"Liebling, ich bin im Kino" - Michael Althen - E-Book

"Liebling, ich bin im Kino" E-Book

Michael Althen

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Beschreibung

Die besten Texte des begnadeten Kritikers

Einen solchen Film- und Kunstkritiker gab es in Deutschland sonst kaum: einen, der nicht seine Brillanz und Pointensicherheit zur Schau stellte oder uns belehrte, sondern der uns ebenso passioniert wie charmant auf die kleinen Gesten aufmerksam machte, die uns bei großen Filmen bis ins Herz treffen können: Michael Althen, Filmredakteur erst der Süddeutschen Zeitung, dann der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieses Buch sammelt Texte, die über ihren unmittelbaren Anlass hinaus Bestand haben.

„Mittlerweile sind wir wahrscheinlich vollständig verdorben, aber das macht nichts, weil wir im Kino ein zweites Leben gefunden haben, das viel besser ist als das unsere und ihm doch aufs Haar gleicht. Darin liegt die doppelte Natur des Kinos: dass es stets Auskunft gibt über das, was ist, und das, was möglich wäre, darüber, wer wir sind und wer wir gerne wären.“ Michael Althen

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Seitenzahl: 401

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DAS BUCH

Große Filme wie Forrest Gump, Die fabelhaften Baker Boys, Aviator verschwinden nie ganz aus unserem Leben, sondern wirken auf sublime Weise weiter – wie kaum ein anderer Kritiker, hat Michael Althen in seinen Besprechungen jenen magischen Punkt gesucht, wo ein Film seine Zuschauer berührt und vielleicht auch verwandelt. Er hat die Filme nicht an abstrakten Kunstidealen, sondern am Leben gemessen und die Glücksversprechungen der Filme ernst genommen. Deswegen lohnt es sich nachzulesen, was Michael Alten zu Kinoereignissen wie Der Rosenkrieg, Eyes Wide Shut oder Lost in Translation geschrieben hat. Und es lohnt erst recht nachzuvollziehen, wie er die Entwicklung des deutschen Films, von Unter den Brücken bis zu Lola rennt, von Monaco Franze bis zu Der Bader-Meinhof-Komplex begleitet hat.

Die Besprechungen und die Schauspierporträts dieses Bandes haben in all ihrer Vielfältigkeit eines gemeinsam: Sie laden ein zum Wieder- und Neusehen der großen Filme. Wobei man Michael Althens schon früh formuliertes Credo im Sinn behalten sollte: »Das Glück ist ein Ding mit Flügeln, es kommt und geht, wie es ihm passt. Man kann es zum Bleiben nicht zwingen. Schon gar nicht im Kino.«

DER AUTOR

Michael Althen, 1962 in München geboren, studierte Germanistik und Journalismus. 1998 wurde er verantwortlicher Filmredakteur der Süddeutschen Zeitung, 2001 wechselte er als Redakteur zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1995 drehte Althen für den WDR die Dokumentation Das Kino bittet zu Tisch – Essen im Film, für die er 1996 seinen ersten Adolf-Grimme-Preis erhielt. Einen weiteren Grimme-Preis bekam er 1998 für seinen in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Dominik Graf entstandenen Filmessay Das Wispern im Berg der Dinge über Grafs Vater, den Schauspieler Robert Graf. Ebenfalls mit Graf drehte er 2000 eine filmische Liebeserklärung an seine Heimatstadt München – Geheimnisse einer Stadt.

2002 erschien bei Blessing Warte, bis es dunkel wird – Eine Liebeserklärung ans Kino. Michael Althen starb am 12. Mai 2011 in Berlin. Auf Grundlage seiner Kolumnen Heute morgen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte der Blessing Verlag 2012 Meine Frau sagt … Geschichten aus dem wahren Leben.

DER HERAUSGEBER

Claudius Seidl wurde 1959 in Würzburg geboren. Er studierte in München Theater, Kommunikation, Politik und, als Gegengift, Volkswirtschaftslehre. Und im Münchner Filmmuseum bei Enno Patalas: Filmgeschichte. Seit 1983 verfasste er Filmkritiken, erst für die Süddeutsche Zeitung, dann auch für DIE ZEIT und Tempo. Von 1990 bis 1996 war Claudius Seidl Kulturredakteur beim SPIEGEL, die meiste Zeit davon als Ressortchef. Von 1996 bis 2001 war er stellvertretender Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung. Seit 2001 ist Seidl Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a.: Der deutsche Film der fünfziger Jahre, Billy Wilder und zuletzt Bilder im Kopf. Die Geschichte meines Lebens (zusammen mit Michael Ballhaus).

Michael Althen

Liebling,

ich bin im Kino!

Texte über Filme, Schauspieler

und Schauspielerinnen

Herausgegeben von Claudius Seidl

Karl Blessing Verlag

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2014 Karl Blessing Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München Satz: Leingärtner, NabburgISBN 978-3-641-14075-5V002
www.blessing-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Tom Tykwer

I   Sie können mich doch nicht einfach anpusten!

1.    Catherine Deneuve

2.    A Single Man von Tom Ford

3.    Unter den Brücken von Helmut Käutner

4.    Aviator von Martin Scorsese

5.    Dean Martin

6.    Casino von Martin Scorsese

7.    Sharon Stone

8.    Die fabelhaften Baker Boys von Steve Kloves

9.    Audrey Hepburn

II   Das Leben ist eine Pralinenschachel

1.    Der große Sprungvon Joel und Ethan Coen

2.    Der Rosenkriegvon Danny De Vito

3.    Forrest Gumpvon Robert Zemecki

4.    Mementovon Christopher Nolan

5.    Mystic Rivervon Clint Eastwood

6.    Der alte Affe Angstvon Oskar Roehler

7.    Marlon Brando

8.    Up in the Air von Jason Reitman

9.    Eine wahre Geschichtevon David Lynch

III   So sehr hatte mein Herz geblutet

1.    Der Baader-Meinhof-Komplex von Uli Edel

2.    Operation Walkürevon Bryan Singer

3.    Veit Harlan

4.    Wilde Hunde von Quentin Tarantino

5.    Robocopvon Paul Verhoeven

6.    Late Showvon Helmut Dietl

7.    Moulin Rougevon Baz Luhrmann

8.    The Fast and the Furiousvon Rob Cohen

9.    Robert Mitchum

IV  Im Kino schlafen, heißt dem Film vertrauen

1.    Thats’s life von Blake Edwards

2.    Monaco Franze, Münchner Geschichten, Der ganz normale Wahnsinn von Helmut Dietl

3.    Jacqueline Bisset

4.    Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick

5.    Europavon Lars von Trier

6.    Tropical Maladyvon Apichatpong Weerasethakul

7.    Lost in Translationvon Sofia Coppola

8.    Barflyvon Barbet Schroeder

9.    Lola renntvon Tom Tykwer

10.    American Beautyvon Sam Mendes

11.    Tom Cruise

V    Das Gespenst der Freiheit

1.    James Stewart

2.    Hautnah von Mike Nichols

3.    Lara Craft: Tomb Raidervon Jan de Bont

4.   C’était un rendez-vousvon Claude Lelouch

5.    Bernd Eichinger

6.    Die innere Sicherheit von Christian Petzold

7.    Vergessene Welt: Jurassic Park von Steven Spielberg

8.    Jeanne Moreau

VI  Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt

1.    Himmel über der Wüste von Bernardo Bertolucci

2.    Michelangelo Antonioni

3.    Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten von Wim Wenders

4.    Die Reise ins Ichvon Joe Dante

5.    Stanley Kubrick

6.    Ben Hur von William Wyler

7.    Irreversibelvon Gaspard Noé

8.    Jonasvon Ottomar Domnick

9.    Gabriellevon Patrice Chéreau

10.    Hungervon Steve McQueen

VII  Schönheit, vom Frost konturiert

1.    Frank Sinatra

2.    24, Six Feet Under und andere Meisterwerke

3.    Nine Songsvon Michael Winterbottom

4.    Hairspray von John Waters

5.    Clint Eastwood

6.    Tiger & Dragon von Ang Lee

7.    Dem Himmel so fern von Todd Haynes

VIII  Die Netzhaut der Erinnerung

1.    11. September 2001

2.    2012von Roland Emmerich

3.    Jörg Fauser

4.    Der Totmacher von Romuald Karmakar

5.    Bad Lieutenantvon Abel Ferrara

6.    Minority Report von Steven Spielberg

7.    The 6th Dayvon Roger Spottiswoode

8.    Funny Gamesvon Michael Haneke

9.    Blake Edwards

10.    Herr Lehmannvon Leander Haussmann

IX   Lehrer

1.    Frieda Grafe

2.    Peter Buchka

Nachwort von Claudius Seidl

Namensregister

Vorwort

Der Mann, der das Kino liebte

Das schönste Vorwort zu einem Buch von Michael Althen wäre selbstverständlich jenes, welches er selber geschrieben hätte.

Kaum einer verstand sich besser darauf, seine Leser in wenigen eleganten Sätzen zu verstricken und gleichsam übergangslos ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu erringen. So zum Beispiel: »Das Schöne am Kino ist, dass manchmal schon die Art, wie jemand an seiner Zigarette zieht, genügt, um sich in einen Film zu verlieben.«

Schon im Anklang der ersten Zeilen: eine lakonische Verführung, ein verspieltes Versprechen, eine ungewöhnliche Behauptung – Spieleröffnungen, die uns schnell bereit machten, ihm neugierig in jenen dunklen Saal zu folgen, in welchem sich dann ein Vorhang öffnete, hinter dem eine weiße Wand zum Vorschein kam, auf die ein Projektor in jeder folgenden Sekunde 24 Lichtbilder warf … und aus denen, immer wieder einem kleinen Wunder gleich, eine synthetische Welt hervortrat, verlebendigt im Narrativ.

So technisch die Darstellung des oben beschriebenen Vorgangs anmutet, so un- oder fast antitechnisch ist Althens Zugang zu dieser Apparatur und ihren Hervorbringungen gewesen. Jenes Medium, das es in den gut 120 Jahren seiner Existenz zur populärsten und einflussreichsten Kunstform gebracht hat, es ist die große ästhetische Liebe des Autors Michael Althen gewesen. Und dieses Buch will davon Zeugnis sein.

Michael Althen war Filmkritiker. Es ist anzunehmen, dass er sich gegen einen weiter gefassten Berufsbegriff gewehrt hätte, auch wenn seine schreibende Arbeit den Raum des Filmischen nicht selten verließ. Neben seinen vielen Texten zum Kino schrieb er Kulturessays und Alltagskolumnen, er rezensierte Bücher, Musik, Malerei, er schrieb über Mode und Stil, über seine Frau und seine Freunde, er interviewte Superstars und seine eigenen Kinder, er verfasste Reiseberichte, Festivaltagebücher, er kommentierte Sportereignisse und politische Wendepunkte. Spät entdeckte er als Autor auch das Gegenwartstheater für sich. Althen war ein Mensch, der einen Gutteil seiner Erfahrungen durch den kulturproduzierenden Filter schleuste, und für den die Aufgabe, künstlerische Kraftfelder zu erforschen und in eine sinnstiftende Perspektive zum Leben hin zu rücken, maßgeschneidert war.

Und doch war Althen vor allem Filmkritiker, und zwar einer, der das Leben und das Kino in Komplizenschaft verbunden las. Und der die Durchdringung unserer Gegenwartserfahrung von fiktionalen Abbildern eines Gestern, Heute und Morgen als konstitutiv für unser Selbst- und Weltverständnis anerkannte. Die fabrizierten und die realen Bilder, sie überlagern einander zunehmend, und Althen ist im Lauf seiner Zeit zum schreibenden Zeitzeugen der Explosion dieser Entwicklung geworden. Was wir über uns und das Leben da draußen denken, setzt sich aus vielen Puzzlestücken zusammen, von denen nicht wenige dem Kino und seinen unzähligen Ablegern und Abspielstätten gehören – allen voran natürlich das dritte Auge unserer Zeit, der Computer. Althens Interesse galt sämtlichen Spielarten, in denen das Filmische seine Spuren hinterließ. Und den alten Fragen, die sich dort immer wieder neu stellten.

»Was ist schön?« zum Beispiel ist eine Frage gewesen, die ihn (im Nachdenken über Catherine Deneuve) ebenso interessierte wie »Was ist cool?« (unbedingt Robert Mitchum) oder »Was ist komisch?« (bei Blake Edwards etwa) oder »Was ist böse?« (Bad Lieutenant natürlich). Und so weiter. Im Kino fand Althen die erstaunlichsten Antworten auf beinahe alle Fragen unserer Existenz.

Und so versucht dieses Buch gar nicht erst, das gesamte Spektrum des Althenschen Schaffens zu umreißen, sondern konzentriert sich in seiner Auswahl ganz bewusst auf Michael Althen, den Cinephilen: den Mann, der das Kino liebte.

In den knapp dreißig Jahren seiner aktiven Zeit als Journalist hat Althen in vielen hundert Texten die spezifische Faszination untersucht, welche sich im Erlebnis einer kinematographischen Erzählung entfaltet.

Er hat dabei mit niemals nachlassender Inbrunst und Sorgfalt dem nachgespürt, was dem Kino spezifisch zu eigen ist, was es also kennzeichnet, er hat versucht auszuloten, woher die Wucht stammt, mit der es uns als Resonanzkörper treffen und unsere Empfindungen durcheinanderwirbeln kann. Und er hat dies mit der paradoxen Methodik eines emphatischen Forschers getan, in einem ununterbrochenen Wechselspiel von Immersion und Abstand. Althen war so etwas wie ein analytischer Träumer, der ohne Scheu in Werke eintauchen und dann, quasi von innen, wieder auf Abstand zu ihnen gehen konnte. Und der dabei dezent, aber spürbar seine Subjektivität ins Spiel brachte, deren Anteil am kritischen Schreiben zu leugnen ihm unlauter erschien, der sie aber zugleich entschlossen zurückstellte, wo ihm Abstand geboten schien.

Ein paradoxes Modell der Annäherung, gewissermaßen eine Fusion von Closeup und Totale, aber eben auch die Beschreibung einer konstruktiven, weil zugewandt kritischen Beziehung zwischen dem Mann und seinem Medium.

Einen frischen Althen-Text in der Süddeutschen, der Frankfurter Allgemeinen, in Tempo oder Steadicam (um nur einige seiner journalistischen Stationen zu nennen) aufzuschlagen, das war eine ebenso jähe wie bezaubernde Transformation des Leseraums. Urplötzlich fühlte man sich nämlich, als würde man mit einem freundlichen, aber auch geheimnisvollen Bekannten in einem Café in der Abendsonne sitzen, ein gutes Getränk in der Hand, und ihm dabei zuschauen, wie er auf seinem Stuhl die Beine ausstreckt, eine Zigarette anzündet und beginnt, einen interessanten Gedanken zu spinnen.

In anmutigen, manchmal geradezu tänzerischen Sätzen bugsierte er sich dann behende an den Kern manch unerklärlich scheinenden Dings heran und achtete dabei behutsam darauf, dass jener Kern niemals ganz enthüllt wurde: wie eine aus der Tiefe des Ozeans gehobene Schatzkiste, die ungeöffnet bleibt. Denn knacken mussten wir die Truhe schon stets noch selbst.

Es waren zahllose Inseln aus Zelluloid, die er für uns betrat, auskundschaftete und uns Pfade durch ihr unwegsames Gebiet freilegte – bis die gemeinsame Entdeckungsreise im Mai 2011 so jäh endete, wie es sich nicht mal die abgefeimtesten Drehbuchautoren hätten ausdenken können.

Michael Althen starb, 48-jährig. Mittendrin, gefühlt auf halber Strecke.

»Das Glück ist ein Ding mit Flügeln«, schrieb er 1990, »es kommt und geht, wie es ihm passt. Man kann es zum Bleiben nicht zwingen. Schon gar nicht im Kino.«

Es war, als hätte ein Cutter einen falschen, verheerenden Schnitt gemacht oder ein Projektionist zwei Akte übersehen und von der Mitte eines Films gleich auf seinen Abspann überblendet.

Ein Verlust, der – wenn überhaupt an irgendwen – in seiner Tragweite an André Bazin erinnert, den Vordenker der Nouvelle Vague, der 1959 ähnlich abrupt aus dem Leben gerissen wurde – und an all die Inseln, deren geheime Pfade uns fortan verborgen bleiben werden.

Was bleibt, natürlich, ist ein Archipel, ein umfangreicher zum Glück.

Wir sind bereit, dankbar zu sein für die Hinterlassenschaft. Vollendet ist das Werk eines Schreibenden ohnehin niemals. Und doch vergeht kein Tag, an dem nicht der Wunsch in mir wach wird, von ihm an die Hand genommen und auf einen stets so naheliegenden wie unerwarteten Weg in ein Kunstwerk hinein geleitet zu werden.

»Alles verschwindet: Warum also nutzen wir nicht die Chance, das, was die Künstler sichtbar machen, in uns aufzunehmen, um dereinst Zeugnis ablegen zu können?« Diese Frage stellte er 1998 im Andenken an seinen Mentor und Freund, den Kritiker Peter Buchka, und es liest sich wie ein erneut und mit Nachdruck verinnerlichter Auftrag an sich selbst.

Jeder kennt jene eigentümliche Melange aus Beglückung und Verwirrung, die ästhetische Produktion auslösen kann, wenn sie uns mit genuin neuartigen Assoziationen beschenkt, uns wie verzaubert, irgendwie auch überrumpelt zurück lässt. Insbesondere das Kino kann uns dabei zuweilen der Worte berauben, weil es uns etwa mit der Macht seiner physischen Repräsentationen die Besinnung raubt.

Nach einer solchen Erfahrung einen Text von Michael Althen zu erwischen, der dieses Erlebnis zunächst mal in adäquate Worte kleidet, der es fassbar macht und mitteilbar, und der dann eine Lesart anbot, die den Geist sozusagen wieder wachküsste, das gehörte zu den glücksbringenden Eigenschaften, mit denen dieser Autor gesegnet war.

Sicher, Übersetzung liegt im Wesen von Kritik. Aber wie kompliziert das manchmal ist, lernt man von Althen im Erlebnisvergleich.

Nehmen wir, zum Beispiel, Irreversible, absichtlich einen besonders widerspenstigen Bock von einem Film, eine Arbeit, die durch ihre Drastik geradezu fordert, dass man zu ihr auf Distanz geht; ein Film, der durch die Unzumutbarkeit des Gezeigten zwangsläufig widerwillige und ablehnende Reflexe auslöst. So sehr man ahnen, ja wissen mag, dass es hier um mehr geht als das allzu deutlich Sichtbare – dies Wissen trägt sogar zur Unerträglichkeit des Ganzen bei: Die aberwitzige Konkretion des Gezeigten übermächtigt unsere analytischen Kapazitäten. Der Körper wehrt sich gegen die Angebote an den sogenannten Kunstverstand. Perplex und durchgerüttelt verlässt man den Kinosaal. Dann liest man Althens Text. »Die Szenen sind purer Terror, und man könnte fragen, warum man sich das antun soll«, steht da an früher Stelle; gut, denkt der Leser, dass ich damit schon mal nicht allein bin. Aber dann häutet Althen Gaspar Noes Film Schicht für Schicht, in sorgfältiger Einbeziehung seiner eigenen Stresserfahrung, und enthüllt nicht nur des Filmemachers Geschick und Brillanz, er plädiert auch dafür, die Zärtlichkeit und vor allem die tiefe Traurigkeit der auf den Kopf gestellten Geschichte als geheimes Herz des Projekts zu lesen, und die Gewalt, die er uns und seinen Protagonisten zumutet, nicht als pure Provokation abzutun. »Man könnte aber auch fragen«, so schreibt er im Folgenden, »warum die Darstellung von Gewalt als das, was sie ist, schändlicher sein soll als die gesellschaftlich sanktionierten Darstellungsweisen, wo die Gewalt auch Opfer fordert, aber keinem weh tut, weil die Kamera vor den Folgen den Blick senkt.« So einfach ist das. Der Film erzählt eine unbarmherzige Rachegeschichte, aber er erzählt sie rückwärts, von hinten nach vorne, man sieht erst die Rache, dann, viel später, die gesühnte Tat, und »wenn es dann soweit ist, wächst der Tat nicht rückwirkend Verständnis zu. Durch die Verkehrung von Ursache und Wirkung weicht Noé vom genretypischen Rachemuster ab, mit dem Filme wie Ein Mann sieht rot ihre Gewalt zu legitimieren suchen.« Und da zum Schluss all die entsetzlichen Dinge eigentlich noch gar nicht geschehen sind, gibt es »ein Happy-End in einem todtraurigen Film, ein glücklicher Anfang, der sein bitteres Ende schon in sich zu tragen scheint, unfassbare Schönheit, die aus gnadenloser Brutalität entsteht. Der Film ist ein einziges Paradox, schon weil er seinen eigenen Titel Lügen straft. Er macht nichts rückgängig und schafft es doch, sich der eigenen Finsternis zu entwinden.«

Was für ein Film, mag man nach Ansicht von Irreversible gedacht haben. Was für eine Filmkritik!, dachte ich nach der Lektüre der Kritik.

Womit ein Thema angeschnitten wäre, das für Michael Althen ein wesentliches gewesen sein muss – wann begegnet der Leser meinem Text? In der Regel natürlich vor dem Erscheinen eines Films – sehr viel seltener danach. Das liegt in der – nicht unbedingt logischen, aber nachvollziehbaren – Natur von Kulturkritik: Sie soll Ereignissen vorauseilen oder sie zumindest begleiten. Damit wird der Autor, insbesondere der Filmkritiker, in die Verwertungskette eingegliedert. Teaser, Trailer, Stoßkampagne, Rezension, Kinostart. Auf einen Text, der eine Woche nach dem Kinostart eines Films erscheint, gibt das Marketingbüro keinen Pfifferling.

Aber auch deshalb ist dieses Buch eine bedeutende filmhistorische Fundgrube. Weil Althens Arbeit nicht nur zum Entdecken von filmischen Perlen, sondern ganz explizit auch zum Wieder-Sehen einlädt. Wer diese Textsammlung beiseitelegt und nicht von unwiderstehlicher Lust erfüllt ist, sofort ins Kino zu gehen oder zumindest die eigene DVD-Sammlung nach einem Dutzend der besprochenen Titel abzugrasen, dem ist nicht zu helfen. Denn die Texte sind weder Ankündigungen noch Fazits, sie schweben und rotieren zwischen diesen beiden Polen und entziehen sich nicht selten allzu eindeutiger Stoßrichtungen. Sie lesen sich im Vorhinein wie ein Versprechen – und im Nachhinein ebenso. Althen vorher lesen, Althen nachher lesen – beides ist wunderbar. Seine Uneitelkeit als Autor ging einher mit einer bemerkenswerten Distanz zum Apodiktischen. Sein Widerwille gegen alles Endgültige, gegen sogenannte »letzte Sätze« sowie der Respekt vor dem zu beschützenden Augenblick, den der Zuschauer noch vor sich hat, wenn er dem Werk begegnet: Das führte zu seiner so eigenwilligen Schreibform, die der Annäherung mehr zutraute als dem Urteil, die aber dennoch immer eine Haltung verriet. Auch hier, eine Art kategorischer Imperativ, der auf das Verhältnis von Werk und Reflektor angewandt erscheint: Was ich von der Kunst erwarte, muss die Kunst von mir erwarten können.

Seine Texte zählen somit zum Undogmatischsten, was sich an Kulturschriften finden lässt – er gehörte stilistisch keiner Schule und eigentlich auch keiner spezifischen journalistischen Tendenz an, so wie seine Vorlieben im Filmischen ein auffällig breites Spektrum umfassten. Er schien auch nach vielen Berufsjahren ein Kino immer wieder aufs Neue ohne dezidierte Erwartung betreten zu können, mit außergewöhnlicher Unvoreingenommenheit, bereit für das Vertraute, offen für das Unerwartete.

Ich lernte Michael Althen Mitte der Neunzigerjahre persönlich kennen. Das ist oft eigenartig, wenn jemand, mit dem man sich eigentlich schon seit Jahren im imaginären Diskurs befindet, plötzlich in Fleisch und Blut vor einem steht.

Die Art und Weise, in der er auf die Kunst und von dort aus auf die übrige Welt zu blicken schien, sie war ja schon längst Bestandteil der eigenen Rezeptionsmuster geworden. Jetzt stand da also dieser große, freundliche, etwas zurückhaltende Mann mit der weichen, tiefen Stimme und dem zarten bayrischen Akzent. Und war so unmittelbar vertraut. Die Mischung aus lässiger Höflichkeit und aufmerksamer Zuwendung; die Beheimatung im Undogmatischen; die gänzlich ideologiefreie Begeisterung für »E« und »U« gleichermaßen … alles, was an seinen Texten Verbundenheit stiftete, das umgab auch seine Person.

Weil jeder in der Auseinandersetzung mit der Filmkunst ein Gegenüber braucht, das die persönlichen ästhetischen Interessen und Präferenzen in angemessenem Maße teilt, aber zugleich anders genug ist, um den Blick auf all das Übersehene zu lenken, was uns entging im Strudel der Bilder, im Strom der Illusion; weil dieses Gegenüber vertraut und fremd zugleich bleiben muss, sein Planet der Rezeption aber mindestens so interessant wie der eigene, weil es so sagenhaft selten ist, dass einem so jemand begegnet – sei es als Leser oder als Freund – deshalb werden so außergewöhnlich viele Menschen diesen einzigartigen Autoren vermissen, der ihnen dieses Gegenüber war. In stillen Minuten, den Text in der Hand, beim Frühstück, auf Reisen, im Büro, im Bett.

»Vielleicht muss man in solchen Momenten vom Glück sprechen, einen Menschen wie ihn gekannt zu haben.« Das schrieb Michael einst über Peter Buchka, und nun schmerzt es fast bis zur Ohnmacht, dass dieser Satz der letzte dieses Buches ist, das so berückend verdeutlicht, was uns an ihm verloren gegangen ist.

Tom Tykwer, Juli 2014

I  Sie können mich doch nicht einfach anpusten!

1.    Catherine Deneuve

13. Februar 1998 | Süddeutsche Zeitung

François Truffaut hat 1969 geschrieben: »Letztes Jahr wurde Catherine Deneuve in dem amerikanischen Magazin Look als ›schönste Frau der Welt‹ bezeichnet. Schön ist Catherine Deneuve in der Tat, und zwar in einem Maße, dass jeder Film, dessen Heldin sie ist, im Grunde auf eine Story verzichten kann. Ich bin überzeugt, dass der Zuschauer schon glücklich wäre, sie einfach nur betrachten zu können, und dass allein diese Betrachtung ihr Geld wert ist.«

Ihr Ebenmaß fordert den Exzess geradezu heraus. So jemand kostet von allen Lastern einmal und wendet sich dann ab. Vor ihrem Leben versagt jede Vorstellungskraft. Eine große Langeweile umgibt sie deshalb manchmal. Was mag sie machen in den Salons, durch die sie wandelt? Die Etikette verfolgt sie in den Schlaf. Wovon träumt sie, von geometrischer Perfektion oder fleischlichen Vergehen?

Perfektion ist immer ein Frevel gegen die Gesetze des Kinos. Aber ihre Augen erzählen davon, dass sie all dies weiß. All die Erwägungen, ihre Schönheit betreffend, sind ihr bewusst. Tausendmal besungen, nie auch nur ans Herz gerührt. Im Grunde ist diese Schönheit nur als Fluch denkbar. Dauernd unterwegs als Botschafterin einer Sache, für die sie selbst am wenigsten kann.

Wer über sie nachdenkt, stellt sich unbewusst die Frage: Hat Catherine Deneuve die Versprechen, die ihre Erscheinung formuliert, eingelöst? In gewisser Weise hat ihre Karriere nicht gehalten, was diese Schönheit verspricht. In anderer Hinsicht hat sie jedoch viel mehr erreicht, als zu erwarten war. In dieser Spannung muss man ihre Filme betrachten. Genug ist nie genug. Sie ist immer zu wenig und zu viel zugleich. Enttäuschung und Überraschung. Was die Bilder zeigen, deckt sich nie mit der Erinnerung. Und die Erinnerung wird stets überfordert von dem, was man sieht. Dabei staunt man immer wieder, um wie viel lebendiger sie ist als die marmorne Erscheinung, die sich der Erinnerung eingemeißelt hat. Aber das ist auch kein Wunder, nachdem sie Brigitte Bardot als Verkörperung der Marianne abgelöst hat und jetzt in jedem französischen Rathaus eine Büste nach ihrem Vorbild steht.

Man darf nicht vergessen, dass sie sich selbst nach wie vor Dorléac nennt und Deneuve nur als Künstlernamen begreift. Diese Trennung ist ihr wichtig. Und vielleicht spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, dass sie nicht von Natur aus Blondine ist. Die Blondheit ist sozusagen eine bewusste künstlerische Entscheidung. Und sie trägt diese Haare wie eine Krone. Aber an der Augenpartie kann man sehen, dass sie dunkler ist, als sie tut.

Vergangenes Jahr hat sie nach drei Jahrzehnten des Schweigens ein Buch über ihre früh verstorbene, von ihr maßlos bewunderte ältere Schwester, die Schauspielerin Françoise Dorléac, veröffentlicht. Es ist durchaus bezeichnend, dass sie die Schwester als Spiegel benutzt – wie die Königin im Märchen –, weil deren Schönheit all das besaß, was ihrem Antlitz im Grunde abgeht: Wärme und Weichheit, den Geruch von Haut am Morgen und den Hauch eines Lächelns beim Abschied. Es ist ein bisschen langweilig, auf die Frage, wer die Schönste im ganzen Land ist, jedes Mal die gleiche Antwort zu erhalten: »Ihr, meine Königin, seid die Schönste im ganzen Land.« Die tote Schwester garantierte wenigstens noch den Zusatz: »Aber hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen gibt es eine, die ist noch viel schöner als Ihr.« Und Catherine ist wahrscheinlich die Einzige, die an dieses Märchen wirklich geglaubt hat.

Eine große Trägheit ist um sie herum, als wäre das Wasser des reißenden Erzählstroms dort, wo sie ist, ruhiger, weniger bewegt. Vielleicht kam das einem Surrealisten wie Buñuel, der an die Kraft der singulären Tat glaubt, entgegen: Ihr Gleichmut ist eine Provokation. Ihre Neugier ist nur getarntes Desinteresse. Oder umgekehrt. Noch mal Truffaut: »Catherine ist wie Greta Garbo eine Zeitlupen-Schauspielerin. Manche Schauspielerinnen bewegen sich zu viel und bringen den Rhythmus eines Films durcheinander. Catherine ist hingegen langsam; manchmal habe ich sie gebeten, etwas lebendiger zu sein, aber in der Regel habe ich ihre Ruhe, die jeder Szene ihre eigene Dichte verleiht, geschätzt.«

Roman Polanski hat mit Ekel (Repulsion) die Tiefe jenes stillen Wassers zu ergründen versucht. Schon die erste Frage an die gedankenverlorene Maniküre lautet: »Was ist? Schlafen Sie?« Tatsächlich scheint sie sich in einer Traumzeit zu bewegen, die mit dem betriebsamen, vergnügungssüchtigen London jener Jahre nichts zu tun hat. Man hat den Eindruck, um sie herum verstreiche die Zeit langsamer, laufe gar rückwärts.

Bei all der Unnahbarkeit und natürlichen Noblesse: In der Art, wie sie auf ihre Façon achtet, liegt auch eine Spur von Gewöhnlichkeit, die unter ihrem Adel kaum merklich durchscheint. Vielleicht ist es das, was Truffaut meint, wenn er spricht vom »Naturell der Nachkriegsmädchen, die durch nichts zu beeindrucken sind und eine gewisse Scham besitzen, die es ihnen unmöglich macht, sich völlig hinzugeben«. Da hat sie dann jedenfalls etwas von der gewollten Perfektion der Ladenmädchen, die sich nicht in die Karten blicken lassen wollen. Die ihre Spur verwischen, ihre Herkunft verschleiern, sich wie Larven verpuppen in der Hoffnung, dass jemand einen Schmetterling erkennt, wo nur ein kaltes Herz wohnt.

Im Grunde ist es ganz einerlei, welche Filme man heranzieht, um ihr Bild zu beschwören. Natürlich gibt es bessere und schlechtere, aber wie in einem zerbrochenen Spiegel reflektiert jede einzelne Scherbe stets das ganze Bild. So manifestiert sich auch in eher mittelmäßigen Filmen ein Talent, das den speziellen Erfordernissen des Kinos entgegenkommt. Das führt dazu, dass man sich bei ihr im Unterschied zu anderen Schauspielerinnen kaum Rollen vorstellen kann, in denen man sie gerne gesehen hätte. Wenn Truffaut in einem Brief schreibt, dass Warner Brothers nach Geheimnis der falschen Braut bei ihm angefragt hat, ob er nicht ein Remake von Casablanca mit Belmondo und Deneuve drehen wolle, dann gibt das keinen Stich des Bedauerns.

Unter der marmornen Ruhe, dem abschätzigen Blick, dem hochmütigen Lächeln liegt doch immer eine spürbare Nervosität, jene unerklärliche Unzufriedenheit schöner Frauen, die jederzeit umschlagen kann in Gefühlsausbrüche, die nur dazu da sind, Ursachen zu verschleiern. Man hat deshalb eigentlich nie den Eindruck, es handle sich bei ihr um eine glückliche Frau, sondern um jemanden, der auf der Suche ist, ohne zu wissen, wonach. Sicher ist nur, dass Männer ihr nicht geben können, was ihr fehlt.

Es liegt – und vielleicht muss das bei Frauen dieser Statur so sein – etwas zutiefst Destruktives in den Geschichten, die sie sich aussucht. Nicht ein Hauch von Zärtlichkeit, sondern ein Hang zum Unglück, mit dem sie sich selbst bestraft. Wofür, das wird sie wohl selbst kaum wissen. Aber sie hat – dieser Eindruck entsteht bei der Lektüre ihres Buches über die ältere Schwester – viel von dieser namenlosen Schuld auf den Tod von Françoise projiziert. Und am Ende ist es natürlich genau diese Ausstrahlung von Unzufriedenheit, welche ihren Bewunderern suggeriert, sie warte noch auf den Richtigen. Darin liegt die Provokation ihres Images. Sie wirkt irgendwie unbefriedigt, und der Irrtum der Männer ist es, diesen Mangel nur neurotisch interpretieren zu wollen, wo es doch eigentlich darum geht, Frieden zu finden. Aber den, so will es ein anderes Gesetz des Kinos, gibt es nur im Tod.

Catherine Deneuve hat einmal ihre Scheu vor allzu realistischen Rollen eigentümlich begründet: »Ich hatte eine physische Barriere. Das ist eine Frage der Physiologie, der Gesichtsmuskulatur, der Art, das Licht aufzunehmen.« Dass es vielleicht eine psychische Frage, eine Sache des Herzens sein könnte, wäre eine Erkenntnis, mit der sie naturgemäß nicht an die Öffentlichkeit geht.

Diese Abwehr allzu großer Wirklichkeitsnähe mag von einer Empfindung der Leere herrühren. Als befürchte sie Enttarnung, wenn ihr das Kino und die Kamera zu sehr auf den Leib rücken. Da stapelt Deneuve tief, weil sie glaubt, sie besäße keine der Tugenden, die Schauspieler gemeinhin auszeichnen. Dabei hat sie all die anderen Qualitäten, die dem Kino seinen eigenen Zauber verleihen: Fotogenität, Präsenz, Intelligenz. Die Kamera sieht, was ihr die Spiegel nicht zeigen können. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was jener Spruch besagt, wonach gilt: Beauty is only skin deep.

2.    A Single Man von Tom Ford

7. April 2010 | Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Schöne am Kino ist, dass manchmal schon die Art, wie jemand an seiner Zigarette zieht, genügt, um sich in einen Film zu verlieben. Oder wie einer einen Anzug trägt. Wobei es natürlich sehr hilft, wenn dieser Anzug von jemandem wie Tom Ford so geschneidert wurde, dass er wie 1962, aber nicht nach Kostümfilm aussieht. Dass man hinterher sofort so angezogen sein möchte wie Colin Firth als A Single Man, kann nur gegen den Film verwenden, wer nicht verstanden hat, dass die Mode zu den Künsten gehört, zu denen das Kino eine der innigsten Beziehungen pflegt.

Tom Ford ist der Mann, der in den Neunzigern Gucci runderneuert hat und für das Outfit von Daniel Craig als Bond verantwortlich war. Die Idee, Christopher Isherwoods legendären Schwulenroman zu verfilmen, hat er lange vor sich hergetragen, ehe er so weit war, das Projekt wirklich in Angriff zu nehmen. Herausgekommen ist ein Film, der gar nicht leugnen will oder kann, dass er von einem Modemacher in Szene gesetzt worden ist. Jede Einstellung ist eingerichtet wie ein Schaufenster, das Ganze eine einzige große Modestrecke, und natürlich ist das kein besonderes filmisches Verfahren, aber eben eines, das der Schaulust stark entgegenkommt.

So wie in der Mode auf Gesichter für Kampagnen gesetzt wird, so hat Ford für diese Herzensangelegenheit von einem Film auf Colin Firth gesetzt und gewartet, bis er verfügbar war. Dieses Casting ist nicht so sehr ein Coup, weil die Wahl so überraschend wäre, sondern weil sie als einzig mögliche erscheint. Firth spielt George Falconer, einen englischen Literaturprofessor, der seit Jahren an einem College in Los Angeles lehrt und beschlossen hat, sich umzubringen, weil der Verkehrstod seines langjährigen Lebensgefährten eine Leere hinterlassen hat, über die er nicht hinwegkommt.

Wenn der Film beginnt, sieht man noch mal die Szenerie des Unfalls und wie George sich hinabbeugt, um die Lippen seines toten Freundes zu küssen – doch dann erwacht er aus diesem Albtraum in einen weiteren Tag, dem er durch seine Gewohnheiten und Rituale eine weiterhin perfekte Form zu verleihen versucht, obwohl ihm doch der Inhalt längst abhandengekommen ist. Und Colin Firth ist genau der Mann, der daraus ein Ereignis macht, wie jemandem, dem das Wahren der Fassung zur zweiten Natur geworden, der Sinn hinter den Dingen entglitten ist. Er schafft es, durch diese Welt zu wandeln und sie mit einer Zärtlichkeit zu berühren, die aus dem Wissen um die flüchtige Schönheit der Dinge rührt und aus der Trauer, bei der Berührung nichts mehr zu empfinden. Insofern ist A Single Man durchaus ein Wiedergänger von Louis Malles Irrlicht, in dem Maurice Ronet einen letzten Tag unter den Lebenden verbringt, nachdem er beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Das sind natürlich alles andere als Empfindungen, für die man mit dem Oscar ausgezeichnet wird, und so ist es schon erstaunlich genug, dass Firth immerhin nominiert war. Und das hat wahrscheinlich mit jener Großaufnahme zu tun, bei der man ihn in einer Rückblende sieht, wie er am Telefon vom Tod seines Freundes erfährt und ihm beschieden wird, dass die Familie auf seine Anwesenheit bei der Beerdigung keinen Wert lege – wie er versucht, die Fassung zu wahren, wie er seine versagende Stimme zur Disziplin zwingt und wie ihn nach dem Ende des Gesprächs dann die bleierne Gewissheit in den Sessel drückt und seine Augen überlaufen lässt, während es draußen in Strömen regnet, ist so erschütternd, dass es quasi alles beglaubigt, was den Film sonst nur an der Oberfläche zu bewegen scheint.

Denn wenn es in Los Angeles so etwas wie Jahreszeiten gäbe, dann wäre hier alles ins goldene Licht des Herbstes getaucht, aber weil eben die Natur für dieses letzte Glühen der Farben nicht zur Verfügung steht, sind es die Oberflächen, die immer wieder einen farbigen Glanz ausstrahlen, als wollten sie im nächsten Moment vergehen. Und Ford und sein Kameramann Eduard Grau sind sich auch nicht zu fein dafür, diesen Effekt immer wieder zu betonen, indem sie auf ihrer entsättigten Palette gedämpft kühler Töne gelegentlich Farben erblühen lassen, die Lippen einer Frau, die Wange ihres Freundes, das Kleid eines Mädchens oder das Licht über der Stadt.

Tom Ford drückt dabei manchmal ganz buchstäblich auf die Tube. Wenn ein junger Mann mit George flirtet, dann parkt sein Mercedes nicht nur genau zwischen den Augen eines Posters für Hitchcocks Psycho, sondern die ganze Szenerie färbt sich auf eine Weise purpurn, als seien die Zeiten von Technicolor noch in voller Blüte. Das wirkt vielleicht manieriert, aber andererseits sind es eben solche bildlichen Exzesse, die einen Eindruck davon vermitteln, dass unter der durch und durch gepflegten Erscheinung dieser elegischen Welt des Jahres 1962 bereits etwas anderes brodelte, was als Pop die Zukunft in ein ganz anderes Licht rückte. Und wenn in der schönsten Szene Colin Firth und Julianne Moore zu Green Onions von Booker T tanzen, dann ist das auch deswegen so herzzerreißend, weil den beiden klar ist, dass sie mit dieser Musik schon nicht mehr gemeint sind.

3.    Unter den Brücken von Helmut Käutner

21. Februar 2010 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man könnte jetzt wieder anfangen, von der Szene mit der widerspenstigen Haarlocke zu erzählen, die Hannelore Schroth so lange in die Stirn fällt, bis ihr Gegenüber Carl Raddatz sich nicht mehr zurückhalten kann und einfach pustet. Woraufhin jener Satz fällt, den keiner vergisst, der ihn je gehört hat: »Sie können mich doch nicht einfach anpusten!«

Aber das würde diesem Film nicht ganz gerecht werden, so wenig wie man Casablanca auf »Ich seh’ dir in die Augen, Kleines« reduzieren kann. Und das nicht nur, weil Unter den Brücken, wie Casablanca, gleich mehrere Szenen hat, die sich unauslöschlich einprägen, sondern weil in diesem Film, wie in allen Meisterwerken, alle Qualitäten unauflöslich miteinander verwoben sind.

Und weil es deshalb egal ist, womit man anfängt, weil auch die Konstellation ganz einfach ist – zwei Freunde (Carl Raddatz und Gustav Knuth) auf einem Schleppkahn werden durch eine Frau (Hannelore Schroth) zu Konkurrenten –, muss man vielleicht als Erstes noch mal die wirklich einzigartige Position dieses Films erläutern, der eine Art Waisenkind der deutschen Filmgeschichte ist. Denn erstens wurde er 1944 gedreht – zur gleichen Zeit etwa wie Veit Harlans Durchhaltefilm Kolberg – und hat mit dem Kino jener Jahre wirklich nichts am Hut; und zweitens kam er während des Krieges gar nicht mehr zur Aufführung und wurde nach Festivalauftritten 1946 in Locarno und Stockholm überhaupt erst 1950 in der Bundesrepublik gezeigt. Erst war er quasi unter der Gegenwart des Krieges abgetaucht, und dann war die Zeit über ihn hinweggegangen. Von Christian Petzold stammt die Formulierung, der Film sei sozusagen desertiert. Dabei ging es ihm gar nicht darum, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen, sondern den Blick auf Wahrheiten zu lenken, die jenseits der Propaganda lagen. Und nur der Schleppkahnperspektive ist es zu verdanken, dass sich der Krieg und seine Schäden überhaupt ausblenden ließen. Und Käutners Entschlossenheit, dem Elend etwas entgegenzusetzen: »Viele Wochen lang, während der Ring um Berlin immer enger wurde, haben wir draußen im Havelländischen gedreht, bei Rathenow, Havelberg und Potsdam. Oft mussten wir uns neue Motive suchen, weil die alten inzwischen durch Bomben zerstört waren. Manchmal saßen wir stundenlang im Boot und warteten auf eine bestimmte Wolkenkombination, um eine besondere Stimmung einzufangen, oder wir warteten, bis ein Baumwipfel durch das Drehen des Bootes im Strom ins Bild kam. Die Nächte verbrachten wir meistens mit unseren sorgsam gehüteten Apparaturen unter Brücken, ohne zu wissen, dass in diese längst Sprengsätze eingebaut waren.«

Käutner verschloss nicht die Augen vor dem Krieg, sondern träumte sich fort in eine Welt, in der sich nicht alles darauf bezog. Gerade in dem Bemühen, eine besondere Stimmung einzufangen, indem man sich ganz der Natur überantwortet, weist Unter den Brücken über seine Entstehungszeit hinaus und wird im Grunde zeitlos. Denn zum einen ist der ganze Tonfall dem französischen poetischen Realismus verwandt, und zum anderen ahnt er voraus, was nach dem Krieg der italienische Neorealismus dann realisieren würde. Dass er historisch so nicht wahrgenommen wurde, sondern unter dem Radar der Filmgeschichtsschreibung blieb, heißt ja nicht, dass man ihm diese Stellung nicht rückwirkend zuweisen dürfte. Auch wenn seine Folgenlosigkeit im Grunde genau benennt, was am deutschen Kino der Nachkriegszeit faul war. Und so konnte noch nicht einmal Käutner selbst an diesen Glücksfall je wieder richtig anknüpfen.

Man muss also noch mal in den Film eintauchen, dessen Titel eben nicht die Sprengsätze bezeichnet, sondern die Perspektive der Schiffer, die – daran lässt der Vorspann keinen Zweifel – von dort aus den Mädchen unter die Röcke blicken können. Und dass die beiden keine Gelegenheit auslassen, von der Sehnsucht der Mädchen nach dem ungebundenen Leben zu profitieren, das wird gleich in den ersten Minuten geklärt. Und dass es die Mädchen mit der Treue auch nicht so genau nehmen, sieht man erst mal an der Knef, die in einer kleinen Rolle erst Raddatz beim Abschied eine Szene machen will, ihn dann aber beim falschen Vornamen nennt, und auch daran, dass die beiden ahnungslosen Kahnschiffer von derselben Kellnerin in ein Café einbestellt werden, wo sich dann aber herausstellt, dass sie längst eine bessere Partie ins Auge gefasst hat. Kurz: Der Anfang ist schon mächtig frivol und lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Frauen in Ermangelung von Männern – die alle an der Front verheizt wurden – stark um ihr Auskommen sorgen, finanziell wie sexuell.

Eines Abends stoßen die beiden an der Glienicker Brücke auf eine Frau (Schroth), von der sie irrtümlich annehmen, sie wolle sich das Leben nehmen, und ihr anbieten, sie auf ihrem Kahn in die Stadt mitzunehmen. Dass sie von ihrer schlesischen Familie getrennt in Berlin lebt, gehört zu den wenigen direkten Verweisen auf die Gegenwart des Jahres 1944. Aber wichtig sind weder ihre Herkunft noch die Missverständnisse, was ihre Situation angeht, wichtig ist ihre Präsenz auf dem Kahn und wie das die Freundschaft und das Gleichgewicht zwischen den Männern verändert.

Klar ist natürlich, dass Carl Raddatz, der Heldendarsteller jener Jahre, die Nase vorn hat bei ihr, während Gustav Knuth, der klassische Charakterdarsteller, ihre Sympathien hat. Es gibt eine wunderbare Szene, in der dieser Unterschied auf den Punkt gebracht wird. Auf dem Kahn gibt es nämlich eine Gans namens Vera, die kleine Kunststückchen machen kann, die Knuth nur allzu gern vorführt: Gib Pfötchen, Vera! Es kommt aber der Moment, wo die Gans ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wird und verspeist werden soll. Die Schroth ist von der Herzlosigkeit der Männer entsetzt; Knuth schlägt sich auf ihre Seite und sagt: »Siehste, ich hab’ dir immer gesagt, bring der Gans keine Kunststücke bei! Man schmeckt sie ihr sowieso nicht an.« Nur Raddatz lässt sich davon nicht beirren und beißt trotzig und beherzt in die Gänsekeule. Aber wie im wirklichen Leben ist die Schroth von Knuths Einfühlungsvermögen unbeeindruckt und zieht den Mann vor, der zubeißt.

Man könnte auch davon reden, wie Raddatz ihr schon am ersten Abend auf dem Kahn die Angst vor den ungewohnten Geräuschen genommen hat, indem er aus all dem nächtlichen Gluckern und Platschen eine Musik komponiert hat, oder eben doch davon, wie nach der aus der Stirn gepusteten Haarlocke die Kamera diskret aufs Fenster zufährt, wo die Zigarrenreklame und die Hochbahn ihr einsames nächtliches Zwiegespräch führen, aber das muss man vielleicht selbst entdecken und bewundern. Stattdessen könnte man noch mal versuchen zu benennen, warum der Film so aus der Zeit gefallen ist.

Da wäre zum einen der Umstand, dass am Ende ziemlich klar ist, dass die Frau sich zwar entschieden hat, das Arrangement aber nur zu dritt funktioniert. Und zum anderen, dass dieser flotte Dreier sich niemals mit einem eigenen Motor selbstständig machen, sondern auf ewig die Existenz als Schleppkahn vorziehen wird. Und das war im Wirtschaftswunderfuror nicht die Haltung, mit der sich irgendwer identifizieren wollte. Aber im Kino ist das eine der schönsten Utopien, die man sich denken kann.

4.    Aviator von Martin Scorsese

19. Januar 2005 | Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Film, den heute jeder als Citizen Kane kennt, sollte ursprünglich American heißen. Niemand weiß das besser als der Autor John Logan, der über die Entstehung des Meisterwerks von Orson Welles ein Drehbuch schrieb, das vor fünf Jahren unter dem Titel RKO 281 verfilmt wurde. So ist es kein Wunder, dass sich auch in Logans Drehbuch zu Martin Scorseses Aviator Anleihen bei Citizen Kane finden, die Scorsese bereitwillig aufnahm, weil sie seinen Ambitionen entgegenkamen, endlich das große amerikanische Epos zu drehen. Aviator wurde ein Film, bei dem es sich der Regisseur nur aus Bescheidenheit versagte, ihn American zu nennen. Dabei ist die Geschichte vom Helden, der für seine Größe seinen Preis zahlt, amerikanisch durch und durch.

Scorseses Held Howard Hughes ist der Inbegriff des exzentrischen Milliardärs, in seinen brillanten Anfängen genauso wie in seinem trüben Ende. Mit achtzehn erbte er von seinem Vater die Ölbohrfirma Hughes Tools, und weil er bis zu seinem 21. Geburtstag warten musste, bis er an das gesamte Vermögen herankam, vertrieb er sich die Zeit in Hollywood, wo er Geschmack an der Filmerei und den Frauen fand, welche wiederum mit seiner Leidenschaft für die Fliegerei konkurrierten. Im Idealfall ging das alles zusammen wie in Höllenflieger (Hell’s Angels), Hughes’ sagenhaft teurem Kampffliegerfilm über den Ersten Weltkrieg. Das bestimmte das Bild, das sich die Welt von ihm machte: der perfektionistische Filmemacher, der legendäre Frauenheld, der tollkühne Flieger. Er riskierte Kopf und Kragen, indem er einen Flugrekord nach dem anderen aufstellte, und sein Vermögen, indem er immer noch schnellere und größere Flugzeuge bauen ließ. Sein letztes Projekt wurde zum Sinnbild seines Wahns: Die Hercules war das größte je gebaute Flugzeug und verschwandnach ihrem Jungfernflug 1947 für Jahrzehnte in einem eigens gebauten Hangar, wo sie unter enormen Kosten flugbereit gehalten wurde, ohne sich je wieder in die Lüfte zu erheben.

Das Schicksal des gigantischen Flugboots korrespondiert mit Hughes’ eigener Geschichte. Der Milliardär zog sich immer weiter zurück, hauste im Hotel Desert Inn in Las Vegas und war in seinen letzten Jahren so verwahrlost, dass man nach seinem Tod 1976 Fingerabdrücke nehmen musste, um ihn zu identifizieren. Als verfilztes, bärtiges Phantom war er am Ende ebenso legendär wie in seinen Anfängen als Lichtgestalt. So bizarr erscheint dieses Bild vom Schattenmann in seinem einsamen Palast in der Wüste, dass Scorsese und Logan beschlossen haben, die Geschichte vom Aviator nicht von hinten aufzurollen. In Ansätzen hatte das übrigens auch Jonathan Demme 1980 in seinem Film Melvin und Howard gemacht, der allerdings mehr von Melvin als von Howard hatte.

Der Horizont, vor dem sich diese Biografie entspinnt, ist in Aviator also nicht der Wahn des späten Hughes, sondern jene Grenze, die in jeder amerikanischen Heldengeschichte vorangetrieben werden muss: die Eroberung von Neuland, die Vision, dass es hinter dem, was man kennt, immer noch etwas gibt, was es lohnt, über sich und das Menschenmögliche hinauszuwachsen. Im Fall von Hughes war der Himmel die Grenze, die er mit seinen Flugzeugen immer aufs Neue durchbrechen wollte. So muss der Film schon 1947 enden, wenn Hughes am Steuer der Hercules den Zweiflern beweist, dass sein Ungetüm tatsächlich fliegen kann – ein Mann, der die Schwerkraft überwindet und als solcher eigentlich das Gegenteil aller Scorsese-Helden ist, welche Erlösung suchen und doch auf dem Boden der Tatsachen bleiben müssen.

Und doch bleibt sich Scorsese auch in Aviator treu, weil er den Zwang seiner Helden, sich von ihren Sünden zu reinigen, diesmal ganz wörtlich nimmt. Denn sein Hughes ist ein Zwangscharakter, dessen Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel so weit geht, dass er eigentlich nur in seinen Flugzeugen fernab der Erde und der Menschen zur Ruhe kommt. Schon in der ersten Szene sieht man ihn als Achtjährigen, den seine Mutter im Waschzuber einseift und eindringlich vor der Ansteckungsgefahr der damals wütenden Choleraepidemie warnt. Wie ein Mantra lässt sie ihn das Wort »Quarantäne« buchstabieren, das einen Sog entwickelt wie das magische Wort »Rosebud« in Citizen Kane. Wobei die Szene in ihrer Bedeutungshaftigkeit weniger dem Film zu helfen scheint als eben der Ambition, es Orson Welles gleichzutun.

Jedenfalls verfolgt Hughes der Waschzwang ein Leben lang. Überall trägt er seine eigene Seife in einer Silberschachtel mit sich, schrubbt sich die Hände blutig, ekelt sich vor rohem Fleisch und wagt nicht, die Türknäufe in öffentlichen Toiletten anzufassen. So ausgeprägt sind seine Phobien, dass es als ultimativer Liebesbeweis gilt, wenn er aus derselben Milchflasche trinkt wie Katharine Hepburn. Auch bei Scorsese mündet dieser Wahn bereits in Szenen, in denen sich Hughes für Wochen zurückzieht, unter seinem Bart verschwindet, die Fingernägel zu Krallen wachsen lässt und seinen Urin in Milchflaschen sammelt. Aber gerade wenn man sich daran erinnert, wie in Taxi Driver oder in Wie ein wilder Stier (Raging Bull) der Wahn als innerste Konsequenz geschildert wurde, wirken sie eher pflichtschuldig eingefügt. Zumal Hughes für seine finalen Auftritte auf wundersame Weise alles abzuschütteln scheint, was ihn vorher bedrängt hat.

Wenn man so will, dann merkt man diesem Film an, wie sehr Scorsese den Erfolg sucht, der ihm den längst überfälligen Oscar bringt. Er hat scheinbar alles, was er braucht, eine große Geschichte, große Stars. Leonardo DiCaprio ist dem jugendlichen Elan von Hughes genauso gewachsen wie seinen Macken. Cate Blanchett als Katharine Hepburn trifft den Ton des Vorbilds ganz gut, aber für eine große Leidenschaft reicht es schon deshalb nicht, weil sich die beiden nur in ihrer Entrücktheit finden. Was Scorsese an ihr hat, weiß man allerdings, wenn man sieht, wie blass Kate Beckinsale als Ava Gardner bleibt. Aber all diese Affären sind auch nur ein vergeblicher Versuch des Helden, aus der eigenen Hölle erlöst zu werden. So ist es am Ende wie immer bei Scorsese: Männer, die um sich selbst kreisen und sich wundern, dass die Frauen irgendwann nichts mehr von ihnen wissen wollen. Bei aller technischen Brillanz, deren Kühnheit einen immer wieder staunen lässt, wirkt das doch auch irgendwie abgeschmackt. Hoffentlich gewinnt Scorsese mit Aviator endlich seinen Oscar, damit er vom künstlich langen Atem ablassen und zur Atemlosigkeit seiner früheren Filme zurückfinden kann. Denn die waren auch ohne Oscar wirklich großes Kino.

5.    Dean Martin

27. Oktober 1999 | Süddeutsche Zeitung

Wahrscheinlich muss man dabei gewesen sein, um es glauben zu können. Muss gesehen haben, wie ein paar Jungs in Anzügen auf die Bühne gingen und der Welt weismachten, wo sie sind, sei oben. Sie sangen ein paar Songs, tranken ein paar Drinks und rissen ein paar Witze. Alles strahlte in ihrem Glanz, und jeder, der dabei war, hoffte, etwas davon werde auf ihn abfärben. Das war im Sands in Las Vegas, in der Villa Venice in Chicago oder im Fontainebleau in Miami – so um 1960 herum.

Wenn man die Augen schließt und die Aufnahmen hört, kann man es sich vorstellen: »Direkt von der Bar …« hieß es stets in der Begrüßung, dann kam Dean Martin auf die Bühne, Zigarette im Mund, Drink in der Hand, und wenn der Applaus verebbt war, drehte er sich zum Orchester um und fragte: »Wie lange bin ich schon dran?« Dann kam ein Song oder zwei, manchmal auch nur ein halber und die Bemerkung: »Wenn Sie den Song hören wollen, kaufen Sie sich die Platte.«

Dann holte Dean die anderen Jungs auf die Bühne, Sinatra oder Sammy Davis jr., die in der Regel auch zu Ende sangen, was sie begonnen hatten, weil sie die Sache generell ernster nahmen als ihr Kumpel und weil ihnen das Improvisieren nicht so leichtfiel. Wenn Dean seine Songs abbrach, lachten die Leute – wenn die anderen das versuchten, gab es nur eine Pause.

Schließlich baten sie noch Joey Bishop hinzu, einen Komi