Life Cycle - Frank Glanert - E-Book

Life Cycle E-Book

Frank Glanert

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Beschreibung

Dieses Buch handelt von Menschen und Fahrrädern – und von der verändernden Kraft, die das Fahrrad mit sich bringt: auf der persönlichen Ebene, durch das Erleben von Bewegung. Und auf einer darüber liegenden Ebene für die Gesellschaft und lebenswerte Städte und Umgebungen. Frank Glanert verfügt über eine natürliche Begeisterung für alles rund ums Rad. Er beobachtet genau und nähert sich den Menschen auf einfühlsame Art und Weise. Für ihn steht der Mensch im Mittelpunkt. Menschen zentrierte Planung, das Prinzip der Augenhöhe, der Wunsch nach lebenswerten Städten – das alles findet er im Fahrrad wieder. Das vorliegende Buch zeigt auf, dass wir intuitiv richtig liegen, wenn wir Rad fahren, um uns gut zu fühlen und den Kopf freizubekommen. Frank Glanert hat verschiedene Menschen getroffen, in deren Leben das Fahrrad eine besondere Rolle spielt. Und schlägt damit den Bogen vom Persönlichen hin zu einer größeren, gesellschaftlichen Dimension.

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Seitenzahl: 224

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Frank Glanert

Life Cycle

Wie das FahrradLebenverändert

Buchcover Titelbild: Marie Huguet

Buchcover Bild Rückseite: Carola Bührmann

Satz und Gestaltung: Stefanie Tegeler, Isensee Verlag

Lektorat: Dr. Michael Sellhoff, Flintbek

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7308-1998-2

© 2022 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg –

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1:

Der Mensch im Mittelpunkt

Menschen: Maya und Bram

Kapitel 2:

Rad fahren hat mein Leben verändert

Die verändernde Kraft von Reisen mit dem Rad

Menschen: Martina und Sophie

Kapitel 3:

Vom Fahrradtag zum Radverkehrskonzept

Menschen: Frank Patitz – Retrovelo

Kapitel 4:

Innovation Cycle

Arbeit und Bewegung

Menschen: Bicyclepainter – zu Besuch bei Taliah

Kapitel 5:

Mein eigenes Blog

Menschen: Joes 718 Cyclery – mehr Netzwerk als Bikeshop

Kapitel 6:

Beteiligung und Partizipation

Enera Roadtrip: Lastenrad-Tour zur Energiewende

Menschen: Dein Deichrad

Kapitel 7:

Erleben und Bewegung

Menschen: A Giant Cheerio – Lara auf Tour

Kapitel 8:

Städte für Frauen

Menschen: Isabell Eberlein

Kapitel 9:

Menschzentriertes Design

Trial and error

Menschen: Brendt Barbur

Kapitel 10:

Fahrradstadt Groningen

Menschen: Anna Luten – Erste Rad-Bürgermeisterin von Amsterdam

Kapitel 11:

Rotterdam und city at eyelevel

Menschen: Off the Bridge – Bicycle & Coffee

Kapitel 12:

Utrecht per Rad

Menschen: Laura Rojas und Bicistema

Kapitel 13:

Biking Budapest

Menschen: Olli und Eddy would attack

Kapitel 14:

Mein Traum von einem Rad-Café

Schluss: (M)eine Perspektive auf das Leben – vom Fahrrad aus

Danksagung

VORWORT

Wenn wir als Kind die Kunst des Radfahrens erlernen, werden wir zum ersten Mal in unserem Leben mit dem Gefühl grenzenloser Freiheit belohnt. Doch sobald wir das Erwachsenenalter erreichen, geben wir die zwei Räder allzu schnell zugunsten von vieren auf – das Versprechen der Automobilität und die auf Autos ausgelegte Welt um uns herum werden zu verführerisch, um ihnen widerstehen zu können. Dennoch gibt es eine kleine aber wachsende Zahl von Enthusiasten auf Social Media wie auch in den Verwaltungen, die versucht, Menschen und Entscheidungsträger in Städten rund um die Welt davon zu überzeugen, das Fahrrad als einfache Lösung für zahlreiche unserer komplexen Probleme neu zu entdecken.

Unser Freund Frank Glanert ist eine dieser passionierten Stimmen. „Life Cycle“ ist sein persönliches Plädoyer, sich dieses altmodische Fortbewegungsmittel noch einmal näher anzuschauen – und es als starkes und modernes Werkzeug zu erkennen: Ein Werkzeug, das geeignet ist, unsere Gesundheit und unser Glück zu steigern. Und zugleich ein Werkzeug, um die Verwandlung unserer Städte zu schaffen: Von Orten, die für Maschinen, zu solchen, die für Menschen gemacht sind. Damit können wir das Versprechen von Freiheit einlösen, wie wir sie als Kind erlebt haben: Die Freiheit, uns in unserer Umgebung frei bewegen zu können, die Freiheit davon, in einer Blechkiste im Verkehr festzustecken, die Freiheit von den ständig steigenden Kosten des Autofahrens.

Auf den folgenden Seiten nimmt er Euch mit auf eine unterhaltsame und fesselnde Reise rund um die Welt – und stellt dabei verschiedene Akteure vor, die unermüdlich und engagiert dafür arbeiten, Städte fahrradfreundlicher zu machen. Wir hoffen, Du genießt diese Fahrt ebenso sehr wie wir.

Melissa & Chris Bruntlett Delft - Niederlande am 3. Oktober 2022

Für Emma

EINLEITUNG

An einem meiner letzten Tage in New York City hatte ich mir gerade einen Bagel und einen großen Kaffee geholt. Es war um die Mittagszeit, ich hatte Hunger und stand noch unter dem Eindruck der morgendlichen Erkundungstour durch Manhattan. Etwas unbeholfen versuchte ich, mein Rad, das Essen und den Kaffee gemeinsam irgendwohin zu bugsieren, wo man in Ruhe essen und schauen konnte. Hier an der Hauptstraße gab es keine Sitzgelegenheit, und erst ein paar Seitenstraßen weiter fand ich in einer Häuserschlucht (und der Name ist hier wirklich angebracht) einen unbequemen – aber dabei vermutlich irgendwie architektonisch wertvollen – Betonklotz, auf dem ich sitzen konnte. Wie durch ein Wunder hatte ich weder den Bagel fallen lassen noch mich mit dem Kaffee eingesaut. Und während ich dort saß, dachte ich: „Wann und wie ist eigentlich der Mensch als Maßstab für Städte verloren gegangen?“ Ich schaute die hohen gläsernen Fassaden hinauf, sah die Menschen im tiefen Schatten der Hochhäuser an mir vorbeigehen und hätte mich zumindest gerne zurückgelehnt, wenn das denn möglich gewesen wäre.

Mit dem Rad durch die Straßenschluchten Manhattans

Ich hatte nie vor, ein Buch zu schreiben. Die fünfwöchige Reise nach New York hatte ich angetreten, weil ich zwei Jahre zuvor während eines Urlaubs mit meiner Freundin festgestellt hatte, dass es dort etwas für mich zu entdecken gab. Etwas, das mit meiner Passion für Fahrräder zu tun hat (so viel war klar) und das sich dennoch nicht auf Anhieb entschlüsseln ließ. Was ich wollte, war: entdecken, recherchieren, Geschichten aufschreiben und Menschen kennenlernen, alles für mein eigenes Blog. Mehr nicht. Dass die Erkenntnis, gerade in Manhattan sei der Mensch als Maßstab verloren gegangen, kein großes Geheimnis ist, war mir von Anfang an bewusst. Und trotzdem schreibe ich nun von diesem Ausgangspunkt ein Buch.

Während ich die ersten Zeilen zu Papier bringe, sind die Straßen von Manhattan nahezu menschenleer. Genauso wie die von Brooklyn, anderen amerikanischen Städten und wie die Straßen großer und kleiner Städte in Europa. Die Osterreisewelle in meiner Heimat an der deutschen Nordseeküste fällt aus. Auf dem Bild, das ich dieser Tage von der leeren Autobahn geschossen habe, fehlen nur noch die Radfahrer und man könnte meinen, es wäre ein autofreier Sonntag Anfang der 70er-Jahre während der Ölpreiskrise. Diese Zeit, die Erfahrungen und die damit einhergehenden Bilder werden uns noch lange in Erinnerung bleiben. Die Covid-19-Pandemie und die Reaktionen darauf haben die Welt fest im Griff. Und mit einem Mal ist der einzelne Mensch wieder Maßstab: als zu schützendes Wesen, mit 1,50 Meter als Maß für den Sicherheitsabstand gegen Infektionen.

Im Grunde hat mich der Gedanke von damals beim Mittag mit Bagel nicht wieder losgelassen. Ich bin ein großer Fan davon, den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen. Aber auch vom Prinzip der Augenhöhe – und zwar im übertragenen Sinne ganz genauso wie im persönlichen Miteinander und als Maßstab für unsere Städte und die Mobilität. Nach dem Ausflug nach New York habe ich mich verstärkt mit Planungsansätzen beschäftigt, die sich um die unmittelbare und praktische Umsetzung von Ideen bemühen, die den Menschen als Maßstab nehmen: Bei der Einbeziehung von Einwohner: innen, Nutzer: innen und Besucher: innen einer Stadt oder eines Viertels. Solchen Planungsansätzen geht es oft um kleine, schnell umsetzbare Schritte, die Einzelne nicht abhängen, sondern ihnen ermöglichen, sich in einer sich ändernden Umgebung neu zu orientieren. Das alles ist für Menschen an sich nicht neu oder ungewöhnlich – für Planer: innen, Planungsprozesse und zum Beispiel die Stadtentwicklung ist es das mitunter schon.

Ich bin ausgebildeter Ingenieur und als gelernter Zimmermann außerordentlich praktisch veranlagt. Als ich vor einiger Zeit im Rahmen eines Energiewendeprojekts aktuelle Arbeiten und den damit verbundenen Human-Centered-Design-Ansatz vorstellen durfte, sorgte meine Vita für einiges Schmunzeln im Auditorium. Ingenieur: innen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie alles im Detail vorplanen und die Ausführung minutiös mit einem geeigneten Projektmanagement begleiten, gelten im Kreise agil arbeitender Entwickler: innen und Wissenschaftler: innen als schwieriges Klientel. Auch mich hat das Adaptieren menschzentrierter Entwicklungsansätze vor echte Herausforderungen gestellt. Warum? Weil es allem, was mir und einem großen Teil von uns beigebracht wurde, zu widersprechen scheint. Und diese Art von „Anpassungsstörung“ erleben wohl auch Entwickler: innen und Ingenieur: innen im täglichen Miteinander, in Projekten, beim Finden einer gemeinsamen Sprache und dem Aushandeln des geeigneten Vorgehens. Denn steht der Mensch im Mittelpunkt, so ergeben manche technischen Entwicklungen – und seien sie technisch noch so herausfordernd und begeisternd – wenig bis gar keinen Sinn. Wenn Bedürfnisse, Wertvorstellungen und die Anschlussfähigkeit der Einzelnen im Vordergrund stehen, sind kleinere, angepasste Schritte erforderlich. Dann geht es darum, Dinge ausprobieren, statt so zu tun, als seien sie von Anfang bis Ende planbar.

Was hat die aktuelle Pandemie-Situation mit menschzentrierter Entwicklung, der Perspektive der Augenhöhe und dem Prinzip des Ausprobierens zu tun? – Nicht nur in New York, auch in vielen anderen Orten werden Straßen und Straßenbereiche abgetrennt, um den Menschen Bewegung zu ermöglichen. Und zwar ohne Gefahr zu laufen, sich gegenseitig anzustecken. In Rekordzeit werden von Bogota bis Berlin Fahrbahnstreifen, die ursprünglich für den Autoverkehr vorgesehen waren, nun für den Radverkehr umgewidmet. Auch vor dem Hintergrund der im Jahre 2019 erneut verstärkt aufgekommenen Klimadebatte stellt unsere Gegenwart eine Art Wende dar. Und ich frage mich bei vielen Entwicklungen: Warum erst jetzt, warum dauert das so lange? Und was hat zum Beispiel Anfang der 70er Jahre dazu geführt, dass nach der Ölpreiskrise in manchem Bereich eine Veränderung stattfand, während andernorts Business as usual auf der Tagesordnung stand. Was muss geschehen, damit sich nachhaltig etwas ändert?

Osterreisewelle 2020 an der Nordseeküste. Das Bild erinnert an die autofreien Sonntage Anfang der 70er-Jahre im Zuge der Ölpreiskrise.

Ich habe über die Jahre viele Entwicklungen im Bereich Radverkehr gesehen und zum Teil aktiv begleitet. Was dabei auffällt, ist vor allen Dingen die geringe Geschwindigkeit, mit der sich Veränderungen vollziehen. Denn auch positiven Entwicklungen steht das Festhalten am Status quo entgegen. „Why We Cycle“, so heißt ein Film der Regisseure Arne Gielen und Gertjan Hulster, den ich dieser Tage erneut gesehen habe. Ich hätte dieses Buch also auch „Why We Don´t Cycle“ nennen können. Bemerkenswert ist: Ebenso wie die Niederländer sich selbst kaum erklären können, was dazu führt, dass dort so viele Menschen Rad fahren, ist in Deutschland und anderswo auf der Welt kaum nachvollziehbar erklärbar, warum sich auf so lange Zeit so wenig in diese Richtung verändert.

Mit diesem Buch möchte ich versuchen, einen Beitrag zu leisten. Zur Dokumentation des fast unerklärlichen Festhaltens an einmal eingeschlagenen Wegen. Und ich möchte dazu beitragen, die Lösung mithilfe zweier wirksamer Schlüssel zu finden: dem Prinzip der Augenhöhe und dem Menschen im Mittelpunkt.

In meinem Leben dreht sich alles rund ums Fahrrad, ums Radfahren, Bike-Culture, Radverkehr und dessen Förderung. Diese Art von „Fahrradverrücktheit“ zeichnet mich aus und ich möchte als neugieriger Beobachter eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die einer natürlichen, jahrzehntelangen Begeisterungsfähigkeit entspringt. Von den ersten wackeligen Erinnerungen auf einem Kinderrad bis ins Erwachsenenalter. Dabei kann ich aufgrund von Ausbildung, beruflicher Praxis, persönlichem Interesse sowie Fort- und Weiterbildung einen fachlichen Beitrag zu aktuellen Entwicklungen und Diskussionen liefern. Ich habe in den vergangenen Jahren aktuelle und umfangreiche eigene Erfahrungen gesammelt und bin deshalb in der Lage, Erkenntnisse aus verschiedenen Anwendungsbereichen zusammenzuführen. Anhand von Reisen und Gesprächen habe ich umfassende und unterschiedliche praktische, aktuelle Eindrücke gesammelt, mit denen ich in diesem Buch zwischen Akteur: innen vermitteln möchte. So soll praxisrelevantes Wissen rund ums Rad entstehen.

Ich hoffe damit – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und Exklusivität – eine Art Praxishandbuch für die angesprochenen Bereiche zu bieten und mit der Versammlung verschiedener Menschen und Blickwinkel auch Anknüpfungspunkte für individuelle weitere Lernerfahrungen geben zu können. Bei dem Gang durch diese sehr persönliche Sicht der Dinge wünsche ich zuallererst aber gute Unterhaltung!

KAPITEL 1:

DER MENSCH IM MITTELPUNKT

In diesem Buch geht es um Fahrräder und das Radfahren. Vor allem aber geht es um Menschen. Denn für mich steht der Mensch im Mittelpunkt. Das Fahrrad finde ich dabei im Prinzip der Augenhöhe bei menschzentrierter Planung und im Wunsch nach lebenswerten Städten wieder.

In meinem Leben dreht sich alles rund ums Rad und ich habe mit Menschen gesprochen, in deren Leben das Fahrrad ebenfalls eine besondere Rolle spielt. Life Cycle handelt daher von der verändernden Kraft, die das Fahrrad mit sich bringt: auf der persönlichen Ebene, durch das Erleben von Bewegung. Und auf einer darüberliegenden Ebene für die Gesellschaft und lebenswerte Städte und Umgebungen.

Rad fahren scheint das Natürlichste der Welt – und wenn du erst einmal auf dem Rad sitzt, fliegt die Welt an dir vorbei und der Wind bläst dir ins Gesicht. Man bekommt den Kopf frei und fragt sich: warum mache ich das eigentlich nicht öfter? Fast jede und jeder erinnert außergewöhnliche Situationen und Begegnungen, wenn sie/er ans Radfahren denkt. Menschen in Dänemark oder den Niederlanden scheinen das Radfahren in den Genen zu haben. Aber ist es nicht vielmehr so, dass es nicht nur ihnen, sondern uns allen in die Wiege gelegt ist? Dass es nach dem Laufenlernen für die meisten die zweite große, einen Moment fast unlösbar scheinende Lernaufgabe ist. Rad fahren verlernt man nie, heißt es. Und als Prozess mit Fallen, Scheitern und Aufstehen ist es prototypisch für jeden anderen Lernprozess.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Rad fahren ist weit mehr als nur Fortbewegung und Freizeitspaß. Rad fahren bedeutet eine einzigartige Verbindung von Bewegung und Interaktion auf Augenhöhe. Schon nach wenigen Kilometern merken wir instinktiv: Es tut sich etwas. Und zwar sowohl im Körper als auch im Kopf. Und da sind die Einwohnenden Dänemarks und der Niederlande nicht anders veranlagt als alle anderen Menschen auf der Welt. Die meisten von uns erleben das nur nicht. Warum das so ist, und warum es wichtig ist, sich auf den Menschen zu konzentrieren und auf das, was mit uns passiert, wenn wir Rad fahren – davon handelt dieses Buch.

Rad fahren findet auf Augenhöhe statt. Wenn ich Rad fahre oder zu Fuß gehe, kann ich mit anderen kommunizieren, interagieren und ganz unvermittelt stehen bleiben, wir können uns dann sogar gegenseitig berühren. Rad fahren ist Bewegung, zu zweit oder in einer Gruppe bedeutet es Austausch, im Verkehr bedeutet es Interaktion. Rad fahren ist dann wie ein Spiel, das man gerne spielt. Dann, wenn niemand die Spielregeln außer Kraft setzt, sondern das Prinzip von Gleichheit und Augenhöhe gelebt werden kann.

Eine Demo für mehr Radverkehr: Viele Menschen sehnen sich nach besseren Bedingungen und Sicherheit im Straßenverkehr. Wenn man den Forderungen Nachdruck verleiht, wie hier bei einer Veranstaltung in Oldenburg, kann man im selben Moment das positive Gefühl in der Gruppe erleben.

Städte, die für Menschen gebaut werden und die sich daran orientieren, was für die ganz Kleinen und die Alten gut und sicher ist, schaffen ein Klima der Begegnung. Da, wo der Mensch der Maßstab ist und nicht die Maschine, steigt die Aufenthaltsqualität, die Bewegung verlangsamt sich, ohne komplett stehen zu bleiben. Die Geschwindigkeit hat dann ein menschliches Maß, wenn man so will. Auf dem Markt und in engen Gassen ist sie noch etwas langsamer. Dort, wo Platz ist, die Wege eindeutig sind und deshalb das Verhalten der anderen vorhersehbar, wird es schneller. Der Mensch mag es, etwas mit anderen Menschen zu tun. Spiele zu spielen oder Mobilität spielerisch zu erleben. Menschen sind gern in Bewegung. Und zwar tatsächlich und nicht nur virtuell. Komplexe Situationen und Abläufe fordern uns heraus, ohne uns zu überfordern.

In Amsterdam bin ich nachmittags einst vier, fünf Mal mit dem Rad um die Innenstadt gefahren. Quasi auf einem Ring, der genau in diesem Bereich lag, wo höhere Geschwindigkeiten möglich und mehr Aufmerksamkeit gefordert waren. Und obwohl ich immer wieder mit anderen Menschen unterwegs war, konnte ich lernen und „aushandeln“, wie Radverkehr auf dieser Strecke der niederländischen Hauptstadt funktioniert. Für die Pendlerinnen und Pendler, die irgendwann später in den Runden dazukamen, gehörte ich zu den Langsamen. Viele andere fuhren so, dass ich derjenige war, der Rücksicht nehmen sollte und wollte. In Kopenhagen, der zweiten europäischen Rad-Hauptstadt, lernt man schnell, dass es dazu gehört, Handzeichen nicht nur nach rechts und links zu geben. Sondern auch den Arm zu heben, wenn man vorhat stehen zu bleiben. Dort saß ich Stunden auf einer Brücke und am nächsten Tag wieder, freute mich über Menschen aller Geschlechter, Kinder, Jugendliche, Arbeiter: innen, Angestellte und viele mehr in einem nicht enden wollenden Strom von Radfahrenden.

Hier auf der Dronning-Louises-Brücke in Kopenhagen reißt der Strom der Radfahrenden den ganzen Tag über nicht ab. Zehntausende nutzen die Strecke jeden Tag mit dem Rad.

Rad fahren ist etwas, das man erleben kann und muss. Und doch ist es gar nicht so einfach, wie man denkt. Am ehesten merkt man das, wenn man mit einem kleinen Kind unterwegs ist. Meine Kinder haben ihre ersten Fahrübungen auf der eigenen Auffahrt und dem nahe gelegenen Schulhof unternommen. Zur Grundschule durften sie lange Zeit nicht alleine fahren (die Schule hat es nicht erlaubt) und auch wenn wir mit ihnen unterwegs waren, war das oft genug schwierig. Der Platz, der fürs Radfahren zur Verfügung steht, ist oftmals viel zu gering bemessen, um das Lernen zuzulassen. Und zum Lernen gehören Fehler: Wenn der Radweg aber nur knapp 1,50 Meter breit ist und für beide Richtungen und auch für Fußgänger freigegeben, dann ist da buchstäblich kein Platz für Fehler.

Einfach aufs Rad setzen und losfahren, ist eine schöne Idee. So lange es am Kanal entlang geht oder auf sicheren Wegen abseits der Straße, erkennen sich darin auch viele wieder. Einigen graut es geradezu vor dem Weg durch die Stadt, vor den unübersichtlichen Kreuzungen und der hohen Geschwindigkeit von Lkw und Autos. Um Radfahren so wie in den Niederlanden oder Dänemark zu erleben, muss man schon dort hin. Und auch dort war es nicht immer so wie heute.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dem Prinzip der Augenhöhe, der Lust am Radfahren und vor allen Dingen den spielerischen Aspekten, der Bewegung, der Herausforderung und dem Miteinander. Es wird dabei schwerfallen, von etwas zu schreiben, das nicht ohne Weiteres erlebbar ist. Und es wird schwer sein, dabei auf die bestehenden Verhältnisse einzugehen, ohne in negativer Abgrenzung nach Lösungen zu suchen. Denn mangels eigener Erfahrungen entgeht bislang den meisten von uns das Potenzial einer gelingenden, menschzentrierten Mobilität, die das Radfahren zum Normalfall nimmt. Deshalb fehlt uns auch das beglückende Gefühl dazu – denn wie idyllisch wäre etwa ein sonntägliches Kaffeekränzchen, wenn wir in jeder Sekunde damit rechnen müssten, dass ein 40-Tonner auf den Tisch zusteuert?

Im Radfahren selbst liegt eine starke, verändernde Kraft und Dynamik. Dies gilt sowohl für gesellschaftliche Prozesse als auch für die persönliche Entwicklung. Mir selbst sind verschiedene Beispiele dafür begegnet, von denen noch die Rede sein soll. Und auch in diesem Fall ist es so, dass man den Vorgang erleben und beobachten muss. Häufig genug nimmt man die Entwicklungen als mehr oder weniger gegeben hin oder bemerkt diese nicht einmal. Ich möchte die Aufmerksamkeit genau auf diese Aspekte lenken. – Was meine ich damit?

In der Fachwelt ist weithin bekannt und anerkannt, dass das Fahrrad in der Emanzipationsbewegung und bei Gleichstellungsbestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige, wenn nicht eine entscheidende Rolle gespielt hat. Das Rad erlaubte es breiten gesellschaftlichen Gruppen, Wege zurückzulegen und sich unabhängig zu bewegen, wie es in der Zeit davor kaum denkbar war. Diese Form der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung findet man über die Jahrzehnte und bis in die heutige Zeit immer wieder. In Mexiko beispielsweise sind junge Frauen häufig gemeinsam mit dem Rad unterwegs – quasi als „Gang“. Sie erleben auf dem Rad eine Unabhängigkeit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, die insbesondere als Frau in dem lateinamerikanischen Land sonst so kaum möglich erscheinen. In der Türkei und im Nahen Osten fahren Frauen einzeln und auch in der Gruppe Rad und begehren so gegen traditionelle Muster und Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit auf. In den USA sind es große Gruppen von Jugendlichen – nicht selten Dutzende, manchmal Hunderte –, die durch die Städte „cruisen“. Für sie ist das Fahrrad ebenso ein erschwingliches wie stark individualisiertes und positiv aufgeladenes Fortbewegungsmittel. In Deutschland gibt es in vielen Städten eine Critical Mass (das sind gemeinsame Ausfahrten als Aktionsform) und im Sommer 2020 fanden in über 100 Städten „Kidical Mass“-Veranstaltungen statt, um auf den Bedarf an kindgerechter Infrastruktur aufmerksam zu machen. Ich behaupte, alle können diese integrative und Gemeinschaft stiftende Kraft des Radfahrens erleben, und viele von uns haben das vielleicht auch schon getan. Und zugleich meist nicht weiter darüber nachgedacht. Ein Beispiel?

Kidical Mass im September 2020 in Oldenburg vor dem Schloss. Die Aktionsform soll auf die Bedürfnissse von Kindern aufmerksam machen.

Eine Gruppe von Studierenden begibt sich mit ihrem Professor auf eine Art Studienfahrt. Nichts besonderes, eine mehrstündige oder vielleicht auch mehrtägige Radtour, die keinen der Beteiligten an individuelle körperliche Grenzen führt oder gar überfordert. Ein Architektursemester besucht verschiedene Bauwerke, Stadtplaner besuchen eine große Stadt, das Umland und dabei verschiedene Plätze. Im Grunde ist das auch fast zweitrangig. Was die Studierenden nämlich nicht wissen: Der Dozent macht diese Tour deswegen regelmäßig mit seinen Semestern, weil das Erlebnis in der Gruppe, die Bewegung und die soziale Interaktion für ihn im Vordergrund stehen. Er weiß, dass sich das Gesehene und die Interaktion durch die Bewegung und Abwechslung im Miteinander auf den unterschiedlichen Streckenabschnitten auf eine ganz bestimmte Art und Weise in das „Gedächtnis“ aller Beteiligten einprägen werden. Es dürfte schwer fallen, das mehrdimensionale Geschehen in dieser Gruppe nachzuvollziehen oder gar systematisch zu untersuchen und die Beobachtung des Einzelnen zu bestätigen. Was während dieser Tour passiert – Bewegung, Erleben, Interaktion, Lernen und so weiter –, ist in seiner Komplexität kaum zu erfassen. Und es wird eben nicht nur im Gedächtnis (darum die Anführungsstriche oben), sondern auch körperlich erlebt und abgespeichert. Auch wenn keiner der Beteiligten an seine Leistungsgrenze kommt, so sind doch alle in Bewegung. Hirnphysiologisch stellt sich bereits nach rund 30 Minuten moderater körperlicher Betätigung ein anderer Verarbeitungsmodus ein. Und alle weiteren Dynamiken, wie zum Beispiel soziale oder inhaltliche Erlebnisse, finden dann in diesem positiven Modus statt. Ja, man kann dies auch bei einem gemeinsamen Spaziergang erleben. Doch die Reichweite mit dem Rad ist bei vergleichbarer körperlicher Anstrengung um ein Vielfaches höher. Mit dem Bus, dem Auto oder jedem angetriebenen Fahrzeug bleibt die Erfahrung hingegen weit hinter der auf dem Fahrrad zurück.

Und auch auf der individuellen Ebene findet man Beispiele für das Besondere am Radfahren: Ich war erstaunt, wie viele Frauen derzeit weltweit mit dem Rad unterwegs sind. Frauen ganz unterschiedlicher Herkunft und Alter, die teils bereits seit Monaten oder Jahren Rad fahren und rund um den Globus Kilometer um Kilometer zurücklegen. Und dabei spreche ich nicht von klar konturierten, zeitlich und räumlich begrenzten Touren oder solchen, die über längere oder kürzere Distanzen als Promo- oder z. B. auch Spendenfahrten durchgeführt werden. Nein, es sind quasi zeit- und raumlose Touren von Menschen aller Geschlechter, scheinbar ohne festes Ziel und ohne systematischen Hintergrund, die etwas mit den Radfahrenden machen. Etwas, das nicht ausschließlich mit der körperlichen Betätigung zu tun hat, mit dem Erleben fremder Kulturen und der Begegnung mit anderen Menschen. Etwas, dass nicht ausschließlich mit dem Allein- und dem Auf-sich-gestellt-Sein zu tun hat. Für viele von uns scheint das unvorstellbar. Vor allen Dingen auch, weil wir in persönlichen und gesellschaftlichen Anforderungen und Netzwerken festgehalten werden. Wer kann sich schon so mir nichts, dir nichts aufs Rad setzen und ohne Ziel und Zeitvorgabe losradeln? Nun, jedenfalls gibt es diese Menschen und ich werde auch von ihnen berichten. Eine Annäherung an die Motivation und die vielfältigen Dimensionen ist auch hier gar nicht so einfach möglich – so viel sei schon jetzt verraten. Und doch hat fast jede und jeder von uns das dahinterstehende Phänomen zumindest schon einmal in Ansätzen erlebt.

Und das Ganze kann sehr schnell gehen. Im Prinzip gilt auch hier, dass wir schon nach kurzer Zeit – innerhalb von 20 bis 30 Minuten – den „Kopf frei bekommen“ können. Mir ist das sogar schon auf dem Weg zum Bäcker passiert. Und es liegt wohl an der Gleichmäßigkeit des Bewegungsablaufs und der prinzipiellen Uneingeschränktheit. Ja, natürlich habe ich vor, mit den Brötchen wieder nach Hause zurückzukommen, ich will ja mit meinen Lieben frühstücken. Und doch ist jede Fahrt mit dem Fahrrad der Beginn einer prinzipiell unbegrenzten Reise. Eher noch als bei der Fahrt zum Bäcker oder Einkauf merkt man das bei einer unbeschwerten Radtour – und fast jeder hatte schon einmal das Gefühl, quasi getragen zu werden und in einem Flow dahinzugleiten. Das liegt auch an dieser unfassbar effizienten Maschine Fahrrad, die allein durch Muskelkraft angetrieben wird und uns beschleunigt. Kein Spaziergang ist je so unbeschwert wie eine Ausfahrt mit dem Rad, und kein noch so tolles Cabriolet verschafft mir dieses besondere Gefühl einer innigen Verbindung von Natur und Mensch, Bewegung und Erlebnis. Das macht Rad fahren so einzigartig. Selbst wenn es am Ende dann doch nur bei der morgendlichen Fahrt zum Bäcker oder der kleinen Radtour am Nachmittag bleibt, so erleben wir doch auch dabei genau dieses spezielle Verbundensein.

Mitte der 90er-Jahre hat sich ein Forscherpaar auf den Weg gemacht; ihr Forschungsgebiet: Zukunftsforschung. Maya van Leemput und Bram Goots haben auf ihrer Reise fast 400 Gespräche mit Menschen in 25 Ländern auf fünf Kontinenten geführt. Die Gespräche sollten einen Eindruck von der aktuellen Lebenssituation und vor allen Dingen den Erwartungen an die Zukunft vermitteln. Das Besondere: Die beiden waren auf Liegerädern unterwegs, was erstaunliche Effekte hatte und Einblicke ermöglichte. Ich erinnere mich, dass die beiden damals davon berichteten, dass die nachhaltige Form der Fortbewegung, aber auch die Langsamkeit und gewisse Abhängigkeit Einfluss auf sie selbst und auch auf den Kontakt zu den Menschen hatte. Mit einem Fahrrad ist man weit weniger flexibel und uneingeschränkt als z. B. mit einem Auto. Man ist viel unmittelbarer den äußeren Rahmenbedingungen ausgesetzt und auch auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Man ist ansprechbar und kommt mit den unterschiedlichsten Menschen schnell und unkompliziert ins Gespräch.

Die Liegeräder – in diesem Fall selbst für westeuropäische Augen ungewöhnlich anmutende sogenannte Kurzlieger – wirken darüber hinaus als eine Art „Eisbrecher“. Viele Menschen in nicht einmal besonders abgelegenen Regionen haben ein solches Rad noch nie gesehen und können sich nicht vorstellen, dass man darauf fahren kann. Das Ausprobieren gehörte vielerorts zum Standardritual und wirkte zusätzlich entspannend bei den Begegnungen. Natürlich klappte das fast nie auf Anhieb und oft nur mit Unterstützung. Vielleicht forderte es dem einen oder der anderen auch Überwindung ab und trug so dazu bei, bestehende Zurückhaltung aufzugeben. Und zwar ganz praktisch und gar nicht theoretisch. Alles in allem fand ich die Idee und die Umsetzung so faszinierend und bestechend einfach, dass ich gedanklich immer wieder zu dieser Forschungsreise zurückgekehrt bin. Und ich fragte mich: Wären die beschriebenen Erfahrungen und Auswirkungen auch auf eine andere Art des Reisens möglich gewesen? Ich glaube nicht. Ich glaube, dies war nur mit dem Rad möglich. Ich habe die beiden nach mehr als 20 Jahren ausfindig gemacht und mit ihnen über meine Hypothesen zu ihrer Arbeit gesprochen.

Hat man diese Zusammenhänge – das Prinzip der Augenhöhe, welche Möglichkeiten das Radfahren in der Stadt, in der Gesellschaft und für Einzelne schafft – einmal erkannt, fällt es schwer, darüber hinwegzusehen. Was zunächst alltäglich erscheint, wird in einem größeren Zusammenhang zu etwas Außergewöhnlichem. Rad fahren wirkt unterstützend in Bezug auf Veränderung und Dynamik, Freiheit und Beweglichkeit – ich werde versuchen darzulegen, dass diese Wirkung gezielt eingesetzt und genutzt werden kann. Jeder von uns kann sich diese mit dem Fahrrad verbundenen Möglichkeiten sogar bewusst selbst erschließen. Zwar scheint eine systematische und streng genommen wissenschaftliche Beurteilung schwierig, doch als Praktiker bin ich am unmittelbaren Erlebnis und der konkreten Umsetzung interessiert. Und beides spricht für sich, wie ich mit diesem Buch zeigen will.

Der Mensch im Mittelpunkt – so wie hier in Kopenhagen ist der Mensch wieder häufiger Maßstab. Im Rahmen von Veranstaltungen werden Straßen für den Autoverkehr gesperrt.

Eines noch: Unsere heutige Zeit und Umwelt ist hochkomplex, stark vernetzt und nur schwer zu erfassen. Die zunehmende Beschleunigung insbesondere in der Informationsbeschaffung und -verarbeitung