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England 1926: In einem Land, das sich noch immer vom Ersten Weltkrieg erholt, ist London zum Mittelpunkt eines neuen, ausgelassenen Nachtlebens geworden. In den Clubs von Soho tummeln sich Adelige neben Starlets, Prinzen neben Gangstern, und Mädchen verkaufen Tänze für einen Schilling. Im Zentrum dieser glitzernden Welt steht die berüchtigte Nellie Coker. Rücksichtslos und ehrgeizig kontrolliert sie die wichtigsten Clubs der Stadt. Doch der Erfolg schafft Feinde: Nellies Imperium wird von außen und von innen bedroht. Da sind ihre sechs Kinder, die alle eigene Ziele verfolgen, rivalisierende Straßengangs, ein Mafioso mit guten Manieren und schlechten Absichten … Und da ist Inspektor John Frobisher. Seine Mission: herauszufinden, was mit den vielen Mädchen geschieht, die im Sohoer Nachtleben spurlos verschwinden. Mithilfe einer jungen Bibliothekarin, die er in Nellies Clubs einschleust, beginnt er, der Königin von Soho das Leben schwer zu machen. In einem opulenten Tableau versammelt Kate Atkinson eine schillernde Schar von Charakteren in einem wahrhaft fesselnden Roman und zeichnet eine Welt, in der nichts so ist, wie es scheint.
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Seitenzahl: 794
Veröffentlichungsjahr: 2025
Frisch aus dem Gefängnis entlassen, kehrt Nellie Coker auf ihren Thron zurück. Ihr Königreich ist Soho, ihr Kronjuwel der Nachtclub ›Amethyst‹. Von hier aus behält sie Freunde und Feinde im Blick. Da sind ihre sechs Kinder, die alle eigene Ziele verfolgen: Der undurchschaubare Niven. Edith, ihre rechte Hand. Betty und Shirley, die die Familie zusammenhalten. Der untaugliche Ramsey. Und Nesthäkchen Kitty, die mit ihrem verspielten Wesen ihrem Namen alle Ehre macht. Da sind rivalisierende Straßengangs, korrupte Polizisten, ein Mafioso mit guten Manieren und schlechten Absichten. Und da ist Inspektor John Frobisher. Seine Mission: herauszufinden, was mit den Mädchen geschieht, die spurlos im Nachtleben verschwinden. Mithilfe der jungen Bibliothekarin Gwendolen, die er in Nellies Clubs einschleust, beginnt er, der Königin von Soho das Leben schwer zu machen.
Kate Atkinson versammelt eine schillernde Schar von Charakteren und wirft Licht in die dunklen Ecken einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft. Ein rasanter, fulminanter Roman über das London der Roaring Twenties.
© Helen Clyne
Kate Atkinson wurde bereits für ihren ersten Roman ›Familienalbum‹ mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten. Für ›Das vergessene Kind‹ erhielt sie den Deutschen Krimipreis 2012 und für ›Die Unvollendete‹ den Costa Novel Award 2013. Bei DuMont erschien zuletzt ihr Roman ›Weiter Himmel‹ (2021). Kate Atkinson lebt in Edinburgh und gilt als eine der wichtigsten britischen Autorinnen der Gegenwart.
Anette Grube, 1953 in München geboren, hat Anglistik studiert. Sie hat u.a. Chimamanda Ngozi Adichie, T. C. Boyle, Vikram Seth, Mordecai Richler und Yaa Gyasi ins Deutsche übersetzt.
KATE ATKINSON
NACHT ÜBER
SOHO
ROMAN
AUS DEM ENGLISCHEN VON ANETTE GRUBE
Von Kate Atkinson sind bei DuMont außerdem erschienen:
Die vierte Schwester
Liebesdienste
Lebenslügen
Weiter Himmel
Zitat[1] aus ›Ain’t We Got Fun‹ von Raymond B. Egan und Gus Kahn.
Zitat[2] aus ›Die Herzogin von Malfi‹ von John Webster.
Deutsch von Elisabeth Plessen. Hrsg. von Peter Zadek. Hamburg 1980.
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›Shrines of Gaiety‹ bei Doubleday, London.
© Kate Costello Ltd 2022
E-Book 2025
© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzung: Anette Grube
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Stefanie Naumann
Satz: Angelika Kudella, Köln
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1079-7
www.dumont-buchverlag.de
Every morning, every evening
Ain’t we got fun?
Not much money, oh, but honey!
Ain’t we got fun?
1926
Holloway
»Wird jemand gehängt?«, fragte ein neugieriger Zeitungsjunge. Er war klein, erst dreizehn Jahre alt und hüpfte auf und ab in dem Bestreben, einen Blick auf die Ursache dieser Vaudeville-Stimmung zu erhaschen. Die Dämmerung hatte kaum eingesetzt, und der Himmel war nur schwach erleuchtet, doch das hatte eine bunt gemischte Meute Feiernder nicht davon abgehalten, sich vor dem Tor des Holloway-Gefängnisses zu versammeln. Die eine Hälfte war früh aufgestanden, die andere Hälfte schien noch nicht im Bett gewesen zu sein.
Viele der Anwesenden trugen ihre Abendgarderobe – die Männer Dinnerjacket oder weiße Krawatte und Frack, die Frauen zitterten in dünner rückenfreier Seide unter ihren Pelzmänteln. Der Junge roch das müde Miasma aus Alkohol, Parfum und Tabak, das sie umgab. Feine Pinkel, dachte er. Er war überrascht, dass sie sich so fröhlich gemeinmachten mit Laternenanzündern, Milchmännern und Frühschichtarbeitern, ganz zu schweigen von dem üblichen Gesindel und den Gaffern, die immer zusammenkamen, wenn es etwas zu sehen gab, auch wenn sie keine Ahnung hatten, worum es sich handelte. Der Junge zählte sich nicht zu Letzteren. Er war lediglich neugierig, ein unbeteiligter Zuschauer bei den Verrücktheiten der Welt.
»Also? Wird jemand gehängt?«, hakte er nach und zupfte am Ärmel des nächsten feinen Pinkels – ein großer rotgesichtiger Mann mit einer halb erloschenen Zigarre im Mund und einer offenen Flasche Champagner in der Hand. Der Junge nahm an, dass der Mann den Abend in makellosem Zustand begonnen hatte, doch jetzt war die steife weiße Brust seiner Weste mit kleinen Flecken und Essensspritzern besudelt und auf seinen glänzenden Lackschuhen klebte Erbrochenes. Eine rote Nelke, welk von den Exzessen der Nacht, hing aus einem Knopfloch.
»Ganz und gar nicht«, sagte der feine Pinkel und schwankte selig. »Es gibt Grund zum Feiern. Old Ma Coker wird entlassen.«
Der Junge dachte, dass Old Ma Coker klang wie eine Zeile aus einem Kinderlied.
Eine Frau in tristem Gabardine zu seiner anderen Seite hielt ein Stück Pappe vor sich wie einen Schild. Der Junge musste den Hals recken, um das Geschriebene lesen zu können. Ein wütender Bleistift hatte die Pappe aufgerissen. Dem Gerechten gereicht sein Erwerb zum Leben, aber dem Gottlosen sein Einkommen zur Sünde. Sprüche 10,16. Der Junge sagte die Wörter lautlos vor sich hin, während er sie las, doch er unternahm keinen Versuch, ihre Bedeutung zu dechiffrieren. Er wurde seit zehn Jahren dazu gezwungen, die Sonntagsschule zu besuchen, es gelang ihm jedoch, dem Thema Sünde nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken.
»Auf Ihre Gesundheit, gnädige Frau«, sagte der feine Pinkel, hob der Frau gut gelaunt die Champagnerflasche entgegen und trank einen Schluck. Sie schaute ihn finster an und murmelte etwas von Sodom und Gomorrha.
Der Junge schlängelte sich in dem Gedränge ganz nach vorn, von wo er das imposante Tor gut sehen konnte – hölzern mit eisernen Beschlägen, die besser zu einer mittelalterlichen Festung gepasst hätten als zu einem Frauengefängnis. Wenn drei seiner Größe aufeinandergestanden hätten wie die chinesischen Akrobaten, die er im Hippodrom gesehen hatte, dann hätte der ganz oben Stehende vielleicht den Scheitelpunkt des Tors berühren können. Für den Jungen hatte Holloway etwas Romantisches. Er stellte sich vor, dass hinter seinen dicken Steinmauern schöne, hilflose Mädchen gefangen waren und darauf warteten, gerettet zu werden, in erster Linie von ihm.
Um die Aufregung zu dokumentieren, war ein Fotograf der Empire News anwesend, leicht zu erkennen an der Karte, die flott in seinem Hutband steckte. Der Junge empfand verwandtschaftliche Gefühle für ihn – schließlich waren sie beide im Nachrichtengeschäft tätig. Der Fotograf machte ein Gruppenporträt von einer Schar »Schönheiten«. Der Junge wusste von solchen jungen Frauen, denn es war nicht unter seiner Würde, in den Tatlers und Bystanders zu blättern, die er einmal in der Woche in Briefkästen steckte.
Die Schönheiten – eine unwahrscheinliche Erscheinung in dieser Gegend – posierten vor dem Tor. Drei sahen aus, als wären sie in ihren Zwanzigern, und trugen edle Pelze gegen die frühmorgendliche Kälte, die vierte – zu jung, um eine Schönheit zu sein – trug einen Schulmantel aus Kammgarn. Alle vier nahmen elegante Posen wie für Modeaufnahmen ein. Alle schienen vertraut mit der bewundernden Linse. Der Junge war hingerissen. Er ließ sich leicht von weiblicher Form hinreißen.
Der Fotograf schrieb die Namen der Schönheiten in ein Notizbuch, das er aus einer Tasche zog, damit sie in der Zeitung am nächsten Tag wahrheitsgemäß identifiziert werden konnten. Nellie Coker hatte etwas gegen den Bildredakteur in der Hand. Irgendeine Indiskretion seinerseits, vermutete der Fotograf.
»Heda!«, rief er jemand Unsichtbarem zu. »Ramsay, kommen Sie. Stellen Sie sich zu Ihren Schwestern!«
Ein junger Mann tauchte auf, gesellte sich widerwillig zu der Schar und lächelte gequält für den Blitz der Kamera.
Dann wurde ohne großes Tamtam eine kleine Pforte in dem großen Tor geöffnet, eine nicht sehr große, eulenhafte Frau kam heraus und blinzelte dem hellen Licht der Freiheit entgegen. Die Menge jubelte, vor allem die feinen Pinkel, und schrie: »Gut gemacht, altes Mädchen!« und »Willkommen zurück, Nellie!«, doch der Junge hörte auch den Ruf »Isebel!« von irgendwo in der Mitte der Menschenmenge. Er hatte den tristen Gabardine im Verdacht.
Nellie Coker wirkte glanzlos, und der Junge entdeckte nichts von dem an ihr, was er über Isebel gehört hatte. Hinter dem riesigen Strauß weißer Lilien und rosa Rosen, den man ihr in die Arme gedrückt hatte, sah sie nahezu wie eine Zwergin aus. Eine der Schönheiten warf einen großen Pelzmantel um die Schultern der frisch Entlassenen, als wollte sie ein Feuer ersticken. Die Mutter des Jungen hatte Ähnliches getan, als seine kleine Schwester als Baby auf den Kaminrost gefallen war und ihr weites Kleidchen Feuer gefangen hatte. Sie hatten beide überlebt und nur kleine Narben als Erinnerung behalten.
Die Schönheiten scharten sich um sie, umarmten und küssten die Frau – ihre Mutter, mutmaßte der Junge. Die Jüngste klammerte sich nach Ansicht des Jungen auf eine affektierte Weise an sie. Er kannte sich aus mit dem Theatralischen, seine Runde führte ihn zu allen Bühneneingängen des West Ends. Im Palace Theatre ließ ihn der Türsteher, ein gut gelaunter Veteran der Schlacht an der Somme, sich während der Nachmittagsvorstellung umsonst auf die Ränge schleichen. Der Junge hatte No, No, Nanette fünfmal gesehen und war ziemlich verliebt in Binnie Hale, den strahlenden Star des Musicals. Er konnte die Texte von »Tea for Two« und »I Want to Be Happy« auswendig und hätte sie gern gesungen, wäre er darum gebeten worden. Es gab eine Szene in der Show, in der die Tänzerinnen und Binnie (der Junge meinte sie oft genug gesehen zu haben für diese vertraute Anrede) in Badeanzügen auf die Bühne kamen. Es war aufregend skandalös, und dem Jungen fielen bei dieser Szene jedes Mal fast die Augen aus dem Kopf.
Die Kehrseite des freien Eintritts war, dass er sich die ausführlichen Kriegserinnerungen des Türstehers anhören und seine Sammlung Heimatschüsse bewundern musste. Der Junge war ein Jahr alt gewesen, als der Krieg ausbrach, und er bedeutete ihm wie die Sünde noch nichts.
Ramsay, Nellies zweiter Sohn, wurde gedrängt, seiner Mutter die Last des Straußes abzunehmen, und der Fotograf erwischte ihn, wie er die Blumen wie eine errötende Braut hielt. Zum Ärger seiner Schwestern (und zu seinem) zierte dieses Bild die Zeitung am nächsten Morgen unter der Überschrift SOHN DER BERÜCHTIGTEN SOHO-NACHTCLUB-BESITZERIN NELLIE COKER BEGRÜSST SEINE MUTTER NACH IHRER ENTLASSUNG AUS DEM GEFÄNGNIS. Ramsay hoffte auf Ruhm, doch nicht aufgrund der Berühmtheit seiner Mutter. Als Reaktion auf die Blumen musste er niesen, ein Hatschi-hatschi-hatschi in rascher Folge, und der Zeitungsjunge hörte Nellie sagen: »Herrgott noch mal, Ramsay, reiß dich zusammen.« So etwas sagte auch die Mutter des Jungen.
»Komm, Ma«, sagte eine aus der Schar. »Fahren wir nach Hause.«
»Nein«, sagte Nellie Coker bestimmt. »Wir fahren in den Amethyst. Und feiern.« Die Steuerfrau übernahm das Ruder.
Die Menge begann sich aufzulösen, und der Zeitungsjunge setzte seine Runde fort, in gehobener Stimmung, weil er Zeuge von etwas Historischem geworden war. Plötzlich fiel ihm der Apfel ein, alt und verschrumpelt, den er sich als Erstes heute Morgen angeeignet hatte. Er holte ihn aus der Tasche und mampfte ihn wie ein Pferd. Er war wunderbar süß.
Der feine Pinkel mit der Zigarre sah ihn an und sagte: »Tolle Show, was?«, als wäre er wirklich an seiner Meinung interessiert, dann boxte er ihn freundlich gegen den Kopf und schenkte ihm eine Sixpence-Münze. Der Junge tänzelte glücklich von dannen.
Als er sich davonmachte, hörte er jemanden schreien: »Diebe!« Es war ein Ausdruck, der wirklich auf alle hier gepasst hätte außer vielleicht auf den Mann, der die Geschehnisse aus diskreter Distanz beobachtete, vom Rücksitz eines unauffälligen Wagens aus. Detective Chief Inspector John Frobisher – »Frobisher vom Yard«, wie die Zeitschrift John Bull ihn genannt hatte, wenn auch etwas unpräzise, da er gerade an das Revier in der Bow Street in Covent Garden ausgeliehen war, um »den Stall auszumisten«. Dort grassierte Korruption, und er war damit beauftragt, die schwarzen Schafe ausfindig zu machen.
John Bull hatte Frobisher kürzlich gebeten, eine Artikelserie über seine Erfahrungen bei der Polizei zu schreiben, mit der Aussicht, ein Buch daraus zu machen. Frobisher war kein Narzisst – bei Weitem nicht –, aber der Vorschlag hatte ihn belebt. Er war schon immer ein Büchermensch gewesen, und er fand Geschmack an einer literarischen Herausforderung. Mittlerweile war er allerdings nicht mehr so sicher. Er hatte angeregt, die Serie London bei Dunkelheit zu betiteln, doch die Zeitschrift zog Nachts im Viertel des Lasters vor. Er wusste nicht, warum ihn das überrascht hatte, da doch jedes billige Blatt reißerische Geschichten über ausländische Männer, die Frauen zu der einen oder anderen Art von Käuflichkeit drängten, hinausschrien, wohingegen das Risiko, dass ihnen bei helllichtem Tag die Handtasche vom Arm gerissen wurde, tatsächlich größer war.
Bislang war nichts von ihm veröffentlicht worden, denn jedes Mal, wenn er John Bull etwas vorlegte, baten sie ihn, es gewagter und »sensationeller« zu machen. Gewagt und sensationell waren keine Aspekte von Frobishers Charakter. Er war nüchtern, wenn auch nicht ohne Tiefe oder Humor, beides Eigenschaften, die bei der Polizei nicht oft gebraucht wurden.
Er blickte müßig zwei Frauen nach, die sich verstohlen einen Weg durch die Menge bahnten und geschickt Taschen plünderten. Frobisher erkannte sie als Subalterne der Forty Thieves, einer Bande von vierzig Diebinnen, aber sie waren vergleichsweise kleine Fische, und im Augenblick interessierten sie ihn nicht.
Zwei cremefarben-schwarze Bentleys – einer im Besitz der Familie, der andere des Effekts halber geliehen – fuhren vor, und der Coker-Clan teilte sich auf und machte sich winkend, als wären sie die königliche Familie, auf den Weg. Verbrechen zahlte sich aus, dagegen vorzugehen nicht. Frobisher spürte, wie ihm die gesetzestreue Galle hochkam, und er musste eine Aufwallung von Neid auf die Bentleys unterdrücken. Er war dabei, sich sein eigenes Auto zuzulegen, einen unauffälligen Austin Seven, einen Allerweltswagen.
Das Reich der delinquenten Coker war ein Kartenhaus, das er zum Einsturz zu bringen gedachte. Die schmutzige, glitzernde Unterwelt Londons konzentrierte sich in ihren Nachtclubs, insbesondere im Amethyst, dem protzigen Juwel im Herzen von Sohos Nachtleben. Es waren nicht die moralischen Vergehen – das Tanzen, das Trinken, nicht einmal die Drogen –, die Frobisher bestürzten. Es waren die Mädchen. In London verschwanden Mädchen. Er wusste von mindestens fünf Mädchen, die während der letzten Wochen verschwunden waren. Wo waren sie? Er vermutete, dass sie durch die Türen der Clubs in Soho gingen und nie wieder herauskamen.
Er wandte sich der Frau zu, die neben ihm auf dem Rücksitz des nicht gekennzeichneten Wagens saß, und sagte: »Haben Sie sie gut sehen können, Miss Kelling? Und glauben Sie, dass Sie tun können, worum ich Sie bitte?«
»Absolut, Chief Inspector«, sagte Gwendolen.
Die Königin der Clubs
Im Amethyst überreichte Freddie Bassett, der Chef-Barmann, Nellie eine weitere übergroße florale Gabe. »Willkommen zu Hause, MrsCoker«, sagte er. Kein »Nellie« für ihn, es war unter seiner Würde, anders als formell mit der Familie Umgang zu pflegen. Er hatte seine Standards. Er war im Ritz ausgebildet worden, bevor er seine Stelle dort aufgrund eines unglücklichen Vorfalls mit zwei Zimmermädchen und einem Wäscheschrank verlor. »Den Rest können Sie sich vorstellen«, sagte er zu Nellie, als er sich für den Job im Amethyst bewarb. »Lieber nicht«, erwiderte sie.
Nellie mochte keine Blumen, hielt sie für bedürftig. Sie sollten ihrer Ansicht nach Hochzeiten und Beerdigungen vorbehalten sein, nicht ihrer eigenen, nein danke. Nellie wollte die Welt schmucklos verlassen, so wie sie auf die Welt gekommen war, mit nicht einmal einem Gänseblümchen.
Statt Blumen hätte sie lieber eine Schachtel Törtchen von Maison Bertaux um die Ecke in der Greek Street bekommen – Schokoladeneclairs oder Rumbabas, vorzugsweise beides. Seit den grünen sauren Drops und den Minzbonbons ihrer schottischen Kindheit hatte sie eine schreckliche Vorliebe für Süßigkeiten. Das Essen war das Schlimmste am Gefängnis gewesen. Ihre Töchter hatten ihr an den Besuchstagen in Holloway Bonbons gebracht. Nellie hatte sich während ihrer Haft viele Gedanken zu einer Reform der Gefängnisse gemacht, und ganz oben auf der Liste stand eine kleine wöchentliche Ration von Süßigkeiten – vorrangig Marshmallows und Kokoseis.
Als sie sechs Monate zuvor in Holloway Einzug gehalten hatte, hatte ihr das Personal des Amethyst ein Füllhorn geschickt, das einem Erntedankfest angemessen gewesen wäre – einen großen Blumenstrauß und einen Korb voller extravaganter Früchte, zusammengestellt von einem Händler aus Covent Garden, der regelmäßig Gast im Club war. Das Personal hatte ihn mit den Worten Viel Glück dekoriert, die Buchstaben ausgeschnitten aus silberfarbenem Karton aus dem dubiosen Schrank, in dem die Neujahrsdekorationen des Clubs lagerten.
Diese Extravaganz war sofort von einer Wärterin beschlagnahmt worden, kaum dass Nellie hinter den abweisenden Mauern verschwunden war, und die exotischen Früchte – Ananas, Pfirsich und Feige – waren unter dem Personal aufgeteilt worden, während Nellie sich mit dem mageren Gefängnisessen begnügen musste – regelmäßig Erbsensuppe, Nierenfettkuchen und Rindereintopf, ein widerliches Gericht, das der Kuh, mit der bekannt zu sein es beanspruchte, nie begegnet war.
Bevor Nellie an jenem Abend schlafen ging, wurde eine Blume – eine Rose, eine rote Rose aus dem Strauß – durch die Klappe in der Zellentür geschoben. Nellie war nicht klar, mit welcher Absicht – aus Verachtung oder zum Trost. Ihre Zellengenossin, eine Belgierin, die ihren Liebhaber erschossen hatte, war weniger verwirrt. Sie riss die Rose an sich und zertrat sie unter ihren Stiefeln, bis die Blütenblätter den kalten Stein des Bodens rot färbten.
Der Club hatte gerade erst geschlossen, doch der Großteil des Personals war geblieben, um die Kapitänin zurück an Bord zu begrüßen, nur die Kapelle hatte eingepackt und war gegangen (die Musiker klammerten sich hartnäckig an ihre Autonomie). Vor über einer Stunde hatten sie »God Save the King« gespielt, und die letzten heroischen Überlebenden der Nacht hatten schwankend Haltung angenommen. Nellie war streng (in absentia wurden die Regeln noch strikter eingehalten) – niemand saß während der Nationalhymne, nicht einmal die Betrunkensten. Jetzt waren nur noch ein paar Stammgäste da, auf liebenswürdige Weise trunksüchtige Boulevardiers, die sich dem Chor aus Pagen, Türstehern, Kellnern und dem Frühstückskoch anschlossen und Freddie nacheiferten: »Willkommen zurück, MrsCoker.«
Sie hatten gerade mitten in der Woche eine ungewöhnlich hitzige Nacht durchgestanden, nach der jede zweite Person wirkte, als hätte sie ein Rugbyspiel oder einen Trinkwettbewerb in einem Universitätsclub hinter sich. Ein Schwarm erschöpfter Tänzerinnen scharte sich um Nellie. Aus der Nähe rochen sie muffig, nach einer billigen Mischung aus Puder, Parfum und Schweiß, dennoch war es nach der widerlichen Luft von Holloway ein willkommener vertrauter Geruch, und Nellie ließ sich von ihnen umarmen, bevor sie sie ins Bett schickte. Dem Amethyst ging in der Morgendämmerung die Luft aus. Der Club brauchte die Nacht, um zum Leben zu erwachen, sein offener Schlund verlangte, mit einer endlosen Parade von Menschen gefüttert zu werden.
Der Koch zündete in der Küche den Gasherd an, um Nellie Frühstück zu machen. Die Hennen von Norfolk waren damit beschäftigt, den Amethyst mit Eiern zu versorgen, die zu Dutzenden über Nacht mit dem Milchzug kamen. Der Koch wollte unbedingt etwas über das Frühstück im Gefängnis wissen. »Ein Kanten Brot und Margarine und ein Becher Kakao«, erklärte ihm Nellie. »Ich brate Ihnen noch ein paar Würstchen, schätze, Sie müssen aufgepäppelt werden«, sagte er besorgt. »Schätze, so ist es«, sagte Nellie.
Die Familie zog sich in einen der privaten Räume zurück, wo ein Kellner den Tisch mit frischem Leinen und Silberbesteck deckte und Freddie eine Flasche Champagner öffnete. Dom Perignon für die Familie, eine billigere Marke für den Club, gekauft für sieben Schilling und einen Sixpence und verkauft für drei Guineen. Acht für eine Magnumflasche. Gab es ein schöneres Geräusch, fragte Nellie, als das Ploppen eines Champagnerkorkens?
»Solange die Kosten nicht zulasten des Gewinns gehen«, sagte Edith, in deren Adern Coker-Blut in einem schnellen, wilden Strom floss.
Nellie Cokers Nachwuchs in der Reihenfolge, in der er das Licht der Welt erblickt hatte. Zuallererst Niven – der, wie nicht anders erwartet, am Morgen vor Holloway gefehlt hatte –, bald gefolgt von Edith. Dann eine Pause, als Nellie versuchte, sich gegen die Mutterschaft zu stemmen, und nachdem sie damit gescheitert war, in rascher Folge Betty, Shirley, Ramsay und das Schlusslicht, die Kleinste des Wurfs, die elfjährige Kitty oder le bébé, wie Nellie sie bisweilen nannte, wenn sie vergeblich nach dem richtigen Namen suchte. Nellie war in den Genuss einer französischen Erziehung gekommen, was auf unterschiedliche Weise interpretiert werden konnte.
Auf Kittys Geburtsurkunde stand der Name eines Vaters, doch Edith behauptete, sie wisse mit Sicherheit, dass es der Name eines Majors sei, der ein Jahr, bevor Kitty geboren wurde, in der ersten Schlacht an der Marne gefallen war. (»Ein Wunder«, sagte Nellie unbeeindruckt.)
Die drei ältesten Mädchen waren die Kerntruppe der Familie. Betty und Shirley hatten beide in Cambridge studiert. »Sie geben nicht an mit ihrer Bildung«, sagte Nellie stolz zu eventuellen Verehrern. (»Sie zeigen sie eigentlich überhaupt nicht«, sagte Niven.) Manchmal verhielt sich Nellie wie ein Impresario und nicht wie eine Mutter.
Edith hatte Universität und Ehe zugunsten eines Kurses in Buchhaltung und Rechnungswesen gemieden. Während Nellie hors de combat in Holloway war, hatte Edith das Schiff gesteuert. Der Amethyst war geschlossen worden, doch von Edith am Tag nach Nellies Verurteilung selbstverständlich wiedereröffnet worden, unter neuem Namen – »Das Kartenspiel« –, aber für alle Welt war es immer noch der Amethyst und würde es auch bleiben.
Edith war Nellies Stellvertreterin, ihr chef d’affaires, und aus demselben harten Material wie ihre Mutter. Sie verstand das Geschäft und hatte den dafür notwendigen Mumm einer Borgia. Es ging ums Geld. Sie wussten alle, wie es war, etwas Geld zu haben und dann keins und jetzt viel, und niemand von ihnen wollte erneut in den Abgrund der Armut stürzen. Außer vielleicht Ramsay. Der wollte Schriftsteller werden. »Er bringt mich zur Verzweiflung«, sagte Nellie.
Ramsay, erst einundzwanzig, hatte ständig das Gefühl, gerade etwas verpasst zu haben. »Es ist«, bemühte er sich, es Shirley, für gewöhnlich seine Vertraute, zu erklären, »als wäre ich in ein Zimmer gekommen und alle anderen sind gerade rausgegangen.« Niven war im Krieg gewesen, Betty und Shirley hatten in Cambridge studiert, aber Ramsay war zu jung für den Krieg und erst ein Semester in Oxford gewesen, als er wegen seiner Lunge, die laut seinem Arzt »einem Paar Ziehharmonikas« glich, in ein Sanatorium in den Alpen verbannt wurde. Es war eine Erleichterung gewesen, wenn er ehrlich war. Seine Kommilitonen schüchterten ihn ein. Im Merton College schlossen Männer ihr Studium ab, das der Krieg unterbrochen hatte. Sie waren durch die Hölle gegangen und älter, als das Datum auf ihrer Geburtsurkunde glauben machte, während Ramsay wusste, dass er jünger wirkte.
Ramsay war ein offenes Buch für seine Familie; Niven dagegen war für sie alle ein Rätsel. Er war Mitbesitzer eines Autosalons in Piccadilly, einer Firma, die Wein importierte, ließ einen Hund in White City rennen und besaß ein halbes Pferd, das gelegentlich auf einer Rennbahn auftauchte und von allen als Außenseiter gehandelt wurde, bevor es am Ende doch gewann. (»Komisch«, sagte Nellie.) Er kannte Verbrecher, er kannte Herzöge. (»Kein Unterschied«, sagte Nellie.) Er trank kaum etwas, ging aber zu vielen Partys. Er hatte keine Zeit für Leute, die zu Partys gingen. Er hatte grundsätzlich keine Zeit für Leute, und Dummköpfe ertrug er überhaupt nicht. Soweit sie wussten, nahm er keine Drogen, doch er kannte alle Chinesen, die sie verkauften, und war bekannt dafür, dass er Limehouse und das Restaurant des berüchtigten Brilliant Chang in der Regent Street frequentiert und eine Kanne Chrysanthementee mit ihm getrunken hatte, bevor Chang deportiert wurde. Er wäre ein guter Methodist gewesen, aber er hatte keine Zeit für die Kirche.
Nellies eigene Ursprünge waren im Nebel der Zeit – oder in ihrem Fall im Nebel der irischen Sümpfe – untergegangen, doch bekannt war – oder zumindest wurde behauptet –, dass ihre Großmutter mütterlicherseits wegen Landstreicherei aus Irland ausgewiesen worden war, damit glücklicherweise der Großen Hungersnot entging und den Grundstein der Dynastie legte. Diese Frau landete in Glasgow, wo sie mit »Kurzwaren« hausierte, bevor sie nach Osten weiterzog und von einem wohlhabenden Gutsbesitzer im Königreich Fife – wer wusste, wie? – aufgenommen wurde, ein zweiter Sohn, aufgestiegen zum ersten, nachdem sein Bruder unter mysteriösen Umständen gestorben war. Dumme Gerüchte behaupteten, er wäre verflucht gewesen.
Es gab eine hastige Eheschließung. Nellies Großmutter trug bereits das Geheimnis von Nellies Mutter in sich, nach deren Geburt der neue Gutsherr begeistert das Geld der Familie verspielte und sich zugleich zu Tode trank.
Als Nellie geboren wurde, war nur noch wenig des Familienvermögens übrig. Noch als kleines Kind wurde sie nach Frankreich in eine Klosterschule in Lyon geschickt, bevor ihre Ausbildung (auf mehr als nur eine Weise) in Paris den Schliff bekam. Frisch aus der französischen Hauptstadt zurück und möglicherweise schon enceinte mit Niven kehrte sie nach Edinburgh zurück und heiratete einen Mann der Medizin aus Inverness. Sie bezogen ein nobles Haus in Edinburghs New Town, das sie sich nicht leisten konnten, und Nellie musste feststellen, dass ihr neuer Mann nicht nur ein Säufer, sondern obendrein ein Spieler war, und nachdem alles Geld und Wohlwollen aufgebraucht waren, nahm Nellie die Sache in die eigenen Hände, bugsierte ihre Kinder in Waverly in ein Dritte-Klasse-Abteil und hievte sie in King’s Cross wieder heraus.
Alle außer Niven, ihrem Ältesten, der bereits zu den Scots Guards in Edinburgh eingezogen worden war und an der Front diente. Nicht freiwillig. Niven hätte sich nicht freiwillig zur Armee gemeldet. Oder für irgendetwas anderes. Er war als einfacher Soldat eingezogen worden, da er die Offizierslaufbahn, die er dank seines Studiums am Fettes College in Edinburgh hätte einschlagen können, abgelehnt hatte. Die elitären Internate Großbritanniens lieferten Futter für die berüchtigt kurzlebigen unteren Offiziersränge. Niven hegte nicht den Wunsch, auf diese Weise bevorzugt zu werden. Er wollte sein Glück in den niederen Rängen versuchen, sagte er. Er tat es und überlebte.
Nellie ließ die restlichen Kinder auf ihren Koffern auf dem Bahnsteig sitzen, während sie eine Wohnung suchen ging. Ein Pfund die Woche für die Zimmer im ersten Stock in der Great Percy Street, gleich um die Ecke vom Bahnhof. Da sie nicht einmal das Geld für die erste Wochenmiete hatte, zahlte Nelli sie mit ihrem Ehering an. Es war nicht ihr eigener Ehering – den hatte sie vor einiger Zeit verloren (fahrlässig, würden manche sagen) und in einem Pfandleihhaus einen billigen Neun-Karat-Ring gekauft. Sie sei Kriegswitwe, erzählte Nellie der Vermieterin in der Great Percy Street, ihr Mann bei Ypres gefallen. Die Kinder betrachteten ihre Mutter neugierig. Betty und Shirley hatten ihren Vater erst in der Woche zuvor gesehen, auf dem Nachhauseweg von der Schule, als er betrunken auf dem St Andrew Square herumrollte.
Nellie führte ihr Ungemach aus – sechs Kinder, eins (mehr oder weniger) noch ein Säugling und ein anderes an der Front. Der Widerstand der Vermieterin brach schnell in sich zusammen, und sie hieß sie herzlich willkommen. Sie weigerte sich, den Ehering anzunehmen. Sie war eine freundliche alte Seele, gekleidet nach der Mode des vergangenen Jahrhunderts.
Das Haus hatte vier Stockwerke. Die Vermieterin wohnte unter ihnen im Erdgeschoss und über ihnen eine laute Familie belgischer Flüchtlinge und im Dachgeschoss zwei russische »Bolschewisten« – sehr nette Männer, wenn auch etwas schmutzig, die Gelegenheitsarbeiten im Haus übernahmen und dem jungen Ramsay ein bisschen ihre Sprache und ein Kartenspiel namens Préférence beibrachten. Sie konnten die ganze Nacht spielen und tranken dabei Kartoffelwodka, den sie in einer illegalen Brennerei in Holborn kauften. Nellie war außer sich, als sie davon erfuhr. Glücksspiel hatte ihre Familie in der Vergangenheit ins Unglück gestürzt, sagte sie, und das würde sie zukünftig nicht mehr zulassen.
Die Mädchen waren hocherfreut über ihre neue Unterkunft, weil die Vermieterin einen großen Kater mit dunklem Fell namens Moppet hatte, und sie verbrachten viel Zeit damit, mit ihm zu spielen – sie zogen ihm Kittys Kleidchen und Häubchen an und bürsteten sein glänzendes Fell, bis der arme Ramsay glaubte, dass seine Lunge implodieren würde. Nellie verdiente ein bisschen Geld, indem sie Näharbeiten übernahm; sie konnte ausgezeichnet nähen, das hatten ihr die Nonnen ihrer Alma Mater in Lyons beigebracht. Die Vermieterin besaß eine Singer-Tretnähmaschine, die sie nicht mehr benutzte. Die Bolschewisten trugen sie in die Wohnung der Cokers hinauf.
Die Schnüre an Nellies Geldbörse waren fest zugezogen. Die Sohlen ihrer Schuhe wurden mit flüssiger Gummilösung geflickt, weiße Kragen mit Brotkanten sauber gerieben, und sie lebten von Lebersuppe und Aalpastete. Nellie war eine exzellente Haushälterin. Sie sparte immerzu, Pennys hier, Pennys dort, sie schmiedete einen Plan.
Die Kinder wären gern in der Great Percy Street geblieben, doch die Vermieterin starb ein paar Monate später, und ihr Sohn, der in Birmingham lebte und nie zu Besuch kam, schrieb, dass er beschlossen hatte, »zu verkaufen« und mit dem Erlös nach Amerika auszuwandern. Nellie hatte die Vermieterin im Lauf der Zeit ins Herz geschlossen und manchmal nachmittags Tee mit ihr getrunken. Die Frau war eine hervorragende Bäckerin, ihr Repertoire bezog sie aus dem Be-Ro-Hausrezeptbuch – Steinküchlein, schottische Pfannkuchen, Dattelkuchen, alles sehr geschätzt von Nellie.
Nellie war es gewöhnt, die leisen Alltagsgeräusche aus der Wohnung der Vermieterin zu hören – laufendes Wasser, zufallende Türen und so weiter. Im Lauf des Tages dämmerte ihr langsam, dass es unten still war, und sie ging hinunter, um nachzuschauen. Am Abend zuvor hatte sie der Vermieterin die Karten gelegt und »eine große Veränderung« auf sie zukommen sehen, aber nicht den Tod.
Als auf ihr Klopfen hin nichts passierte, öffnete sie die Tür, wohl wissend, dass sie nie abgeschlossen war. Die Zimmer fühlten sich leer an, der Staub der Stille lastete schwer. Nellie war traurig, aber nicht überrascht, als sie feststellte, dass die Vermieterin an diesem Morgen nicht aufgestanden war, sondern noch in ihrem Bett lag und in ewiger Ruhe schlummerte.
Nellie sorgte für ein bisschen Ordnung in der Wohnung. Schrankfächer und Schubladen: Sie räumte Dinge ein, nahm Dinge heraus. Da war Bargeld, das wusste sie, in einer Dose zum Andenken an die Krönung von Edward VII. Das Geld wurde herausgefischt und in die Schürzentasche gesteckt. Unter dem hohen Messingbett, auf dem die Leiche friedlich lag, entdeckte Nellie eine verrostete Metallschachtel, die aussah wie eine große Geldkassette. Sie holte sie mit dem Spazierstock der alten Dame unter dem Bett hervor. Sie war verschlossen; sie musste lange suchen, bis sie den in einer kleinen Potpourrivase versteckten Schlüssel dazu fand.
Nellie hatte mit langweiligen verstaubten Papieren gerechnet. Einem Mietvertrag, einem Testament. Sie hatte keine Schatztruhe erwartet. Der Schatz einer Königin. Diamanten, Rubine, Saphire, Opale und Granat. Ringe und Broschen, Armbänder und Armreifen. Manschettenknöpfe und Kropfbänder, eine Tiara im russischen Stil mit Smaragden, eine fünfreihige Perlenkette. Kameen, Korallen, ein Paar schöner Ohrgehänge mit Aquamarinen, ein vielreihiges Armband aus Opalen, besetzt mit Rubinen und Diamanten.
Was für ein geheimes Leben hatte die unauffällige Vermieterin geführt, um solche Schätze anzusammeln? Nellie entschied sich gegen Spekulation. Erst später erfuhr sie, dass die freundliche alte Dame eine Hehlerin für die Londoner Banden gewesen und der Schmuck schon mehrmals gestohlen worden war. Nellie war unwillkürlich beeindruckt von der stillschweigenden Duplizität ihrer Vermieterin. Eine Lektion in Verstellung.
Was ihre eigenen Schuldgefühle betraf, argumentierte Nellie vor ihrer inneren Richterin, dass ihr die Vermieterin den Schmuck vielleicht von sich aus gegeben hätte, hätte sie gewusst, dass sie sterben würde. Eine unwahrscheinliche, aber tröstliche Geschichte. Nellies Schritt auf der Treppe zurück in ihre eigene Wohnung war reumütig. Sie schickte Edith los, um einen Arzt für die Vermieterin zu holen. »Ist sie krank?«, fragte Edith. »Sehr«, sagte Nellie.
Später fragte sich Nellie, ob sie nicht der Vermieterin, sondern sich selbst die Karten gelegt hatte, denn in ihrem Leben trat tatsächlich eine große Veränderung ein. Sie verabschiedeten sich von den Bolschewisten, die quer durch Europa zu ihrer Revolution zurückkehrten, und verließen die Great Percy Street, bevor sie vom Sohn hinausgeworfen wurden und die kriminellen Freunde der Vermieterin auf der Suche nach dem Diebesgut auftauchten. Viele Jahre lang, vielleicht sogar jetzt noch, schaute Nellie auf der Straße über die Schulter und fragte sich, ob die Diebe herausgefunden hatten, dass sie ihre Beute gestohlen hatte, und jetzt Rache an ihr üben wollten.
Als Nächstes mieteten sie eine schimmlige, von Mäusen heimgesuchte Souterrainwohnung in der Tottenham Court Road. Sie nahmen Moppet mit, der sich als ausgezeichneter Mäusefänger erwies und mehr als seinen Unterhalt verdiente. Reumütig verhökerte Nellie ihr Lieblingsstück – eine wunderschöne Halskette mit Amethysten aus dem frühen 18.Jahrhundert – an einen Pfandleiher, mit dem sie bekannt war, und trieb den Preis hoch bis zu der gewaltigen Summe von fünfzig Pfund. Nellie konnte hervorragend feilschen. Den Rest packte sie weg, um ihn Stück für Stück je nach Bedarf zu verkaufen. Was Geschäfte betraf, war Nellie sparsam. Ein Unterfangen, so glaubte sie, sollte das nächste finanzieren. Geschäft erzeugte Geschäft.
Nellie hatte in der Gazette eine Anzeige von jemandem namens Jaeger gesehen. Er war ein grober, wieseliger kleiner Mann, doch er schien eine Ahnung von dem zu haben, was er tat. Während des Kriegs hatte er in einem Souterrain in Fitzrovia »Tango-Tees« veranstaltet, doch die Zeit des Tangos war vorbei, und er suchte nach einem Partner, um thés dansants abzuhalten. Gemeinsam fanden Nellie und Jaeger ein Souterrain – eigentlich einen Keller – in der Little Newport Street nahe dem Leicester Square und investierten eine nicht unbeträchtliche Menge Geld, um es herzurichten, wonach sie für zwei Schilling pro Nacht Mitgliedschaften fürs Tanzen und Erfrischungen verkauften. Sie nannten es »Jaeger’s Dance Hall«.
Das Savoy – Champagner und illegaler Orchideenhandel – verlangte fünf Schilling, und Nellie vermutete, dass sie dort leckeres Essen anboten. In Jaeger’s Dance Hall fiel der thé etwas robuster aus – glasierte Kuchen, Sandwiches, Limonade und etwas, das »Türkenblut« hieß und knallrosa war: Limonade, Angosturabitter und ein bisschen Cochenille. Selbstverständlich hatten sie keine Genehmigung für Alkoholausschank. Anfänglich hielten sie sich ans Gesetz, aber wenn sie keinen Alkohol servierten, würde es jemand anders tun. Also taten sie es.
Als Hilfe auf diesem Schritt in die Illegalität erwarb Jaeger die Dienste des Gesetzes in Gestalt eines Polizisten – eines gewissen Detective Sergeant Arthur Maddox, der im Revier in der Bow Street arbeitete. Maddox war ein hilfreicher Polizist, der für eine wöchentliche Geldsumme die Augen vor den Schankgesetzen verschloss und Jaeger und Nellie rechtzeitig informierte, wenn eine Razzia bevorstand.
Jaeger’s Dance Hall hob ab wie eine Rakete, die Leute jazzten und foxtrotteten zu einer Ragtime-Band, bis sie umfielen. Es schien, als wollten die Menschen während der Erschütterungen des Kriegs nichts weiter als Spaß haben. Es war Frühling 1918, und sie hatten die Zermürbung satt.
Nellie öffnete es die Augen. Ihr entging nicht, dass viele der Männer am Ende der Nacht mit einer Tanzhostess nach Hause gingen, die ihnen ein paar Stunden zuvor noch völlig fremd gewesen war. »Die jungen Damen bekommen dafür ein sehr gutes Trinkgeld«, sagte Jaeger phlegmatisch. »Kann man ihnen nicht verdenken, oder?«
Am Tag, als der Waffenstillstand verkündet wurde, hatten manche Paare – die einander fremd waren – Geschlechtsverkehr in den Schatten des Tanzsaals. Draußen auf den Straßen fand eine Orgie statt. »Kopulation«, sagte Jaeger noch phlegmatischer, »hält die Welt am Laufen, oder? Und ist besser, als sich gegenseitig umzubringen. Ficken ist natürlich, oder?«
Nellie schreckte vor dem Wort zurück, aber sie musste zustimmen, wenn auch widerwillig. So viele waren im Krieg gestorben, und sie fragte sich – in dem Versuch, der grundlegenden Vulgarität des Vorgangs ein läuterndes Furnier zu verpassen –, ob sie nicht einem instinktiven Zwang, die menschliche Rasse aufzustocken, folgten. Wie Frösche.
Sie nahm an, dass sie sich mit dem Konzept »Spaß« arrangieren sollte. Sie selbst wollte keinen, doch sie hatte überhaupt nichts dagegen, anderen die Gelegenheit dazu zu bieten – für eine bestimmte Summe. Es war nichts Schlechtes daran, eine gute Zeit zu haben, solange sie nicht selbst dazu gezwungen war.
Eine dieser Tänzerinnen – Maud, ein irisches Mädchen – war in jener Nacht an einer Überdosis Morphium gestorben. Nellie hatte sie gefunden, zusammengesunken hinter der Bar, eine Stunde vor der Morgendämmerung.
Jaeger war nirgendwo zu sehen. Deswegen mobilisierte Nellie zwei derbe Soldaten auf Heimaturlaub, um das Mädchen hinauszutragen, und bezahlte jeden mit einer Flasche Whisky dafür, sie loszuwerden. »Wohin?«, fragte einer. »Weiß ich nicht«, sagte Nellie. »Schaltet euer Gehirn ein. Versucht es mit dem Fluss.« Mit ein bisschen Glück würde das Mädchen durch die Marschen von Essex mäandrieren und ins Meer geschwemmt werden. Nellie sah die Soldaten nie wieder und hatte keine Ahnung, ob sie ihrem Vorschlag gefolgt waren. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, lautete eins der nützlichen Mottos, die ihr Leben leiteten.
Jaeger war nur ein Sprungbrett in Nellies Zukunft, sie ging in die Lehre und schmiedete einen größeren Plan. Nach Kriegsende verkaufte sie ihren Anteil an der Dance Hall für fünfhundert Pfund an ihn. Anschließend fanden dort mehrere Razzien statt, er wurde für schuldig befunden, »berauschende Spirituosen verkauft« und zugelassen zu haben, dass die Lokalität »zum gewohnheitsmäßigen Aufenthaltsort von schlecht beleumundeten Frauen« wurde. Es kostete ihn jedes Mal dreihundertfünfundzwanzig Pfund. Nach der vierten Razzia in Folge gestand er seine Niederlage ein und gab das Nachtclubgeschäft auf.
Mit dem Erlös aus Jaeger’s Dance Hall eröffnete Nellie einen Kabarettclub (»Cabaret intime« nannte sie es) namens »Moulin Vert« (oder »Muhlinvört«, wie die sagten, die kein Französisch konnten), inspiriert von der wehmütigen Erinnerung an das Paris ihrer jüngeren Jahre.
Nellie mietete ein verkommenes Souterrain in der Brewer Street und verwandelte es in einen Palast – goldene Beschläge und eine gefederte Tanzfläche, kleine Cafétische a la Montparnasse an den Seiten des Raums. Eine Vision – »Eine mise en scéne«, sagte sie zu dem Veteran der Artists Rifles, den sie anheuerte, um den Raum auszumalen. Er kam dem Auftrag mit Wandbildern im Stil Renoirs nach. Man könnte glauben, man wäre auf einer Straße in Paris, sagte Nellie und gab ihm in einer untypischen Geste der Dankbarkeit fünf Pfund extra.
Die Zwanzigerjahre rauschten herein, und das Moulin Vert eröffnete mit einem Knall. Zwischen den Kabarettnummern – ein Sortiment aus allen Theatern des West Ends – wurde getanzt, und nach Mitternacht brach nahezu die gesamte Tanztruppe des Gaiety herein. Nellie stellte ein Zigeunerorchester an – keine Franzosen, wohl wahr, aber fremdländisch genug für die Meute, die das »Muhlinvört« bevölkerte. Spirituosen flossen großzügig, ebenso das Geld. Sie wurden nur selten kontrolliert; Sergeant Maddox arbeitete weiterhin für Nellie.
Ein paar Monate nach Eröffnung erfuhr Nellie, dass sich der Künstler, der für die Wandmalereien verantwortlich war, erschossen hatte. Er war nicht der erste Soldat, der mit dem Frieden nicht zurechtkam. Nellie und Edith stießen nach Betriebsschluss auf ihn an.
Nach zwei Jahren bekam Nellie ein Angebot, das zu gut war, um es abzulehnen, und sie verkaufte den Club. Zur Feier des Tages schenkte sie allen ihren Töchtern eine einreihige Süßwasserperlenkette mit einem kleinen Strassverschluss von Ciro.
Mit dem Geld vom Moulin Vert kaufte Nellie ihren neuen Club. Auf der Suche nach einem Namen dachte sie an den Schatz funkelnder Juwelen, den sie aus der Great Percy Street mitgenommen hatte. Sie zog »Diamant« in Betracht. »Saphir«? Oder vielleicht »Rubin«? Und dann fiel ihr die Kette ein, die ihr einen Start in London ermöglicht hatte. Und wie Goldlöckchen fand sie den richtigen Namen. Amethyst.
Derzeit bestand Nellies Reich aus fünf Nachtclubs – Pixie, Foxhole, Sphinx und Crystal Cup waren die anderen. Aber das Juwel in der Krone war schon immer der Amethyst und würde es auch bleiben.
Vor Holloway saß Nellie meistens in der kleinen, winddichten Kassenkabine neben dem Eingang des Clubs. Von dort herrschte sie über ihr Reich – beglich am Ende der Nacht Rechnungen, machte die Buchführung, gab den Kellnern Wechselgeld und kassierte den Eintritt. Pro Person ein Pfund. Nur Mitglieder waren zugelassen. Mit der Zahlung des Eintrittspreises war man Mitglied. Der Club nahm in der Woche tausend Pfund ein. Er brachte mehr als eine Goldmine.
Niemand durfte umsonst hinein, nicht einmal der Prinz von Wales. Letzte Woche war Rudolph Valentino da gewesen, die Woche davor der junge Prinz George. Er hatte natürlich kein Geld dabei – diese Leute hatten kein Bargeld, und seine Begleiter mussten in ihren Taschen nach dem Geld für den Eintritt kramen. Nellie gab den Leuten das Gefühl, sie würde ihnen einen Gefallen tun, wenn sie sie in den Amethyst ließ. Das war erst der Anfang des Schröpfens. Man konnte nicht einmal gehen, ohne dem Garderobenmädchen einen Schilling zu geben, wenn man am Ende der Nacht seinen Mantel zurückhaben wollte. Und natürlich ein Trinkgeld. Die Tänzerinnen bekamen drei Pfund die Woche, aber an einem guten Samstag – wenn das Bootsrennen oder das Derby stattfand – konnten sie mit bis zu achtzig Pfund in der Tasche nach Hause gehen. Nie bat jemand um eine Lohnerhöhung. Niemand wagte es.
Der Amethyst erhob keine Ansprüche auf die haut monde wie der Embassy Club, noch war er aus auf Kundschaft aus der Gosse wie manche der verflohten Spelunken in der Curzon Street.
Die Londoner Banden, die alle in den Club strömten, machten hin und wieder ein Schlachtfeld daraus. The Elephant and Castle Mob, Derby Sabinis Schläger, Monty Abrahams und seine Gefolgsleute, die Hoxton Bande, die Hackney Huns, die Frazzinis. Luca Frazzini, der Boss der Frazzinis, war ein adretter Mann, der oft still an einem Tisch in der Ecke des Amethysts vor einem Glas (kostenlosem) Champagner saß und es kaum anrührte. Er hätte als Börsenmakler durchgehen können. Zwischen ihm und Nellie herrschte eine entente cordiale. Sie kannten sich schon lange, seit den Tagen von Jaeger’s Dance Hall. Und vertrauten sich. Fast.
»Gewöhnliche« Mitglieder der Öffentlichkeit und Bandenschläger kamen mit königlichen Hoheiten zusammen, manche im Exil, andere noch in Besitz ihres Throns, mit unermesslich reichen Amerikanern, Prinzen aus Indien und Afrika, Offizieren der königlichen Garde, Schriftstellern, Malern, Opernsängern, Dirigenten, Stars der Theater im West End sowie den Jungs und Mädchen der Tanztruppen – nirgendwo sonst in England, vielleicht in der ganzen Welt, fand man so viele Stände zur gleichen Zeit am gleichen Ort, nicht einmal beim Derby in Epsom. Im Gegensatz zu vielen – ja, zu den meisten – hatte Nellie kaum Vorurteile. Sie machte keinen Unterschied zwischen Hautfarben oder Status. Wenn man den Eintritt bezahlen konnte, durfte man in ihr Königreich. In Nellies Augen war Geld das Maß eines Mannes – oder einer Frau.
Hatte man die zerberusgleiche Nellie am Eingang hinter sich gebracht, ging man durch einen Bambusvorhang und eine kaum beleuchtete schmale Treppe hinunter, so unansehnlich wie die Treppe in einen Kohlenkeller. Es vergrößerte das »Drama« der Sache, sagte Nellie. Alle wollten Drama. Am Fuß der Treppe wurde man von einem weiteren Türsteher begrüßt, der eine Livree mit Brustschnüren, Epauletten und so weiter trug, ein Kostüm, das an einem Konteradmiral in einer Operette nicht fehl am Platz gewesen wäre. Dieses Individuum, Linwood, der gern einen Bückling machte und mit den Füßen scharrte (er bekam erstaunliche Mengen Trinkgeld), war ein in Ungnade gefallener Butler aus einem der königlichen Haushalte. Nellie glaubte an zweite Chancen, sie selbst hatte von mehreren profitiert. Es war amüsant, den überraschten Ausdruck von manchen der eher königlichen Gäste des Clubs zu sehen, wenn sie Linwood wiedererkannten (wie bei Butlern üblich, hatte er keinen anderen Namen), denn er war der Bewahrer vieler ihrer eher outré Geheimnisse. Obwohl Bedienstete das Gesicht ihrer Herrschaft in der Regel wiedererkennen, erinnern sich selbstverständlich nur wenige Herrschaften an die Gesichter ihrer Bediensteten. Dann zog Linwood den schweren, schwarzen Bombasinvorhang beiseite, der vor dem Eingang hing, und endlich durfte man hinein. Ein coup de théâtre.
Ta-dah – willkommen im Amethyst!
Der Speck und die Eier sowie die versprochenen Würstchen für Nellie kamen, dazu süßer Milchkaffee. Keeper, Nivens Schäferhund, stieß die Esszimmertür mit der Schnauze auf und kündigte Nivens Ankunft an.
Der Hund war das einzige Geschöpf auf der Welt, dem Niven Respekt entgegenzubringen schien. Er sprach noch immer von ihm als einem Deutschen Schäferhund, immun – oder gleichgültig – gegen die Konnotation der Bezeichnung mit dem Feind. Wie viele Männer in den Schützengräben hatte Niven Hunde wie Keeper kennengelernt, arbeitende Hunde, und das war eine der wenigen Informationen über seine Zeit bei den Scots Guards, die er bereit war preiszugeben. Zu keinem Zeitpunkt während des Kriegs oder danach, auch nicht zu Kriegsende und im Frieden, glaubte Niven, dass irgendjemand gewonnen hatte.
Er hatte keine Geduld mehr für die Marotten der Menschen. Überhaupt keine Geduld mehr für Menschen. Keine Zeit für Religion, keine Zeit für Skrupel, keine Zeit für Gefühle. Nivens Herz schien hart wie ein Diamant, gehärtet im Schmelztiegel des Kriegs.
Er war Scharfschütze gewesen, hatte Deutsche in ihren Schützengräben mit seiner Pattern 1914 Enfield erschossen. Zum Ausgleich hatten die Deutschen das Gleiche getan. Eines Morgens während der Schlacht von Passendale wurde einem Korporal, der neben Niven Ausschau hielt, der Kopf weggeschossen. Nachmittags passierte dem nächsten Aufklärer das Gleiche. Verständlicherweise wollte niemand für Niven das dritte Mal aufklären. Schützen und Aufklärer wechselten sich im Allgemeinen ab, und als Niven das nächste Mal Dienst hatte, meldete er sich zum Aufklären, um, wenn schon nichts anderes, die Gesetze des Zufalls zu beweisen. Er kam nicht ums Leben. Vielleicht hatte er Glück, oder vielleicht wusste er einfach, wann er den Kopf über den Rand des Schützengrabens heben und wann er ihn einziehen sollte.
Er war näher am Esszimmer gewesen, als sie gedacht hatten, in einem Lagerraum des Clubs, wo er sich zwischen Bier- und Champagnerkästen und Kisten mit Bücklingen, die jede Woche mit dem Zug von Fortune’s in Whitby gebracht wurden, die Leidensgeschichte einer Tänzerin anhörte. Er setzte der Leidensgeschichte ein Ende, indem er dem Mädchen genug Geld zusteckte, um das »Problem« aus der Welt zu schaffen. In Covent Garden gab es eine Frau, von der alle Mädchen zu wissen schienen. Die Lösung war oft schlimmer als das Problem, aber »man lässt es darauf ankommen«, sagte das Mädchen im Lagerraum. Niven war nicht die Ursache ihres Problems. Er achtete darauf, keine Spuren in der Welt zu hinterlassen.
Jetzt schlenderte er ins Zimmer, küsste auf kontinentale Weise Nellie leicht auf die Wange und sagte: »So, Mutter, die Knastschwester wurde also aus dem Kittchen entlassen.« Er nahm eine Speckscheibe von Bettys Teller und warf sie dem überraschten Keeper zu.
Der Kuss verwirrte Nellie. Er fühlte sich eher nach Gethsemane an als wie kindliche Zuneigung. »Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte sie scharf.
Niven salutierte vor seiner Mutter. Die Geste war einerseits tadellos, andererseits subversiv, ein Talent, das er im Krieg vervollkommnet hatte. »Sofort, mein Kapitän«, sagte er. Nellie runzelte die Stirn. Sie konnte zwar kein Deutsch, aber sie erkannte die Sprache des Feindes, wenn sie sie hörte.
Bow Street
»Es ist Ihr freier Tag, Sir«, sagte der frühmorgens diensthabende Polizist beunruhigt beim Anblick von Frobisher, der durch die Tür des Reviers in der Bow Street stürmte.
»Das weiß ich, Sergeant. Ich bin noch nicht senil.«
»Das habe ich auch nie geglaubt, Sir.«
Der Sergeant begann den Tag gerade erst mit einer Emailletasse mit starkem, heftig gezuckertem Tee und war noch nicht bereit für Taten. Er hatte es sich angewöhnt, auf den Gemütszustand des neuen Detective Chief Inspector zu achten. Frobisher war jetzt eine gute Woche in der Bow Street, und der Sergeant schloss noch Bekanntschaft mit seinen täglich wechselnden Eigenschaften. An diesem Morgen war er vorsichtig optimistisch und sagte: »Möchten Sie Tee, Sir?«
»Nein danke, Sergeant«, sagte Frobisher brüsk.
Frobisher hatte vergessen, Miss Kelling mitzuteilen, dass heute sein freier Tag war. Auch seiner Frau hatte er es nicht gesagt, aber Lottie war auch nicht sonderlich an seinem Kommen und Gehen interessiert. Er war hier, um einen Auftrag zu erfüllen, um in einem verkommenen Haus aufzuräumen. Schmutz schlief nie, also würde auch Frobisher nicht schlafen, bis er ihn hinausgekehrt hatte. Er war ein Mann, der zu Metaphern neigte.
Bow Street war kein ruhiger Ort. Frobisher hörte das metallische Knallen und Klappern der Zellentüren und den wortgewaltigen Protest der nächtlichen Häftlinge gegen die Inhaftierung. Die Schreie der Verdammten, die aus dem Hades aufsteigen, dachte Frobisher, auch wenn sich die Zellen in der Bow Street nicht unter der Erde, sondern im Erdgeschoss befanden. Er hörte das hohe Wehklagen aus den Zellen für die Frauen im Stock darüber – Schmerz oder Wahnsinn, schwer zu sagen. Die Grenze war ein schmaler Grat. Er dachte an seine Frau.
Er war zu einer unmenschlichen Stunde aufgestanden, um nach Holloway zu fahren, und in seinem leeren Magen sammelte sich Säure. Er musste mit einem guten Frühstück ausgekleidet werden. Frobishers Gedanken wanderten zu Porridge mit Honig frisch aus der Wabe und Sahne direkt von einer Kuh und vielleicht einem frischen Ei von einem dick gefiederten Huhn. In jeder Beziehung unwahrscheinlich. Frobisher war auf dem Land aufgewachsen. Jetzt war er in den Vierzigern, doch hatte er Shropshire seiner Seele nie ausgetrieben. Als er jung war, hatten sie freilaufende Hühner gehalten, und seine Aufgabe war es gewesen, die Eier zu suchen, wenn er am Ende des Tages von der Schule nach Hause kam, jedes gefundene Ei ein kleiner Triumph, das Vergnügen daran hatte nie nachgelassen. Seitdem hatte nie wieder ein Ei so gut geschmeckt.
»Wie viele diese Nacht, Sergeant?«, fragte er.
»Volles Haus, Sir. Das Gericht wird den ganzen Tag brauchen, um sie abzuarbeiten.«
»Das Übliche?«
»Ja. Das Übliche – Prostitution, Diebstähle, Trunkenheit, Raufereien. Ein Knast voll Säufer, die in ihrem eigenen Elend schmoren. Ein Mord in der Greek Street –«
»Oh?« Während der letzten Monate war in London eine Reihe von rätselhaften Morden verübt worden. Unerklärliche zufällige Angriffe auf unschuldige Passanten. Selbstverständlich gab es ein paar abergläubische Dummköpfe, die, angespornt von den Skandalblättern, dem Fluch des Tutanchamun die Schuld gaben. Frobisher hatte in einem Morddezernat bei Scotland Yard gearbeitet und wusste aus erster Hand, wie verzwickt diese Tötungen waren, da sie keinen erkennbaren Grund zu haben schienen. Er konnte nur schließen, dass sie das Werk eines Verrückten waren.
»Nichts Besonderes, Sir«, sagte der Sergeant. »Nur zwei betrunkene Gentlemen, die versucht haben, sich gegenseitig totzuschlagen. Der Lachende Polizist ist dran.«
»Sergeant Oakes? Ich wünschte, man würde ihn bei seinem richtigen Namen nennen.« O Gott, wie Frobisher dieses dumme Lied von Charles Penrose hasste.
»Ja, Sir. Oakes ist ein lustiger Knabe, das müssen Sie zugeben. Sieht immer die komische Seite.«
Oakes war erfahren und schien Frobisher saubere Hände zu haben, auch wenn seine ständige Lustigkeit anfing, ihm auf die Nerven zu gehen. »Ist Inspector Maddox heute da?«
»Noch immer im Krankenstand, Sir.«
»Immer noch?« Maddox war krank seit dem Tag, als Frobisher in der Bow Street angefangen hatte. Frobisher war überzeugt, dass das Geschwür im Herzen des Reviers, der verfaulteste Apfel im Fass Arthur Maddox war. »Was um Gottes willen fehlt dem Mann? Ist er ein Simulant?«
»Er hat was am Rücken, glaube ich, Sir.«
Etwas am Rücken hielt einen Mann nicht davon ab, seine Arbeit zu tun, dachte Frobisher gereizt. »Sollte er heute Morgen zufällig reinkommen, sagen Sie ihm, dass ich ihn sehen möchte.«
Man ging von der Annahme aus, dass Maddox, der nach dem Krieg zum Inspector befördert worden war, auf der Lohnliste der Leute stand, die er zur Strecke bringen sollte. Er lebte über seine Verhältnisse – eine große Doppelhaushälfte in Crouch End, eine Frau, fünf Kinder. (Fünf! Frobisher konnte sich nicht einmal vorstellen, eins zu haben.) Ein Auto, noch dazu einen Wolseley Open Tourer, die Sorte Wagen, die ein wohlhabender Mann besaß, die Sorte Wagen, auf den ein Mann, der einen Austin Seven in Betracht zog, neidisch war. Ganz zu schweigen von Sommerferien für die ganze Familie in Bournemouth oder Broadstairs, nicht in einer billigen Pension, sondern in einem guten Hotel. Frobisher war sicher, dass Maddox insgeheim mit Nellie Coker zusammenarbeitete, dass er sie vor dem Gesetz beschützte, aber wovon profitierte er noch? Maddox war schlau wie ein Fuchs, und Nellie hatte einen Hühnerstall, war die Königin der Glucken. Gab sie Maddox auch Zugang zu ihren Hennen? (Ja, er neigte zu erweiterten Metaphern.)
Bei der Erwähnung von Maddox atmete der diensthabende Sergeant tief ein und stand aufrechter, beides erregte Frobishers Aufmerksamkeit. In letzter Zeit interessierte er sich für das, was man Körpersprache oder »subvokales Denken« nennen könnte, wobei sich eine Person durch minimale Hinweise verriet. Selbstverständlich war er gewillt, einzuräumen, dass der Sergeant einfach nur ein Stechen im Rücken beheben wollte. Ein gelegentliches Stechen schön und gut, aber nicht eine ganze Woche Krankmachen, um Himmels willen.
Frobisher roch etwas. Der ambrosische Duft nach gebratenem Speck drang von irgendwoher zu ihm. Sein Magen knurrte vor Neid. Er runzelte die Stirn. Aßen sie, wenn er nicht da war? Sandwiches mit Speck? Was stellten sie in seiner Abwesenheit noch an? Er fühlte sich seltsam enttäuscht, so wie früher als Junge, als die anderen Jungs ihn von ihren Unternehmungen ausgeschlossen hatten. Er war ein unbeholfenes, schweigsames Kind gewesen. Jetzt war er ein unbeholfener, schweigsamer Mann, doch besser darin, es mit einem harten Panzer zu tarnen.
Er sah den Sergeant stirnrunzelnd an, und der Diensthabende, der spürte, dass sein Speck in Gefahr war, rettete ihn mit einem raschen Themenwechsel und sagte: »Ich habe gehört, dass Ma Coker heute Morgen rausgekommen ist.« Der Sergeant – das ganze Revier – wusste sehr wohl von Frobishers Fixierung auf die Cokers, insbesondere Nellie.
»So ist es«, sagte Frobisher.
»Waren Sie dort, Sir?«
»Ja.«
Frobisher führte nicht aus, und der Sergeant forderte sein Glück nicht heraus, indem er ihn darum bat. Frobisher konnte keinen Small Talk, hatte er noch nie gekonnt. Das bedeutete, dass er ein oft missverstandener Mann war, als distanziert, sogar als arrogant galt. Er hatte versucht, Gott steh ihm bei, über das Wetter oder Pferderennen, sogar über Filme zu plaudern und plappern, doch er hatte wie ein schlechter Amateurschauspieler geklungen. (Also, Constable, was macht Ihr Schrebergarten?) Seine wahren Leidenschaften waren esoterischer Natur, von wenig Interesse für normale Menschen oder seine Kollegen in der Bow Street, schon gar nicht für seine Frau – der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag (wie sollte der gut enden?) oder die Vorführung eines »Fernsehgeräts« in der Royal Society von einem Typ namens Baird (wie etwas aus einem Roman von H. G. Wells). Er hatte einen neugierigen Geist. Es war ein Fluch. Manchmal sogar für einen Polizisten.
Zu Hause in Ealing wurde er dank gegenseitigen Unverständnisses von den Unbilden des Small Talks verschont. Seine Frau hieß Charlotte – Lottie –, obwohl sie keine Geburtsurkunde hatte, um es zu beweisen. Und Frobisher hatte seine Zweifel. Der Polizist in ihm hätte gern weiterermittelt, der Ehemann in ihm hielt es für klug, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie war Französin oder Belgierin, sie schien unsicher, gewiss aus dem Grenzbereich, am Ende des Kriegs aus den rauchenden Trümmern von Ypern geholt, mit nur einer Knolle Knoblauch in der Tasche und keinen Papieren, die etwas aufgeklärt hätten, und sie wollte sich auch nicht erinnern aufgrund »hysterischer Amnesie«, wie es die Ärzte nannten.
Als er jünger war, hatte sich Frobisher viele Eigenschaften bei seiner zukünftigen Frau vorgestellt, aber hysterische Amnesie war nicht darunter. Lotties Geschichte war tragisch und kompliziert – noch etwas, das er bei seiner zukünftigen Frau nicht vorhergesehen hatte.
Eine Frau, die kreischend ihre Unschuld beteuerte, wurde von zwei Wachtmeistern durch die Tür gezerrt und rettete Frobisher vor weiterem Nachdenken.
»Dolly Pargeter, beschuldigt des Taschendiebstahls in der Strand«, sagte einer der beiden uniformierten Constables zum Sergeant und versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen.
»Du bist ja früh unterwegs, Dolly«, sagte der Sergeant freundlich. »Sollen wir dich im Ritz einquartieren, ja?« Seine Nase zuckte, er durfte sich nicht um seinen Speck kümmern, denn das hätte bedeutet, dessen Existenz gegenüber Frobisher zuzugeben.
»Ich gehe dann mal«, sagte Frobisher widerwillig. Er zog das Revier dem Reihenhaus in Ealing vor, was viel über das Haus in Ealing sagte. Als er sich abwandte, sagte der Sergeant: »Sir, ich habe was vergessen – ein Mädchen wurde angeschwemmt und am Pier an der Tower Bridge herausgefischt. Sie ist wahrscheinlich noch im Dead Man’s Hole. Dachte, Sie wollten es wissen.« Frobisher hatte nach Ansicht der Bow Street ein nahezu ungesundes Interesse an toten Mädchen.
»Danke, Sergeant«, sagte Frobisher dankbar, dass ihm Aufschub von Ealing gewährt wurde. »Ich werd’s mir ansehen.«
»Es ist Ihr freier Tag, Sir«, erinnerte ihn der Sergeant.
»Das Verbrechen schläft nicht«, sagte Frobisher gereizt. Er wusste, er klang hochnäsig. »Übrigens, Sergeant –«
»Ja, Sir?«
»Ich glaube, Ihr Speck brennt an.«
Frobisher lächelte leise, als er das Revier verließ. Das geschah ihnen recht, weil sie ihn ausgeschlossen hatten, dachte er.
Als er über die Straße ging, musste er einen raschen Schritt zur Seite machen, um einem Motorrad auszuweichen. Einer Enfield, der Fahrer anonym unter Schutzbrille und Lederhelm. Wie leicht man auf den Straßen von London ums Leben kommen konnte. Durch einen Unfall oder durch Vorsatz.
Ein schwieriges Alter
Noch bevor die Cokers vor Holloway in ihre Bentleys stiegen, war die vierzehnjährige Freda wach, geweckt von den Rufen und dem tonlosen Singsang der Lastenträger im Markt von Covent Garden. Sie entluden die nach Mitternacht aus dem ganzen Land ratternd angekommenen Wagen – Äpfel aus Evesham, Pilze aus Suffolk, Exotisches aus der ganzen Welt.
Seitdem sie von zu Hause weggelaufen war, mietete Freda – Alfreda Murgatroyd – ein Dachbodenzimmer in einer schmuddeligen Pension in der Henrietta Street, so nah am Markt, dass sie hätte schwören können, sie könnte die zertretenen verrottenden Kohlblätter riechen. Freda war nach London gekommen, um ihr Glück zu machen, ein Star auf den Bühnen des West End zu werden. Sie war noch nicht entdeckt worden, aber der Mut hatte sie nicht verlassen, und an diesem Samstag sollte sie vortanzen. Ihr Leben, davon war sie überzeugt, würde sich ändern.
Obwohl sie klein war, sah Freda älter aus, als sie war. Für ein hübsches Mädchen war sie überraschend uneitel, was ihr Aussehen betraf, das sie für reinen Zufall hielt. Oder gottgegeben, wenn man glaubte, dass Gott Schönheit schenkte, was unwahrscheinlich war. Es war eher ein Streich, den einem die griechischen Götter spielten – eher Fluch als Geschenk. Eins der wenigen Bücher, die Freda gelesen hatte, war eine illustrierte Anthologie griechischer Mythen (Sagen für Kinder), die sie im Alter von zehn Jahren liegengelassen auf einem Sitz im Zug gefunden hatte. Nicht gerade ein hilfreicher Leitfaden fürs Leben.
Freda wurde zur Schau gestellt, seitdem sie selbstständig sitzen konnte, und besaß eine Batterie Fotos, die ihren Fortschritt dokumentierte – angefangen von Schönheitswettbewerben für Babys bis zur Rolle der Clara in einer professionellen Tour des Nussknackers letztes Weihnachten. Ihre Mutter Gladys, einst die Chronistin des Aussehens ihrer Tochter, hatte vor Kurzem das Interesse an ihr verloren und ihre Energie darauf verwandt, einen neuen Mann zu finden, der ihren arbeitsscheuen Lebensstil finanzierte. Gladys hatte in der Vergangenheit Fredas Aussehen für ihren Lebensunterhalt ausgebeutet, doch die Investition zahlte sich nicht länger aus. »Du hast deine Blüte hinter dir«, sagte sie zu Freda. Freda runzelte die Stirn. Sie meinte, noch jede Menge Blüte vor sich zu haben.
Es war ihr Talent und nicht ihr Aussehen, auf das Freda stolz war. Auf die Stunden, die sie mit Herumwirbeln auf einem Bein, auf zwei Beinen, mit Steppen, mit Spitzentanz und Wechselschritten verbracht hatte. Seit ihrem dritten Lebensjahr war sie in die Tanzschule gegangen, aus der das Theatre Royal jedes Jahr die besten Schüler und Schülerinnen holte, um seine Märchenspiel-Tanztruppe aufzustocken, ebenso wie das tourende Ballett und Opernproduktionen, die nach York kamen, deswegen auch die Clara (Mädchen aus Groves entzückt in seiner Rolle). Groves war ein Stadtteil von York, aber Freda gefiel, dass es sie (ihrer Meinung nach) klingen ließ, als wäre sie eine Waldnymphe und nicht jemand, der in einem schäbigen Reiheneckhaus im Hinterland der Rowntree Fabrik lebte. Früher wohnten sie in einem viel besseren Haus in der Wigginton Road, der Fabrik gegenüber, in der Fredas Vater gearbeitet hatte, als er noch lebte, doch vor drei Jahren hatte sie der Gerichtsvollzieher hinausgeworfen.
In ihrem kurzen Leben hatte Freda ein breites Repertoire erworben, sie spielte Katzen, Hunde, Bärenbabys, Schneeflocken, Feen und ein Sortiment »Dorfkinder« (dennoch immer irgendwie die gleichen), die um einen Maibaum tanzten, sangen und hüpften. Offenbar war kein Kinderstück komplett ohne eine Szene auf dem Dorfplatz. Freda war ein niedliches Kind und lernte schnell; es machte sie beliebt bei den Erwachsenen.
Freda glaubte, dass es in der großen weiten Welt nichts Besseres gab, als auf der Bühne zu stehen. Es hatte etwas Erhabenes, das über die ansonsten langweilige Welt hinausging. Allein der Gedanke daran ließ das Herz in ihrer Brust höherschlagen.
Im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren war sie Modell für handgestrickte Kleidungsstücke eines Wollfabrikanten. Und das nicht nur für die Fotos auf den Strickanleitungen – sie hatte in einem kalten Dachbodenstudio in Manchester posiert –, sondern auch als eins der Mannequins, die durch den Norden reisten. Veranstalter waren örtliche Wollgeschäfte, die die Anleitungen, Stricknadeln und Wollknäuel für die vorgeführten Kleidungsstücke verkauften.
Diese sporadischen kleinen Auftritte fanden meistens in trostlosen Kirchensälen vor Frauen statt, die überwiegend noch erschöpft und niedergeschlagen von den Verlusten im Krieg waren. Und aus irgendeinem Grund immer im Winter. »Das liegt vermutlich am Wesen der Wolle«, sagte Vanda.