Lieblingstochter - Sarah Jollien-Fardel - E-Book
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Sarah Jollien-Fardel

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Beschreibung

»Wie im Fieber geschrieben: ungeschminkt, lebendig und wahrhaftig.« Libération

Sarah Jollien-Fardel erzählt die Geschichte einer Befreiung, die unter die Haut geht: In den Walliser Bergen wächst die kleine Jeanne mit einem gewalttätigen Vater, einer verängstigten Mutter und der eingeschüchterten Schwester auf. Alle im Dorf wissen von der willkürlichen Brutalität des Vaters, alle schauen weg. Jeanne flüchtet in ihre Phantasie, in die Welt der Bücher und später ins Internat. Sie errichtet einen Schutzwall, der sie am Leben hält. Als junge Frau sucht Jeanne die körperliche Nähe von anderen Frauen. Mit jeder Begegnung rückt der Vater ein Stück weiter weg. Doch dann verliebt sich Jeanne in Paul, und sie muss sich entscheiden.

Sarah Jollien-Fardel schreibt so berauschend wie klar über eine Frau, die ihre Vergangenheit um jeden Preis abstreifen will – um frei zu leben und zu lieben.

»Roh und radikal.« Neue Zürcher Zeitung

»Sarah Jollien-Fardel hält den Wunden des Lebens die Kraft der Literatur entgegen.« Julia Schoch

»Ohne Voyeurismus oder falsche Scham erzählt Sarah Jollien-Fardel von dieser Vergangenheit, die zwar nicht ausgelöscht werden kann, aber jedem das Recht einräumt, sich neu zu erfinden.« Lire Magazine Littéraire

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Über das Buch

In den Walliser Bergen wächst die kleine Jeanne mit einem gewalttätigen Vater, einer verängstigten Mutter und der eingeschüchterten Schwester auf. Alle im Dorf wissen von der willkürlichen Brutalität des Vaters, alle schauen weg. Jeanne flüchtet in ihre Phantasie, in die Welt der Bücher und später ins Internat. Sie errichtet einen Schutzwall, der sie am Leben hält. Als junge Frau sucht Jeanne zunächst die körperliche Nähe von anderen Frauen. Mit jeder Begegnung rückt der Vater ein Stück weiter weg. Doch dann verliebt sich Jeanne in ihren Kollegen Paul, und sie muss sich entscheiden: für oder gegen ein eigenes Leben. Sarah Jollien-Fardel schreibt so berauschend wie klar über eine Frau, die ihre Vergangenheit um jeden Preis abstreifen will – um frei zu leben und zu lieben. 

»Ohne Voyeurismus oder falsche Scham erzählt Sarah Jollien-Fardel von dieser Vergangenheit, die zwar nicht ausgelöscht werden kann, aber jedem das Recht einräumt, sich neu zu erfinden.« Lire Magazine Littéraire

Über Sarah Jollien-Fardel

Sarah Jollien-Fardel wurde 1971 geboren und wuchs in einem Dorf im Wallis auf. Sie lebte mehrere Jahre in Lausanne, bevor sie sich mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen wieder in ihrem Heimatkanton niederließ. Sie ist Chefredakteurin des Buchhändlermagazins Aimer lire. »Lieblingstochter« ist ihr erster Roman, der u.a. mit dem Prix du Roman Fnac und dem Choix Goncourt de la Suisse 2022 ausgezeichnet wurde.

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Sarah Jollien-Fardel

Lieblingstochter

Roman

Aus dem Französischen von Theresa Benkert

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagung

Glossar

Zitatnachweis

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für meine Großmutter Sylvie

Wer nicht den Himmel fand – hier unten –

Der geht auch oben fehl –

Denn Engel mieten nebenan, Wohin wir auch verziehn –

EMILY DICKINSON

1

Plötzlich hat er ein Gewehr in der Hand. Noch vor einer Minute haben wir Kartoffeln gegessen. Beinahe in Ruhe. Meine Schwester quasselte. Wie so oft. Und mein Vater sagte: »Warum kann diese Göre nicht einfach mal die Klappe halten?« Doch sie plapperte weiter. Sie war naiv, fröhlich, ein bisschen einfältig, witzig und lieb. In der Schule ging ihr das Lernen nicht so leicht von der Hand. Sie spürte nicht, wenn sich die Atmung meines Vaters veränderte, wenn sich in seinem Blick abzeichnete, dass wir eine gehörige Tracht Prügel beziehen würden. Sie redete ununterbrochen. Ich dagegen war immer auf der Hut, unruhig, hatte furchtbar Schiss, und die Angst klebte mir am ganzen Körper.

Ich sah die Schwäche meiner Mutter, die Dummheit und Grausamkeit meines Vaters. Ich sah die Unschuld meiner älteren Schwester. Ich sah alles. Und ich wusste, dass ich aus einem anderen Holz geschnitzt war als sie. Meine Schwäche war mein Stolz. Ein Stolz, der mich tapfer und aufrecht gehalten hat. Er hat mich auch zugrunde gerichtet. Ich war ein Kind. Ich verstand es, ohne es zu begreifen.

Es waren immer dieselben Szenen. Er kam von seinem Arbeitstag auf den Straßen nach Hause. Er stank nach Alkohol. Wenn er sich im Wohnzimmer auf das rissige Ledersofa setzte und einschlief, dann wussten wir drei, dass wir für ein paar Stunden unseren Frieden haben würden. Wenn er seinen massigen Körper auf einen Küchenstuhl sinken ließ, ein Messer zur Hand nahm, um Nüsse zu knacken oder ein Stück vom Käse abzuschneiden, den er in unserem erdigen Keller reifen ließ, dann waren wir fällig. Diese Abgedroschenheit war erbärmlich. Ein bis zum Erbrechen durchgespieltes Drehbuch, in dem jeder in die ihm zugewiesene Rolle schlüpfte. Niemand konnte die Distanz eines Zuschauers einnehmen. Alle vier wurden wir in denselben Walzer hineingezogen, bei dem jeder die Füße an die richtige Stelle setzte. Um einen anderen Schritt zu wagen, fehlte es uns sowohl an Selbstbewusstsein als auch an Leichtsinn.

Es konnte das sehnige Fleisch im Ragout sein, eine Gewürznelke zu viel, ein zu hartes Lorbeerblatt, eine zu weich gekochte Karotte, zu grob geschnittene Zwiebeln. Es konnte der Regen oder die stickige Hitze in der Fahrerkabine seines Lkw sein. Es konnte nichts sein. Und schon ging es los. Die Schreie, die Angst, die vulgären Ausdrücke, ein Glas gegen die Wand, eine Ohrfeige ins Gesicht meiner Schwester oder meiner Mutter. Ich huschte unter den Tisch, starrte auf die Fußbewegungen in diesem nur allzu bekannten Familientanz. Manchmal fiel meine Mutter vor mir auf den Boden, zu einer Kugel zusammengerollt. Ihre Augen schrien vor Angst, sie schrien »Hau ab«, und ich verdrückte mich unter mein Bett. Mit ansehen, beobachten. Einschätzen. Bleiben oder weglaufen. Aber mir nie, wirklich nie die Ohren zuhalten. Meine Schwester presste sich die Hände auf ihre. Doch ich wollte es hören. Wollte auf jedes Geräusch achten, das ankündigte, dass es diesmal schlimmer werden würde. Wollte die Wörter verstehen, jedes einzelne: du dreckige Schlampe, du Nutte, ich hab dich aus der Scheiße geholt, schau dich nur an, wie hässlich du bist, du blöde Kuh, ich bring dich um. Hinter diesen Wörtern steckten Hass, Elend, Scham. Und Angst. Jedes Wort war wichtig. Ich musste sie alle mit anhören. Auch den Tonfall. Mit der Zeit konnte ich ausmachen, ob er zu betrunken oder zu müde war, um bis zum Äußersten zu gehen, bis zur Prügelei. Ob er erschöpft war oder ob er noch die Kraft haben würde, meine Mutter gegen die Wand oder ein Möbelstück zu drücken und auf sie einzuschlagen.

Ich nahm auch den billigen Honig wahr, mit dem er das Tremolo in seiner Stimme süßte. Es war schrecklich. Und ich weiß nicht, warum und wie meine Mutter und meine Schwester sich von dieser falschen Sanftheit einlullen lassen konnten. Wie sie glauben konnten, dass nicht auch diese nur ein Vorspiel für seine Gewalt war. Sie glaubten, und vor allem hofften sie, dass wir an diesem einen Abend darüber hinweggehen würden. Vielleicht war es noch schlimmer, ihn zu durchschauen. Ich hatte das Gefühl, seine Komplizin zu sein. Ich plante voraus und schob zu erledigende Hausaufgaben vor, um das Weite zu suchen. Oder ich deckte eilig den Tisch ab, um die Gegenstände wegzuräumen, die er uns ins Gesicht pfeffern könnte. Am schlimmsten waren Flaschen. Er schleuderte sie gegen die Wand, und wir mussten uns wegducken, um ihrer Flugbahn auszuweichen. Besonders fürchtete ich mich vor dem schweren Emaillekrug, in dem Mama immer Sirup zubereitete. Ich hatte es geschafft, im Kaufhaus eine Plastikkanne zu klauen. Wir waren einkaufen, meine Mutter und ich. An der Schläfe hatte sie am Haaransatz genäht werden müssen, wegen einer Scherbe von einer dieser verfluchten Flaschen, dem Arzt hatte sie gesagt, sie sei schwer gestürzt. Ihr Haar fand ich wunderschön. Glatt und dicht. Nicht so wie meins. Ich liebte es, darüberzustreichen, schmiegte mich an sie, wenn sie strickte oder las. Ich wickelte mir eine ihrer karamellbraun schimmernden Strähnen um den Zeigefinger. Mein eigenes Haar hatte keine Farbschattierungen, es war dunkel, stumpf und glatt. Widerspenstig und überhaupt nicht glänzend. Manchmal vergrub ich die Nase in ihrem Haar und sog mit geschlossenen Augen ihren Duft ein. Dann bat sie mich verschämt darum aufzuhören. Die Vorstellung, dass ich sie hübsch finden könnte, brachte sie in Verlegenheit.

Im Einkaufszentrum hatte ich sie mit sämtlichen Tricks zu überzeugen versucht, diese Plastikkanne für neun Schweizer Franken und neunzig Rappen zu kaufen, weil er uns damit nicht mehr würde verletzen können. Doch sie war zu teuer, und mein Vater kontrollierte jeden ausgegebenen Franken. Meine Mutter hatte sich geweigert. Als sie mich zwei Tage später losgeschickt hatte, um Butter und Polenta zu besorgen, hatte ich es geschafft, die Kanne zu klauen und in meinem Schulranzen zu verstecken. Ich schwitzte, und an der Kasse kam mein Herz völlig aus dem Takt, aber ich hatte es geschafft. Als ich sie auf den Holztisch stellte, der von den Gewaltausbrüchen meines Vaters ganz verschrammt war, sah ich meiner Mutter direkt in die Augen. »Wie hast du die denn bezahlt?« Ich hatte einen Plan ausgeheckt, hatte auf dem Heimweg angehalten, sie mit Erde dreckig gemacht, mit einem Kieselstein zerkratzt und im Dorfteich ausgespült. »Sophies Mutter wollte sie wegwerfen, und ich habe ihr erzählt, dass ich eine zum Malen brauche, da hat sie sie mir gegeben.« Dieser Moment, wenn man eine Lüge auftischt. Dieser für einen Sekundenbruchteil in der Luft hängende Augenblick. Es kippt in die eine oder andere Richtung. Ich konnte meinen Blick beherrschen, ihn aufrechthalten, ohne schwach zu werden, ihn mit Unschuld tarnen. Ich öffnete die Augen weit, zog die Lippen zu einem falschen, geschlossenen Lächeln auseinander. Das klappte immer.

Da meine Mutter und meine Schwester sich nicht nur körperlich ähnlich waren, sondern auch in ihrem Verhalten, glaubte ich mit der Zeit, dass ich, wenn ich nicht wie sie war, notgedrungen sein musste wie er. Wie sonst sollte man sich erklären, dass er den Blick senkte, wenn ich ihn anstarrte, ohne mit der Wimper zu zucken, dass er mich nie schlug, mich höchstens an den Haaren zog. Keine Ohrfeige, kein fester Griff an den Schultern wie bei den anderen, wenn er sie packte und kräftig schüttelte. Nur ein einziges Mal hat er es gewagt.

Ich saß am Küchentisch. Es war an einem Sonntag gegen Abend. Wie immer sonntags war er nach dem Mittagessen fortgegangen. Wir wussten nicht, was er mit seinen Sonntagnachmittagen anfing. Diese Stunden, in denen er von zu Hause weg war, machten mich neugierig. Wohin ging er und mit wem? Ich versuchte, meiner Mutter etwas zu entlocken, sie wich mir mit irgendeiner Belanglosigkeit oder einer Gegenfrage aus: »Kommen wir drei nicht gut allein zurecht?« Ich hielt mich von ihm fern, aber gleichzeitig drehte sich alles um ihn. Da er über die terrorisierende Macht verfügte, die Luft oder Atmosphäre zu verändern, war ich regelrecht von ihm besessen. Meine Mutter kochte ein Coujenaze, ein einfaches Rezept aus unserer Gegend. Kartoffeln und Bohnen, die man so lange auf kleiner Flamme köcheln lassen musste, bis das Wasser vollständig verdampft war. Dabei vermischte sich alles, ohne sich in einem Brei aufzulösen. Die Bohnen wurden zart, die Kartoffeln zergingen auf der Zunge. Meine Mutter zauberte ein Abendessen aus nichts. Da sie nichts hatte, schlug sie Rappen heraus, wo sie nur konnte. Jedoch rührte sie nie das Klimpergeld an, das sie vor dem Wäschewaschen in den Hosentaschen meines Vaters fand. Bei ihm gab es nichts umsonst. Einmal hatte er sie wegen fünf Rappen geohrfeigt, die er absichtlich auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Das Fleisch an den Hähnchenkeulen wurde abgenagt, die Knochen wurden noch einmal für eine Brühe aufgekocht. Oft musste sie bei der Betreiberin des kleinen Dorfladens um einen Aufschub bitten. Mein Vater kaufte jedes Jahr ein Schwein. »Das ist gut für euch Säue«, sagte er.

An jenem Sonntag zeichnete ich in der dämmrigen Küche einen Tiger oder vielmehr den Oberkörper eines treudoofen und kein bisschen gefährlichen Tigers. Ein scheckiges Gesicht, eine gelb-rote Kappe und ein blauer Pulli. Ich hatte mehrere Blätter in der Mitte gefaltet und dann längs an der Kante zusammengeheftet. In diesem mit kindlicher Unbeholfenheit gebastelten Büchlein stand eine Phantasiegeschichte, die ich nicht mehr genau im Gedächtnis habe. Ich erinnere mich nur noch an das Hochgefühl, ein Wort an das nächste zu reihen. Es war gar nicht schwierig. Es bedeutete, weit weg zu sein von diesem Zuhause. Ich hatte die Stunden an den vergangenen Tagen geliebt, bäuchlings auf dem Bett, als sich wie von selbst die Sätze gesponnen hatten, bis zum letzten Punkt. Jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, lebt dieses brennende Gefühl wieder auf. Aus diesen geläufigen Wörtern, die ich so hinbog, wie es mir passte, eher an das eine als an das andere Adjektiv anschloss, formte sich etwas, das ohne mich nicht existiert hätte. Es ging nicht um Stolz, sondern um die einsame Freude an einer ungeheuren Zauberkraft: die Befreiung aus meinem Leben.

Als ich dieser kindlichen Raubkatze eben den letzten Schliff gebe, blickt er mir über die Schulter. Ich war überhaupt nicht begabt fürs Zeichnen, aber ich brauchte doch einen Umschlag für mein Buch! Ich weiß nicht, was ihn gerührt hat. Mein unschuldiges, ungezwungenes Tun – wie ich da vornübergebeugt, mit angewinkelten Armen drauflos malte – oder aber der Duft des Essens, die Stimmung im Haus oder dieses Idealbild einer Familie, in diesem Augenblick, als er in die Küche trat und meine Mutter und mich sah. Oder vielleicht hatte er auch nur am Nachmittag etwas erlebt. Ich weiß es nicht, jedenfalls legte er mir seine breite, schwielige Hand auf den Kopf. Ich versteifte mich sofort und nahm eine Verteidigungshaltung ein.

»Was wird das?«

»Das siehst du doch.«

»Reiß das Maul nicht so auf.«

Er zog seine Hand zurück.

Ich wusste ja, dass man es nie riskieren sollte, ihn zu reizen, aber dieses Glück würde er mir nicht verderben. Und auch nicht die intensive Freude daran, dem Büchlein, das ich gleich am nächsten Morgen meiner Lehrerin zeigen wollte, den letzten Schliff zu verleihen. Mit einem hochmütigen Tonfall, so entschieden, wie ich ihn mit gerade einmal acht Jahren anschlagen konnte, wagte ich es:

»Ein Tiger, mein Lieber.«

2

Ich hatte diesen Ausdruck »mein Lieber« nach dem Gottesdienst gehört, aus dem Mund von Doktor Fauchère, über den man respektvoll mit dem bestimmten Artikel sprach. »Der« Herr Doktor Fauchère war der Arzt unseres Bergdorfs, einer der wenigen Akademiker. An jenem Morgen katzbuckelte der Fleischer Gaudin vor ihm auf dem Kirchplatz. Der Herr Doktor Fauchère hatte ein »danke, mein Lieber« in die Unterhaltung eingestreut. Wie gut das aus seinem Mund klang! Sein herzliches Lächeln, genau das richtige Maß zwischen Höflichkeit und Reserviertheit. Ich fand, dass dieser Ausdruck, »mein Lieber«, dem Sprecher Wichtigkeit verlieh und seinem Gegenüber deutlich zu verstehen gab, dass er nicht denselben Rang einnahm. Behutsam und feinsinnig. Ich war also kühn genug für ein großspuriges »mein Lieber«. Mein Vater war zwar ungebildet, aber er hatte den Instinkt eines Schurken oder Tiers. Wie Micky, die Katze meiner Schwester Emma, die nie zwischen seinen Füßen herumstrich und sofort Reißaus nahm, wenn der himmelblaue Peugeot 404 meines Vaters auf den ungepflasterten Hof vor dem Haus fuhr. Ich hatte ihn meine Verachtung oder meinen stummen Hass noch nie spüren lassen. Doch dieses »mein Lieber« war der erste Schuss in unserem Kampf, der nicht einmal mit dem Tod enden würde.

Ich hätte es voraussehen können, meine Sinne waren immer wach, die Angst mein Kompass. Im nächsten Augenblick packte er mich am Kopf und hob mich hoch. Der Stuhl fiel um. Meine Ohren wurden zwischen seinen monströsen Pranken eingezwängt. Mir gegenüber meine entsetzte Mutter. Er ließ mich los, ich fiel hin. Ich dachte, es sei vorbei. Nur ein Anfall von schlechter Laune. Dann zerrte er mich am Unterarm. Von der Küche bis in mein Zimmer. Ich stieß gegen den Türpfosten, gegen die Wände. Ich hörte meine Mutter seinen Namen schreien. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich ihn aus ihrem Mund gehört habe: »Louis, bitte nicht, Louis, lass sie los, sie ist doch noch klein.« Louis schloss die Zimmertür, mir blieb keine Zeit, mich aufzurichten, meine Schulter tat weh. Ich lag auf dem Boden, und er schlug mich auf den Hintern, auf den Rücken. Er drehte mich um, hielt meinen Hals mit den Armen wie in einem Schraubstock umklammert. Sein Gesicht war rot und verzerrt, die Augen traten hervor und blitzten irre. Und das Lächeln. Es war widerlich. Das zu sehen und zu spüren. Noch ehe ich wusste, wie sich die Gesichtszüge unter dem Einfluss der Lust oder der Macht über einen anderen verändern, sah ich die Bestialität eines Mannes, eines Vaters, meines Vaters. Über mich gebeugt, lockerte er die Umklammerung seiner Riesenhände und drosch auf jede denkbare Stelle meines schmächtigen Körpers ein. Auf meinen Kopf, meinen Oberkörper, meine Arme. Anstatt mich abzuschirmen, starrte ich ihn fassungslos aus weit aufgerissenen Augen an, bis meine Lider schmerzten.

Meine Mutter ließ eine Pfanne auf seinen fast kahlen Schädel hinuntersausen. Davon überrascht, hörte er abrupt auf. Er erhob sich und verpasste ihr eine gewaltige Ohrfeige, die sie gegen die Wand schleuderte. Ich zitterte, ich hatte mich eingenässt, ohne es zu merken. Ich weinte nicht, ich musste mich übergeben und wurde ohnmächtig. Ich erinnere mich an ein Flüstern, daran, wie ein warmer Waschlappen sanft über meine Stirn fuhr, an das gedämpfte Licht. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich meine Mutter und hinter ihr »den« Herrn Doktor Fauchère. Er war unser Erlöser. Er würde uns aus unserem pestartigen Loch herausholen. Da war ich mir sicher. Er hatte einen gutmütigen Blick, er war nicht wie die anderen, ich merkte sofort, dass er gebildet war, und glaubte, dass er uns mit seiner Klugheit tatsächlich befreien würde.

»Ja, sag mal, Jeanne, hast du etwa Stuntfrau gespielt?«

Er neckte mich bestimmt nur, das kann gar nicht anders sein. Was ist schlimmer? Ein ignoranter Schweinehund oder ein scharfsinniger Mann, der so feige ist, wegzusehen, wenn ein achtjähriges Mädchen verprügelt wird? Bevor ich ihn endgültig für immer verachten sollte, versuchte ich es mit Direktheit, es konnte ja sein, dass ich gar nicht so mitgenommen aussah.

»Das war mein Vater.«

»Dein Papa? Du willst deinen Papa sehen? Aber dein Papa ist gerade nicht da.«

»Nein-nein-nein-nein.« Es war eine flehentliche Bitte, nein-nein-nein-nein, ich wurde laut, aber meine Stimme war dünn: »Das stimmt nicht. Mein Vater hat mich geschlagen.«

Er strich mir über die Stirn: »Das wird schon wieder, wir sollten sie heute Nacht im Auge behalten.« Erneutes Flüstern, und vor allem der Verrat dieses Mannes, den ich noch am selben Morgen verehrt hatte. Wenn wir zu ihm in die Praxis oder zum Sonntagsgottesdienst gingen, lauschte ich seinen Worten. Ich hatte mir immer eine Person voller Wohlwollen, Überlegenheit und Güte vorgestellt. Ich sah weder Scheinheiligkeit noch Selbstgefälligkeit. Vor meinen Augen hatte er mehrfach – durch ein verschmitztes Lächeln, einen Blick, ein Stirnrunzeln oder durch die Art, wie er einem Patienten gegenüber den Kopf bewegte – seine höhere Bildung, mit der er vielen in unserem ungehobelten Bauerndorf überlegen war, unter Beweis gestellt. Und ich, ein überhebliches Mädchen, hatte mich eifrig darum bemüht, den guten, alten Doktor Fauchère nachzuahmen. Für diesen Ausdruck »mein Lieber« musste ich eine ordentliche Tracht Prügel einstecken, eine ausgekugelte Schulter, blaue Flecken, Gliederschmerzen. Dieses widerrechtlich angeeignete »mein Lieber« führte sehr gut vor Augen, dass jeder in seinem Rang zu bleiben hatte, die einfachen Leute auf der einen Seite, und die Gutbürgerlichen auf der anderen. Uns stand es mit unseren unbedeutenden Leben nicht zu, diese Art Sprache zu gebrauchen. Mit einem Klaps auf meine Stirn setzte er einen Punkt hinter meine letzten Illusionen.

Jahre später würde ich in Lausanne wegen einer viralen Meningitis ins Krankenhaus eingewiesen werden. Der Doktor Fauchère hatte das Dorf kurz nach diesem düsteren Erlebnis verlassen. Ich weiß nicht, ob er meinen Familiennamen im Patientenregister entdeckt hat, ob ich in ihm rührselige Erinnerungen an seine Herkunft oder unterbewusste Schuldgefühle geweckt habe. Indiskret plauderte eine Krankenschwester aus, dass »der« Herr Doktor Fauchère sich persönlich nach mir erkundigt hat. Das scheint sie zu beeindrucken. Mich nicht! Offensichtlich. Hinter einem Typen, der sein Leben lang einen bestimmten Artikel vor dem Namen getragen hat, verbirgt sich nichts Besonderes. Die Kopfschmerzen, ein einziges Martyrium, halten tagelang an. Wenn man im Dunkeln eingezwängt ist, starr wie eine Leiche, ist selbst eine Träne, die sich aus dem Augenwinkel löst, die reinste Folter. Als er mein Zimmer betritt, habe ich das Schlimmste schon hinter mir. In einer geschmeidigen Bewegung, die Arme ausgebreitet wie der Messias, sieht er geradezu entzückt aus, mich wiederzusehen, mein Lieber, »der« Herr Doktor Fauchère. Er hatte kaum mit seinen übertriebenen Höflichkeiten begonnen, nach dem Motto, treffen sich zwei Landeier in der großen Stadt, schon loderte mein seit jenem Sonntag vor über zwanzig Jahren unterdrückter Hass in jeder Pore auf, in jedem Atom, in jedem Stückchen Haut. Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, wäre vor Wut an die Decke gegangen, hätte meine schon lange abgehangenen Gefühle an diesem schlappschwänzigen Doktor ausgelassen.

Ich blieb aufrecht, wie versteinert in meiner Unnachgiebigkeit und meiner Verachtung. Ich sperrte die Wut weg, die sich in meinem Bauch ballte, und musterte ihn verächtlich mit metallischen Augen. Er mochte ja »der« Doktor sein, mochte damals in seinem Dorf geschätzt worden sein, mochte eine Station in einem Universitätskrankenhaus leiten, aber seine aus meiner Sicht unverzeihliche Feigheit hatte auch er offenbar nie vergessen. Schlimmer noch als die Fehler in aller Öffentlichkeit, sind die, von denen nur man selbst weiß und die an der Seele nagen. An diesem Tag, während des stummen Streitgesprächs, zeigte mein herablassender Blick nur zu deutlich, was ich von ihm hielt.

Ich wandte das Gesicht mit einer leicht theatralischen Bewegung ab.

»Feigling!«

Er hörte es, kurz bevor er die Tür schloss, ich sah, wie er den Kopf zwischen die Schultern zog.

Ich war noch nicht einmal dreißig und führte schon Krieg. Schon immer. Für immer.

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