Weiter Himmel - Kate Atkinson - E-Book
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Weiter Himmel E-Book

Kate Atkinson

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Beschreibung

Tommy, Andy und Steve leben in gut situierten Verhältnissen. Sie sind verheiratet, haben Kinder, sind beliebte Mitglieder im Golfclub und trinken hier und da ein Bierchen miteinander: Wer würde sie nicht für fürsorgliche Familienväter halten? Niemand ahnt etwas von ihrem lukrativen Nebengeschäft; einem Geschäft, das einst von Männern betrieben wurde, die, ebenso wie die drei Freunde, als anständig galten. Alles könnte so reibungslos weiterlaufen wie bisher, denn ihre Ware ist begehrt. Doch als eine Frau aus ihrem Bekanntenkreis tot aufgefunden wird, stößt nicht nur die Polizei auf sie, sondern auch der Privatdetektiv Jackson Brodie. Sein jüngster, völlig harmloser Auftrag führt ihn direkt zu den drei Ehrenmännern – und bald ist Brodie mittendrin in einem Fall um verschwundene junge Frauen und eine Zeugin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich ihre schreckliche Vergangenheit hinter sich lassen zu können … »Die meisterhafte Erzählerin Kate Atkinson hat wieder einen Krimi geschrieben. Mit jedem ihrer Krimis schreibt sie ein detailliertes, realitätsnahes, erdverbundenes Gesellschaftsporträt.« Frankfurter Rundschau

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Seitenzahl: 603

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Tommy, Andy und Steve leben in gut situierten Verhältnissen. Sie sind verheiratet, haben Kinder, sind beliebte Mitglieder im Golfclub und trinken hier und da ein Bierchen miteinander: Wer würde sie nicht für fürsorgliche Familienväter halten?

Niemand ahnt etwas von ihrem lukrativen Nebengeschäft; einem Geschäft, das einst von Männern betrieben wurde, die, ebenso wie sie, als anständig galten. Alles könnte so reibungslos weiterlaufen wie bisher, denn ihre Ware ist begehrt. Doch als eine Frau aus ihrem Bekanntenkreis tot aufgefunden wird, stößt nicht nur die Polizei auf sie, sondern auch der Privatdetektiv Jackson Brodie. Sein jüngster, völlig harmloser Auftrag führt ihn direkt zu den drei Ehrenmännern – und bald ist Brodie mittendrin in einem Fall um verschwundene junge Frauen und eine Zeugin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ihre schreckliche Vergangenheit endlich hinter sich lassen zu können …

Mit einer rasanten Erzählweise, beeindruckenden Figuren und beißendem Humor, legt Kate Atkinson in ihrem Roman die Bigotterie und die seelische Grausamkeit unserer Gesellschaft offen.

© Helen Clyne

KATE ATKINSON wurde bereits für ihren ersten Roman ›Familienalbum‹ mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten. Für ›Das vergessene Kind‹, den vierten Band in der Reihe um den Privatermittler Jackson Brodie, erhielt sie den Deutschen Krimipreis 2012 und für ihren Roman ›Die Unvollendete‹ den Costa Novel Award 2013. Kate Atkinson lebt in Edinburgh und gilt als eine der wichtigsten britischen Autorinnen der Gegenwart.

ANETTE GRUBE hat Anglistik studiert. Sie hat u.a. Chimamanda Ngozi Adichie, T.C. Boyle, Vikram Seth, Mordecai Richler und Yaa Gyasi ins Deutsche übersetzt.

Kate Atkinson

WEITER HIMMEL

Roman

Aus dem Englischen von Anette Grube

Von Kate Atkinson ist bei DuMont außerdem erschienen:

Die vierte Schwester

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel ›Big Sky‹ bei Doubleday, London.

Copyright © Kate Costello Ltd. 2019

eBook 2021

© 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Anette Grube

Umschlaggestaltung: Nach einer Vorlage von Richard Ogle/TW und Penguin Random House UK

Umschlagabbildungen: Möwe: © Shutterstock; Hintergrund: © R. Tsubin/Getty Images und Shutterstock

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7089-9

www.dumont-buchverlag.de

Vor der Erleuchtung hackte ich Holz und holte Wasser.

Nach der Erleuchtung hackte ich Holz und holte Wasser.

Zen-Weisheit

»Ich bin für die Wahrheit, gleichgültig wer sie ausspricht.

Auf und davon

»Und jetzt?«, fragte er.

»Ein schneller Abgang«, sagte sie, trat sich die schicken Schuhe von den Füßen und ließ sie im Fußraum vor dem Beifahrersitz liegen. »Sie haben mich fast umgebracht«, sagte sie und lächelte ihn zerknirscht an, weil sie ein Vermögen gekostet hatten. Er wusste es – er hatte sie bezahlt. Sie hatte bereits den Brautschleier abgenommen und ihn zusammen mit dem Brautstrauß auf den Rücksitz geworfen, und nun begann sie die zahllosen Klemmen aus ihrem Haar zu ziehen. Die zarte Seide ihres Hochzeitskleides war bereits zerknittert wie Mottenflügel. Sie sah ihn an und sagte: »Wie du immer sagst – nichts wie weg.«

»Okay. Dann los, nichts wie auf die Autobahn«, sagte er und ließ den Motor an.

Er bemerkte, dass sie sich den Bauch hielt, in dem sie ein noch unsichtbares Baby ausbrütete. Ein weiterer Ast für den Familienstammbaum. Ein Zweig. Eine Knospe. Die Vergangenheit zählte nicht, wurde ihm klar. Nur die Gegenwart hatte Wert.

»Los geht’s«, sagte er und trat aufs Gas.

Unterwegs machten sie einen Umweg zur Rosedale Chimney Bank, um die Beine auszustrecken und sich den Sonnenuntergang anzusehen, der den weiten Himmel mit einer prachtvollen Palette aus Rot-, Gelb-, Orange- und sogar Violetttönen flutete. Er verlangte nach Poesie, ein Gedanke, den er laut aussprach, und sie sagte: »Nein, ich glaube nicht. Es ist genug so, wie er ist.« Lebensweisheit sammeln, dachte er.

Es stand noch ein anderes Auto da, ein älteres Paar bewunderte die Aussicht. »Großartig, nicht wahr?«, sagte der Mann. Die Frau lächelte sie an und gratulierte dem »glücklichen Paar« zur Hochzeit, und Jackson sagte: »Es ist nicht so, wie es aussieht.«

Eine Woche zuvor

Anderson Price Associates

Katja überprüfte Nadjas Make-up. Nadja posierte für sie, als würde sie ein Selfie machen, sie saugte die Wangen ein, bis sie aussah wie eine Leiche, und formte einen extravaganten Schmollmund.

»Ja. Gut«, verkündete Katja schließlich. Sie war die jüngere der beiden Schwestern, aber bei weitem die Herrischere. Sie könnten Zwillinge sein, sagten die Leute immer. Sie waren zwei Jahre und viereinhalb Zentimeter auseinander. Katja war die Kleinere und Hübschere, doch beide waren zierlich und hatten das gleiche (nicht ganz natürliche) blonde Haar und die Augen ihrer Mutter – grüne Iris, umgeben von einem grauen Rand.

»Halt still«, sagte Nadja und wischte eine Wimper von Katjas Wange. Nadja hatte einen Abschluss als Hotelkauffrau und arbeitete im Radisson Blu, wo sie ein Kostüm mit Bleistiftrock, sechs Zentimeter hohe Absätze und die Haare in einem ordentlichen Knoten trug und sich um Leute kümmerte, die sich beschwerten. Die Leute beschwerten sich ständig. Wenn sie nach Hause in die schuhschachtelgroße Wohnung kam, schüttelte sie ihre Haare aus, zog Jeans und ein großes Sweatshirt an und lief barfuß, und niemand beschwerte sich, weil sie allein lebte, so wie es ihr gefiel.

Katja hatte einen Job in der Hauswirtschaft desselben Hotels. Ihr Englisch war nicht so gut wie das ihrer älteren Schwester. Sie hatte keinerlei Qualifikationen aufzuweisen außer einem Schulabschluss, und auch der war nur mittelmäßig, weil sie als Kind und als Jugendliche die meisten Jahre mit Eislaufwettbewerben zugebracht hatte, aber letztlich war sie nicht gut genug gewesen. Es war eine grausame, gemeine Welt, und sie vermisste sie jeden Tag. Die Eislaufbahn hatte sie hart gemacht, und sie hatte noch immer die Figur einer Eisschnellläuferin, geschmeidig und stark. Sie machte die Männer ein bisschen verrückt. Nadja hatte getanzt – Ballett –, doch sie hatte es aufgegeben, als ihre Mutter es sich nicht mehr leisten konnte, den Unterricht für sie beide zu bezahlen. Sie hatte ihr Talent leichten Herzens geopfert, so schien es zumindest Katja.

Katja war einundzwanzig, wohnte bei ihren Eltern und konnte es nicht erwarten, aus dem Nest zu fliegen, das ihr die Luft zum Atmen raubte, obwohl sie wusste, dass ein Job in London mit größter Sicherheit nicht anders wäre als ihr jetziger – Betten machen und Toiletten putzen und die seifigen Haare Fremder aus dem Abfluss ziehen. Aber wäre sie erst einmal dort, würde sich alles ändern, davon war sie überzeugt.

Der Mann hieß MrPrice. Mark Price. Er war Partner einer Personalvermittlungsfirma namens Anderson Price Associates – APA – und hatte Nadja bereits über Skype interviewt. Nadja berichtete Katja, dass er attraktiv war – gebräunt, mit einem vollen Schopf attraktiv ergrauender Haare (»wie George Clooney«), einem goldenen Siegelring und einer schweren Rolex am Handgelenk (»wie Roger Federer«). »Er soll bloß aufpassen, sonst heirate ich ihn noch«, sagte Katja zu ihrer Schwester, und sie lachten beide.

Nadja hatte Mark Price Scans ihrer Qualifikationen und Zeugnisse gemailt, und jetzt warteten sie in ihrer Wohnung darauf, dass er erneut via Skype aus London anrief, um »alle Einzelheiten zu bestätigen« und »kurz mit Katja zu plaudern«. Nadja hatte ihn gefragt, ob er auch für ihre Schwester Arbeit finden könnte, und er hatte »Warum nicht?« geantwortet. In britischen Hotels gab es jede Menge Arbeit. »Das Problem ist, dass hier niemand hart arbeiten will«, sagte Mark Price.

»Ich will hart arbeiten«, sagte Nadja.

Sie waren nicht dumm, sie wussten von Menschenhandel, von Leuten, die Mädchen davon überzeugten, dass sie gute Jobs bekommen würden, richtige Jobs, und dann endeten sie unter Drogen gesetzt in einem dreckigen Loch, wo sie mit einem Mann nach dem anderen Sex haben mussten, und sie konnten nicht zurück nach Hause, weil ihnen die Pässe weggenommen worden waren und sie sich erst wieder »verdienen« mussten. APA war nicht so. Sie hatten eine professionelle Website, alles ganz legal. Sie rekrutierten auf der ganzen Welt Personal für Hotels, Pflegeheime, Restaurants, Reinigungsfirmen, sie hatten sogar ein Büro in Brüssel und eins in Luxemburg. Sie waren anerkannt und hatten »Filialen« und wurden von allen möglichen Leuten empfohlen.

Nach dem zu urteilen, was auf Skype davon zu sehen war, wirkte ihr Londoner Büro sehr elegant. Es herrschte Betrieb – im Hintergrund war das ständige Gemurmel von Mitarbeitern zu hören, die miteinander sprachen, auf Tastaturen klopften, die klingelnden Telefone bedienten. Und Mark Price war ernst und geschäftsmäßig. Er sprach von »Humanressourcen« und »Unterstützung« und »Arbeitgeberverantwortung«. Er konnte bei der Beschaffung eines Visums, bei der Suche nach einer Unterkunft, nach Englischunterricht und Weiterbildung behilflich sein.

Er habe schon etwas im Sinn für Nadja, »eins der absoluten Tophotels«, aber sie könne sich nach ihrer Ankunft entscheiden. Es gebe jede Menge Möglichkeiten »für ein aufgewecktes Mädchen« wie sie. »Und meine Schwester«, erinnerte sie ihn.

»Und Ihre Schwester, ja, natürlich.« Er lachte.

Er würde sogar ihre Flüge bezahlen. Die meisten Agenturen erwarteten, dass man sie im Voraus für ihre Arbeitssuche bezahlte. Er würde ihnen elektronische Tickets schicken, sie sollten nach Newcastle fliegen. Katja hatte auf einer Landkarte nachgesehen. Es war meilenweit von London entfernt. »Drei Stunden mit dem Zug«, sagte Mark Price, es sei »einfach«. Und für ihn billiger – schließlich zahle er für ihre Flüge. Ein Mitarbeiter von Anderson Price Associates würde sie am Flughafen abholen und sie für die Nacht zu einem Airbnb in Newcastle bringen, da der Flug aus Danzig spät ankam. Am nächsten Morgen würde sie jemand zum Bahnhof begleiten und sie in den Zug setzen. Jemand anders würde sie in King’s Cross treffen und sie für ein paar Nächte in einem Hotel unterbringen, bis sie sich eingelebt hätten. »Es ist eine gut geölte Maschine«, sagte er.

Nadja hätte sich vielleicht in ein anderes Radisson Blu versetzen lassen können, aber sie war ehrgeizig und wollte in einem Luxushotel arbeiten, von dem jeder gehört hatte – das Dorchester, das Lanesborough, das Mandarin Oriental. »Ach ja«, hatte Mark gesagt, »wir haben Verträge mit allen diesen Hotels.« Katja machte sich keine Gedanken, sie wollte nur nach London. Nadja war die Ernsthafte der beiden, Katja die Unbekümmerte. Wie es in dem Song heißt, Mädchen wollen einfach nur Spaß.

Und jetzt saßen sie vor Nadjas geöffnetem Laptop und warteten darauf, dass Mark Price anrief.

Mark Price war auf die Sekunde pünktlich. »Okay«, sagte Nadja zu Katja. »Es geht los. Bist du so weit?«

*

Die winzige Verzögerung bei der Übertragung erschwerte es ihr offenbar zu verstehen, was er sagte. Ihr Englisch war nicht so fließend, wie ihre Schwester behauptet hatte. Um es auszugleichen, lachte sie viel, warf das Haar zurück und neigte sich näher zum Bildschirm, als könnte sie ihn überzeugen, indem sie die Fläche mit ihrem Gesicht ausfüllte. Sie war hübsch. Sie waren beide hübsch, aber diese war hübscher.

»Okay, Katja«, sagte er. »Unsere Zeit ist um.« Er tippte auf seine Uhr, um es ihr klarzumachen, denn er konnte die Verständnislosigkeit in ihrem Lächeln sehen. »Ist Ihre Schwester noch da?« Nadjas Gesicht tauchte auf dem Bildschirm auf, an Katjas gedrückt, und beide grinsten ihn an. Sie sahen aus, als wären sie in einem Fotoautomaten.

»Nadja«, sagte er, »meine Sekretärin wird Ihnen gleich morgen früh die Tickets mailen, okay? Und wir werden uns bald persönlich sehen. Ich freue mich schon, Sie beide kennenzulernen. Ihnen noch einen guten Abend.«

Er klappte den Bildschirm zu, und die Mädchen waren weg. Dann stand er auf und streckte sich. An der Wand hinter ihm prangte das schicke »APA«-Logo von Anderson Price Associates. Er hatte einen Schreibtisch und einen Stuhl. An der Wand hing der Druck von etwas Modernem, aber Erstklassigem. Die Kamera des Laptops erfasste ihn teilweise – er hatte es gewissenhaft kontrolliert. Etwas entfernt stand eine Orchidee. Die Orchidee sah echt aus, war aber künstlich. Das Büro war ebenfalls nicht echt. Anderson Price Associates war nicht echt, Mark Price war nicht echt. Nur seine Rolex war es.

Er war nicht in einem Büro in London, er war in einem stationären Wohnwagen auf einer Wiese an der Ostküste. In seinem »anderen Büro«, wie er es nannte. Es befand sich nur ungefähr achthundert Meter landeinwärts, und manchmal drohten die kreischenden Möwen die Illusion zu zerstören, dass er in London war.

Er schaltete die Aufnahme von Office Ambience Sounds und das Licht aus, sperrte den Caravan zu und stieg in seinen Land Rover Discovery. Zeit, nach Hause zu fahren. Er konnte den Talisker, mit dem seine Frau auf ihn wartete, fast schon schmecken.

Die Schlacht vor dem Rio de la Plata

Und da ist die Ark Royal, die einen großen Abstand zum Feind hält …

Es folgten ein paar leise Explosionen – pop-pop-pop. Das Geräusch blecherner Schüsse, die erfolglos mit den über den Köpfen kreisenden und kreischenden Möwen wetteiferten.

Oh, und die Achilles wurde getroffen, doch Gott sei Dank konnte sie die Ark Royal kontaktieren, die ihr zu Hilfe eilt …

»Eilt« war nicht das Wort, das Jackson für das mühsame Vorankommen der Ark Royal auf dem Teich im Park gewählt hätte.

Und da kommen die Bomber derRAF! Ausgezeichnete Schüsse, Jungs! Ein Hoch auf dieRAFund ihr Geleit …

Die Zuschauer stießen ein lahmes Jubelgeschrei aus, als zwei sehr kleine Flugzeuge aus Holz an Drahtseilen über den Teich ruckelten.

»O Gott«, sagte Nathan. »Das ist erbärmlich.«

»Kein Gepöbel«, sagte Jackson automatisch. Es war wirklich erbärmlich (die kleinste bemannte Marine der Welt!), aber das war doch bestimmt der Charme der Sache? Die Boote waren Nachbauten, das längste höchstens sechs Meter lang, die anderen wesentlich kürzer. In den Booten versteckt waren Angestellte des Parks und lenkten sie. Die Zuschauer saßen auf Holzbänken auf schiefen Betonstufen. Zuvor hatte auf der Bühne ein altmodischer Mann eine Stunde lang altmodische Musik auf einer Orgel gespielt, und jetzt kommentierte derselbe altmodische Mann die Schlacht. Auf altmodische Art und Weise. (»Hört das denn nie auf?«, fragte Nathan.)

Jackson war selbst einmal als Kind hier gewesen, nicht mit seiner Familie (als er noch eine Familie hatte) – sie unternahmen nie etwas gemeinsam, fuhren nie irgendwohin, nicht einmal für einen Tag. Das war die Arbeiterklasse gewesen, die zu hart arbeitete, um Zeit für Vergnügen zu haben, und zu arm, um dafür zu zahlen, wenn sie doch irgendwie die Zeit fand. (»Weißt du es noch nicht, Jackson?«, sagte Julia. »Der Klassenkrieg ist vorbei. Alle haben verloren.«) Er erinnerte sich nicht mehr an die Umstände – vielleicht war er mit den Pfadfindern hier gewesen oder mit der Jungen-Brigade oder sogar der Heilsarmee – der junge Jackson hatte sich an jede ihm zugängliche Organisation geklammert in der Hoffnung, etwas umsonst zu ergattern. Die Tatsache, dass er katholisch erzogen wurde, ließ er seinen Glaubensgrundsätzen nicht in die Quere kommen. Im Alter von zehn Jahren hatte er der örtlichen Heilsarmee im Austausch für eine Limonade und ein Stück Kuchen sogar gelobt, sein Leben lang keinen Alkohol anzurühren. (»Und hat es funktioniert?«, fragte Julia.) Es war eine Erleichterung, als er schließlich die richtige Armee entdeckte, wo alles umsonst war. Zu einem Preis.

»Die Schlacht vor dem Rio de la Plata«, sagte Jackson zu Nathan, »war die erste Seeschlacht des Zweiten Weltkriegs.« Eine seiner Aufgaben als Vater war es zu erziehen, vor allem in den Bereichen, auf die er spezialisiert war – Autos, Kriege, Frauen. (»Jackson, du weißt nichts über Frauen«, sagte Julia. »Genau«, sagte Jackson.) Nathan reagierte auf alle Informationen, die ihm vermittelt wurden, entweder indem er die Augen verdrehte oder sich taub stellte. Jackson hoffte, dass sein Sohn auf die eine oder andere Weise das beständige Bombardement mit Ratschlägen und Warnungen, das sein Verhalten erforderte, unbewusst absorbierte – »Geh nicht so nah am Rand der Klippen. Benutz Messer und Gabel und nicht die Hände. Steh im Bus auf.« Wann fuhr Nathan allerdings jemals mit dem Bus? Er wurde herumkutschiert wie ein Lord. Jacksons Sohn war dreizehn, und sein Ego war groß genug, um ganze Planeten unzerkaut zu schlucken.

»Was meinen sie damit – ›bemannt‹?«, sagte Nathan.

»In den Booten sitzen Männer und lenken sie.«

»Unmöglich«, höhnte er. »Das ist Blödsinn.«

»Es ist so. Du wirst schon sehen.«

Hier kommt auch noch die Exeter. Und das feindliche U-Boot steckt jetzt in Schwierigkeiten …

»Wart’s ab«, sagte Jackson. »Eines Tages wirst du selbst Kinder haben, und du wirst mit ihnen die Sachen machen, die du jetzt doof findest – Museen, Herrensitze besuchen, Spaziergänge auf dem Land unternehmen –, und sie werden dich dann dafür hassen. Auf diese Weise funktioniert kosmische Gerechtigkeit, mein Sohn.«

»Das werde ich jedenfalls nicht machen«, sagte Nathan.

»Und das Geräusch, das du hören wirst, ist mein Gelächter.«

»Nein, werde ich nicht. Bis dahin bist du tot.«

»Danke. Danke, Nathan.« Jackson seufzte. War er im Alter seines Sohnes auch so herzlos gewesen? Er musste nun wirklich nicht an seine eigene Sterblichkeit erinnert werden, er sah sie in seinem Sohn vor sich, der jeden Tag älter wurde.

Positiv war, dass Nathan an diesem Nachmittag fast in ganzen Sätzen sprach und nicht nur affenartig grunzte. Er hockte zusammengesunken auf der Bank, die langen Beine ausgestreckt, die Arme auf eine Weise verschränkt, die man nur sarkastisch nennen konnte. Seine Füße (in Designer-Sneakers natürlich) waren riesig – bald wäre er größer als Jackson. In seinem Alter hatte Jackson zwei Outfits, und eins war seine Schuluniform. Abgesehen von seinen Turnschuhen aus Stoff (»Deinen was?«, fragte Nathan) hatte er nur ein Paar Schuhe besessen und wäre erstaunt gewesen über die Konzepte »Designer« und »Logo«.

Als Jackson dreizehn war, war seine Mutter bereits an Krebs gestorben, seine Schwester war ermordet worden und sein Bruder hatte sich umgebracht und seine Leiche netterweise so zurückgelassen – er hing von einem Kronleuchter –, dass Jackson sie fand, als er von der Schule nach Hause kam. Jackson hatte nie die Chance gehabt, egoistisch zu sein, die Beine auszustrecken, Forderungen zu stellen und die Arme sarkastisch zu verschränken. Und hätte er es doch getan, hätte ihm sein Vater eine Tracht Prügel verpasst. Nicht, dass Jackson seinen Sohn leiden sehen wollte – Gott bewahre –, aber ein bisschen weniger Narzissmus wäre nicht verkehrt.

Julia, Nathans Mutter, konnte es bezüglich der schmerzlichen Todesfälle mit Jackson aufnehmen – eine Schwester war ermordet worden, eine Schwester hatte sich umgebracht, eine war an Krebs gestorben. (»Oh, und vergiss Papas sexuellen Missbrauch nicht«, erinnerte sie ihn. »Der Stich geht an mich, glaube ich.«) Und jetzt war das ganze Elend ihrer beider Vergangenheit zusammengefasst in diesem einen Kind. Was, wenn es sich entgegen seines sorglosen Auftretens in Nathans DNA eingenistet und sein Blut infiziert hatte und jetzt Tragödien und Kummer in seinen Knochen wuchsen und sich vermehrten wie Krebs? (»Hast du auch nur versucht, ein Optimist zu sein?«, fragte Julia. »Einmal«, entgegnete Jackson. »Es passt nicht zu mir.«)

»Ich dachte, du hättest gesagt, dass du mir ein Eis holen willst.«

»Ich glaube, du wolltest sagen: ›Dad, kann ich das Eis haben, das du mir versprochen und anscheinend zeitweise vergessen hast? Bitte?«

»Ja, was auch immer.« Nach einer beeindruckend langen Pause fügte er widerwillig hinzu: »Bitte.« (»Ich stehe dem Präsidenten nach Belieben zur Verfügung«, sagte eine unerschütterliche Julia, wenn ihr Kind etwas verlangte.)

»Was möchtest du?«

»Magnum. Mit Erdnussbutter.«

»Ich glaube, du willst da etwas hoch hinaus.«

»Was auch immer. Ein Cornetto.«

»Immer noch hoch.«

Nathan kam stets mit zahllosen Anweisungen im Schlepptau, was Essen anbelangte. Julia war überraschend neurotisch hinsichtlich Süßigkeiten. »Versuch zu kontrollieren, was er isst«, sagte sie. »Er kann einen kleinen Schokoriegel haben, aber keine Bonbons, definitiv kein Haribo. Wenn er zu viel Zucker kriegt, ist er nach Mitternacht wie ein Gremlin. Und wenn du ein Stück Obst in ihn hineinkriegst, bist du eine bessere Frau als ich.« Noch ein, zwei Jahre und Julia würde sich Sorgen machen wegen Zigaretten, Alkohol und Drogen. Sie sollte die Zuckerjahre genießen, dachte Jackson.

»Während ich dein Eis hole«, sagte Jackson zu Nathan, »behalte unseren Freund Gary in der ersten Reihe im Auge, ja?« Nathan ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte, und Jackson wartete einen Augenblick und sagte dann: »Was habe ich gerade gesagt?«

»Du hast gesagt: ›Während ich weg bin, behalte unseren Freund Gary in der ersten Reihe im Auge, ja?‹«

»Richtig. Gut«, sagte Jackson etwas geläutert, nicht, dass er es sich anmerken lassen würde. »Da«, sagte er und reichte ihm sein iPhone, »mach ein Foto, wenn er etwas Interessantes tut.«

Als Jackson aufstand, folgte ihm der Hund, mühte sich hinter ihm die Stufen hinauf zum Café. Julias Hund, Dido, ein gelber Labrador, übergewichtig und alt. Als sie einander Jahre zuvor vorgestellt wurden (»Jackson, das ist Dido – Dido, das ist Jackson«) hatte er geglaubt, dass der Hund nach der Sängerin so hieß, doch es stellte sich heraus, dass er nach der Königin von Karthago benannt worden war. Das war Julia in aller Kürze.

Dido – der Hund, nicht die Königin von Karthago – kam ebenfalls mit einer langen Liste von Anweisungen. Man könnte denken, dass Jackson sich noch nie zuvor um ein Kind oder einen Hund gekümmert hatte. (»Aber es war nicht mein Kind oder mein Hund«, stellte Julia klar. »Ich denke, dass es unser Kind ist«, erwiderte Jackson.)

Nathan war drei Jahre alt, als Jackson sein Besitzrecht an ihm durchsetzen konnte. Julia hatte aus Gründen, die nur sie kannte, geleugnet, dass Jackson Nathans Vater war, sodass er die besten Jahre bereits versäumt hatte, als sie seine Vaterschaft einräumte. (»Ich wollte ihn für mich allein«, sagte sie.) Jetzt, da die schlimmsten Jahre bevorstanden, schien sie jedoch mehr als nur erpicht darauf zu sein, ihn zu teilen.

Julia würde fast für die gesamten Schulferien »bestialisch« beschäftigt sein, deswegen hatte Jackson Nathan zu sich in das Cottage geholt, das er derzeit an der Ostküste von Yorkshire gemietet hatte, ein paar Kilometer nördlich von Whitby. Mit einer guten WLAN-Verbindung konnte Jackson seine Firma – Brodie Investigations – überall betreiben. Das Internet war böse, aber man musste es lieben.

Julia spielte eine Pathologin (»die Pathologin«, korrigierte sie ihn) in der seit langem laufenden Gerichtsserie Collier. Collier wurde als »düsteres Drama aus dem Norden« beschrieben, obwohl es dieser Tage müder Mumpitz war, ausgedacht von zynischen Großstädtern, die die meiste Zeit auf Koks oder Schlimmerem waren.

Julia hatte ausnahmsweise einmal einen eigenen Handlungsbogen. »Es ist ein großer Strang«, erklärte sie Jackson. Er dachte, sie hätte »Fang« gesagt, und brauchte eine Weile, bis er das Rätsel gelöst hatte. Dennoch sah er jetzt immer, wenn sie von »meinem Strang« sprach, vor sich, wie sie eine zunehmend bizarre Parade von Fischen anführte. Sie wäre nicht die schlechteste Person an seiner Seite, wenn es zu einer Flut käme. Hinter ihrer schussligen theatralischen Fassade war sie widerstandsfähig und einfallsreich, und sie war gut im Umgang mit Tieren.

Ihr Vertrag lief aus, und sie fütterten sie nur tröpfchenweise mit dem Drehbuch, deshalb sei sie ziemlich sicher, sagte sie, dass sie am Ende ihres »Strangs« auf einen grässlichen Abgang zusteuerte. (»Tun wir das nicht alle?«, fragte Jackson.) Julia war zuversichtlich, es sei ein guter Lauf gewesen, sagte sie. Ihr Agent hatte ein Auge auf eine Restaurationskomödie, die im West Yorkshire Playhouse aufgeführt werden sollte. (»Richtige Schauspielerei«, sagte Julia. »Und wenn das nicht klappt, gibt es immer noch Strictly. Das wurde mir schon zweimal angeboten. Sie kratzen jetzt offenbar den Boden des Fasses aus.«) Sie hatte ein schönes kehliges Lachen, vor allem wenn sie sich über sich selbst lustig machte. Oder so tat. Es hatte einen gewissen Charme.

»Wie vermutet, gab es keine Magnums, keine Cornettos, sie hatten nur Bassani«, sagte Jackson, als er mit zwei wie Kerzenständer hochgehaltenen Waffeln zurückkehrte. Man sollte annehmen, dass Eltern ihren Kindern eigentlich verbieten würden, Eis von Bassani zu essen, nach allem, was passiert war. Carmodys Spielhallen gab es auch noch, ein lauter beliebter Treffpunkt am Meer. Eis und Spielhallen – die perfekte Verlockung für Kinder. Es mussten ungefähr zehn Jahre vergangen sein, seitdem die Zeitungen über den Fall berichtet hatten. (Je älter Jackson wurde, umso mehr entglitt ihm die Zeit.) Antonio Bassani und Michael Carmody, örtliche »Würdenträger« – einer von beiden saß im Gefängnis, und der andere hatte sich aufgehängt, aber Jackson erinnerte sich nie, was auf wen zutraf. Er wäre überrascht, wenn der, der im Gefängnis war, nicht bald entlassen würde, wenn er es nicht schon war. Bassani und Carmody mochten Kinder. Sie mochten Kinder zu sehr. Sie mochten es, Kinder an andere Männer weiterzugeben, die Kinder zu sehr mochten. Wie Geschenke, wie Pfänder bei einem Spiel.

Eine ewig hungrige Dido watschelte hoffnungsvoll hinter ihm her, und anstelle von Eis gab Jackson ihr einen knochenförmigen Hundeleckerbissen. Er nahm an, dass es ihr gleichgültig war, welche Form er hatte.

»Ich habe Vanille und Schokolade«, sagte er zu Nathan. »Welches willst du?« Eine rhetorische Frage. Welche noch nicht wahlberechtigte Person würde sich je für Vanille entscheiden?

»Schokolade. Danke.«

Danke – ein kleiner Triumph der guten Manieren, dachte Jackson. (»Am Ende wird schon was aus ihm werden«, sagte Julia. »Teenager zu sein ist schwer, ihre Hormone veranstalten ein Chaos, sie sind oft erschöpft. Das Wachsen verbraucht viel Energie.«) Aber was war mit Generationen von Teenagern, die mit vierzehn (nur wenig älter als Nathan!) die Schule verlassen und in Fabriken und Stahlwerken und Kohlezechen gearbeitet hatten? (Jacksons eigener Vater und dessen Vater vor ihm zum Beispiel.) Oder Jackson selbst, mit sechzehn zum Militär, eine Jugend, die von Autoritäten in Stücke gebrochen und später, als er schon ein Mann war, von ihnen wieder zusammengesetzt worden war. War diesen Teenagern, darunter ihm selbst, die Schwäche chaotischer Hormone erlaubt gewesen? Nein, das war sie nicht. Sie gingen neben erwachsenen Männern arbeiten und benahmen sich, sie brachten ihren Lohn am Ende der Woche zu ihren Müttern (oder Vätern) nach Hause, und – (»Ach, sei still, ja?«, sagte Julia müde. »Dieses Leben ist verschwunden und kommt nicht wieder.«)

»Wo ist Gary?«, fragte Jackson und ließ den Blick über die Bänke schweifen.

»Gary?«

»Der Gary, den du im Auge behalten solltest.«

Ohne von seinem Handy aufzublicken, nickte Nathan in Richtung der Drachenboote, wo sich Gary und Kirsty an der Kasse anstellten.

Und die Schlacht ist vorbei, der Union Jack wird gehisst. Ich bitte um einen Applaus für unsere gute alte Fahne!

Jackson klatschte gemeinsam mit den anderen Zuschauern. Er stieß Nathan leicht an und sagte: »Komm schon, klatsch für die gute alte Fahne.«

»Hurra«, sagte Nathan lakonisch. O Ironie, dein Name ist Nathan Land, dachte Jackson. Sein Sohn hatte den Nachnamen seiner Mutter, und das war Grund für Auseinandersetzungen zwischen Julia und Jackson. Um es milde auszudrücken. »Nathan Land« klang in Jacksons Ohren wie der Name eines Finanziers aus dem 18.Jahrhundert, des Stammvaters einer europäischen Bankerdynastie. »Nat Brodie« dagegen hörte sich nach einem kernigen Abenteurer an, der sich immer weiter gen Westen durchschlug auf der Suche nach Gold oder Rindern, Frauen mit lockerer Moral im Schlepptau. (»Seit wann hast du so viel Phantasie?«, fragte Julia. Wahrscheinlich seitdem ich dich kenne, dachte Jackson.)

»Können wir jetzt endlich gehen?«, fragte Nathan und gähnte ausführlich und ungeniert.

»Gleich, wenn ich damit fertig bin«, sagte Jackson und deutete auf sein Eis. Jacksons Ansicht nach ließ nichts einen erwachsenen Mann dümmer aussehen, als mit einem Eis in der Waffel herumzulaufen und daran zu lecken.

Die Kämpfer der Schlacht vor dem Rio de la Plata fuhren ihre Ehrenrunde. Die Männer in den Booten hatten die Abdeckungen – eine Art Kommandostand – abgenommen und winkten den Zuschauern zu.

»Siehst du?«, sagte Jackson zu Nathan. »Ich habe es dir gesagt.«

Nathan verdrehte die Augen. »Hast du. Können wir jetzt gehen?«

»Ja, also, lass uns mal nach unserem Gary sehen.«

Nathan stöhnte, als sollte er gleich einem Waterboarding unterzogen werden.

»Halt durch«, sagte Jackson gut gelaunt.

Jetzt, da die kleinste bemannte Marine der Welt zu ihren Ankerplätzen fuhr, machten die Drachenboote erneut die Leinen los – Tretboote in grellen Primärfarben mit langen Hälsen und großen Drachenköpfen, Comicversionen von Wikinger-Langbooten. Gary und Kirsty hatten bereits ein wildes Ross bestiegen, Gary trat heroisch in die Pedale und fuhr hinaus in die Mitte des Sees. Jackson machte ein paar Fotos. Als er auf seinem Handy nachschaute, stellte er angenehm überrascht fest, dass Nathan Serienbilder aufgenommen hatte – das moderne Äquivalent des Daumenkinos seiner Kindheit –, als Jackson das Eis gekauft hatte. Gary und Kirsty, die sich küssten, die Münder verzogen wie ein Paar Kugelfische. »Braver Junge«, sagte Jackson zu Nathan.

»Können wir jetzt gehen?«

»Ja, können wir.«

Jackson folgte Gary und Kirsty seit mehreren Wochen. Er hatte Garys Frau Penny genügend Fotos in flagranti geschickt, um sich mehrmals wegen Ehebruch von ihrem Mann scheiden zu lassen, aber wenn Jackson zu ihr sagte, »Ich glaube, Sie haben jetzt genug Beweise, MrsTrotter«, entgegnete sie jedes Mal: »Bleiben Sie noch ein bisschen länger an ihnen dran, MrBrodie.« Penny Trotter – es war ein unglücklicher Name, dachte Jackson. Pig’s trotters – Schweinefüße. Ein billiges Essen vom Metzger. Seine Mutter hatte Schweinefüße gekocht, den Kopf auch. Von der Schnauze bis zum Schwanz und alles dazwischen, nichts wurde verschwendet. Sie war Irin, die Erinnerung an die Hungersnot war ihren Knochen eingeschrieben, ähnlich der Beinschnitzerei, die er im Museum in Whitby gesehen hatte. Und weil sie eine irische Mutter war, bekamen die Männer als Erstes zu essen – in der Reihenfolge ihres Alters. Als Nächstes war seine Schwester dran, und dann setzte sich schließlich ihre Mutter mit einem Teller hin und aß, was immer übrig war – oft nicht mehr als ein paar Kartoffeln mit einem Löffel Soße. Niamh war die Einzige, die dieses mütterliche Opfer bemerkte. (»Komm, Ma, nimm ein bisschen was von meinem Fleisch.«)

Manchmal erschien ihm seine Schwester im Tod lebendiger, als sie es im Leben gewesen war. Er tat sein Bestes, um die Erinnerung an sie wachzuhalten, da es sonst niemanden mehr gab, der die Flamme am Brennen hielt. Bald wäre sie für alle Ewigkeit gelöscht. So wie er, so wie sein Sohn, so – (»Um Himmels willen, Jackson, hör auf«, sagte Julia verärgert.)

Jackson begann sich zu fragen, ob Penny Trotter ein masochistisches Vergnügen an diesem Unternehmen fand, das (fast) an Voyeurismus grenzte. Oder plante sie ein Endspiel, von dem sie Jackson nichts erzählte? Vielleicht saß sie die Sache einfach aus, Penelope, die hoffte, dass Odysseus den Weg nach Hause finden würde. Nathan war während der Ferien an einem Projekt über die Odyssee für die Schule beteiligt. Er schien nichts gelernt zu haben, während Jackson viel gelernt hatte.

Nathan ging auf eine Privatschule (vor allem dank Julias Honorar für Collier), wogegen Jackson prinzipiell etwas hatte. Insgeheim war er jedoch erleichtert, weil Nathans staatliche Schule am Ort eine Schule für »Übriggebliebene« war. (»Ich kann mich nicht entscheiden, was du bist«, sagte Julia, »ein Heuchler oder nur ein gescheiterter Ideologe.« War sie immer schon so voreingenommen gewesen? Das war eigentlich der Job seiner Exfrau Josie. Seit wann war es Julias?)

Jackson langweilte sich mittlerweile mit Gary und Kirsty. Sie waren Gewohnheitstiere, gingen jeden Montag- und jeden Mittwochabend in Leeds miteinander aus, wo sie beide bei derselben Versicherungsgesellschaft arbeiteten. Das gleiche Muster: ein Drink, ein Essen und dann ein paar heimliche Stunden in Kirstys winziger moderner Wohnung, wo sie vermutlich das taten, was Jackson Gott sei Dank nicht mit ansehen musste. Danach fuhr Gary nach Hause zu Penny und dem charakterlosen Reihenhaus aus Backstein, das sie in Acomb besaßen, ein nichtssagender Vorort von York. Jackson dachte, dass es, wäre er ein verheirateter Mann, der heimlich eine Affäre hatte – was er nie getan hatte, er schwor es bei Gott –, ein bisschen spontaner, ein bisschen weniger vorhersehbar zuginge. Ein bisschen mehr Spaß. Hoffentlich.

Nach Leeds war es eine lange Fahrt über die Moore, weswegen Jackson einen hilfsbereiten jungen Mann namens Sam Tilling für die Laufarbeit angeheuert hatte, der in Harrowgate lebte und zwischen Universität und Eintritt bei der Polizei Däumchen drehte. Sam erledigte frohgemut die langweiligeren Aufgaben – die Weinbars, die Cocktaillounges und die Curryrestaurants, wo Gary und Kirsty gezügelter Leidenschaft frönten. Gelegentlich machten sie einen Tagesausflug irgendwohin. Heute war Donnerstag, sie machten wegen des guten Wetters wohl blau. Jackson glaubte, ohne wirkliche Beweise dafür zu haben, dass Gary und Kirsty zu den Leuten gehörten, die ihre Arbeitgeber ohne Skrupel übers Ohr hauten.

Da Peasholm Park praktisch vor seiner Haustür lag, hatte er sich dafür entschieden, ihnen heute selbst zu folgen. Und er hatte etwas mit Nathan unternommen, auch wenn Nathans bevorzugte Standardposition im Haus war, wo er mit seiner Xbox Grand Theft Auto spielte oder online mit seinen Freunden chattete. (Was um alles in der Welt hatten sie einander zu sagen? Sie taten nie etwas.) Jackson hatte Nathan die hundertneunundneunzig Stufen zu den kargen Ruinen der Abtei von Whitby (nahezu buchstäblich) hinaufgezerrt in dem vergeblichen Versuch, ihm Geschichte nahezubringen. Ähnliches galt für das Museum, einen Ort, den Jackson wegen seiner skurrilen Mischung von Exponaten mochte – von fossilierten Krokodilen über Walfang-Memorabilien bis zur mumifizierten Hand eines Gehängten. Nichts davon interaktiv, keine Halt-die-ADHS-Kids-bei-Laune-koste-es-was-es-wolle-Dinge. Nur ein Sammelsurium aus der Vergangenheit in original viktorianischen Schaukästen – Schmetterlinge auf Nadeln, ausgestopfte Vögel, Kriegsorden, offene Puppenhäuser. Der Krimskrams aus dem Leben von Menschen, der schließlich und endlich das war, was Bedeutung hatte, oder?

Jackson war überrascht, dass die grausige mumifizierte Hand Nathan nicht faszinierte. »Hand of Glory«, Ruhmeshand, wurde sie genannt und ging einher mit einem komplizierten und verwirrenden Volksmärchen über Galgen und Einbrecher. Das Museum war voll mit dem maritimen Erbe Whitbys, auch das von keinerlei Interesse für Nathan, und das Captain-Cook-Museum war natürlich auch ein Reinfall. Jackson bewunderte Cook. »Der erste Mann, der um die Welt gesegelt ist«, sagte er und versuchte, Nathans Interesse zu wecken. »Und?«, sagte er. (Und! Jackson hasste dieses verächtliche Und?) Vielleicht hatte sein Sohn recht. Vielleicht war die Vergangenheit nicht länger der Kontext für die Gegenwart. Vielleicht war nichts mehr davon wichtig. Würde die Welt so enden – nicht mit einem Knall, sondern mit einem Und?

Während Gary und Kirsty herumscharwenzelten, kümmerte sich Penny Trotter ums Geschäft – einen Geschenkeladen in Acomb namens »Schatztruhe«, dessen Inneres nach einer unseligen Mischung aus Patchouli-Räucherstäbchen und künstlicher Vanille roch. Das Angebot bestand überwiegend aus Karten und Geschenkpapier, Kalendern, Kerzen, Seifen, Kaffeebechern und einer Menge putziger Objekte, deren Zweck nicht sofort erkennbar war. Es war die Art Laden, der sich am Leben hielt, indem er von einer Festivität zur nächsten taumelte – Weihnachten, Valentinstag, Muttertag, Halloween und wieder Weihnachten, dazwischen die Geburtstage.

»Na ja, es hat keinen offensichtlichen Zweck«, hatte Penny Trotter gesagt, als sich Jackson nach der Raison d’Être eines ausgestopften Filzherzens erkundigt hatte, auf dessen roter Oberfläche das Wort Love aus Pailletten prangte. »Man hängt es einfach irgendwo auf.« Penny Trotter war romantisch veranlagt – das sei ihr Untergang, sagte sie. Sie war Christin, irgendwie »wiedergeboren«. (Reichte einmal nicht?) Sie trug ein Kreuz um den Hals und ein Band mit den aufgedruckten Buchstaben WWJT um das Handgelenk, das Jackson verwunderte. »Was würde Jesus tun?«, erklärte sie. »Es lässt mich innehalten und überlegen, bevor ich etwas tue, das ich vielleicht bereuen werde.« Jackson dachte, dass so ein Band auch ihm nützlich wäre. WWJT – Was würde Jackson tun?

Brodie Investigations war die letzte Inkarnation von Jacksons ehemaliger Detektei, auch wenn er sich bemüht hatte, das Wort »Privatdetektiv« zu vermeiden – es hatte zu viele glamouröse Konnotationen (oder schmierige, je nach Sichtweise). Klang zu sehr nach Chandler. Es steigerte die Erwartungen der Leute.

Jacksons Tage bestanden aus Maloche für Anwälte – Schulden nachverfolgen, Überwachung und so weiter. Dann waren da noch Diebstahl durch Angestellte, Vorstrafen- und Hintergrundchecks, ein bisschen Verletzung der Sorgfaltspflicht, doch als er das virtuelle Schild für Brodie Investigations aufhängte, hätte er auch eins von Penny Trotters ausgestopften Herzen nehmen können, weil der Großteil seiner Aufträge darin bestand, untreue Ehemänner zu verfolgen (Untreue, dein Name ist Gary) oder ahnungslose Möchtegern-Garys in klebrige Honigtöpfe (oder Fliegenfallen, wie Jackson sie nannte) zu locken, um den Verlobten oder Freund in Versuchung zu führen. Sogar Jackson, der nicht mehr der Jüngste war, hatte nicht geahnt, wie viele misstrauische Frauen es gab.

Zu diesem Zweck machte er seine männerfressenden Fallen mit einem Agent Provocateur scharf in Form einer besonders verführerischen, aber tödlichen Honigbiene – einer Russin namens Tatjana. Eigentlich eher eine Hornisse und keine Honigbiene. Jackson hatte Tatjana in einem anderen Leben kennengelernt, als sie eine Domina und er ungebunden und – kurzfristig, so aberwitzig es jetzt auch schien – Millionär gewesen war. Kein Sex, keine Beziehung, Gott bewahre, er würde lieber mit der oben erwähnten Hornisse ins Bett gehen als mit Tatjana. Sie war am Rand von Ermittlungen aufgetaucht, in die er verstrickt gewesen war. Und außerdem war er damals mit Julia zusammen (oder stand unter dem Eindruck, dass er es war) und hatte fleißig den Embryo gezeugt, der eines Tages die Beine ausstrecken und die Arme sarkastisch verschränken würde. Sie sei ein Kind des Zirkus, behauptete Tatjana, ihr Vater ein berühmter Clown. Clowns in Russland waren nicht lustig, behauptete sie. Hier auch nicht, dachte Jackson. Tatjana selbst war einst, so unwahrscheinlich es schien, eine Trapezkünstlerin gewesen. Trainierte sie noch immer?, fragte sich Jackson.

Seitdem er sie kennengelernt hatte, war die Welt dunkler geworden, soweit es Jackson betraf, wurde die Welt mit jedem Tag dunkler, aber Tatjana war weitgehend die Gleiche geblieben, wenn auch wie er in einer neuen Reinkarnation. Er hatte sie zufällig (vermutlich, aber wer wusste das schon?) in Leeds wieder getroffen, wo sie als Kellnerin in einer Cocktailbar arbeitete und in einem engen, schwarzen, paillettenbesetzten Kleid lasziv mit Gästen tanzte oder kurz mit ihnen auf den Parkplatz ging. »Legitim«, sagte sie später zu ihm, doch aus ihrem Mund klang das Wort nicht glaubwürdig.

Jackson hatte mit einem Anwalt namens Stephen Mellors, für den er sporadisch arbeitete, aus beruflichen Gründen etwas getrunken. Die Bar war die Art modischer Ort, an dem es so dunkel war, dass man kaum den Drink vor sich sehen konnte. Mellors, selbst von der modischen Sorte, metrosexuell und stolz darauf – etwas, das man Jackson nie würde vorwerfen können –, bestellte einen Manhattan, während Jackson sich mit einem Perrier zufriedengab. Leeds wirkte auf ihn nicht wie ein Ort, an dem man dem Leitungswasser trauen konnte. Nicht, dass er etwas gegen Alkohol hatte, ganz im Gegenteil, doch er hielt sich an sehr strikte, selbst auferlegte Trinken-Autofahren-Regeln. Man musste nur einmal eine Wagenladung Teenager mit zu viel Alkohol im Blut vom Asphalt gekratzt haben, um einzusehen, dass sich Autos und Alkohol nicht vertrugen.

Eine Kellnerin hatte ihre Bestellung entgegengenommen, und eine andere Kellnerin hatte sie an den Tisch gebracht. Sie hatte sich mit dem Tablett mit Getränken weit vorgeneigt, eine potenziell riskante Bewegung für eine Frau auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen, die jedoch Mellors erlaubte, ihr Dekolleté zu begutachten, als sie seinen Manhattan auf den niedrigen Tisch stellte. Sie lieferte Jacksons Perrier auf die gleiche Weise ab, ließ das Wasser langsam in sein Glas fließen, als wäre es ein Akt der Verführung. »Danke«, sagte er und versuchte, sich wie ein Gentleman zu benehmen (ein lebenslanges Projekt) und nicht in ihren Ausschnitt zu schauen. Stattdessen blickte er ihr in die Augen und sah, dass sie ihn auf eine animalische Weise anlächelte, die ihm erstaunlich vertraut war, und sagte: »Hallo, Jackson Brodie, so wir treffen uns wieder«, als würde sie für die Rolle der Schurkin in einem Bond-Film vorsprechen. Als Jackson die Sprache wiedergefunden hatte, war sie auf ihren Killerheels davonstolziert (sie wurden nicht umsonst Stilettos genannt) und in den Schatten verschwunden.

»Wow«, sagte Stephen Mellors beifällig. »Sie haben Glück, Brodie. Oberschenkel wie ein Nussknacker. Ich wette, sie macht jede Menge Kniebeugen.«

»Trapez«, sagte Jackson. Er bemerkte eine heruntergefallene Paillette, die vor ihm auf dem Tisch funkelte wie eine Telefonkarte.

Sie verließen den Park, Nathan hüpfte wie ein Welpe, Dido humpelte mutig hinterher, als könnte sie ein künstliches Hüftgelenk gebrauchen (sie konnte offensichtlich). Am Tor des Parks befand sich eine große Anschlagtafel mit mehreren Plakaten, die für die diversen Vergnügungen der Sommersaison warben – Rettungsboot-Gedenktag, Tom Jones im Open-Air-Theater, Showaddywaddy im Wellness-Center. Zudem eine Art Achtziger-Revival-Show, eine Art Varieté, im Palace mit Barclay Jack als Hauptattraktion. Jackson erkannte das Grimassen schneidende Gesicht. »Der ureigene zwerchfellerschütternde Spaßmacher des Nordens. Kinder nur in Begleitung der Eltern.«

Jackson wusste etwas Zwielichtiges über Barclay Jack, aber er konnte das Wissen nicht dazu bringen, vom Meeresboden seines Gedächtnisses aufzusteigen – einem trostlosen Ort, an dem die rostigen Wrackteile und der Abfall seiner Gehirnzellen moderten. Irgendein Skandal, der mit Kindern oder Drogen zu tun hatte, einem Unfall in einem Schwimmbad. Angeblich hatte eine Razzia in seinem Haus stattgefunden, die jedoch nichts ergeben hatte, und anschließend viele Entschuldigungen und Zurückrudern seitens der Polizei und der Medien, doch seine Karriere war so gut wie ruiniert. Und da war noch etwas anderes, aber Jackson hatte seine Abrufkräfte erschöpft.

»Der Typ ist ein Wichser«, sagte Nathan.

»Nicht dieses Wort«, sagte Jackson. Gab es eine Altersgrenze, fragte er sich, ab der die eigenen Kinder ungestraft vulgäre Kraftausdrücke benutzen durften?

Auf dem Weg zum Parkplatz kamen sie an einem Bungalow vorbei, dessen Name stolz auf dem Tor prangte – Thisldo. Nathan brauchte eine Weile zum Dekodieren und schnaubte dann lachend. »So ein Scheiß«, sagte er.

»Stimmt«, pflichtete Jackson ihm bei. (»Scheiß« war erlaubt – ein zu nützliches Wort, um es völlig zu verbieten.) »Aber vielleicht ist es auch, ich weiß nicht … Zen« (Zen – hatte er das wirklich gesagt?), »wenn man weiß, dass man irgendwo angekommen ist, und es ist genug. Nicht sich weiter anstrengen, sondern annehmen.« Ein Konzept, mit dem Jackson tagtäglich kämpfte.

»Es ist trotzdem ein Scheiß.«

»Ja, gut.«

Auf dem Parkplatz trieben sich von Jackson so genannte »böse Jungs« herum – drei, nur ein paar Jahre älter als Nathan. Sie rauchten und tranken etwas aus Dosen, das definitiv auf Julias Tabuliste stehen würde. Und sie lungerten für Jacksons Geschmack viel zu nah neben seinem Auto herum. Obwohl er in seiner Vorstellung einen virileren Wagen fuhr, war das derzeitige Auto seiner Wahl ein tragisch langweiliger Mittelklasse-Toyota, der seinen elterlichen labradorhütenden Status öffentlich kundtat.

»Jungs?«, sagte er und war plötzlich wieder der Polizist. Sie kicherten über die Autorität in seiner Stimme. Jackson spürte, wie Nathan sich näher zu ihm stellte – trotz seines Maulheldentums war er immer noch ein Kind. Jackson Herz floss über angesichts dieser Verletzlichkeit. Sollte jemand seinem Sohn auch nur ein Haar krümmen oder ihn ärgern, müsste Jackson den Drang unterdrücken, ihm den Kopf abzureißen und irgendwo hinzustecken, wo nie die Sonne schien. Middlesbrough vielleicht.

Dido knurrte die Jungen instinktiv an. »Wirklich?«, sagte Jackson zu ihr. »Du und wessen Wolf?«

»Das ist mein Wagen«, sagte er zu den Jungen, »also verschwindet, Jungs, okay?« Es bräuchte mehr als einen großspurigen jugendlichen Blödmann, um Jackson Angst einzujagen. Einer von ihnen zertrat eine leere Dose und stieß mehrmals mit dem Hintern gegen den Wagen, sodass die Alarmanlage losging, und sie alle brachen in hyänenhaftes Gelächter aus. Jackson seufzte. Er konnte sie wohl kaum zusammenschlagen, sie waren – technisch gesehen – noch Kinder, und er zog es vor, gewalttätige Akte auf Personen zu beschränken, die alt genug waren, um für ihr Land zu kämpfen.

Die Jungen schlurften langsam davon, ohne ihn aus dem Blick zu lassen, ihre Körpersprache eine Beleidigung. Einer machte eine obszöne Geste mit beiden Händen, sodass er aussah, als versuchte er, einen unsichtbaren Gegenstand auf einem Finger zu balancieren. Jackson schaltete die Alarmanlage aus und entriegelte die Türen. Nathan stieg ein, während Jackson Dido auf den Rücksitz half. Sie wog eine Tonne.

Als sie von dem Parkplatz fuhren, überholten sie das immer noch herumschlurfende Trio. Einer imitierte einen Affen – uu-uu-uuu – und versuchte auf die Kühlerhaube des an ihnen vorbeikriechenden Toyotas zu steigen, als wäre er in einem Safaripark. Jackson trat hart auf die Bremse, und der Junge fiel herunter. Jackson fuhr davon, ohne nachzusehen, ob er zu Schaden gekommen war. »Wichser«, sagte er zu Nathan.

Albatros

Der Belvedere-Golfclub. Auf dem Grün befanden sich Thomas Holroyd, Andrew Bragg, Vincent Ives. Hinz und Kunz. Tatsächlich Besitzer eines Fuhrunternehmens, Eigentümer eines Reisebüros und Hotels und Gebietsmanager für Telekomausrüstung.

Vince war an der Reihe abzuschlagen. Er ging in Position und versuchte, sich zu konzentrieren. Er hörte, wie Andy Bragg in seinem Rücken ungeduldig seufzte.

»Vielleicht solltest du bei Minigolf bleiben, Vince«, sagte Andy.

Vinces Ansicht nach gab es sehr verschiedene Kategorien von Freunden. Golffreunde, Arbeitsfreunde, alte Schulfreunde, Schifffreunde (er hatte vor ein paar Jahren eine Mittelmeerkreuzfahrt mit Wendy gemacht, seiner baldigen Exfrau), aber richtige Freunde waren selten. Andy und Tommy gehörten in die Schublade für Golffreunde. Nicht was sie selbst betraf – sie waren richtige Freunde. Sie kannten sich seit Jahren und hatten eine so enge Beziehung, dass Vince das Gefühl hatte, von etwas ausgeschlossen zu sein, wann immer er mit ihnen zusammen war. Nicht, dass er den Finger darauf legen konnte, was genau es war. Manchmal fragte er sich, ob Tommy und Andy tatsächlich ein Geheimnis hatten oder ob sie ihn nur glauben machen wollten, dass sie eins hätten. Männer ließen das Schulhofgekicher nie hinter sich, sie wurden nur größer. Das war jedenfalls die Meinung seiner Frau. Baldigen Exfrau.

»Du setzt den Ball nicht durch Telepathie in Bewegung, Vince«, sagte Tommy Holroyd. »Du musst ihn mit dem Schläger treffen, verstehst du?«

Tommy war ein großer fitter Mann in den Vierzigern. Er hatte die gebrochene Nase eines Streithammels, die jedoch sein gutes Aussehen nicht beeinträchtigte, sondern es noch besser machte, was Frauen anbelangte. Er setzte ein bisschen Fett an, aber er gehörte noch immer zu der Sorte, die man eindeutig lieber in der eigenen Ecke hatte als in der des anderen. Er hatte »seine Jugend vergeudet«, hatte er Vince erzählt und gelacht, hatte die Schule früh verlassen, als Türsteher bei mehreren der ruppigeren Clubs im Norden gearbeitet und sich mit »den falschen Leuten« eingelassen. Vince hatte einmal ungewollt mitgehört, wie er von »Schutzarbeit« sprach – ein vager Begriff, der eine Vielfalt entweder von Sünden oder von Tugenden abzudecken schien. »Keine Sorge, die Tage sind vorbei«, sagte Tommy lächelnd, als er merkte, dass Vince ihn gehört hatte. Vince hatte kleinlaut die Hände gehoben, als würde er kapitulieren, und gesagt: »Kein Problem, Tommy.«

Tommy Holroyd war stolz darauf, ein »Selfmade-Mann« zu sein. Aber waren nicht alle selfmade, per definitionem? Vince glaubte allmählich, dass er nicht viel aus sich gemacht hatte.

Abgesehen von Rausschmeißer war Tommy Amateurboxer gewesen. Kämpfen schien in der Familie zu liegen – Tommys Vater war Berufsringer gewesen, ein weithin bekannter »Heel« und hatte einmal Jimmy Savile im Ring geschlagen in der Spa Royal Hall in Brid, womit sein Sohn im Namen des Vaters angab. »Mein Pops hat den Kinderschänder zu Brei geschlagen«, erzählte er Vince. »Hätte er gewusst, wie er wirklich war, hätte er ihn wahrscheinlich umgebracht.«

Vince, für den die Welt des Wrestling so obskur und exotisch war wie der Hof des Kaisers von China, musste das Wort »Heel« googeln. Der Böse, der Antagonist, jemand, der betrog und arrogant war. »Es war eine Rolle«, sagte Tommy, »aber mein Pops musste nicht viel schauspielern. Er war ein fieser Dreckskerl.« Tommy tat Vince leid. Sein eigener Vater war so harmlos gewesen wie eine Halbe Tetley’s Mild, sein Lieblingsbier.

Tommy setzte laut eigenen Angaben seinen rasanten Aufstieg fort, vom Boxen zum Promoten, und als er im Ring genug Geld verdient hatte, machte er den Zweier-Führerschein und kaufte seinen ersten Lkw, und das war der Anfang seiner Flotte – Holroyd Haulage. Es mochte nicht die größte Flottille von Sattelschleppern im Norden sein, aber sie war erstaunlich erfolgreich, Tommys Lebensstil nach zu urteilen. Er war auffällig wohlhabend, hatte einen Swimmingpool und eine zweite Frau, Crystal, die gerüchteweise einst ein Glamourmodel gewesen war.

Tommy war nicht jemand, der auf der Straße an einem vorbeigehen würde, wenn man in Schwierigkeiten steckte, doch Vince fragte sich, ob man später nicht einen Preis dafür zahlen müsste. Aber Vince mochte Tommy, er war unbeschwert und hatte, was Vince nur als Präsenz beschreiben konnte, eine Art nördliche Prahlerei, um die ihn Vince oft beneidete, da er selbst an einem bemerkenswerten Mangel daran litt. Und Crystal war umwerfend. »Eine Barbie-Puppe«, lautete Wendys Urteil. Vince glaubte, dass Wendys Vorstellung von umwerfend darin bestand, ihn zu tasern, da ihre gutmütige Gleichgültigkeit ihm gegenüber sich in Abscheu verwandelt hatte. Und was hatte er getan, um dieses Gefühl hervorzurufen? Nichts!

Nicht lange bevor Vince Tommy kennenlernte, war Lesley – Tommys erste Frau – bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Sie war von einer Klippe gestürzt, als sie versuchte, das Haustier der Familie zu retten – Vince erinnerte sich, davon in der Gazette gelesen (»Frau eines prominenten Ostküsten-Geschäftsmannes auf tragische Weise zu Tode gekommen« und so weiter) und zu Wendy gesagt zu haben: »Du solltest aufpassen, wenn du mit Sparky zu den Klippen gehst.« Sparky war ihr Hund, damals noch ein Welpe. »Um wen machst du dir mehr Sorgen – um mich oder den Hund?«, fragte sie, und er erwiderte: »Also …« Jetzt wusste er, dass es die falsche Antwort gewesen war.

Den lustigen Witwer, hatte Andy Tommy genannt, und er schien wirklich überraschend wenig gezeichnet von der Tragödie. »Les war schon eine Belastung«, sagte Andy und ließ den Zeigefinger an der Schläfe kreisen, als wollte er ein Loch in sein Gehirn bohren. »Looney Tunes.« Andy war nicht von der sentimentalen Sorte. Ganz im Gegenteil. Damals klemmte an der Bank in der Nähe von Lesley Holroyds Sturz von der Klippe noch ein vertrockneter Strauß Blumen. Es schien ein unangemessenes Zeichen des Gedenkens.

»Erde an Vince«, sagte Tommy. »Eine Möwe wird auf dir landen, wenn du dich nicht bald von diesem Tee entfernst.«

»Was hast du für ein Handicap auf dem Minigolfplatz, Vince?« Andy lachte, offenbar nicht willens, das Thema fallen zu lassen. »Die Windmühle ist knifflig, es ist sauschwer, durch die Segel durchzukommen. Und für die Rakete muss man schon ein echter Profi sein. Das ist ein Killer, der erwischt dich jederzeit.«

Andy war kein Prahler wie Tommy. »Ja, er ist ein ganz Stiller, unser Andrew.« Tommy kicherte, legte Andy den Arm um die Schulter und zog ihn auf (sehr) männliche Weise an sich. »Die Stillen muss man im Auge behalten, Vince.«

»Verpiss dich«, sagte Andy gutmütig.

Ich bin ein Stiller, dachte Vince, und niemand muss mich im Auge behalten. Andy war ein kleiner, drahtiger Kerl. Wenn sie Tiere wären, wäre Tommy ein Bär – kein harmloser weicher Teddy, wie sie auf Ashleys Bett lagen, Vinces Tochter. Die Bären warteten geduldig auf die Rückkehr seiner abwesenden Tochter aus ihrem Brückenjahr. Tommy wäre ein Bär, vor dem man sich in Acht nehmen müsste, ein Eisbär oder ein Grizzly. Andy wäre ein Fuchs. Das war ein Spitzname, den Tommy mitunter für Andy benutzte: Foxy. Und Vince? Ein Hirsch, dachte er. Eingefangen vom Scheinwerferlicht eines Wagens, der ihn gleich ummähen würde. Wendy am Steuer, wahrscheinlich.

Hatte einer von beiden überhaupt schon einmal Minigolf gespielt?, fragte er sich. Er hatte – (überwiegend) angenehme – Stunden mit Ashley gespielt, als sie klein war, und ihr stoisch beigestanden, während sie mehrmals neben das Tee schlug oder stur immer wieder versuchte einzulochen, während sich hinter ihnen eine Schlange bildete. Und jedes Mal, wenn er den wartenden Leuten signalisierte weiterzuspielen, schrie sie: »Daaaad.« Ashley war ein dickköpfiges Kind gewesen. (Nicht, dass er sich geärgert hätte. Er liebte sie!)

Vince seufzte. Sollten Tommy und Andy ihren Spaß haben. Männliches Geplänkel – früher war es (mehr oder weniger) Spaß gewesen, diese Prahlerei und dieses Gepolter. Gockel des Nordens, alle miteinander. Es war in der DNA oder im Testosteron der Männer, aber Vince war dieser Tage zu deprimiert, um bei diesem (überwiegend) gutmütigen Gehänsel und gegenseitigen Überbieten mitzumachen.

Wenn Tommys Lebenskurve noch nach oben zeigte, dann befand sich Vinces eindeutig im Abschwung. Er näherte sich knirschend den Fünfzig und lebte seit drei Monaten in einem Einzimmerapartment hinter einem Fish-and-Chips-Laden, seitdem sich Wendy eines Morgens, als er sein Müsli aß – es war ein kurzlebiger Gesundheitstrip gewesen –, zu ihm gewandt und gesagt hatte: »Genug ist genug, findest du nicht, Vince?« Danach saß er mit offenem Mund vor seinem Beste-Beeren-und-Kirschen-Müsli von Tesco.

Ashley war gerade in ihr Brückenjahr aufgebrochen und mit ihrem Rucksack und ihrem Surfer-Freund in Südostasien unterwegs. Soweit Vince es verstand, bedeutete »Brückenjahr« die Flaute zwischen der teuren Privatschule, die er finanziert hatte, und der teuren Universität, die er noch finanzieren musste, eine Pause, in der er dennoch ihre Flüge und ihren monatlichen Unterhalt finanzierte. In seiner Jugend waren Vince die achtbaren nonkonformistischen Tugenden der Selbstdisziplin und der Selbstvervollkommnung beigebracht worden, wohingegen Ashley (ganz zu schweigen von ihrem Surfer-Freund) nur an das »Selbst« glaubte. (Nicht, dass er sich ärgerte. Er liebte sie!)

Kaum war Ashley flügge geworden – mit einem Emirates-Flug nach Hanoi –, verkündete Wendy Vince, dass ihre Ehe tot war. Ihre Leiche war noch nicht kalt, da betrieb sie schon Internet-Dating wie ein Karnickel auf Speed, und er musste sich an den meisten Abenden von Fish and Chips ernähren und fragte sich, wann und wo es schiefgelaufen war. (Offensichtlich drei Jahre zuvor auf Teneriffa.)

»Ich habe dir ein paar Kisten von Costcutter für deine Sachen besorgt«, sagte sie, während er sie verständnislos anstarrte. »Vergiss nicht, deine schmutzige Wäsche aus dem Korb in der Waschküche zu nehmen. Ich wasche nicht mehr für dich, Vince. Einundzwanzig Jahre Sklavin. Das reicht.«

Das war also die Gegenleistung für seine Opfer. Man arbeitete alle Stunden, die Gott einem schenkte, fuhr Hunderte Kilometer in der Woche im Firmenwagen, hatte kaum Zeit für sich selbst, nur damit die eigene Tochter zahllose Selfies in Angkor Wat oder wo auch immer machen und die eigene Frau einem an den Kopf werfen konnte, dass sie sich im letzten Jahr heimlich mit einem Cafébesitzer getroffen hatte, der auch zur Crew der Seenotrettung gehörte, was der Liaison in ihren Augen den Genehmigungsstempel aufdrückte. (»Craig riskiert jedes Mal sein Leben, wenn er auf Zuruf raus muss. Und du, Vince?« Ja, auch er, auf seine Weise.) Es beschnitt einem die Seele, schnipp, schnipp, schnipp.

Wendy liebte es, zu schnipseln und zu scheren, zu schneiden und zu sensen. Im Sommer war sie fast jeden Abend mit dem Flymo unterwegs – im Lauf der Jahre hatte sie mehr Zeit mit dem Rasenmäher verbracht als mit Vince. Sie hätte statt Händen genauso gut Baumscheren haben können. Eins von Wendys sonderbaren Hobbys war es, einen Bonsai wachsen zu lassen (oder ihn vom Wachsen abzuhalten), ein grausamer Zeitvertreib, der ihn an die alten Chinesinnen erinnerte, die sich die Füße banden. Und das tat sie ihm jetzt an, sie schnipselte an seiner Seele herum, beschnitt ihn zu einer Zwergversion seiner selbst.

Er hatte sich für seine Frau und seine Tochter durchs Leben geschleppt, heldenhafter als sie es sich vorstellen konnten, und das war der Dank dafür. Es konnte kein Zufall sein, dass sich »schleppen« auf »neppen« reimte. Er war davon ausgegangen, dass es am Ende des Schleppens ein Ziel zu erreichen galt, doch wie sich herausstellte, war da nichts – nur mehr Dahinschleppen.

»Schon wieder Sie?«, sagte die fröhliche geschäftige Frau in der Fish-and-Chips-Bude jedes Mal, wenn er hereinkam. Er hätte wahrscheinlich durch sein rückwärtiges Fenster langen und den Fisch selbst aus der Fritteuse angeln können.

»Ja, ich schon wieder«, sagte Vince ausnahmslos immer, gut gelaunt, als wäre auch er überrascht. Es war wie der Film Und täglich grüßt das Murmeltier, außer dass er nichts lernte (denn, seien wir ehrlich, es gab nichts zu lernen) und sich nie etwas änderte.

Hatte er sich beschwert? Nein. Ja, »Kann mich nicht beschweren« war der Refrain seines Erwachsenenlebens gewesen. Ein Brite stoisch bis ins Mark. Darf nicht meckern. Wie jemand in einer altmodischen Sitcom. Das holte er jetzt nach, wenn auch nur sich selbst gegenüber, denn er fühlte sich noch immer gezwungen, der Welt ein fröhliches Gesicht zu zeigen, alles andere wäre schlechtes Benehmen. »Wenn du nichts Nettes sagen kannst«, hatte ihm seine Mutter beigebracht, »dann sag gar nichts.«

»Beides, bitte«, sagte er zu der Frau in der Fish-and-Chips-Bude. Gab es etwas Kläglicheres als einen kurz vor der Scheidung stehenden Mann mittleren Alters, der für sich allein zum Abendessen Fish and Chips bestellte?

»Wollen Sie noch frittierte Panade dazu?«, fragte die Frau.

»Wenn Sie welche haben, gern. Danke«, sagte er und verzog innerlich das Gesicht. Ja, er war nicht blind für die Ironie ihrer Frage, als die Frau die knusprigen Teigreste auf seinen Teller löffelte. Das war alles, was von seinem Leben noch übrig war. Panade.

»Mehr?«, fragte sie, den Löffel noch in der Hand, bereit, großzügig zu sein. Kleine Wunder unter Fremden. Er sollte sie nach ihrem Namen fragen, dachte Vince. Er sah sie öfter als sonst irgendjemanden.

»Nein, danke. Das reicht.«

»Thisldo« hatten sie ihr Haus genannt, eine witzige Idee, die ihm jetzt dumm erschien, aber sie waren einmal eine witzige Familie gewesen. Eine Einheit, die in Bestform funktionierte – grillen im Garten hinter dem Haus, Freunde kamen auf Drinks, Ausflüge nach Alton Towers, Urlaub im Ausland in Vier-Sterne-Hotels, ein oder zwei Kreuzfahrten. Ein traumhaftes Leben im Vergleich zu anderen Leuten. Der Traum eines gemäßigten Mannes mittleren Alters aus der Mittelklasse.

Jedes Wochenende luden sie bei Tesco den Kofferraum voll und knauserten nie bei Ashleys Tanzunterricht, Reitstunden, Geburtstagsfesten, Tennisstunden. (Schulreisen ins Skilager. Dafür brauchte man eine zweite Hypothek!) Und die ganze Zeit chauffierte er sie zu »Übernachtungspartys« und »Spieltreffen«. Sie war nicht billig. (Nicht, dass er sich ärgerte. Er liebte sie!)

Und Fahrstunden – Stunden, sogar Tage seines Lebens, die er nicht zurückbekommen würde und die er damit verbracht hatte, seiner Frau und seiner Tochter das Autofahren beizubringen. Er auf dem Beifahrersitz seines Wagens und hinter dem Steuer eine von ihnen, die beide weder links von rechts oder auch nur vorwärts von rückwärts unterscheiden konnten. Und dann saß Ashley plötzlich in einem Tuk-Tuk, und Wendy hatte einen neuen Honda mit einem UKIP-Sticker auf der Heckscheibe, in dem sie herumfuhr auf der Suche nach dem neuen MrRight, da Vince plötzlich MrWrong geworden war. Craig, der Seenotretter, war offenbar fallen gelassen worden zugunsten der bunten Mischung bei Tinder. Laut seiner Frau hätte Vince Vorbild für eine eigene Reihe von Mr-Men-Kinderbüchern sein können – MrLangweilig, MrÜbergewicht, MrMüde. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Wendy wieder ihren Mädchennamen angenommen, als sollte seine Existenz komplett ausradiert werden.

»Thisldo«, schnaubte er. Es reichte überhaupt nicht, und sogar Sparky behandelte ihn wie einen Fremden. Sparky war eine unklare Sorte Lurcher, der sich für Wendy als Alphamännchen entschieden hatte, obwohl Vince ihn unmäßig mochte und derjenige war, der normalerweise mit ihm Gassi ging, seine Kacke entsorgte und ihm sein teures Futter gab – das im Rückblick von höherer Qualität schien als die Eintopfdosen der Eigenmarke aus dem Supermarkt, die er sich dieser Tage genötigt sah zu kaufen, wenn er nicht Fish and Chips aß. Wahrscheinlich sollte er sich besser Hundefutter kaufen statt des Eintopfs, es konnte nicht schlechter sein. Er vermisste den Hund mehr als Wendy. Ja, er war überrascht, als er feststellte, dass er Wendy eigentlich gar nicht vermisste, nur die häusliche Behaglichkeit, die sie ihm genommen hatte. Ein seiner häuslichen Behaglichkeit beraubter Mann war ein trauriger und einsamer Tropf.

Vince war noch bei der Armee, bei den Signals, als er Wendy auf der Hochzeit eines Kumpels unten im Süden kennenlernte. Er hatte die Sonnenbräune vom Balkan und die neuen Streifen eines gerade beförderten Sergeant, und sie hatte gekichert und gesagt: »Oh, ich mag Männer in Uniform.« Und zwei Jahre später heirateten sie, und er war Zivilist, arbeitete für eine Telekomfirma, zuerst als Ingenieur, verantwortlich für IT, bevor er vor zehn Jahren in die Anzug-und-Krawatte-Etage aufstieg, ins Management. Er dachte an Craig, den Seenotretter, und fragte sich, ob ihr von Anfang an nur die Uniform an Vince gefallen hatte und nicht der Mann darin.

»Meine Mutter hat mich davor gewarnt, dich zu heiraten«, sagte sie und lachte, als sie erschöpft und betrunken die Hochzeitskleider in einem Zimmer des Hotels ablegten, in dem sie gefeiert hatten – eine glanzlose Örtlichkeit am Rand von Wendys Heimatstadt Croydon. Als verführerisches Vorspiel zu ihrer ersten Nacht als verheiratetes Paar versprachen diese Worte nichts Gutes. Ihre Mutter – eine kleinliche pomadige Witwe – hatte angesichts von Wendys Wahl unverhältnismäßig viel gejammert und mit den Zähnen geknirscht. In der Kirche saß sie mit einem schrecklichen Hut auf dem Kopf in der ersten Reihe, doch mit ihrer Leichenbittermiene hätte sie auch bei einer Beerdigung sein können. In den folgenden Jahren hatte sie hart um den Titel der »kritischsten Schwiegermutter der Welt« gekämpft. »Ja, die Konkurrenz ist groß«, sagte Tommy, der allerdings zwei Ehen ohne eine Schwiegermutter in Sichtweite absolvierte. Es war eine große Erleichterung für Vince, als sie vor ein paar Jahren an einer schleichenden Krebserkrankung gestorben war, die sie in Wendys Augen zu einer Märtyrerin machte.