollhauses beobachten.

Ein Mann trat aus der Dunkelheit in das Viereck aus Licht, klatschte in die Hände und sagte: »Okay, wenn ihr mit dem Aufwärmen fertig seid, können wir bitte mit der Probe anfangen?«

Jackson fragte sich, ob es ein guter Zeitpunkt war, um seine Anwesenheit kundzutun. Die Schauspieler – »die Kompanie« – wollten am Vormittag ein paar technische Einzelheiten klären. Am Nachmittag sollte die Generalprobe stattfinden, und Jackson hatte gehofft, dass er vorher mit Julia zu Mittag essen könnte, aber die Schauspieler steckten bereits in braunen und grauen Hemden, die wie Kartoffelsäcke aussahen. Bei ihrem Anblick verließ ihn der Mut. Obwohl er es vor ihnen niemals zugeben würde, war der Inbegriff des Theaters für Jackson eher eine gute Pantomime, vorzugsweise in Anwesenheit eines begeisterten Kindes.

Sie waren gestern angekommen, nachdem sie in London drei Wochen geprobt hatten, und am Vorabend war er ihnen endlich in einer Kneipe vorgestellt worden. Sie waren alle in Verzückung geraten, und eine von ihnen, eine Frau, die älter war als Jackson, war wie ein kleines Kind auf und ab gesprungen, und eine andere (er hatte ihre Namen bereits wieder vergessen) war dramatisch mit zum Gebet gefalteten Händen auf die Knie gesunken und hatte gesagt: »Unser Retter.« Jackson hatte sich innerlich gewunden, er wusste nicht wirklich, wie er mit Schauspielern umgehen sollte, er fühlte sich gesetzt und erwachsen in ihrer Gegenwart. Julia stand (dieses eine Mal) im Hintergrund und würdigte sein Unbehagen mit einem Zwinkern, das lüstern hätte sein können, aber er war sich nicht sicher. Vor kurzem hatte er sich (endlich) eingestanden, dass er eine Brille brauchte. Der Anfang vom Ende, von nun an ging’s nur noch bergab.

Die Schauspieler waren eine kleine Ad-hoc-Gruppe aus London, und als in letzter Minute die Finanzierung zu scheitern drohte, war Jackson eingesprungen, damit sie mit ihrem Stück beim Edinburgh Fringe auftreten konnten. Nicht aus Liebe zum Theater, sondern weil Julia ihn auf ihre gewohnt übertriebene Art beschwatzt und ihm geschmeichelt hatte, was unnötig war – sie hätte ihn nur fragen brauchen. Es war ihre erste Rolle seit geraumer Zeit, und er hatte angefangen sich (nicht sie, Gott bewahre) zu fragen, warum sie sich Schauspielerin nannte, wenn sie so gut wie nie auftrat. Als sie glaubte, dass sie das Engagement im letzten Moment verlieren würde, weil das Geld fehlte, war sie in einen so untypisch tiefen Trübsinn versunken, dass Jackson sich genötigt gefühlt hatte, sie aufzuheitern.

Das Stück Auf der Suche nach dem Äquator in Grönland war tschechisch (oder vielleicht slowakisch, Jackson hatte nicht wirklich zugehört), ein existenzialistisches, undurchschaubares Ding, das weder vom Äquator noch von Grönland (noch von der Suche nach irgendetwas) handelte. Julia hatte das Manuskript nach Frankreich mitgebracht und ihn gebeten, es zu lesen. Sie hatte ihn dabei beobachtet und alle zehn Minuten »Wie findest du es?« gefragt, als würde er etwas vom Theater verstehen. Was er nicht tat.

»Scheint mir … gut«, sagte er ratlos.

»Du meinst also, ich sollte das Angebot annehmen?«

»Auf jeden Fall, ja«, sagte er ein bisschen zu schnell. Im Nachhinein war ihm klar, dass sich die Frage, ob sie den Job vielleicht nicht machen sollte, gar nicht gestellt hatte, und er überlegte, ob sie gewusst hatte, dass die Finanzierung ein Albtraum werden würde, und wollte, dass er sich irgendwie an der Sache beteiligt fühlte. Sie war keine manipulative Person, ganz im Gegenteil, aber manchmal war sie auf eine Weise hellsichtig, die ihn überraschte. »Und wenn wir Erfolg haben, kriegst du dein Geld zurück«, sagte sie gut gelaunt, als er anbot zu helfen. »Und wer weiß, vielleicht machst du Gewinn.« Das glaubst auch nur du, dachte Jackson, aber er sagte es nicht.

»Unser Engel«, hatte ihn Tobias, der Regisseur, gestern Abend genannt und ihn in eine tuntige Umarmung gezogen. Tobias war schwuler als ein ganzes Pfadfindertreffen. Jackson hatte nichts gegen Schwule, er wünschte nur manchmal, sie wären nicht ganz so schwul, vor allem wenn sie ihm in einem guten, altmodischen schottischen Macho-Pub vorgestellt wurden. Ihr »Erlöser«, ihr »Engel« – so viel religiöser Wortschatz bei Leuten, die überhaupt nicht religiös waren. Jackson wusste, dass er weder ihr Erlöser noch ihr Engel war. Er war nur ein Mann. Ein Mann, der mehr Geld hatte als sie.

Julia entdeckte ihn und winkte ihn zu sich. Ihr Gesicht war gerötet, und das linke Auge zuckte, für gewöhnlich ein Zeichen größter Anspannung. Von ihrem Lippenstift war fast nichts mehr zu sehen, und ihr Körper war mit dem Sack-und-Asche-Kostüm getarnt, so dass sie nicht wirklich wie Julia aussah. Jackson vermutete, dass der Vormittag nicht gut verlaufen war. Nichtsdestoweniger umarmte sie ihn lächelnd (man konnte über Julia sagen, was man wollte, aber sie war ein Pfundskerl), und er schlang die Arme um sie und hörte ihren Atem, feucht und flach. Der »Veranstaltungsort«, an dem sie auftraten, befand sich unter der Erde, im Bauch eines jahrhundertealten Gebäudes, ein Labyrinth feuchter steinerner Gänge, die in alle Richtungen verliefen, und er fragte sich, ob Julia hier unten überleben konnte, ohne an Schwindsucht zu sterben.

»Kein Mittagessen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind noch nicht mal mit der Technik fertig. Wir müssen über Mittag arbeiten. Was hast du gemacht?«

»Ich war spazieren«, sagte Jackson, »und in einem Museum und der Camera obscura. Habe mir das Grab von dem Terrier Greyfriars Bobby angeschaut –«

»Oh.« Julia machte ein tragisches Gesicht. Wenn ein Hund, irgendein Hund, erwähnt wurde, reagierte Julia reflexartig emotional, aber die Vorstellung eines toten Hundes erhöhte den Einsatz an Gefühlen noch einmal beträchtlich. Der Gedanke an einen toten treuen Hund war fast mehr, als sie ertragen konnte.

»Ja, ich habe ihn vor dir gegrüßt«, sagte Jackson. »Und ich habe mir das neue Parlamentsgebäude angeschaut.«

»Wie ist es?«

»Ich weiß nicht. Neu. Seltsam.«

Er sah, dass sie nicht wirklich zuhörte. »Soll ich dableiben?«, fragte er.

Sie blickte erschrocken drein und sagte rasch: »Ich möchte nicht, dass du das Stück vor der Pressevorstellung siehst, es hat noch ein paar Ecken und Kanten.«

Wenn sie arbeitete, war Julia immer euphorisch, und Jackson wusste, dass »Ecken und Kanten« mit »verdammt grauenhaft« übersetzt werden musste. Aber darüber sprachen sie nicht. Er bemerkte Falten um ihre Augen, die zwei Jahre zuvor noch nicht da gewesen waren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich küssen zu lassen, und sagte: »Du hast meine Erlaubnis zum Herumstreunen. Geh und amüsier dich.«

Jackson küsste sie keusch auf die Stirn. Am Abend zuvor, nach der Kneipe, hatte Jackson mit heroischem Sex gerechnet, kaum dass sie durch die Tür der Mietwohnung in Marchmont getreten waren, die der Veranstalter für sie gefunden hatte. Eine neue Unterkunft machte Julia normalerweise forsch, was Sex anbelangte, aber stattdessen sagte sie: »Ich sterbe, Liebster, wenn ich nicht augenblicklich schlafe.« Es sah Julia gar nicht ähnlich, keinen Sex zu wollen, Julia wollte immer Sex.

Jackson vermutete, dass die Wohnung während des Semesters an Studenten vermietet war – Tesafilmstreifen an der Wand und eine Toilette, die Jackson mit zwei Flaschen WC-Reiniger putzte, bevor sie annähernd sauber schien. Julia putzte keine Toiletten, Julia machte eigentlich überhaupt keine Hausarbeit oder zumindest nicht so, dass man es bemerkte. »Das Leben ist zu kurz«, pflegte sie zu sagen. Es gab Tage, an denen Jackson dachte, dass das Leben zu lang war. Er hatte angeboten, für etwas Hübscheres, etwas Teureres, sogar für ein Hotel zu zahlen, wenn Julia es wollte, aber sie hatte abgelehnt. Alle anderen leben in ärmlichen Verhältnissen, und ich soll im Luxus wohnen? Das finde ich nicht richtig, Liebster, du etwa? Solidarität mit der Gruppe und so.