Lieblingsgefühle - Adriana Popescu - E-Book
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Adriana Popescu

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Beschreibung

Als Layla von ihrer Weltreise zurückkehrt, warten in Stuttgart viele neue Lieblingsmomente auf sie: die erste eigene Foto-Vernissage, das erste Treffen mit ihrem neuen Galeristen und vor allem das lang ersehnte Wiedersehen mit Tristan. Alles scheint endlich perfekt. Doch während Layla sich über ihren plötzlichen Erfolg freut und eine neue Welt voll großer Chancen entdeckt, bemerkt sie nicht, dass sie alles, was ihr einmal wichtig war, verlieren könnte …

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Für Maita – für jedes Lieblingsgefühl, deinen Mut, die Liebe und die Inspiration!

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

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ISBN 978-3-492-96652-8

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung mehrerer Motive von iStockphoto

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Liebe Layla,

irgendwie ist in letzter Zeit alles schiefgegangen, und ich weiß nicht einmal genau, wann wir uns verloren haben. Oder warum.

So endet also unsere Geschichte. Sie war wunderschön, und mein Innerstes würde einfrieren, wenn du die Zeit mit mir in schlechter Erinnerung behalten würdest, nur weil das Ende nicht mehr ganz so schön war.

Ich weiß, dass ich nicht besonders gut im Verabschieden bin, aber ich habe damals versprochen, dir einen Lieblingsmoment zu schenken, wann immer du einen brauchst. Sogar am anderen Ende der Welt. Das hier ist mein letzter Lieblingsmoment für dich. Ich möchte, dass du weißt, dass ich mich an jede einzelne Sekunde mit dir so erinnern werde, wie sie war: vollkommen.

So wie du.

Ich werde dich immer lieben.

Und du wirst mir immer fehlen.

Aber zumindest eine Nacht lang hat der Himmel uns gehört.

Mach’s gut

Tristan

Ich trage ein enges schwarzes Kleid und fühle mich ein bisschen wie eine Figur aus Sex and the City. Beccie hat es sich nicht nehmen lassen, mir dabei zu helfen, heute Abend so auszusehen, als hätte ich einen Personal Trainer, einen Maskenbildner und eine Hairstylistin, und ich muss einfach sagen: Meine beste Freundin ist ein Genie, denn ich sehe gut aus, verdammt gut sogar! Aber das muss ich auch, immerhin sind einige potenzielle Kunden und eventuelle Arbeitgeber hier.

Das Café Galao ist bekannt für seine außergewöhnlichen Ausstellungen und Musikevents, und ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass das nette Café sich dazu bereit erklärt hat, meine Stuttgart-Fotos auszustellen. Aber genau das tun sie gerade. Also stürze ich mich ins Getümmel, schüttle Hände und bin überrascht, wie viele Menschen der Einladung gefolgt sind. Die meisten Gesichter erkenne ich, denn fast alle meine Freunde sind da, und Thomas ist sogar extra aus Österreich angereist, weil er sich das hier nicht entgehen lassen wollte und einige seiner Songs zum Besten geben wird. Thomas Pegram singt live bei der Vernissage meiner eigenen Ausstellung! Wer mir das vor einigen Monaten gesagt hätte, hätte sicherlich nicht mehr als ein müdes Lächeln von mir bekommen. Doch jetzt stehe ich hier, und alles, was ich damals nicht zu wünschen wagte, ist Realität geworden.

Auf der anderen Seite des Cafés sehe ich Marco, der die ganze Organisation übernommen hat und mir stolz zuzwinkert. Er hat an mich geglaubt, und mich jetzt hier zu sehen, macht ihn ganz offensichtlich glücklich. Ich weiß nicht, womit ich ihn verdient habe. Stumm forme ich das Wort »Danke«, und er nickt nur grinsend.

Da berührt eine Hand meine Schulter, und obwohl mich inzwischen schon einige Leute auf diese Weise begrüßt oder beglückwünscht haben, zieht sich mein Herz noch immer jedes Mal zusammen, wenn jemand neben oder hinter mir auftaucht und mich so berührt. Dafür gibt es aber auch einen guten Grund: Er hat versprochen zu kommen.

»Hi.«

Aber er ist es wieder nicht. Trotzdem stiehlt sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Ich drehe mich um und weiß, dass ich die Stimme und auch das Gesicht nur zu gut kenne. Immerhin waren wir jahrelang ein Paar.

»Hallo, Oli.«

Er sieht wie immer gut aus, in seinem dunkelgrauen Anzug und dem hellen Hemd. Die Haare sind etwas länger, und er scheint sie nicht mehr mit einer seriösen Banker-Frisur zu zähmen. Seine blonden Locken dürfen sich sogar leicht wellen. Hübsch. Dieser eher lässige Business-Look steht ihm gut.

Wir lächeln uns freundlich an, aber keiner weiß so recht, was er sagen soll. Das ist doch albern. Also mache ich einen kleinen Schritt auf ihn zu und nehme ihn fest in den Arm.

»Schön, dass du da bist.«

Zu meiner Erleichterung hält er mich ebenfalls fest an sich gedrückt. Zwischen uns ist alles okay. Gut. Das freut mich, weil nachdem, was vor meiner großen Weltreise passiert ist, die mich die letzten neun Monate rund um den Globus geführt hat, hätte es auch anders ausgehen können. Er lässt mich wieder los und strahlt mich an.

»Tolle Ausstellung.«

»Danke.«

Sein Lächeln wird zu einem wissenden Grinsen.

»Aufgeregt?«

»Ich bekomme gleich einen Herzinfarkt.«

Er kennt mich gut genug, um zu wissen, wie ungerne ich im Mittelpunkt stehe und wie nervös ich wirklich bin.

»Das musst du nicht. Deine Fotos sind toll. Sie berühren einen tief im Inneren. So habe ich Stuttgart noch nie gesehen, und du siehst wirklich bezaubernd aus.«

Seine Stimme klingt vertraut, aber solche Komplimente aus seinem Mund erscheinen mir doch irgendwie fremd. Als wir noch zusammen waren, fiel es ihm viel schwerer, so etwas zu sagen. Da hat er mich lieber darauf hingewiesen, was ich noch besser hätte machen können. Aber jetzt sieht er mich einfach nur stolz an. Eigenartig.

»Danke, Oli.«

Er betrachtet die Bilder hinter mir und schenkt ihnen ehrliche Aufmerksamkeit. Meine Muskeln verkrampfen sich leicht. Ich wette, er wird mir gleich wieder sagen, was ich doch noch verbessern könnte und was den Fotos fehlt. Er war immer mein ehrlichster und härtester Kritiker.

»Sie sind perfekt.«

So fasziniert, wie er meine Bilder anstarrt, starre auch ich ihn an. Wer ist dieser Mann? Und was hat er mit meinem Ex-Freund gemacht? Er bemerkt meinen Blick und lächelt mich entwaffnend an.

»Ich bin stolz auf dich, Layla.«

Bevor ich etwas erwidern kann, nickt Oliver mir zu, tätschelt mir die Schulter und lässt mich wieder alleine mit meinem Erfolg – und auch mit dem Nachhall seiner Worte in meinem Kopf. Was war das? Er ist stolz auf mich? Manchmal muss man offenbar einfach mal um die ganze Welt reisen, um das zu bekommen, was man sich jahrelang so sehr gewünscht hat. Wer hätte das gedacht?

Plötzlich steht Beccie neben mir, drückt aufgeregt meinen Unterarm und holt mich damit zurück in die Realität. Sie strahlt mich an und scheint den Trubel um uns herum ebenso wenig fassen zu können wie ich: Ja, wir stehen hier zusammen in tollen Kleidern auf meiner ersten echten Ausstellung.

»Das ist der Hammer! Der absolute Hammer! Alles, was Rang und Namen hat, ist hier. Wahnsinn!«

Sie greift nach einem Glas Sekt und schaut sich die zahlreichen Besucher mit einem breiten Grinsen an.

»Und ich kann allen sagen, dass ich dich schon vor deinem großen Durchbruch kannte.«

»Durchbruch, klar.«

Sie sieht mich mit großen Augen an.

»Wie würdest du es denn sonst nennen?«

»Zufall? Glücksfall? Missverständnis?«

»Quatsch. Du hast dir das alles hier hart erarbeitet. Niemand hat dir irgendwas geschenkt. Das ist kein Glück, Süße. Das ist der Lohn der Mühen. Plus eine gehörige Portion Talent.«

Ich lächle sie an, weiß aber auch, dass mich alle hier im Raum durchschauen werden. Spätestens in drei Minuten. Dann werden alle sehen, dass ich nicht das Zeug zur echten Fotografin habe. Dann lassen sie mich fallen, nehmen mir meine Eintrittskarte für den Club der coolen Stuttgarter wieder weg und schicken mich auf Abi-Feten, um betrunkene Kinder zu knipsen. Ich bin keine Künstlerin, ich bin Event-fotografin. Alle sehen das, nur keiner will es mir ins Gesicht sagen. Sie wollen mir meine fünfzehn Minuten Ruhm nicht verderben, aber sie wissen es. Diese Angst breitet sich immer weiter in meinem Inneren aus, aber noch ist es nicht so weit. Noch kann ich den Moment genießen. Noch sollte ich den Moment genießen, bevor er für immer vorbei ist.

Beccie und ich mischen uns unter die Menschen, plaudern, nicken ihnen zu, und ich nehme mit immer roter leuchtenden Wangen immer unglaublichere Komplimente an.

Vor einem Bild bleiben wir schließlich stehen. Es zeigt einen jungen Mann in einer tanzenden Menschenmenge. Er steht ganz still da, hat die Augen geschlossen. Ohne ihn gäbe es die Fotos nicht. Ohne ihn gäbe es vieles nicht. Ich betrachte das Foto und stelle erneut fest, wie vertraut mir sein Gesicht geworden ist. Ich atme tief durch. Gleich müsste er da sein. Wir werden uns wiedersehen. Zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit.

Ich muss daran denken, wie er so urplötzlich in meinem Leben war. Durch einen dummen Zufall, und dann hat eines zum anderen geführt. Wir saßen im Park und haben Burger gegessen, in den Weinbergen beim Württemberg eine unglaubliche Nacht mit Sternschnuppen und Wahrheit oder Pflicht verbracht. Wir sind uns mit jeder gemeinsamen Minute nähergekommen, und als wir endlich zusammen waren, habe ich eine 180-Grad-Drehung in meinem Leben hingelegt, habe alles Vertraute und Gewohnte hingeworfen, um meinem Traum zu folgen. So etwas kann man nicht alleine. Dafür braucht man Flügel, und die wachsen einem nicht über Nacht, die werden einem geschenkt. Diese Flügel haben mich dann über die ganze Welt getragen. Jetzt habe ich allerdings langsam, aber sicher ein wenig Angst, dass ich zu weit gegangen bin. Wo ist er?

»Er kommt bestimmt.«

Beccie sieht mich aufmunternd von der Seite an.

»Ich weiß.«

»Und warum siehst du dann aus, als würdest du jeden Moment dein wunderbares Augen-Make-up ruinieren?«

Sie schafft es immer wieder: Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

»Ohne ihn wäre das alles hier nicht möglich gewesen. Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber er hat mir den Mut gegeben, dass ich mir all das zutraue.«

»Ja, das klingt wirklich kitschig.«

Jetzt muss ich grinsen, und sie nimmt mich in den Arm.

»Und im Gegenzug hast du ihm gezeigt, dass das Leben auch für ihn noch neue Träume zu bieten hat. Ihr seid also quitt.«

Das hoffe ich.

»Ich vermisse ihn so.«

Wenn man Tristan kennenlernt und ihn so sieht, wie ich das durfte, dann will man ihn für immer in seinem Leben haben.

»Nur Geduld. Ihr werdet euch ja gleich wiedersehen. Okay? Und in der Zwischenzeit kannst du ein bisschen mit potenziellen Geldgebern schäkern.«

Beccie gibt mir einen Kuss auf die Wange und lässt mich dann alleine. Aber ich kann jetzt mit niemandem mehr reden. Es ist schon spät und somit an der Zeit, dass ich mich einem unschönen Gedanken stellen sollte. Und da ist er auch schon: Vielleicht ist es einfach noch zu früh, und vielleicht ist das hier der falsche Ort für ein Wiedersehen. Immerhin hat er Stuttgart wegen all der Erinnerungen an Helen die letzten Monate gemieden, und dass ich hier die Fotos ausstelle, die ich – ohne es zu wissen – von den Lieblingsplätzen seiner toten Freundin gemacht habe, macht die Sache nicht leichter. Was, wenn er noch nicht so weit ist? Was, wenn er doch nicht kommt? Was, wenn er … es sich anders überlegt hat?

Während ich noch einmal auf das Bild schaue, mit dem alles angefangen hat, fahren meine Emotionen Karussell und mit ihnen alles, was sich in den letzten Monaten angestaut hat: die Zweifel, die Freude, die Angst, die Aufregung, einfach alles. Am Ende bleiben nur die Ungewissheit und die Dankbarkeit. Auch wenn Tristan nicht kommt, ist er hier. Er ist überall, in jeder einzelnen meiner Fotografien.

»Danke.«

Ich flüstere es nur, weil ich nicht will, dass jemand außer mir das hören kann.

Dann mache ich mich auf den Weg an die Bar. Natürlich suche ich den Raum nach ihm ab, während ich mich an den Tresen stelle, aber er ist nirgendwo zu sehen.

Der Barkeeper stellt mir zwei kleine Gläser vor die Nase. Es sind zwei Schnäpse, und ich hoffe, dass ich nicht den Eindruck erwecke, den Abend nur in Begleitung von Hochprozentigem zu überstehen.

»Entschuldigung, das habe ich nicht bestellt.«

»Ich weiß.«

»Ja und jetzt?«

»Ich soll auch noch etwas ausrichten.«

»Was denn?«

Noch immer starre ich auf die beiden Gläser Schnaps vor mir. Erinnerungen an eine blutende Wunde, an Sambuca und meine blöde Erste-Hilfe-Idee schießen mir durch den Kopf. Meine erste Begegnung mit Tristan.

»Es tut ihm leid.«

»Was?«

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Mein Herz pocht, und ich spüre, wie mein Mund plötzlich ganz trocken wird. Der Barkeeper sieht mich mitfühlend an.

»Einer für den Erfolg und einer gegen den Schmerz.«

Schmerz?

Schmerz!

»AUA!«

Ein brennendes Ziehen jagt durch meinen Ellenbogen, genau da, wo der Musikantenknochen sitzt, der ja bekanntlich ein Nerv und kein Knochen ist, und ich fahre erschrocken auf. Dabei stoße ich mir mein Knie am Klapptisch und spüre auf einmal mit jeder Faser meines Körpers die Folgen einer unbequemen Sitzhaltung. Ich blicke panisch auf und starre in das erschrockene Gesicht einer blonden Frau in einer blauen Flugbegleiterinnen-Uniform.

»Es tut mir schrecklich leid! Habe ich Ihnen sehr wehgetan? Entschuldigen Sie bitte!«

Vor ihr steht ein kleiner Wagen voller Getränke, mit dem sie offenbar gerade meinen Ellenbogen gerammt hat.

Mein Herz rast noch immer und beruhigt sich nur sehr langsam, während die Realität zu mir durchsickert. Ein Traum. Das war alles nur ein Traum!

Die Stewardess sieht mich noch immer beunruhigt an.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Ich atme tief durch und schüttle nur leicht den Kopf. Sie ahnt nicht, wie dankbar ich ihr dafür bin, dass sie mich gerade mit ihrem Getränkewagen aus diesem Albtraum geschossen hat.

»Ist schon in Ordnung.«

»Darf ich Ihnen vielleicht ein kostenloses Getränk anbieten? Gegen den Schmerz?«

Die Stewardess zeigt mit leicht zitternder Hand auf die große Getränkeauswahl ihres Metallwagens. Ein Schnaps wäre jetzt genau das Richtige. Oder zehn. Nicht nur gegen den Schmerz, sondern auch gegen das ungute Gefühl, das sich in meinem Inneren festgesetzt hat. Aber das wäre keine gute Idee. Nicht jetzt, so kurz vor der Landung.

»Ich nehme eine Cola, danke.«

Die kühle Cola hilft mir, wieder zu mir zu kommen. Es war nur ein Traum. Kein Grund zur Beunruhigung. Oder zur Panik. Er wird kommen, und wir werden uns wiedersehen. Nicht via Skype. Nicht verpixelt auf einem viel zu kleinen Monitor in einem Internetcafé in Indonesien. Auch nicht wie kurz vor Weihnachten, als er irgendwo in einer Strandhütte in Portugal gesessen hat, während ich mit Mütze und Schal in New York gefroren habe. Wir werden bald im selben Land sein – sogar im selben Raum. Allein diese Vorstellung reicht aus, um einen kleinen Schweißausbruch und erneutes Herzrasen bei mir auszulösen. Ich umklammere den Plastikbecher etwas fester und atme tief in meinen Bauch. Das habe ich in Indien gelernt, als ich einen Yogakurs gemacht habe, weil ich dachte, das würde sich in meinen Erzählungen zu Hause gut machen. Dabei habe ich gelernt, dass man mit der richtigen Atmung fast alles in den Griff kriegen kann.

»Flugangst, hm?«

Der Mann neben mir lächelt mich verständnisvoll an. Aber ich habe keine Flugangst. Es ist der Gedanke, bald den einen Menschen wiederzusehen, der mir trotz all der Zeitunterschiede und riesigen Distanzen mit jedem Tag nähergekommen ist. Wie aber soll man das jemandem erklären, ohne sich als hoffnungslose Romantikerin zu outen? Deswegen nicke ich nur.

»Meine Tochter hat das auch. Ihr hilft es, wenn sie sehen kann, wie wir landen. Das beruhigt sie immer. Wollen Sie ans Fenster?«

Er spricht mit einem leichten Akzent. Deutsch scheint nicht seine Muttersprache zu sein. Vermutlich ein Holländer.

»Das ist wirklich nicht …«

»Kommen Sie. Das macht mir nichts aus. Wirklich.«

Zwar habe ich noch nicht verstanden, wie jemandem mit Flugangst die freie Aussicht auf die Landschaft unter ihm – und damit die klare Erkenntnis der absoluten Höhe des Flugzeuges – helfen soll, aber für einen Widerspruch ist es schon zu spät, da sich der nette Holländer inzwischen abgeschnallt hat und aufsteht. Bevor ich mich versehe, sitze ich am Fenster und bedanke mich artig.

»Lassen Sie ein bisschen los, und genießen Sie diesen Moment.«

Ich nicke und lächle, weil mich der Spruch sehr an meinen Surflehrer in Sydney erinnert. Kevin. Wir haben uns vom ersten Augenblick an wunderbar verstanden, und er hat tapfer versucht, mir die Kunst des Wellenreitens beizubringen. Wie sich schnell herausstellte, bringe ich für das Surfen allerdings nur mäßiges Talent mit. Einfach loslassen. Das hat Kevin immer gepredigt. Loslassen … Als ich dann losgelassen habe und die erste kleine Weißwasserwelle tatsächlich stehen konnte, hat mich ein großer Adrenalinrausch durchflutet. Es war großartig.

Auf meiner Reise habe ich dann immer mehr losgelassen – und mich treiben lassen. Nicht nur beim Surfen in Sydney, sondern auch bei meinen spontanen Rundreisen durch Asien oder während meiner Zeit in New York, wo ich mit Glenn Becket zusammenarbeiten durfte. Erst habe ich – dank einer Bekannten, die ich in Tokio kennengelernt habe – im Fotostudio dieses berühmten Urban Photographers ausgeholfen. Als er mich irgendwann gefragt hat, ob ich bei ihm als Assistentin einspringen möchte, habe ich zugesagt. Dadurch hat sich meine Rückkehr nach Deutschland zwar um drei Monate verzögert, aber Marco hat es irgendwie geschafft, meine Stuttgart-Ausstellung im Café Galao auf den Frühling zu verschieben. Das Einzige, was mich bei diesem Loslassen kurz zögern ließ, war Tristan gewesen. Aber er hat nur gelacht und mir verboten, dieses einzigartige Angebot auszuschlagen. An dem Abend war ich kurz davor gewesen, meine sieben Sachen zu packen und zu ihm zu fliegen, um ihn zu umarmen. Aber auch das hat er mir verboten. Mein Angebot, ihm endlich einmal zu zeigen, was ich während meines lächerlichen Strip-Kurses vor Jahren gelernt habe, hat er dann allerdings nicht ausgeschlagen. Wir haben an dem Abend viel gelacht.

Die Verlängerung unserer Trennung hat er kurzerhand für einen weiteren InterRail-Trip genutzt, diesmal ging es durch Osteuropa. Inzwischen kennt sich Tristan zwischen Lissabon und Warschau ziemlich gut aus. Als ich vor neun Monaten aufbrach, um die ganze Welt zu sehen, hat Tristan Stuttgart verlassen, um ein bisschen Abstand zwischen sich und seine Erinnerungen an Helen zu bringen – und um Südeuropa unsicher zu machen. Frankreich, Spanien, Portugal … Irgendwann hat er unterwegs damit begonnen, seine Eindrücke und Begegnungen nicht nur mir zu erzählen, sondern sie in einem kleinen Reiseblog ins Netz zu stellen. Natürlich war ich von Anfang an seine begeistertste Leserin, und ich war nicht lange die einzige. Inzwischen werden seine Anhänger fast sauer, wenn er mal eine Woche nichts von sich hören lässt. Tristan hat einfach eine Art, Dinge in Worte zu fassen, die einen süchtig nach mehr werden lässt.

Gut, ehrlich gesagt, hat Tristan generell etwas an sich, was einen süchtig nach ihm macht. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch bei jeder Ankunft in einer neuen Stadt zuallererst ein Internetcafé oder WLAN gesucht. Etwas, das eine Verbindung zwischen uns herstellen kann. Während der letzten neun Monate hatten wir trotzdem nicht selten schlechten Empfang, weshalb wir unsere Fähigkeiten im Lippenlesen extrem verbessern mussten, um zu erraten, was der andere gerade sagt. Das war aber kein Problem, denn Tristan hat wunderschöne Lippen.

Egal, wie weit weg er auch war, das meist leicht zeitversetzte Video und die vielen ungeplanten Standbilder haben mir erlaubt, seine Veränderungen mitzuerleben. Ich habe gesehen, wie seine Haare in Portugal immer länger wurden, wann er in Südfrankreich unrasiert und in Bukarest müde war. Er hat dafür gesehen, wie meine Haut immer bräuner und meine Haare von Salzwasser und Sonne heller und lockiger wurden – auch wie ich mir einen Pony habe schneiden lassen und es nur wenige Sekunden danach extrem bereut habe. Selbst meinen leidenden Gesichtsausdruck während einer Lebensmittelvergiftung in Jakarta durfte Tristan dank Skype live miterleben. Er war bei mir. Immer. Nur hat es mich manchmal wahnsinnig gemacht, ihn nicht anfassen zu dürfen. Dabei fangen meine Fingerspitzen jedes Mal an zu kribbeln, wenn ich an seine weiche, warme Haut denke.

Übermorgen werde ich ihn wiedersehen.

»Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position und legen Sie den Gurt an. Wir beginnen in Kürze mit dem Landeanflug.«

Ein Blick aus dem kleinen Fenster reicht aus, um zu erkennen, welche Stadt da in der wolkenlosen Dunkelheit unter mir leuchtet. Mein Herz klopft wie verrückt gegen meine Rippen, und meine Hände werden feucht. Keine Stadt sieht aus der Luft so wunderschön aus, und ich habe in den letzten Monaten einige Landeanflüge miterlebt. Alle anderen Städte sahen fremd aus und aufregend. Jede war ein Geheimnis, das ich erst noch entdecken und erkunden durfte. Wie in einer frischen Beziehung habe ich mich langsam an sie herangetastet und schnell bemerkt, ob und wie wir zusammenpassten. Wenn ich jetzt aber gleich aus dem Flugzeug steige, komme ich nach Hause.

Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Mein Stuttgart leuchtet unter mir und strahlt so hell, als würde es sich ebenfalls auf mich freuen. So viele Lichter, so viele Erinnerungen, so viele Menschen. Viele davon sind meine Freunde, die – wenn ich ihnen mein echtes Rückreisedatum verraten hätte – jetzt da unten mit einem kitschigen Schild, Luftballons und Taschentüchern auf mich warten würden. Aber ich habe behauptet, ich würde erst in zwei Tagen zurückkommen. Pünktlich zur Ausstellungseröffnung. Pünktlich, um Tristan vom Zug abzuholen. Er wird morgens ankommen und will mich mittags eigentlich am Flughafen abholen. Ich freue mich schon auf die Überraschung und seinen Gesichtsausdruck, wenn er aus dem Eurocity aus Budapest aussteigt und sieht, wie ich auf ihn zulaufe.

Als das Flugzeug Bodenkontakt aufnimmt und ein kurzes Ruckeln durch den Flieger geht, landet auch mein Herz wieder. Ich bin zurück in meinem alten Leben – in das ich hoffentlich nach all den Eindrücken und Veränderungen noch immer passe.

Stuttgart schläft schon. Die Aprilnacht ist überraschend mild, und in der Luft liegt der Duft von Erwartungen. Noch immer kann ich es nicht ganz glauben, wieder zurück zu sein, als ich die letzten Meter zu meinem Büro über die Straße eile. Ich bin mit nur einer Reisetasche, meiner Kamera und meinem Laptop vor neun Monaten verschwunden, und jetzt ziehe ich einen großen Koffer hinter mir her. Er ist schwer, was an den vielen Erinnerungsstücken liegt, die mir meine neuen Freunde aus der ganzen Welt zum Abschied zugesteckt haben. Ich habe so viele Tränen an den Flughäfen dieser Welt vergossen, es ist fast unglaublich. Jetzt, da ich meinen gut gefüllten Koffer Stufe für Stufe durch das Treppenhaus nach oben wuchte, fühlt sich das alles plötzlich unendlich weit weg an.

Ich drehe den Schlüssel im Schloss und schiebe zaghaft die Tür auf. Kurz halte ich inne, bevor ich schließlich eintrete und von einer Lawine an Erinnerungen überrollt werde. Erinnerungen an ihn. An uns. Hier auf dem Boden. An seine Hände, an seine Lippen, an meine Entscheidung, an unseren Abschied. Erstaunlich, wie präsent Momente sein können, selbst wenn sie schon viele Monate zurückliegen. Jetzt kommen sie alle wieder, und ich bin mit den Bildern in meinem Kopf alleine. Neun Monate sind eine verdammt lange Zeit. Am liebsten würde ich sofort zu ihm fahren oder ihn wenigstens anrufen, aber es ist kurz nach zwei Uhr nachts und er schläft wahrscheinlich gerade – irgendwo in Budapest.

Ich taste mich durch die Dunkelheit. Der Geruch ist mir sofort wieder vertraut, und ich erahne die Gegenstände im Inneren, noch bevor ich sie erkennen kann. Das Licht lasse ich ausgeschaltet, denn das sanfte Leuchten der Stadt ist völlig ausreichend.

Zu Hause. Endlich. Es ist nur ein kleines Büro mit Kochnische und Waschzelle, das durch verrückte Umstände zu meiner Wohnung geworden ist, aber nachdem ich auf meiner Reise in sehr unterschiedlichen Absteigen nächtigen durfte, fühlt sich das hier erst mal wie ein 5-Sterne-Hotel an.

Ich lasse mich auf die Couch fallen und strecke meine Beine von mir. Langsam schweift mein Blick durch das Zimmer: mein Schreibtisch, mein Rechner, der Bürostuhl. Die Ruhe ist entspannend und angenehm. Jetzt fehlt eigentlich nur noch Tristan, der neben mir sitzt und an den ich mich anlehnen kann. Dann wäre es ein weiterer … Ha! Ich krame aufgeregt mein Handy hervor, klicke auf die Kamera und drehe es so, dass ich genau im Bildausschnitt sitze und man genug von der Couch sehen kann. Dann drücke ich denAuslöser und halte meine ersten Minuten in der Heimat fürTristan fest. Es wird der letzte Lieblingsmoment sein, den ich Tristan von meiner Reise schicke. Ich wieder hier. Hier, wo wir zusammen waren. Bei dem Gedanken wird es in meinem Inneren angenehm warm, und ich kann nicht anders als lächeln.

Als mich der Wecker aus dem Schlaf reißt, habe ich erst gefühlte dreißig Minuten geschlafen. Auch wenn die Uhr etwas anderes behauptet. Mein Körper fühlt sich an, als wären Teile davon noch immer auf der anderen Seite desAtlantiks, und es dauert ein paar Sekunden, bis ich weiß, wo ich gerade bin. Dann stiehlt sich aber sofort ein Lächeln auf meine Lippen. Nein, ich bin nicht mehr in New York. Ich bin zu Hause.

Nur sehr langsam und übermüdet schleppe ich mich von der Couch in Richtung Dusche. Bei Tageslicht erkenne ich mein altes Leben sofort wieder, und das, was ich sehe, gefällt mir. Alles, was ich letzten Sommer hier zurückgelassen habe, scheint damals in eine Art Winterschlaf gefallen zu sein und wacht gerade wieder mit mir zusammen auf. Mein Rechner, den ich im Vorbeigehen anschalte und der sofort das mir so vertraute leise Surren von sich gibt, mein Monitor, der erst hellblau, dann bunt leuchtet, und meine Fotos an den Wänden, über deren Rahmen ich zärtlich streiche. Ich sehe mich zufrieden um und beschließe, mich schleunigst bei Beccie zu bedanken, denn sie hat sich, während ich weg war, um meine winzige Büro-Wohnung gekümmert, ab und zu mal gelüftet, die letzten Reste aus dem Kühlschrank entsorgt – und sogar die Kehrwoche übernommen. Dank ihr sieht es hier aus, als wäre ich nie weg gewesen.

Nach einer ausgiebigen Dusche tapse ich zurück in die Küche und stelle fest, dass nicht nur der Kühlschrank leer ist, sondern auch der kleine Hängeschrank in meiner Kochnische. Das bedeutet: keine Milch, kein Brot, kein Gar-nichts. Wenn Beccie etwas in die Hand nimmt, dann macht sie es richtig. Moment. Da hinten im obersten Fach … Zum Glück entdecke ich den ewig haltbaren Instantkaffee, den ich hier irgendwann einmal deponiert habe – für Notfälle. Noch nicht abgelaufen. Schokoccino vereint hochwertigen Löskaffee mit leckerem, kräftigem Schokoladengeschmack und tollem Löffelschaum … Okay. Natürlich könnte ich jetzt zum Bäcker an der Ecke oder in ein echtes Café mit echtem Kaffee flüchten, aber so weit bin ich noch nicht.

Als ich mich kurz darauf mit einer dampfenden Tasse an meinen Rechner setze, fühle ich mich endlich wieder wie in meinem Büro. Der Desktop ist mir ebenso vertraut wie die Dateien und Programme, die sich hier tummeln. Alles wie immer. So einfach ist es also, wieder in das alte Leben einzusteigen. Die Passwörter zu den verschiedenen E-Mail-Programmen und sozialen Netzwerken tippen sich wie von alleine. Nein, es hat sich nichts verändert.

Ich nehme die erste von mir auf der Reise vollgeschossene Speicherkarte aus meinem Koffer, auf der sich die ersten Fotos meiner Reise befinden: der Abflug aus Stuttgart, über den Wolken, Flugzeugessen, Landung in Sydney. Alles war noch so frisch und aufregend, denn die Welt stand mir offen. Jetzt fühlt es sich fast an, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Eigenartig, wie schnell das geht. Ich schiebe die Speicherkarte in das Kartenlesegerät meines Rechners, schließe meine externe Fotoarchiv-Festplatte an und weiß, dass in den nächsten Stunden viele Erinnerungen vom einen Speichermedium ins andere kopiert werden. Zugegeben: Ich bin da etwas übervorsichtig, aber ich muss immer sofort ein Back-up meiner Werke machen. Der FTP-Server, den Marco mir für meine Reisefotos eingerichtet hat, reicht da nicht. Außerdem wollte ich nicht alle meine Schnappschüsse mit ihm teilen. Jedenfalls: Wenn ich keine saubere Sicherung meiner Bilder erstelle, werde ich die panische Vorstellung nicht los, dass ich – aus welchem unwahrscheinlichen Grund auch immer – alle Speicherkarten verliere oder aus Versehen lösche und damit meine fotografischen Schätze, die wunderschönen Lieblingsmomente, für immer verschwinden, als hätte ich sie nicht erlebt und fotografiert. Für genau diese Panik-Archivierung habe ich mir bis heute Nachmittag Zeit gegeben, denn ich habe auf meiner Reise viele Fotos geschossen, und das Laden wird eine Weile dauern, da die Bilder in höchster Auflösung sind. Immerhin will irgendein Galerist, den Marco von früher kennt, meine Reisefotos im Juli in Berlin ausstellen. Er hat dafür sogar im Voraus bezahlt und mir dadurch erst die Weltreise ermöglicht. Warum Marco allerdings so ein Geheimnis um den Galeristen macht, weiß ich nicht. Ich werde ihn morgen auf meiner kleinen Ausstellung im Café Galao mal vonAngesicht zuAngesicht ausquetschen müssen.

Während ich den Ladefortschritt der ersten Speicherkarte an dem grünen Balken beobachte und mich an meine Zeit in Australien erinnere, trudelt im Hintergrund, durch ein lautes Pling! angekündigt, eine E-Mail nach der anderen in meinem Postfach ein. Zu meiner Überraschung sind es lauter Jobangebote, die ich kurz überfliege. Ich habe auf meiner Homepage geschrieben, dass ich erst ab nächster Woche wieder Aufträge entgegennehme, und so überraschen mich die vielen Vorabanfragen. Selbst wenn ich das nur grob überschlage, dürfte ich die nächsten zwei Wochen jetzt schon komplett ausgebucht sein. Ich werde sogar einigen Auftraggebern absagen müssen. Gibt es keine anderen Partyknipser mehr? Hat in der Zwischenzeit niemand meinen Platz eingenommen? Wieder muss ich lächeln. Um meine Finanzen muss ich mir also erst einmal keine Sorgen machen, und es ist schön, wenn man trotz der Abwesenheit nicht vergessen wird. Aber wie um alles in der Welt soll ich vier Partys an einem Freitag und noch einmal vier an einem Samstagabend stemmen? Selbst wenn ich es versuche, werde ich am Sonntag ziemlich erschlagen sein. Dabei sehe ich mich in meiner Vorstellung mit Tristan in den Weinbergen, auf seiner Vespa, im Schlosspark oder – noch viel besser – in seinem Bett. Eigentlich sehe ich uns fast ausschließlich in seinem Bett oder zumindest in seiner Wohnung, und selten trägt er mehr als Boxershorts – wenn überhaupt.

Ich taste nach meinem Handy und wähle Tristans Nummer. Er soll zwar glauben, dass ich noch immer in den USA bin, damit ich ihn morgen am Bahnhof überraschen kann, aber mir fehlt seine Stimme – und die genaue Ankunftszeit seines Zuges aus Budapest in Stuttgart. Als wir am Montag kurz vor meinem echten Abflug in New York das letzte Mal telefoniert haben, wusste er noch nicht, welchen Zug er genau nimmt. Er wusste nur, dass er am Donnerstag in der Früh in Stuttgart ankommen würde. Mal sehen, ob er inzwischen Genaueres weiß. Es klingelt, und wie immer, wenn ich in freudiger Erwartung seiner Stimme bin, schlägt mein Herz doppelt so schnell. Obwohl es jetzt absehbar ist, bis ich ihn wieder vor mir habe, lässt das Gefühl kein bisschen nach, ihn schrecklich zu vermissen. Eher das Gegenteil ist der Fall.

»Leider kriegt ihr nur die Mailbox, weil ich gerade unterwegs bin. Hinterlasst mir einfach eine Nachricht, und ich melde mich bei euch.«

Den freundlichen Singsang der Ansage kenne ich auswendig. Ich kann mir sogar sein Gesicht dabei genau vorstellen. Selbst dieser Spruch löst ein leises Kribbeln in meinem Bauch aus, und das Lächeln auf meinem Gesicht wird breiter, als der Piepton zu hören ist.

»Hi Tristan, ich wollte nur …«

… wissen, wann du morgen am Bahnhof ankommst, und dezent andeuten, dass ich dich dort abhole und dass du mich dann so schnell nicht mehr loswirst …

»… mit dir reden. Ich steige später in den Flieger und könnte dann ab und an nicht erreichbar sein. Melde dich doch trotzdem einfach, wenn du das hier abhörst. Egal wann.«

Egal wann. Das kennen wir inzwischen. Weil er mich manchmal mitten in der Nacht angerufen hat, wenn es bei ihm taghell war, aber auf Schlaf habe ich für ihn immer gerne verzichtet. Lieber liege ich die ganze Nacht wach und rede mit ihm, als auch nur einen Moment mit ihm zu verpassen. Genau deswegen muss ich, wohl oder übel, einigen Kunden eine Absage schreiben. Zumindest vorerst. Wir haben neun verdammt lange Monate aufzuholen. Wahrscheinlich wäre ich ohnehin nicht in der Lage, vernünftige Fotos zu machen, wenn ich die ganze Zeit an ihn denken muss. Nein, ich werde mich erst einmal voll und ganz auf Tristan konzentrieren. Andererseits wäre das im Moment beruflicher Selbstmord. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und fasse den Entschluss, erst einmal keine Entscheidung zu treffen. Ich bin offiziell ja auch noch gar nicht zurück in Stuttgart. Und vielleicht sollte ich auch zuerst hören, was Tristan dazu sagt.

Unermüdlich lade ich trotz Jetlag und mit viel Instantkaffee weiterhin Foto um Foto auf meine externe Festplatte, und ich freue mich, dass alle noch da sind – so wie auch meine Erinnerungen an die Momente, in denen sie entstanden. Sie sind echt, und sie sind ein Teil von mir. Ob sie gut sind, dürfen spätestens im Juli andere entscheiden. Ich liebe sie alle. Dank Tristans Aufforderung, unterwegs Lieblingsmomente für ihn zu sammeln, bin ich mit offenen Augen und vor allem einem offenen Herz durch alle Abenteuer gegangen, und wenn ich meine Schätze jetzt so durchsehe, sind es vor allem die Fotos, die ich für ihn geschossen habe, die mich am stärksten berühren. Unsere Lieblingsmomente. Jetzt müssen sie nur noch Marco und meinen mysteriösen Galeristen überzeugen, der mir mit seinem Vorschuss die Reise finanziert hat, und alle Strapazen haben sich gelohnt.

Am frühen Nachmittag wird es dann doch höchste Zeit, um wieder in die Normalität zurückzukehren. Ich reiße mich endgültig von meinem Rechner los und lege die bis zum letzten Bit mit meinen Reisefotos vollgepackte externe Festplatte feierlich in mein Bücherregal. Dann sammle ich schnell meine Schmutzwäsche ein, bringe sie in den Waschsalon am Rotebühlplatz, kaufe Vorräte für meinen leeren Kühlschrank, hole die Wäsche dann wieder ab und ignoriere den Jetlag, der mich immer wieder hinterrücks anzugreifen droht.

Tristan hat nicht zurückgerufen, und ich habe nur immer wieder seine Mailbox am anderen Ende der Leitung erwischt. Wahrscheinlich sitzt er inzwischen in dem Zug, der irgendwann morgen in Stuttgart ankommen wird. Sobald ich zu Hause bin, muss ich einfach die Ankunftszeiten im Internet recherchieren.

Am späten Nachmittag habe ich nicht nur Hunger, sondern auch eine großartige Idee! Zwar hat Stuttgart noch immer keinen neuen Bahnhof, dafür aber einen neuen Donut-Laden. Erfahren habe ich das allerdings nicht von Beccie, die mir ganz begeistert von der Eröffnung erzählt hat, sondern auf Tristans Blog, als er kurz nach Weihnachten einen Zwischenstopp in Stuttgart eingelegt hat. Sein Beitrag war sehr amüsant, und das Foto von ihm mit vollem Mund und breitem Grinsen hat mir damals in New York im wahrsten Sinne des Wortes den Feierabend versüßt. Gerne wäre ich dabei gewesen, und das nicht nur wegen meiner Vorliebe für diese süßen Teigteile.

Von Vorfreude getrieben, mache ich mich sofort auf den Weg in den Stuttgarter Westen, wo sich dieses Schlemmerparadies niedergelassen hat. Hier in der Nähe habe ich die letzten Jahre zusammen mit Oliver gelebt, bevor wir uns langsam, aber sicher entliebt und schließlich als Freunde getrennt haben. Doch obwohl die Gegend so lange meine Heimat war, fühlt es sich heute fast fremd an, hier zu sein.

Als ich endlich vor dem Tasty Donuts stehe, schiebe ich die Glastür auf und betrete das Innere, in dem es herrlich duftet.

»Bin sofort bei dir!«

Aus dem hinteren Bereich erreicht mich eine sympathische Männerstimme, und ich werfe einen Blick auf die große Auswahl an Donuts. Verdammt! Ich sollte mich schnell um eine Mitgliedschaft beim Fitnesszentrum kümmern, denn dieser Laden hat mich ohne Zweifel nicht zum letzten Mal gesehen. Donuts mit Schokoladenüberzug, mit Smarties, mit Marmelade, gefüllt und ungefüllt … Einen kurzen Moment schließe ich die Augen und tatsächlich: Es fühlt sich an wie in New York. Der Duft kam mir sofort bekannt vor. Ja, es ist wie eine kleine Zeitreise.

»Hast du dir schon etwas ausgesucht?«

Damit begibt sich der junge Mann hinter die Theke und beobachtet mich freundlich dabei, wie ich mir die kleinen runden Teigtaschen ansehe. Wie soll man sich da entscheiden? Einmal alles! Das wäre die richtige Antwort. Aber so wie Beccie letzte Woche am Telefon klang, wird sie mich morgen Abend bei meiner Ausstellung in eines ihrer teuflisch engen Kleider pressen wollen. Da bleibt dann nicht mehr viel Platz für Layla und ihre Donuts.

»Ähm. Was kannst du empfehlen?«

»Alle.Aber du könntest Kiwi&White mögen.«

Da werde ich ihm einfach mal vertrauen.

»Okay.«

Als ich meinen Kiwi&White-Donut in Empfang nehme und kurz mit mir ringe, ob ich ihn hier an Ort und Stelle oder lieber zu Hause in aller Ruhe verschlingen soll, höre ich, wie hinter mir die Tür aufgeht und neue Kundschaft den Laden betritt.

»Layla!?«

O Gott! Ich zucke zusammen und hoffe, dass hier im Laden eine zweite Frau namens Layla rumsteht und sich nicht entscheiden kann, wo sie ihren Donut verspeisen soll. Aber diese Stimme ist mir zu vertraut. Noch immer. Langsam drehe ich mich um – und da steht er. Einfach so.

»Oli. Hallo!«

Er sieht anders aus. Die Frisur ist neu, allerdings anders als in meinem Albtraum. So kurz hat er die Haare noch nie getragen, aber es steht ihm gut. Sehr gut sogar. Es macht ihn eine Spur markanter, und er trägt die enge schwarze Lederjacke, die ich ihm mal zu Weihnachten geschenkt habe, die er aber nie angezogen hat. Schade eigentlich.

»Du bist also wieder zurück.«

»Ja. Seit gestern … also eigentlich heute Nacht.«

Wir stehen uns gegenüber und wissen nicht so recht, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen. Es ist absurd, da wir uns doch so lange so nahestanden. Deswegen mache ich einen Schritt auf ihn zu, und er nimmt die Aufforderung sofort an. Es fühlt sich eigenartig fremd an, ihn zu umarmen, und zugleich viel zu vertraut. Seine Lippen sind irgendwo neben meinem Ohr.

»Du siehst gut aus.«

Ein Kompliment? Von Oliver? Einfach so? Also doch fast wieder so wie in meinem Albtraum. Träume ich? Sitze ich in Wirklichkeit noch im Waschsalon und schlafe? Hat der fiese Jetlag am Ende doch gewonnen? Nein, das hier fühlt sich zu echt an.

»Danke. Du aber auch. Die Jacke steht dir gut.«

Ich spüre, wie er kurz auflacht. Dann lassen wir uns langsam los, und auf einmal ist der Moment gar nicht mehr so unangenehm. Oliver ist vielleicht nicht mehr mein Oli, aber wir können trotzdem Freunde bleiben. Ja, wir werden eines dieser coolen Ex-Paare, das sich mit Umarmung und Küsschen begrüßt, sich auf der Straße zuwinkt und sich gegenseitig anruft, wenn man dringend Hilfe braucht. Das ist doch gar nicht so abwegig, oder?

»Und? Wie war es?«

Als könnte ich alle Erlebnisse in nur zwei Minuten verpacken. Nein, dafür brauchen wir mehr Zeit.

»Sehr schön.«

»Schön.«

Ich mag es, wie er mich ansieht. So, als würde es ihn wirklich freuen, dass meine Reise schön war.

»Vielleicht können wir ja mal …«

»Oli, aber jeder nur einen!«

Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren betritt den Laden, bleibt überrascht stehen und sieht von Oliver zu mir und dann wieder zu Oliver. Ihre Augenbrauen ziehen sich so weit nach oben, dass selbst Mr Spock davon beeindruckt wäre. Sie sagt kein weiteres Wort, und jetzt wird es doch langsam etwas unangenehm. Ich kenne sie nicht, aber etwas an ihrem Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie weiß, wer ich bin. Es ist leicht, eins und eins zusammenzuzählen, während sie sich jetzt zu ihm stellt, nach seiner Hand greift und Oliver einen kleinen Schritt nach hinten – also von mir weg – macht. Vielleicht werden wir doch keines dieser coolen Ex-Paare, die es sowieso nicht gibt. Und ich muss mich wohl korrigieren: Ich werde ihn nicht anrufen, wenn ich Hilfe brauche, denn er würde sie mitbringen.

»Isabell, das ist Layla. Ich habe sie zufällig hier getroffen. Layla, das ist Isabell.«

Er muss es nicht aussprechen, ich weiß auch so, welche Rolle Isabell in seinem Leben spielt. Das ist nicht zu übersehen. Warum hat Beccie mir nicht erzählt, dass Oliver eine neue Freundin hat?

Um mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, setze ich ein Lächeln auf und reiche ihr die Hand.

»Hallo Isabell, schön, dich kennenzulernen.«

Eine doppelte Lüge. Ich lerne sie weder kennen, noch ist diese Situation schön. Die Stimmung zwischen uns ist eher … angespannt. Bis eisig. Hätte sie eine Waffe in der Hand, würde ich schleunigst das Weite suchen.

»Gleichfalls.«

Isabell lächelt mich kalt an. Sie ist eine dieser Frauen, die man als »schön« bezeichnet. Ihr stehen die kurzen Haare, denn sie machen sie nicht burschikos oder grob. Sie hat ein zartes Gesicht und eine tolle Figur. Nur ihre schmalen Lippen, die sich jetzt in einen dünnen Strich verwandeln, werden dem Rest nicht ganz gerecht.

Sie mustert mich von Kopf bis Fuß, und ich warte darauf, dass sie jeden Moment so etwas wie »Was? Mit der hast du es so lange ausgehalten?« sagt.

»Schatz, holst du die Donuts?«

Okay. Auch eine Möglichkeit, aber während sie das sagt und Oliver sofort pariert, sieht sie zu mir und nicht zu ihm.

»Du bist also die berühmte Layla. Ich habe gehört, du warst auf einem Selbstfindungstrip um die Welt?«

Das klingt aus ihrem Mund wie etwas, das man nur mitleidig belächeln kann.

»Ja. So was in der Art.«

»Na, wer’s mag.«

Ich kann sagen, dass ich sie nicht mag. Überhaupt nicht. Spontan würde ich behaupten, es liegt daran, dass ich Olivers alte Flamme bin und sie vermutlich schon mit ihm in unserer Wohnung wohnt. Obwohl. Eigentlich ist mir das egal. Nein, es ist diese eisige Überheblichkeit, die sie ausstrahlt, als wäre sie Madame Frost. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie denkt, sie sei etwas Besseres, dabei … Ha! Das ist der Moment, in dem ich meinen Trumpf aus dem Ärmel ziehe.

»Morgen Abend ist die große Eröffnung meiner Ausstellung im Café Galao. Ihr kommt doch, oder?«

Um nicht nur Isabell anzusprechen, drehe ich mich schnell zu Oliver, der längst eine persönliche Einladung im Briefkasten haben dürfte. Zumindest er lächelt begeistert zu mir herüber, und dafür will ich ihn am liebsten umarmen.

»Klar. Ich bin dabei.«

»Und ich wäre sowieso gekommen.«

Isabells Stimme klingt ernsthaft genervt, als sie an mir vorbei zur Theke schreitet – ja, nicht einfach nur geht: schreitet –, sich neben Oliver stellt und mir einen kurzen, abfälligen Blick zuwirft.

»Jemand muss ja darüber schreiben, und da Oli ohnehin dort ist …«

Tiefschlag! Und Eigentor.

»Isabell schreibt für die Stuttgarter Zeitung. Sie ist richtig gut!«

Olivers Stimme klingt so stolz, während er mich darüber aufklärt, für welche tollen Ressorts seine tolle neue Freundin schreibt. Toll! So begeistert hat er bei mir nie geklungen.

Diese Frosthexe wird also über meine Fotos schreiben. Wie ihr Urteil ausfallen wird, kann ich mir jetzt schon vorstellen. Aber da muss ich jetzt durch. Vor einem Jahr hätte ich an spätestens dieser Stelle den Kopf in den Sand gesteckt oder mich gleich komplett darin verbuddelt, um doch nicht auf meine eigene Vernissage gehen zu müssen. Wenn kein Sand zur Hand gewesen wäre, hätte ich eine schwere Grippe vorgetäuscht und Marco gebeten, die Ausstellung abzusagen. Aber diese Layla will ich nicht mehr sein. Außerdem würde mir Marco dann die Freundschaft aufkündigen – und ich hänge an ihm.

Also wende ich mich mit einem Lächeln an Isabell.

»Beeindruckend. Dann sehen wir uns also alle morgen? Wunderbar. Bin gespannt, was du zu meinen Fotos sagst.«

Denn die sind ziemlich gut. Das haben mir inzwischen mehrere ausgewiesene Fachleute bestätigt. Jetzt muss ich es nur noch selbst glauben, und wenn ich in Isabells eisblaue Augen sehe, sollte ich ganz schnell damit anfangen.

»O ja. Auf deine Fotos bin ich wirklich neugierig. Ich habe ja in letzter Zeit so viel durchschnittlichen Mist gesehen, da wäre es mal eine schöne Abwechslung, etwas halbwegs Erträgliches zu sehen.«

Wäre es nicht. Sie sieht mich herausfordernd an und freut sich schon darauf, meine Fotos in ihrem Artikel auseinanderzunehmen. Oliver sollte seine Süße mal an die Leine nehmen, denn mit jedem Satz aus ihrem dünnlippigen Mund wird sie mehr und mehr zu einem abgerichteten Kampfhund. Oliver nimmt ihre Hand in seine und nickt mir lächelnd zu.

»Das wird bestimmt ein Spaß.«

Wenn das ein Spaß wird, sollte jemand die Leute von der Duden-Redaktion über diese völlig neue Bedeutung von »Spaß« unterrichten.

Oliver nimmt seine Bestellung entgegen und lächelt mir zum Abschied nett zu, bevor sich Isabell an seinen Arm hängt und mich eisig anlächelt.

»Bis morgen.«

Ihre Verabschiedung klingt eher wie eine Drohung. Oliver nickt mir aufmunternd zu.

»Bis morgen, und schön, dass du wieder zurück bist.«

»Danke.«

Dann sind sie endlich weg. Als ich den beiden durch die großen Glasfenster nachsehe, habe ich ein ungutes Gefühl im Bauch, gegen das nur eines hilft.

»Hallo? Ich nehme noch einen Kiwi&White und zwei Classic-Donuts … und zwei mit Smarties.«

Außerdem muss ich jemanden anrufen, sobald ich zu Hause bin.

Warum hat Beccie mir nichts von Oliver und diesem Eiszapfen erzählt? Eine kleine Warnung wäre nett gewesen. Im Büro lasse ich mich auf die Couch fallen und wähle ihre Nummer, doch bevor ich sie etwas fragen kann, quietscht sie laut ins Telefon und überschlägt sich vor Freude, dass ich schon zurück bin. Sie unterbricht ihren eigenen Redefluss nur einmal kurz, um mir vorzuwerfen, dass ich ihr nicht gesagt habe, wann ich wirklich zurück in Stuttgart bin. Sie hätte alle zusammengetrommelt und mir einen gebührenden Empfang bereitet. Dass ich ihr genau deshalb nichts gesagt habe, kann sie nicht verstehen.

»Wenn du diesen Vertrauensbruch jemals wiedergutmachen willst, kommst du heute noch vorbei. Dann lassen wir uns was Schönes zu essen bringen, du erzählst mir noch mal alles, was auf deiner Reise passiert ist, und ich erzähle dir noch mal alles, was hier so passiert ist, und dann schauen wir uns zusammen die erste Staffel von Sex and the City an. Oder die mit Aidan!«

So verlockend das alles klingt, so wenig möchte ich mich jemals wieder von meiner Couch erheben. Geschweige denn mein Büro verlassen.

»Ich bin wirklich müde. Außerdem hast du mir nichts von Oli und seiner neuen Freundin erzählt. Wir sind also quitt.«

»Das kann man doch gar nicht vergleichen. Ich wollte dich nur schützen und dir die Reise nicht verderben. Du hast mich aus deinem Leben ausgeschlossen. Wir sind weit davon entfernt, quitt zu sein.«

Beccies Sicht der Dinge ist immer wieder erfrischend. Trotzdem fallen mir gerade die Augen zu.

»Der Jetlag hängt mir noch ziemlich nach. Ich muss schlafen, und ich willTristan morgen früh vom Bahnhof abholen.«

»Und ich bin wirklich enttäuscht und sehr verletzt, dass du mir nicht gesagt hast, dass du früher kommst. Außerdem kannst du bei mir übernachten. Dann hast du es morgen nicht so weit, und mein Badezimmer ist dreimal so groß wie deines und …«

Sie wird nicht aufhören, bis ich nachgebe. Ich liebe sie dafür.

»Ist gut. Ich komme. Wir können uns aber trotzdem nicht die ganze Nacht mit Sekt abfüllen.«

Beccie schnauft ernsthaft enttäuscht ins Telefon.

»Gut. Wir machen nicht zu lang, du stehst morgen früh auf und holst deinen Tristan vom Bahnhof. Aber nachmittags bist du wieder bei mir. Immerhin muss ich dich für deinen großen Abend herrichten, während du mir die brisanten Details deiner Reise verrätst, für die du heute Abend nicht betrunken genug sein wirst.«

»Gut.« Sie bringt mich immer wieder zum Grinsen. »Und Beccie?«

»Ja?«

»Hast du Lust auf Donuts?«

Solche Szenen verdienen einen Trommelwirbel, ganz ohne Zweifel. Wie passend, dass sich mein Herz dazu bereit erklärt hat, diese Aufgabe zu übernehmen. Hier auf dem Bahngleis ist es verdammt windig und trotz strahlender Morgensonne ziemlich kühl. April in Stuttgart ist nicht unbedingt Hochsommer. Ich ziehe die Jeansjacke etwas enger um meinen Körper und werfe einen Blick auf die Anzeigetafel. Der Zug soll pünktlich ankommen. Nur noch ein paar Minuten … Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen.

Der gleich einfahrende Zug ist eine von zwei Optionen. Ich habe Tristan gestern nicht mehr erreicht und deshalb in meiner Verzweiflung Björn angerufen. Er konnte mir zwar auch nicht erklären, warum Tristan wie vom Erdboden verschluckt ist, aber wenigstens hat er gestern Vormittag noch mit ihm telefoniert und wusste, dass es ihm da noch gut ging und dass Tristan mit dem Zug um vier Uhr in Budapest losfahren wollte. Wieso er sich noch nicht bei mir gemeldet hat, jede WhatsApp-Nachricht ignoriert und meine zwei Sprüche auf seiner Mailbox bisher unbeantwortet lässt, kann ich mir trotzdem nicht erklären. Aber das alles wird keine Rolle mehr spielen, wenn er gleich hier ist. Ich hoffe, dass er wenigstens das Foto von meinem letzten Lieblingsmoment der Reise – nachts zu Hause auf der Couch – bekommen hat, das ich ihm vor zwei Minuten geschickt habe, und dass er sich jetzt gerade darüber wundert, wie das sein kann, wo ich doch eigentlich noch über dem Atlantik im Flugzeug sitzen sollte.

Wie auf jedem Bahnhof der Welt verstehe ich auch hier in Stuttgart nie genau die Ansagen, aber auf Gleis 9, vor dem ich gerade stehe, soll wohl tatsächlich gleich der Zug einfahren, aus dem Tristan hoffentlich aussteigen wird. Wenn nicht, das ergab Beccies Recherche, dann aus dem Zug, der sechs Minuten später auf Gleis 4 ankommt. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten.

Als der Zug endlich einfährt und mit lautem Quietschen vor mir zum Stillstand kommt, morst mein Herz hektische Signale an meinen Körper. In der Hand, die nervös zittert, halte ich weder ein »Willkommen zurück«-Schild noch kitschige Luftballons, sondern ein einfaches rotes Feuerzeug. Mit der anderen wühle ich gerade noch hektisch in meiner Tasche … Ah, da ist sie! Er wird es verstehen!

Kaum steigen die ersten Menschen aus, zünde ich die Wunderkerze in meiner Hand an und lasse meinen Blick über die aussteigenden Fahrgäste schweifen. In einem Meer voller Menschen werden meine Augen ihn immer finden. Da bin ich mir sicher – auch, weil er fast einen Kopf größer als die meisten Menschen ist. Aber noch ist es nicht so weit. Die Wunderkerze in meiner Hand zuckt und brennt wild vor sich hin. Einige Leute schenken mir im Vorbeigehen ein Lächeln, weil ich wohl wie eine aufgeregte junge Frau aussehe, die in wenigen Sekunden ihren Freund wiedersehen wird. Meine Aufregung ist nur schwer zu ertragen, und allein der Gedanke daran, dass ich ihn gleich wieder in die Arme schließen darf, treibt mir Tränen in die Augen.

Ziemlich weit hinten steigt ein junger Mann aus dem Zugabteil. Ist er das? Ich setze mich langsam in Bewegung und versuche einen besseren Blick auf den Mann zu erhaschen. Da: ein dunkelbrauner Schopf. Meine Schritte werden schneller, mein Herzschlag ebenfalls, während ich mich gegen den Strom bewege, entgegenkommenden Reisenden ausweiche und die Wunderkerze etwas höher über meinen Kopf halte – wie ein Leuchtsignal, das Tristan zu mir führen soll. Vielleicht bemerkt er zuerst das Leuchten, dann mich. Ich laufe noch etwas schneller, weiche einer Frau mit großer Reisetasche aus, während der Puls in meinen Ohren rast, und dann … bemerke ich, dass es nicht Tristan ist. Ich bleibe stehen und spüre einen kleinen Stich in der Herzgegend. Der Mann sieht ihm nicht mal besonders ähnlich. Nur die Größe und Haarfarbe stimmen überein. Habe ich ihn verpasst? Schnell sehe ich mich um, während die Wunderkerze in meiner Hand mit einem leisen Zischen erlischt. Aber kein Tristan in Sicht. Nein, er hätte an mir vorbeikommen müssen, er hätte die Wunderkerze gesehen, hätte mich erkannt, umarmt, und ich hätte ihn nie mehr losgelassen. Verdammt!

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Der andere Zug! Er ist also doch im anderen Zug, obwohl er da zwei Mal öfter umsteigen musste! Egal. Keine Zeit verlieren: Gleis 4! Ich renne so schnell ich kann, was mir durch die Menschenflut an Pendlern, die sich an einem Donnerstagmorgen langsam durch den Bahnhof schiebt, nicht besonders erleichtert wird. Ich weiche Taschen, Aktenkoffern und Gliedmaßen aus, so gut es geht, und noch nie kam mir der Stuttgarter Hauptbahnhof so groß vor wie heute.

Schon von Weitem erkenne ich, dass auf Gleis 4 bereits ein Zug steht. Wie lange, weiß ich nicht, aber ich lege auf den letzten Metern noch mal einen Spurt hin, der mir Seitenstechen beschert und meinen Puls unnötig nach oben treibt – als ob die Aussicht auf eine Umarmung von Tristan nicht schon ausreichen würde.

Die ersten Fahrgäste kommen mir am Anfang des Gleises entgegen, und ich sehe mich panisch um, während ich in meiner Tasche erneut nach einer Wunderkerze suche. Wo ist er? Habe ich ihn verpasst? Der Zug ist länger als der erste, und ich laufe die ganze Strecke mit einer verzweifelt funkelnden Wunderkerze in der Hand ab, suche nur ein Gesicht, nur ein Augenpaar, nur ihn.

Aber auch diesmal – das wird mir langsam immer klarer – finde ich ihn nicht, und die längst heruntergebrannte Wunderkerze in meiner Hand wirkt plötzlich nur noch wie die unnötige Geste einer verzweifelten Frau, die von ihrem Freund sitzen gelassen wurde.

Ist das wieder nur ein Traum? Oder wird das heute Abend ein ganz realer Albtraum? So gemein wie der im Flugzeug, nur in echt? Tristan, der nicht zu meiner Ausstellungseröffnung kommt? Tränen, die Freudentränen sein sollten, sammeln sich in meinen Augen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mir in Strömen über die Wangen laufen werden. Bitte, das muss ein böser Traum sein! Gleich weckt Beccie mich auf und … Ich schließe die Augen, spüre den eisigen Wind, der mir durch die Haare jagt. Es ist kein Traum: Tristan ist nicht hier.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy, in der Hoffnung, dass es mir irgendeine Art von Antwort geben könnte. Hat Tristan das Foto nicht gesehen, das ich ihm eben geschickt habe? Spätestens jetzt müsste er wissen, dass ich schon in Stuttgart bin – und keine Ahnung habe, wo er ist. Wo ist er? Aber: keine Nachricht, keine Erklärung. Dabei wollte er mich heute Mittag am Flughafen abholen. Das hat er mir versprochen und Björn gestern noch erzählt. Ein anderer Zug? Nein. Nur diese beiden kommen heute Vormittag aus Budapest hier an.

Niemand steigt mehr aus dem Zug. Niemand außer mir steht noch auf dem Bahngleis. Oft habe ich mir unser Wiedersehen hier vorgestellt, als ich heimlich den Plan geschmiedet habe, ihn zu überraschen. So sah es allerdings nie aus.

Enttäuscht und traurig entscheide ich mich, ihm dennoch eine letzte Nachricht via WhatsApp zu schicken. Dann ist er an der Reihe. Ich hole mein Handy aus der Tasche und mache ein Foto vom Zug und dem leeren Bahngleis. Als ich auf »senden« drücke, fühle ich mich müde und erschöpft. Außerdem ist mir kalt.

An Tristan Handy:

Erster Lieblingsmoment daheim. Mit dir wäre er perfekt geworden.

Das Tablett mit unzähligen Sektgläsern sieht verlockend aus, aber ich fühle mich noch immer leicht beschwipst. Nicht nur, weil hier überall meine Fotos an den Wänden hängen und sich all meine Freunde mit mir über die Ausstellung freuen, sondern auch, weil Beccie und ich nachmittags eine Flasche Hugo fast leer getrunken haben und zu dem eindeutigen Schluss gekommen sind, dass Tristan auftauchen wird. Nur weil meine Überraschung heute Morgen nicht geklappt hat, heißt das noch lange nicht, dass mein Albtraum wahr werden muss. Tristan wird kommen und mir erklären können, warum er nicht in einem der Züge saß und nicht erreichbar war. Und dann wird alles gut.

Bis er auftaucht, nutze ich die Zeit, um von einem Gast zum nächsten zu huschen und nachzufragen, ob auch alles okay ist. Alles ist okay. Natürlich. Auch wenn ich jedes Mal, sobald sich die Tür öffnet, den Kopf viel zu schnell drehe und dadurch wohl früher oder später eine Nackenzerrung erleiden werde. Aber jedes Mal ist es ein Mann, den ich nicht kenne, oder eine Frau, die ich noch nie gesehen habe. Wenn mich jemand länger als fünf Minuten beobachten würde, könnte die Person denken, dass ich an einer schweren motorischen Störung leide. Deshalb gehe ich bald dazu über, mich während der kurzen Gespräche immer so lange weiterzubewegen, bis ich die Tür im Blick behalten kann. Er hat versprochen, dass er kommt, und er hat sein Wort noch nie gebrochen.

Irgendwann greift Beccie nach meinemArm und ermahnt mich, ruhig zu bleiben und meine Vernissage zu genießen. Das sagt sich so leicht, aber sie hat recht. Ich sollte mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, denn diese Ausstellung ist der Hammer – schöner noch als in meinen wildesten Träumen! Also in den angenehmen. So viele Menschen sind gekommen. Wegen mir. Ich kann es noch immer nicht ganz glauben, wenn ich mich so umsehe. Die meisten, mit denen ich ins Gespräch komme, sind überraschend freundlich, stecken mir ihre Visitenkarten zu und gratulieren mir, während ich versuche, mir Namen und Gesichter meiner potenziellen Käufer zu merken. Aber meine Überforderung ist mir wohl deutlich anzumerken, denn Beccie wirft mir immer wieder aufmunternde Blicke quer durch den Raum zu.

Ich kenne vielleicht zehn Prozent der Gäste. Darunter Beccie und Thomas Pegram, der es sich mit seiner Gitarre bequem gemacht hat und den perfekten musikalischen Hintergrund zu diesem Abend zaubert. Außerdem habe ich Björn entdeckt, der aber leider ohne seinen besten Freund Tristan angekommen ist. Dazu Volkan, seine Frau Nesli und natürlich Marco, der sich jetzt neben mich stellt und mich zufrieden ansieht.

»Das haben wir ausgesprochen gut hinbekommen. Oder?«

»Ja, Marco. Das haben wir.«

Mit einem Lächeln im Gesicht und vor Aufregung hochroten Backen hake ich mich bei ihm ein und lehne mich gegen seine Schulter. Wenn er wüsste, dass ich alles nur wegen ihm nicht kurzfristig abgesagt habe … Er würde mich köpfen!

Wenn wir ehrlich sind, ist das alles hier sein Werk. Als ich diesen wunderbaren Mann, der aussieht wie ein südländisches Männermodel, um weitere drei Monate gebeten habe, hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mir diese Ausstellung trotzdem zu ermöglichen. Obwohl alle Termine bereits fix waren, hat er mit seinem unverwechselbaren Charme alle überreden können. Ich will gar nicht so genau wissen, wie er das geschafft hat, aber ich bin ihm unendlich dankbar.

»Marco?«

»Ja?«

»Das werde ich dir nie vergessen. Danke. Für all das hier.«

Marco drückt mir einen Kuss auf die Wange und lächelt mich an.

»Das hast du verdient, Layla. Es musste nur jemand zur richtigen Zeit genau hinsehen.«

Das hat er getan. Als meine Selbstzweifel zu groß wurden und ich eine ehrliche Meinung gebraucht habe, die einen großen Einfluss auf meine zukünftigen Entscheidungen haben würde, hat er hingesehen. Dank ihm sehen jetzt sehr viele Menschen sehr genau hin, und wenn ich das Lächeln auf ihren Gesichtern richtig deute, gefällt ihnen sogar, was sie sehen.

»Ach ja, Layla. Übrigens. David Stiller will nachher mit dir reden.«

Er sieht mich von der Seite an und grinst.

»Was?!«

Atmen, Layla, atmen. David Stiller ist hier! Moment. Soll das ein Scherz sein? David Stiller ist ein Galerist aus Berlin, nein, David Stiller ist der Galerist aus Berlin, und alles, was er an seine Wände hängt, wird zu Gold. In Berlin. Warum sollte er hier in Stuttgart sein?

»Sei nett zu ihm. Er hat deine Weltreise finanziert.«

Ein Augenzwinkern und dann geht Marco, um neue Gäste zu begrüßen und ihnen meine Bilder so schmackhaft wie nur möglich zu machen. O Gott! Es ist kein Scherz. David Stiller ist wirklich hier, und er will mit mir reden. Wahrscheinlich über meine Ausstellung mit ihm. Ich starre Marco noch immer fassungslos hinterher, als Beccie neben mir auftaucht und mir ein rettendes Glas Sekt anbietet.

»Alles klar? Du siehst aus, als wäre bei dir gerade irgendwas durchgebrannt.«

Ich drehe mich langsam zu ihr und nehme einen kleinen Schluck.

»David Stiller ist hier. David Stiller!«

Beccie reißt überrascht die Augen auf, quietscht kurz und tänzelt ein bisschen auf der Stelle.

»Das ist doch … total … abgefahren!«

Sie sieht mich erwartungsvoll an. Ich kenne den Blick.

»Du hast keine Ahnung, wer das ist, oder?«

»Nicht den blassesten Schimmer.«

»Willst du wissen, wer er ist?«

»Ist er heiß?«

»Was?«

Beccie verdreht die Augen.

»Sieht er gut aus?«

»Geht so. Er ist vor allem ein sehr erfolgreicher Galerist aus Berlin.«

Mein Galerist!

»Geht so? Na, dann darfst du ihn behalten.«

Sie stößt grinsend mit mir an, weil sie sich freut. Über all das. Weil sie sich mit mir freut und für mich. Ich ziehe sie in eine spontane Umarmung und drücke sie fest an mich.

»Danke, Beccie.«

»Keine Ahnung wofür, aber gern geschehen.«

»Danke, dafür, dass du du bist. Ich weiß auch nicht, wie ich das alles …«

Plötzlich schiebt sie mich ein Stück von sich, um mich genauer ansehen zu können. Dabei hat sie diesen leicht strafenden Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut an ihr kenne.

»Wenn du jetzt heulst und das Make-up ruinierst …«

»Ich heule nicht!«