Lilly und ihr Sklave - Hans Fallada - E-Book + Hörbuch

Lilly und ihr Sklave Hörbuch

Hans Fallada

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Beschreibung

Unveröffentlichte Geschichten des Bestsellerautors entdeckt: Erzählungen aus den zwanziger Jahren. Es war der Wendepunkt, bevor er zum Bestsellerautor wurde: Hans Fallada stellte sich 1925 nach Unterschlagungen, mit denen er seine Alkohol- und Morphiumsucht finanzierte, selbst der Polizei. Eine bislang verloren geglaubte Gerichtsakte fördert nun einen unerwarteten literarischen Fund zutage – fünf Geschichten von Fallada, die selbst vor damals tabuisierten Themen nicht haltmachen: Lilly, Marie und Thilde – drei starke Frauen, die sich gegen die vorgezeichneten Lebensmuster auflehnen, während die beiden Außenseiter Pogg und Robinson auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit Zuflucht in einer Gefängniszelle suchen. Bislang gänzlich unveröffentlichte oder nur in Teilen bekannte Geschichten, die Falladas verblüffende Modernität unterstreichen. »Kostbares Naschwerk für Fallada-Fans: ›Lilly und ihr Sklave‹ erzählt eine MeToo-Geschichte aus dem 1920er-Jahre-Berlin.« Marc Reichwein, LITERARISCHE WELT Mit einer Nachbemerkung der Gerichtsmedizinerin Johanna Preuß-Wössner und einem Nachwort des Fallada-Biographen Peter Walther.

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Zeit:6 Std. 36 min

Sprecher:Jennipher Antoni

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Über das Buch

Unveröffentlichte Geschichten des Bestsellerautors entdeckt: Erzählungen aus den zwanziger Jahren.

Ein bislang verloren geglaubtes Gerichtsgutachten fördert nicht nur neue biographische Details zutage, sondern auch eine literarische Sensation: unveröffentlichte Geschichten von Hans Fallada, die selbst vor damals tabuisierten Themen nicht haltmachen. Die titelgebende Protagonistin Lilly ist ein ungebändigtes Mädchen, das über die Männer »herrschen« möchte. Als sie mit einem jungen Mann wieder nur »spielen« will, verliert sie die Kontrolle über das Geschehen und wird vergewaltigt. Sie kann verhindern, dass andere davon erfahren, und selbst ihre Schwangerschaft und Abtreibung geheim halten, doch entfremdet sie sich zunehmend von ihrer Umwelt. Letztlich muss sie sich in ein Sanatorium begeben, wo sie sich auf ein neues »Duell« mit einem Schriftsteller einlässt ...

Mit einer Nachbemerkung der Gerichtsmedizinerin Johanna Preuß-Wössner und einem Nachwort des Fallada-Biographen Peter Walther.

Über Hans Fallada

Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893 Greifswald – 1947 Berlin), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann – was nun?« (1932) macht Fallada weltbekannt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Peter Walther, geboren 1965 in Berlin, studierte u. a. in Falladas Geburtsstadt Greifswald Germanistik und Kunstgeschichte und wurde 1995 in Berlin promoviert. Zusammen mit Birgit Dahlke, Klaus Michael und Lutz Seiler gab er die Literaturzeitschrift »Moosbrand« heraus. Heute leitet er gemeinsam mit Hendrik Röder das Brandenburgische Literaturbüro in Potsdam. Er ist Mitbegründer des Literaturportals „literaturport“ und veröffentlichte Bücher zur Geschichte der Fotografie sowie zu Schriftstellern wie Johann Wolfgang von Goethe, Peter Huchel, Günter Eich und Thomas Mann.

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Erste Seite der bisher unbekannten Erzählung »Lilly und ihr Sklave« aus der Gerichtsakte von 1926.

Hans Fallada

Lilly und ihr Sklave

Erzählungen

Herausgegeben von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Lilly und ihr Sklave

Der Apparat der Liebe

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Die große Liebe

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

Pogg, der Feigling

Robinson im Gefängnis

Anhang

Die Wiederentdeckung der Akte über den Betrugsfall Hans Fallada aus dem Bestand des Gerichtsmediziners Ernst Ziemke

Der Aktenfund

Das Verfahren 1926

Ziemkes Gutachten über Fallada

Falladas Brief an Ziemke

Resümee

Anmerkungen

Einer, der sich selbst entflieht

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Anmerkungen

Hans Fallada: Wer kann da Richter sein?

Editorische Notiz

Impressumw

Lilly und ihr Sklave

Sybil Margoniner ist am Kurfürstendamm geboren, am Kurfürstendamm aufgewachsen und blieb, hatte sie schon später eine eigene Villa in einem westlichen Vorort, stets Kurfürstendamm.

Einziges Kind reicher Eltern, sah sie früh schon ihren Willen als maßgebend anerkannt, drang sie einmal nicht durch, befielen sie Kopfschmerz und Übelsein, und der ängstliche Vater mehr noch als die Mutter war froh, sein Lillyherze wieder lächeln zu sehen, um welchen Preis immer. Sie verachtete, die sie liebten, da sie stets Mittel fand, jene Liebe umzubiegen zum eigenen Vorteil. Glücklich war sie ganz, wenn sie ihr Ich herrschend, als Mittelpunkt der Welt fühlte, dies Ziel zu erreichen, fand sie Kranksein und Launen als leichtesten Weg. Ihre Zärtlichkeiten, ihre guten Worte hatten selten zu sein, ihre Stärke war, durch Schwäche zu herrschen.

Die Bonne, die Dienstmädchen, die Köchin, selbst der Hausmann, der die Kohlen zutrug, waren Wesen, über die sie Glück und Unglück nach Belieben verhängen konnte, eine Anzeige beim Vater über einen Schatz oder einen fortgetragenen Kalbsbratenrest entschied. Fest überzeugt war sie, dies seien mindere Menschen, zum Dienen geboren, ohne Eigenwillen und ohne Aussicht auf Glück. Saß sie mit der Mutter auf der Frauenseite der Synagoge und hörte die Thora verlesen, so lief ein stolzer Schauder über ihren Rücken, wenn sie jener dachte, die hierher nicht kommen durften.

Ihren ersten schweren Kampf bestand sie in der teuren Privatschule der Kurfürstenstraße, in die sie spät erst geschickt wurde. Vierzehn Mädchen, viele hübscher als sie, manche klüger. Dass sie nicht sofort als Erste gesetzt wurde, dass sie nach dem Willen der Lehrerin Fragen beantworten sollte, war ihr unfasslich. In den ersten Stunden verweigerte sie jede Antwort, sah sich bald als Letzte und von den Kameradinnen verhöhnt. Plötzlich wusste sie alles, glänzte mit Fleiß und Kenntnissen und erklärte stolz den überraschten Mädchen, ihr Stummsein sei nur Trick gewesen, die Lehrerin aasig zu ärgern. Sie erntete Beifall, in der nächsten französischen Stunde bei der verhassten Vroonth schwieg verabredet jede, und alle Vorstellungen vermochten weiter nichts, als ein Schluchzen hinter Taschentüchern laut werden zu lassen.

Die Lehrerin ahnte ein Komplott, sie ermahnte die Bravsten, die Rudelsführerin zu nennen, sicherte allen Straflosigkeit zu, die Klasse schwieg. Einzeln bei Seite genommen, erklärten sie unter Tränen, schweigen zu müssen, außer der einen, Sybil Margoniner, die, als ihr Verschwiegenheit versprochen war, Irmgard Fischer als Führerin angab. Die Lehrerin hielt ihr Wort, doch bald darauf ward Sybil Margoniner Erste, Irmgard unter die Letzten gedrängt.

Von diesem Tag an arbeitete Lilly genügend, sich auf ihrer Höhe zu halten, machte sich durch kleine Angebereien bei den Lehrerinnen, durch Geschenke von Süßigkeiten und Obst, auch durch Herleihen ihrer Thèmes bei den Mädchen beliebt. Sie bildete eine Gefolgschaft um sich, die zahlreicher und besser gekleidet war als die Anhängerschaft Irmgards. Kleine Plänkeleien zwischen beiden Parteien entschieden sich meistens zu Gunsten Lillys, die schlagfertiger und unbedenklicher in der Wahl ihrer Mittel war. Kam es auch noch nicht zu größeren Feindseligkeiten, so war Lilly doch stark um ihre Macht besorgt. Ihr Gesicht, breit über Schläfen und Wangenknochen, nach unten spitz zulaufend, das Gesicht eines Füchsleins, war nachdenkend, lauernd, voller Gier, einen endgiltigen Sieg zu erringen. Ihr gelang, die Klasse zu schrankenloser Anschwärmung des Geschichtslehrers Wunderlich zu bekehren. Als eines Tages alles in Hemdbluse mit Stehkragen und Schlips zu seiner Glorie auftrat, war ihre Vorherrschaft entschieden.

Nur, dass die Vierzehnjährige wusste, ihr Sieg sei faul und ohne Dauer, da läppisch. Nicht umsonst hatte sie mancherlei Gespräch und Witzwort in der häuslichen Küche aufgefangen, auch in das Geheimnis ihrer Gouvernante hatte sie sich eingezwungen, als sie, beim Spazierengehen vorausgeschickt, doch hinter einem Busch versteckt, deren atemlose Küsse mit einem »Stiefbruder« beobachtet hatte. Lilly wusste mancherlei. Ging sie mittags nach Haus von der Schule, zog sie den weiten Weg durch die Tauentzien dem näheren durch die Kurfürstenstraße vor. Ihre Augen musterten die Pärchen, die sich dort elegant ergingen, zwanglos zusammenfanden; die Damen, die für den Anruf die Wendungen »Nun, Schatz?« oder »Na, Kleiner?« vorzogen, schienen ihr abgründig interessant. Auch hatte sie unter den Primanern von Teichmanns Presse in der Nürnberger Straße sich längst einen erwählt, der an Eleganz Wunderlich weit überlegen war, nur die Achtlosigkeit des Jünglings hatte eine Aufnahme der Beziehungen bisher verhindert.

Günstig traf es sich, dass zu dieser Zeit ein Vetter, Student der Juristerei im ersten Semester, häufiger Gast ihres Elternhauses wurde. Der Jüngling, der die Lilly nicht für voll nahm, achtete es doch nicht als Raub, in kleinen Geldverlegenheiten bei ihr seine Zuflucht zu nehmen. Sie half ihm gegen Geständnisse, die sie, ins Einzelne dringend, ihm abfragte, ließ sich auch Bilder des totschicken Verhältnisses zeigen, dezent bekleidete, doch einmal auch ein ausgezogenes, das sie Alex zurückzugeben sich weigerte, nun stets eine Waffe, ihn gefügig zu machen, in der Hand.

Im Sommer saß sie oft träumend, sah sich schön, leidenschaftlich, von allen Männern umschwärmt, über alle Männer herrschend, und, plötzlich die Tür verschließend, ihre Kleider abstreifend, verglich sie im Spiegel ihren Leib mit dem der andern, sehnte die Stunde seiner Reise herbei, übte ein Lächeln, eine gezierte Bewegung des Beins, den berauschenden Blick. Ihre Sinnlichkeit sog aus Bildern, Büchern, der schmeichelnden oder prickelnden Glätte und Rauheit der Stoffe, den süßen oder bitteren Würzungen der Speise, aus Worten, Andeutungen, Träumen stets neue Nahrung, ihre ungelenke Stimme bog sie zurecht an den Worten der Dichter, ihrer launenhafte Schwäche suchte sie das Kapriziöse von Romanheldinnen zu geben. Die schleichenden Tage solch namenloser Erwartungen waren ihr verhasst, erst so weit sein, dass man kein Kind mehr war, dass die Männer ihr nachsahen, war all ihr Wunsch.

Inzwischen stürzte sich Wunderlich selbst von dem Altar, auf den ihn die Verehrung seiner Schülerinnen gestellt. In einer Geschichtsstunde wurde die Aufmerksamkeit der Klasse von der Gestalt Albrechts des Bären auf seinen Schlips gelenkt, der sich unter den Bewegungen des Vortragenden langsam vom Kragenkontakte löste. Atemlos belauerten fünfzehn Mädchen dies Ereignis. Erschauernd nahm eine bestürzte Gemeinde wahr, welchen Abergötzen sie verehrt, als das kunstvolle Seidengeschlinge sich als überzogenes Pappdings erwies, mit einem Gummistrippchen über den Kragenknopf gehängt.

In der Pause tobten die Seelen. Die Partei Irmgard, unter missgünstigen Bemerkungen über die Begründerin dieses Kultus, war dafür, dem Schuldigen in nächster Stunde einen Seidenbinder auf das Pult zu legen. Lillys eigene Partei schwenkte der Feindin zu. Sie sah ihre Macht bedroht. Verächtlich erklärte sie den ganzen Wunderlichkultus für längst überholt und albern, in ihrem Alter schwärme man nicht mehr allgemein und ins Blaue, sondern schaffe sich eine Poussage an, was bei der bequemen Lage des Teichmann’schen Instituts nicht schwerfallen könne.

Sie sah Bestürzung, Zögern, Zweifel in den Gesichtern der Treuesten. Ob sie etwa zu feig seien dafür? Mama oder gar Wunderlich müsse wohl erst um Erlaubnis gefragt werden? Sie jedenfalls, sie wisse ihren Weg. Was den Wunderlichkram anlange, so sei einzig mögliche Strafe, in nächster Stunde ein letztes Mal noch in Hemdbluse zu erscheinen und mit scharfem Blick auf den lehrerlichen Schlips am eigenen zu nesteln. Erst hier und dort, dann aber, wenn er unruhig geworden, allgemein.

Dieser Vorschlag rettete Lilly, mehr noch, wurde mit solchem Jubel aufgenommen, dass sie die feindliche Führerin von allen Anhängerinnen verlassen sah. Einen letzten Versuch noch machte Irmgard, die Feindin zu schlagen, indem sie höhnisch fragte, wo denn sie ihren gepriesenen Mut bisher bewiesen? Nie noch habe man sie in Herrenbegleitung auf der Tauentzien eingehäkelt gesehen.

Eingehäkelt sei unfrei, erklärte Lilly überlegen, im Übrigen möge Irmgard nur die Augen öffnen. Wenn es ihr gefällig sei, wolle sie heute Nachmittag um vier sich dort nicht nur mit einem Herrn ergehen, sondern sogar ein Café besuchen.

Dies entschied. Sicher war, dass an diesem Nachmittage die ganze Klasse Patrouille gehen würde und dass Lilly, erfüllte sie die Erwartungen, die sie erregt, unbestrittene Führerin für immer sein werde.

Sie war es. Der telefonisch unter schwersten Drohungen herbeigerufene Vetter konnte den erbetenen Dienst nicht verweigern und wurde später allgemein als vollwertiger und schicker Kavalier anerkannt. Nebeneinander, in eifriger und zärtlicher, schien es, Unterhaltung gingen die beiden einige Male über den Strich, häufig grüßend und gegrüßt von stets neu ihnen begegnenden jungen Damen, deren Gesichter vor Ehrfurcht starr waren. Schließlich verschwanden die beiden in einem Café.

Hier nun trug Lilly ihrem Vetter Alex ihren neuesten Wunsch vor, sie einmal mit seinem Verhältnis in solchem Café zusammenzubringen. Seinen Weigerungen begegnete sie mit Drohungen, seiner Bitte um Begründung mit dem einfachen: »Ich will es nun einmal. Und dich kostet es ja nichts.« Seinem schließlichen Geständnis, das Verhältnis Emma sei wenig gebildet und in hiesiger Gegend wegen Bekanntengefahr nicht recht zu präsentieren, da kurz und gut ein Mädchen der Straße, setzte sie entgegen, dass ihr an einem Treffen hier wenig gelegen sei, auch der Bildung halber wünsche sie nicht gerade die Zusammenkunft. Alex ließ alles im Ungewissen, musste mit Emma erst sprechen, während Lilly sich, schon viel weiter, in der Hinterstube dieses kleinen Cafés umsah, die zerdrückten fleckigen Samtsofas betrachtete, das stumme, gerötete Zusammenhocken eines bürgerlichen Liebenspaares begutachtete – und plötzlich ein Kino als Abschluss dieses Nachmittags bestimmte.

Lächerlich war es schlechterdings, jetzt noch in die Schule zu gehen, artig auf Fragen zu antworten, Arbeiten anzufertigen und moralische Gedichte zu erlernen. Kaum noch zu bändigen war die Klasse, nachdem es ihr gelungen, den Doktor Wunderlich so in Verwirrung zu bringen, dass er den Unterricht abbrechen und sich erst im Spiegel auf der Toilette vom Zustand seiner Kleidung überzeugen musste. In Zukunft genügte das bedeutungsvolle Räuspern einer Schülerin mit Griff an den Hals, um den schönsten Schwung geschichtlicher Darstellung zu knicken und Lächeln an Stelle frommer Andacht zu setzen.

Als ein Misserfolg zwar erwies sich die Zusammenkunft mit Emma. Diese augenblicks sehr übelgelaunte Dame hatte weder Respekt vor Alex noch vor Lilly, erklärte sogar mehrfach entschieden, sie lasse sich von so eim noch lange nicht imponieren, und wurde erst versöhnlicher, als auf ihre Anregung Lilly ihr das goldene Geldtäschchen, das Margoniner erst vor kurzem der Tochter geschenkt, vorschob. Nun milder gestimmt, erging sie sich in Verwünschungen der jungen Schnösels von Ärzten, die ihr ewig den Wassermann machten, wofür sie jedes Mal auch noch acht Mark erlegen müsse, was doch offenbar Nepp sei. Als so die Unterhaltung für Lilly interessant wurde, musste sie erfahren, dass Emma leider etwas auf Anstand gab, denn nun wurde Alex abgekanzelt, dass er so ein Küken in solche Gesellschaft bringe, wo sie doch am besten wisse, wer sie sei. Und überhaupt, zum Bekucktwerden wie ein Affe im Zoo sei sie sich doch zu gut und die beiden möchten sich scheren.

Sie taten es etwas fluchtartig, belächelt von den übrigen Gästen, bei deren einem Emma noch in Anwesenheit des Verwandtenpaars Platz nahm. Stumm entwichen die beiden, aber kaum draußen, war Alex an allem schuld. Er hatte ein unmögliches Lokal gewählt, er war kein Kavalier, sonst hätte er jene acht Mark stillschweigend erlegt, er hätte unbedingt die Fortgabe des Goldtäschchens verhindern müssen. Seine Gegenreden verhallten ungehört, Lillys Stimme war scharf und schneidend, ihre Drohungen ganz unverhüllt, noch ihr Abschiedsblick versprach manches.

Doch in der milderen Stimmung der kommenden Wochen vergaß Lilly ihren Zorn. Jener lang beäugelte Gymnasiast, Primaner bei Teichmann, hatte sie entdeckt, seine orangenfarbene Mütze zog er zu winkligem Gruße vor Lilly. Sie dankte, hold erschreckt, sich erraten zu sehen, und dankte doch nur flüchtig, obenhin, wie einer Bekanntschaft, deren man sich im Augenblick nicht recht erinnert. Heimgehend, einen Tag später, konstatierte sie mit Wally Lichner, ihrer erwählten Freundin, dass der Primaner süß frech sei. Hinter ihnen gehend, führte er mit einem Freund vernehmliche Unterhaltung über die Zöpfe der beiden und gab dem trockenen glänzenden Schwarz Lillys schwärmerischen Vorzug. Für die Schleife in diesem Haar gebe er den ganzen Sommer.

Zu mehrerem kam es dieses Mal noch nicht, doch blieb am nächsten Mittag Lilly tollkühn mit Wally vor einem Bilderladen stehen und fragte sie, ob sie nicht wisse, von wem jenes herrliche Bild »Sweet home« sei. Noch ehe Wally auf den nicht undeutlichen Schriftdruck unter diesem Titel hinweisen konnte, bemerkte es hinter ihnen, dass der Maler Miller heiße, Algernon Miller. Die Bekanntschaft war gemacht, der Weg bis zur Ecke der Joachimsthaler Straße wurde gemeinsam zurückgelegt. Doch zeigte es sich, dass die Unterhaltung nur schwer in Fluss zu bringen war, Lilly war spitzig und kurz, Wally stumm, und das Weltmännische der beiden Herren verlor sich in der Nähe. Die Tatsache, dass der kürzesten Bemerkung über Wetter und Kino ein »Gnädiges Fräulein« angefügt wurde, genügte den Damen nicht ganz. Umso imponierender war wieder der Abschied, bei dem die Hacken zusammengeschlagen, der Rumpf gemessen und kurz vorgebeugt wurde, während die Mütze orangefarben und senkrecht vor den männlichen Brüsten stand.

Noch hoffte Lilly, umso mehr, als sie in ihrer Manteltasche ein Billetchen fand, das an die dunkelhaarige Unbekannte gerichtet war, von den Verheerungen durch schwarze Augensterne berichtete (Lillys Augen waren braun) und zum Schlusse in Prosa um ein Stelldichein bat. Der Verfasser hieß Hermann Treu. Lilly entschied, er müsse zappeln, zu viel Entgegenkommen schon war jene Frage am Bilderladen gewesen. Sie sah auf die Uhr, als die Treffzeit gekommen, und freute sich mehr im Ausmalen seines hoffenden, dann ungeduldigen, dann verzweifelnden Wartens, als wenn sie gegangen.

Kaum sahen sie sich am nächsten Tage, schien es besser zu zweien zu gehen, Wally und der dickliche Freund zogen voran, Lilly und Hermann folgten. Seinen Vorwürfen lauschte sie verständnislos, sie hatte kein Billet gefunden. Aufgefordert, in ihre Tasche zu greifen, fand sie’s und erklärte nach flüchtigem Überfliegen, sie ginge nie mit einem Herren ins Café. Doch ließ sie’s als möglich erscheinen, vielleicht am Nachmittag in den Tiergarten bei der Reitbahn zu kommen, kam auch, doch nur, um zu sagen, dass sie heute keine Zeit habe, da ihre Gouvernante um die Ecke warte.

Bestellte Treu für morgen, kam morgen nicht, aber am nächsten Tage war sie da. Sie gingen nebeneinander, hatten wenig zu reden, und ahnungsvoll schaudernd fragte sich Lilly, wann sie es wohl tun. Diesmal noch nicht, doch kam ein Handkuss zustande, der, überstürzt aus Furcht vor Fremder Blick gegeben, von einer Prinzessin empfangen, die Atmosphäre stark abkühlte.

Das nächste Treffen fand in Dunkelheit statt. Es regnete, unter einem Schirm gingen die beiden. Treu war fieberhaft lustig, redete von allem, was ihm in den Kopf kam, entwickelte Pläne. Plötzlich schlug er eine Wette vor, sie könnten unter dem Schirm, die Gesichter gegeneinander gekehrt, nicht eines des anderen Auge erkennen. Herzklopfend bestritt dies Lilly.

Sie näherten einander die Gesichter. Wie es mit den Augen stand, konnte Lilly nicht entscheiden, da sie die ihren krampfhaft geschlossen hielt vor der sich nähernden Gefahr. Plötzlich fühlte sie ihre Nase von etwas Feuchtem, Weichem gestreift, als habe sie ein Hund geleckt. Zurückprallend und wütend bemerkte sie: »Sie wollen mich überhaupt nur küssen. Denken Sie, das merke ich nicht.« Eine Äußerung, auf die von der anderen Seite nur verlegenes Lachen folgte.

Der Heimweg war wortlos und trist, die Bitte um ein Wiedersehen beantwortete Lilly kühl mit: »Ich glaube kaum.« Auf ihrem Zimmer überdachte sie das Geschehen und fand, dass ihr Kavalier unmöglich gewesen war. Wollte man schon küssen, sah man, dass man die richtige Stelle traf, ein Verhältnis, das mit solchem Fehlgriff begonnen, konnte sich nie gedeihlich entwickeln. Glaubte er, sie sei gut genug, Versuche mit ihr anzustellen? Sie erwiderte seinen Gruß nicht mehr.

Dies wurde ihr umso leichter, als die Tanzstunden begannen. Das weiße Kleid, die seidenen Strümpfe, die Lackschuhe hierfür anzuziehen, die kühle Luft um die bloßen Arme, im Ausschnitt zu fühlen war schon Genuss. Die schwarze Abendkleidung der Herren, das Flüstern untereinander, die Musik, dann das Entschweben regten auf wie Wein. So viele Gesichter! Wahl unter ihnen war schwer, den Begehrtesten sich zu erringen selbstverständlich. Sie verliebte sich um diese Zeit in das Wort languide, sie war schmachtend, schmelzend, wie hingegeben, ihr Augenaufschlag langsam und betont, ihr Blick schwer von vielem Wissen. Während die andern schwatzten und alberten, schwieg sie, sich keine Blöße zu geben, doch ihr Schweigen war voller Hinterhalt und voll Verächtlichkeit für diese viel zu Lauten.

Sie sah sich beachtet, geehrt. Einen Tanz von ihr zu erhalten war Gunst. Der Schickste von allen, Werner Meyer, zeichnete sie aus. Unter dem Tanzen flüsterte er ihr Worte zu, die niemand hören durfte, halb laut, wie toll. Sie hielt sich näher an ihn und schwieg, irgendwie vage lächelnd, als habe sie nichts gehört. Er tanzte weiter mit ihr, aus dem erleuchteten Raum in ein anderes Zimmer, in dem kein Licht war. Er zog sie an sich. Er stieß sie zurück. »Sie machen mich toll, Lilly!«, flüsterte er. Sie trat nahe an ihn, streifte ihn, ihre Hand spielte mit seinen Fingern. Er riss sie fort: »Komm mir nicht nahe! Deine Brust macht mich verrückt.« Sie lachte auf, ließ ihn stehen, ging zu den andern.

Hinterher verstand sie nichts und wusste doch, so hatte man zu sein, wenn man herrschen wollte. Sie erinnerte sich seiner gestammelten Worte, seiner abgerissenen Ausrufe, sie meinte wieder den Glanz seiner Augen zu sehen. Hinter dem bekannten Gesicht war ein anderes hervorgekrochen, ein wildes Urzeitgesicht, unbezähmt, gierig. Und sie hatte es gerufen. Ihr Leib, nur das ganz sachte Streifen ihrer Brust an seinem Arm hatten’s getan. Sie hätte wieder die Wärme seiner Hand, die Nähe beim Tanz spüren mögen.

Beim nächsten Male bat er um Entschuldigung. Sie verachtete ihn darum. Sie hätte ihn wieder so sehen mögen wie damals, und nun war er verlegen gerötet, bettelte mit niedergeschlagenen Augen. Sie verweigerte ihm Tanz um Tanz, sie sah ihn an den Wänden herumhängen, sein Blick drehte sich kreisend im Saal, wie sie tanzend kreiste. Sie zog andere vor, sie beachtete ihn nicht mehr. Es gab Briefchen, Verabredungen, hinter einer Efeuwand auf dem Balkon bog einer zuerst ihren Kopf in den Nacken und versengte ihre Lippen mit Küssen. Sie hielt den Mund geschlossen, sie erblühte nicht unter dem Verlangen des andern, in ihr atmete es ruhig wie Meer, sie war kühl. Sie lachte über jenen, der hinterher zarte Worte flüsterte, Treueschwüre tauschen wollte, sie tanzte mit dem Nächsten.

Dies alles war nichts wie Vorschule, das Große lag dahinter, vorderhand genügte es ihr, zu glänzen, zu herrschen, sich zu fühlen und ihre Macht. Sich küssen lassen und weitergehen, kaum den Namen wissen dessen, der es war, weitertanzen. Recht war’s ihr, als sie ein Gespräch zweier Jünglinge belauschte, deren einer dem andern erzählte, wie er sie geküsst, wie sie ihn wild gemacht. Der Hörer – Meyer – verlangte Details. Sie wurden gegeben, doch die Lauscherin errötete nicht. Nur eine Gier war in ihr, zu wissen, die eigenen Wirkungen zu erfahren, die Macht kennen zu lernen, um sie besser noch zu gebrauchen.

Ein großer Ball gab den Abschluss. Es wurde wild getanzt, auch Lilly war wild. Der Sekt sang in ihrem Blut, ihr Mund war halb geöffnet, ihre Augen strahlten. Sie hätte tanzen mögen, ohne aufzuhören. Kaum hielt sie ein, am Buffet zwei, drei Gläser Sekt zu trinken. Ein Herr sagte ihr etwas, sie lachte laut auf, wirbelte schon wieder mit jemand los und hörte hinter sich noch die Worte: »Die Kleine hat einen Schwips.« Sie sah auf. Ihr Tänzer war Meyer. Er war blass und ruhig, ihr wild drängendes Tempo regelte er gelassen. Durch alle Zimmer tanzten sie, und plötzlich fühlte sie sich allein mit ihm, plötzlich von ihm umfasst, an seine Brust gerissen, plötzlich wild geküsst. Einen Augenblick überfiel sie Schwindel. Die Lust kam ihr, den Arm um seinen Nacken zu legen, wiederzuküssen, dem Eindringen des fremden Jungen zu begegnen. Doch es verflog, Wut überkam sie, sie riss sich los, sie schlug nach ihm, ein-, zweimal in sein Gesicht: »Feigling!«, rief sie. »Feigling!«

Und war schon wieder im Saal. Das Fest flog weiter, sang höher in ihrem Blut, das der Rausch, da zu sein, sich selbst zu fühlen, entzündete. Drehen, drehen und dann schrittweise vorwärtsdrängen, schrittweise zurückgedrängt werden von einem andern Leib, dessen Spannung sie spürte, gleichviel welchem, sich tanzen lassen auf dem Strudel, eine schimmernde Schaumbluse, und sich schöner werden spüren, jede Sekunde, die Lippen schwellend von Blut, die Brust gestrafft – das war Lust. Und in den Pausen sachte dann sitzen, kaum redend, lauschend kaum, verloren lächelnd, indes die Melodie fortsingt in ihr, sanft weiterklingend, und sich plötzlich vorbeugen gegen den plaudernden Herrn, dass das Kleid im Ausschnitt sich weitet, den Blick sehen und nicht sehen, das plötzliche Stocken der Worte fühlen, oder nur den Arm heben, am Haar zu nesteln, um durch den Schatten in der Achsel den andern toll zu machen – das war Lust.

Endlose Nacht, die immer schneller kreist! Um die Kronleuchter hängt strahlender Nebel, stäubt in den Saal, flimmert auf dem Parkett. Die schmückenden Blumen duften nach Schlaf oder Tod. Ein Tanz noch! Und noch einer! Es gibt keine Müdigkeit, es singt in ihr vom Fliegen, so fliegt sie, es ist alle Leichtheit der Welt, es ist wie das andauernde gläserne Klirren der Heuschrecken im Sommer, es ist Erfüllung viel mehr als jenes Stehen draußen in einer Nacht, die schon grau wird, und sich küssen lassen. Mit wie vielen stand sie schon hier? Heute, gestern, immer, ewig?

Dieser führt sie in ein dunkles Zimmer, nebeneinander auf dem Diwan, nah in seiner Wärme, hört sie sein Flüstern, spürt den Arm um sich, die Hand über der Brust, die süße Feuchtigkeit der schluckenden Küsse. Sie fühlt sich zurückgelehnt, hingleitend, ihr Kopf ist so müde. Plötzlich summt alles in ihm, die Welt, Leben und Sein sind ein Fall, der tosend durch ihn stürzt … Nein, nein, es ist nur die Wasserleitung, hier nahebei, man hat sie nicht abgestellt, sie läuft, läuft … Plötzlich bäumt es sich in ihr auf, alles ist schwarz, sie will aufspringen, schreien, sie flüstert tief innen: »Nein … nein … nein … nicht doch …« Und tausend Hände halten sie, tausend Krämpfe in ihrer Kehle, tausend Schmerzen in ihrem Leib … Und nun ein Schmerz nur, schneidend, messerscharf, und Schwärze, immer schnellere Schwärze, immer tiefere Schwärze, sie fällt, sie fällt …

Es ist Licht um sie, ihr trübes Auge sieht fragend in so viele Gesichter. Sie liegt auf einer Chaiselongue, mit einer Decke zugedeckt. Die Mutter schilt: »Natürlich auf mich hört man nicht. Das unsinnige Tanzen … Ist dir besser jetzt, Lilly?« Sie nickt langsam, sie kommt von weit her, aus einer Dunkelheit. Sie spürt’s, als sei sie nur freigelassen zeitlich aus ihr, sie fühlt sie hinter sich stehen, nein, drinnen, hier, zu einem Kern geschrumpft, der sich wieder ausdehnen kann und sie ganz einholen.

»Können wir nach Haus fahren?«, fragt die Mutter. Lilly nickt wieder. Die andern verabschieden sich, sagen bedauernde Worte, ein lachender Zuruf – und sie sucht in diesen Gesichtern, trübe, langsam, aus einem bösen Traum heraus, welches es gewesen sein könnte, das sie in diesem Traum geängstet. Sie erkennt es nicht, sie errät es nicht.

Alles war wohl Traum. Und doch, in dem kurzen Augenblick, da sie allein, hebt sie – plötzlich ganz wach – die Decke, späht an sich hin, knöpft schon, ordnet, streicht zurecht, legt den Kopf zurück, und nun erst kommt das Weinen, wild, stoßweise, nicht mehr zu hemmen.

Lilly ist krank, ihre Laune finster. Sie jagt das Haus um sich, sie quält die Eltern, sie will keinen Arzt. Nun hat sie Kopfschmerzen, jetzt flieht sie der Schlaf, und kommt er, kommt er mit Träumen, so voller Ekel, so voller Hässlichkeit, dass sie von Übelsein gepeinigt erwacht. Was am meisten peinigt, ist der gedemütigte Stolz. Ihn rächt sie an allen, die ihr nahen. Sie müssen tiefer noch fallen, viel tiefer noch als sie. Kein Spott zu scharf, keine Zurückweisung Zärtlicher brüsk genug. Sie, Sie, Sie, Sie – Lilly Sybil Margoniner, die herrschen wollte, ist zu einem Werkzeug gemacht worden, zu einem dummen, rohen Instrument wie die Nächstschlechteste! Sie, die herrschen wollte, hat dienen müssen dem niedersten Trieb.

Sie träumt, sie träumt wachend von ihrer Rache. Sie ist reich, sie ist gefeiert, sie ist angebetet, sie ist betörend schön. Um ein Lächeln von ihr töten sich die Männer, um ein Wort von ihr lassen sie Weib und Haus, Geld und Ansehen. Sie nimmt alles, sie gibt nichts. Sie lässt sie stehen, und wimmern sie um Gnade, um ein gutes Wort nur, sie lässt sie doch stehen. Eine Frau kommt zu ihr, sie erniedrigt sich so tief, für ihren Mann zu flehen, er möge erhört werden ein einziges Mal, dass er doch wieder leben könne. Sie verspricht es, und lachend bricht sie Versprechen und Treue und lässt ihn verkommen. Sie schickt die Männer in Wüsten, Gefahren, Gefängnisse – sie lächelt. Sie thront kalt über ihnen allen, sie ist ein hohes Marmorbild, sie ist ohne Gnade.

Sie träumt … und weiß doch, die äußerste Erniedrigung steht noch bevor. Sie muss sich aufraffen, sie muss zu jenem Arzt, den sie fürchtet. Er ist alt, klein, mit klugen Augen, er hat das Kind schon nicht geliebt, sie weiß es. Aber er ist der Einzige, in dessen Hand sie sich zu geben wagt, der schweigen wird, der dies nicht als Waffe gegen sie gebraucht. Zweimal geht sie und schweigt davon. Sie möchte es ihn erraten lassen, sie möchte ihn das erste Wort sprechen lassen. Es schmerzt unerträglich, bis zur Bitte sinken zu müssen, bis zur Bettelei.

Muss es doch. Muss vor seinem Nein und wieder Nein sich so tief demütigen. Siehe doch, sie lässt sich ganz herab, sie liegt auf dem Teppich, sie fleht. In ihr ist die fliegende Angst vor den andern, den Freundinnen, den Männern. Wenn sie dies von ihr erfahren, wird sie nie die sein können, die im Leben zu herrschen sich versprach. Es muss fort, es muss vertuscht werden. Ist dieser denn kein Mann, dass ihn nichts rührt? Sie spielt sich hin vor ihn, sie droht, sie fleht, er schickt sie fort mit seinem Nein.

Welch Heimgang! Welche Nacht! Sie denkt an Sterben, sie hat ihm mit Sterben gedroht, sie weiß, wo der Revolver des Vaters liegt. Wenn sie einmal schösse, sich leicht verletzte, ob er es dann täte? Ach, sie kennt diesen kleinen Menschenverächter zu gut, er kennt sie zu gut! Er lässt sich nicht zwingen. Er durchschaute sie gleich. Besser schon, noch einmal zu ihm zu gehen, noch einmal zu betteln, noch einmal zu flehen.

Und am frühen Morgen schon ist sie da. Sie wartet, dass das Haus aufgeschlossen wird, sie zittert, als sie die Klingel drückt. Sein kluges, spitzes Gesicht lugt schon über Büchern und Papieren nach ihr aus. Er ist so munter, er fragt sie bodenlos spöttisch: »Nun, noch nicht tot, Lilly?«, dass sie spürt, die Szene von gestern ist unmöglich. Plötzlich fühlt sie, sie kann auch schlicht sein, ganz einfach und wahr. Sie erzählt von ihrer Nacht, vom Plane, sich zu verwunden, von dem, was sie abhielt. Er nickt: »Sehr vernünftig, Lilly. Das erste vernünftige Wort, was ich von dir höre.« Und nun sieht sie schon ihren Weg, sie spricht ein erstes Mal nicht von sich, sie spricht von ihren Eltern. Sie erzählt, wie es geschah. Sie erspart sich nichts, sie ist voll schöner Reue.

Er nickt, dann sagt er: »Dieses eine Mal, Lilly. Merke es dir. Dieses eine Mal. Nie wieder. Was auch geschehe, nie wieder.« Und dann tat er es.

Sie kommt heim. Jener dort hinten, dieser Arzt, dieser Pädagoge dachte wohl, sie zu bessern, da er sie leiden ließ, ihr Angst vor dem Flatterspiel des Leichtsinns einzuflößen, da er ihr die Folgen schwer machte. Sie, die dort in ihrem Zimmer liegt, weiß nur, auch dies, was sie jetzt gelitten, wird sie den andern zurechnen, ihre Rache wird übergroß werden. Sie ist strahlend gewesen und verführerisch, als sie von diesem allen noch nichts wusste, wie sehr erst wird sie strahlen können und verführerisch sein, da dies hinter ihr liegt, tief innen von ihr gewusst wird. Ach, sie wird nicht mehr leichtsinnig sein, sie war es nie, aber wie ganz anders wird sie die Männer jetzt zum Leichtsinn verlocken!

Und nach allem diesen – eines Tages geht sie wieder zur Schule. Was ist sie? Ein Schulmädel, siebzehnjährig, kaum. Aber in der Bank, zwischen den andern, den Schwätzerinnen, den Leichtsinnigen, fühlt sie den ungeheuren Vorsprung, den sie vor ihnen allen, den sie vor jedem jungen Mädchen hat. Alle Vorteile dieser sichern ihr noch Alter und Stellung, alle Vorteile der Frauen die erlittene Wissenschaft. Sie kann scherzen mit den andern, plötzlich sind wieder die kleinen Poussagen wichtig, mit Wally und ein oder der andern flüstert sie im Dämmern ihres Mädchenzimmers über Gehörtes, Witze werden erzählt … Sie ahnt nicht bloß dunkel, sie weiß das Große Drohende, das dahintersteht, sie weiß es.

Nun, bei Tennispartien, Ruderfahrten, Segeleien, immer mit jungen Männern zusammen, sieht sie vorsichtiger um sich, überschaut die Welt und prüft sparsam ihre Kraft. Küsse – o wohl, dann und wann, eine Ermunterung, eine Ermahnung zum Ausharren, ein Fieber, in fremdes Blut filtriert. Aber viel schwerer ist es, die Erste im gemeinsamen Gespräch zu werden, jene, für die allein alle Männer sprechen, die sie doch sein muss, schon um den Sport begründet verachten zu können, für den ihr Körper sich untauglich erweist. Sie lernt zuhören, voller Beziehung und Wissen zuhören, spricht man von Büchern oder Bildern. Sie fasst rasch, was der andere ausführt, sie färbt es auf ihren Ton, ihre Art und weiß bei nächster Gelegenheit ein Wort einfließen zu lassen, einen beziehungsreichen Hinweis zu tun. In Galerien wartet sie, bis der Erfahrenste, Geltendste vor einem Bilde Posto fasst, sie folgt der Richtung seines Blicks, rühmt ein Detail und sieht sich schon freudig bestätigt. Ihr rascher, alles überfliegender, an nichts haftender Geist erleichtert das Lesen selbst schwieriger Bücher, sie sucht sich einen Einzelzug, dessen Feinheit nur sie errät, und trifft sie einmal selbst das Falsche, weiß sie wichtigste, entscheidende Verteidigung hinter einem Lächeln ahnen zu lassen.

Die Zurückhaltung, die sie hier üben muss, die weise Beschränkung rächt sie an denen zu Haus. Ihre Wünsche sind tausend, und keines Erfüllung befriedigt sie. Die Dienstboten jagt, die Eltern ängstet sie mit Launen, mit kleinen Krankheiten. Den Spott, die Verachtung, die sie draußen nicht merken lassen darf, übt sie hier. Der Vater ist ihr ein Trottel, die Mutter eine fette Gans. Sie verlangt irgendein großes Opfer, jener Liebe zu erproben, und kaum ist’s ihr gebracht, verspottet sie die Geber ob ihrer Weichheit, ihrer Gefühlsduselei. Endlos kritisiert sie die Art zu essen, sich anzuziehen, sich zu geben. Befolgt man die ihr mit Mühe abgelisteten Ratschläge, so ist alles falsch gemacht und albern. Des Vaters erste Frage früh an das Dienstmädchen erkundigt sich nach der Laune des jungen Fräuleins, hat er Ärger im Geschäft gehabt, wagt er sich, seines Gesichtsausdrucks nicht sicher, kaum nach Haus. Die Mutter muss ihren liebsten Verkehr aufgeben, da die Tochter die Person gewöhnlich findet und mit Bosheiten verfolgt.

Sie herrscht. Will sich einer aufbäumen, klagt einer nur, gleich ist sie krank und leidend. Den alten Hausarzt verbittet sie sich, und bei nächster Gelegenheit dankt er’s ihr, listig lächelnd. Noch eine Demütigung, die den andern zuzurechnen bleibt. Seltsam, sie entziehen sich ihr, sie lassen sich nicht halten. O ja, sie kommen, sie schwärmen, sie sind verzaubert, sie werden toll – und entschwinden wieder, tanzen weiter. Was fehlt ihr noch, dass sie diese nicht hält, ihnen das Letzte nicht zufügen kann? Vielleicht ist sie noch zu sehr junges Mädchen, schwärmen die andern, wissen sie schon, eine Erfüllung mag oder darf sie noch nicht geben, und verstricken sich bei denen, die solche Erfüllung halten? Wieder warten, wieder älter werden und den Durst stärker in sich spüren denn je, endgiltig oben zu sein, Schicksal zu halten.

Eine Schale streift sie wieder ab: die Schule. Sie war längst nur Farce, Unsinn. Reine Duldung, Lehrer und Lehrerinnen schwatzen zu lassen und sich das Zeugs anzuhören! Sicher war doch, wie hoch die schon redeten, sie hatten das Wichtigste im Leben verpasst, sonst ständen sie nicht dort.

Und nun reisen, fort von diesen allen. Ihre Brust gibt Vorwand genug, ins Gebirge zu gehen, in ein Sanatorium. Dort findet sie die ihr gemäße Art zu leben entwickelt. Immer umsorgt zu sein, immer klagen zu dürfen, kleine Leiden zu haben, sich bedauert zu sehen, das gefällt ihr. Aber dann, wenn das geringste Interesse kommt, gesund sein, alles tun dürfen mit der ungehemmten Freiheit, die den Launen der Kranken gewährt wird, eine Stunde froh sein und sprechen dürfen und zehn Stunden kränkeln und sich verwöhnen lassen, das ist Leben.

Diese Männer hier sind reizvoller als die unten in der Stadt. Sie sind lang hinhaltend, gleichgiltig, voll ungefährer Versprechen wie Frauen und flammen plötzlich auf, genießen in Hast bis zur letzten Neige und wissen schon nichts mehr von allem, sind Kameraden, ohne Forderung, ohne Gier, ohne Erinnerung.

Einen Schriftsteller findet sie, der ihr zum ersten Male von »ihrer Linie« spricht, einen hässlichen, spottsüchtigen Mann, der unbarmherzig ihre kleinen Faxen verlacht. Er lehrt sie die wirklichen Verstellungen, die Tiefen der Frau, bei denen sie kaum noch weiß, ist sie wahr, ist sie verstellt. Ein Absterbender erzählt ihr seine Erfahrungen, er grinst höhnisch und wünscht ihr viele Opfer. Ihre ungefähre Menschenverachtung begründet er, er zeigt ihr den lächerlichen Tanz um Liebe und Geld und mahnt sie, weise zu sein, da sie durch beides herrschen kann. Er macht Übungen mit ihr, indem er ihr rät, wie sie diesen oder jenen Gast umstricken, sein Interesse fesseln, ihn plötzlich vernichtend fallen lassen kann.

Sie hört zu, sie lernt. Sie hat dies alles von je gewusst, es kommt zu ihr wie Luft zu atmen. Oft scheint ihr erklügelt, was er spricht, und sie überrascht sich schon beim Tun, als sei es Natur. Er gleicht dem Arzt von damals, auch gegen ihn kann sie schlicht sein und wahr, nur dieser Klügere selbst das noch durchschaut und ihre Demut und Offenheit als Mittel, ihn zu gewinnen, entlarvt. Da liegt er, hässlich, mager, eingefallen, entkräftet, doch in ihr ruht nicht der Trieb, auch ihn möchte sie belebter sehen, ein wärmend Wort hören, einen Händedruck spüren.

Er spottet schonungslos. Sie hasst ihn, da er sie als Tierlein schildert, geschaffen, leiden zu machen, ohne selbst leiden zu können, eine leere, glänzende Puppe, in die sich die Affen vergaffen. Sie hasst ihn, und ihr Hass wird spitzerer Sporn nur, auch ihn einzufangen, ihn unten zu sehen. Sie kann nicht leiden? Wie sie gelitten hat damals, wie sie jetzt leiden wird, wenn sie ihm erzählt!

Sie tut es – und ein unfassbar schönes Lächeln glänzt auf aus den Falten des Kranken, eine entkräftete Hand tastet nach dem schönen Arm und liebkost ihn. »Nun bist du erst ganz schön, meine Puppe, da ich dies von dir weiß. Wer sich so sehr in ahnungsloser Jugend schon Erlebnis einzufügen weiß in den einen Sinn seines Daseins, der muss weit gehen.« Er phantasiert, er spricht abgerissen vor ihr, er sendet sie aus, seine Hässlichkeit an der Schönheit der Welt zu rächen, durch sie soll seine Klugheit siegen, die stets im Kampf gegen die Dummheit erlag. Sie harrt aus bei ihm, der Ekelscheuen bleibt der Ekel vor diesem zerfallenden Freund. Auch sie will eine Probe, den letzten Beweis, dass sie für die draußen ganz fertig ist. Sie feiert sein langsames Sterben, sie bewegt sich in seinem Rhythmus, noch die Blumen auf dem Tisch fügt sie so, dass sie sacht einklingen oder darüber frohlocken. Sie beugt sich über sein Lager, ihre weiße Hand, schlank, mit aufgebogenen Fingerspitzen, kühlt seine Stirn, ihr Atem streift, ihre Brust schmeichelt ihm.

Er kennt sie, er spielt das Spiel mit ihr. Er grinst gegen Leben und Tod an, er weiß, wie wertlos dieses ist, da solch eine herrschen wird, wie wichtig jener ist, da der Sterbende doch weiterleben wird in seinem Geschöpf. Spiel ja – er fordert sie heraus, er ist ohnmächtig, nur den geheuchelten Schauspielerinnenkuss auf seiner Stirn zu fühlen, erwachend legt er Glut in den Blick, ihrer Glut zu begegnen. Er spielt, sie spielt, seine Sarkasmen werden zärtlich fast, seine Peitschenhiebe fallen sanft wie Lob. Er schmiegt sich ein in diesen jungen Frauenleib, noch einmal nimmt der Sterbende Maß in ihm wie zu einem Grab.

Sie spürt’s, und sie überspielt den Meister, sie überrumpelt seine Kühlheit: sie bleibt fort. Er sendet Boten, Zettelchen, Anfragen –: sie bleibt fort. Eine quälende Leere steht in seinem Zimmer, die Vorhänge hängen, die Stühle stehen, das Bett ist nur zum Sterben da. Sein Geschöpf ist fort, das Wesen, dem er Gehen und Sprechen gelehrt, ist fort, ihm bleibt nichts, als zu sterben. Zwei Tage, drei Tage, zehn Tage vielleicht noch und nichts zu tun, als langsam Glied für Glied, Muskel für Muskel, Nerv für Nerv zu sterben.

Er tut das Unerhörte, er steht auf, er zieht sich an, er klettert in ihr Zimmer hinab: sie ist nicht da. Er schickt in die Liegehalle: sie hat keine Zeit jetzt. Er lächelt, auf ihrem Sofa liegend, inmitten ihrer Dinge, im vertrauten Geruch ihres Parfüms lächelt er: sie ist sein Geschöpf, sie beweist es ihm mit all ihrer Gnadenlosigkeit: sie lässt den Schöpfer allein sterben. Er stirbt, sein Gesicht fühlt noch einmal das glatte Schmeicheln der Seide, die sie trug, es erkaltet dann. Und sie sieht ihn nicht mehr, sie weigert sich, dieses Zimmer zu betreten, kaum dass sie ihre Sachen wiedernehmen mag. Sie hat ihn immer gehasst, am meisten damals, als sie seine Liebe erzwang und fortblieb. O! dies war der Opfer größestes, das sie je gebracht, unten zu sitzen, nicht zu kommen, das Leiden nicht auf seinem Gesicht zu sehen, das Sterben nicht zu verfolgen und ihm im letzten Augenblick nicht noch zu sagen, dass sie ihn hasst, hasst, hasst. Sie ist sein Werk, in Stimme und Gang, in Gedanken und Gefühl spürt sie den Meister, der sie geformt, aber dieser Meister wäre ein Stümper geblieben, wäre sein Geschöpf nicht stark gewesen, den Schöpfer zu zerbrechen.

Der Apparat der Liebe

1.

Ich glaube, ein junges Mädchen, das einmal Lehrerin war, wird die Nachwirkungen dieser Tätigkeit in gutem wie in bösem Sinne ihr Leben lang spüren. Dabei spreche ich natürlich nur von den wirklichen Lehrerinnen – nicht von denen, die nur so – um eben nicht zu Haus zu sitzen – den Beruf ergriffen. Ich wenigstens verdanke meiner Ansicht nach den ausgesprochenen Sinn für Ordnung und Pünktlichkeit, den Hang, alles in ein System zu bringen, und nicht nur das Äußerliche, sicher meinen Lehrjahren. Nichts ist mir verhasster als Unordnung und Faselei, und ich glaube, alles ertragen zu können, selbst das Schwerste, wenn ich mir die organische Ursache, die es bedingt, nur klarzulegen vermag.

Das ist ein seltsamer Anfang für eine, die es sich vorgesetzt hat, auf den nachfolgenden Seiten von ihren ehelichen und nebenehelichen Erlebnissen mit einigen Männern zu erzählen. Man wird ja auf diesen Blättern meine Stellung zum Ehebruchsproblem klargelegt finden, ohne dass ich darüber viele Worte zu machen brauchte, die Tatsachen sprechen für sich, wie man sagt.

Übrigens glaube ich nicht, dass ich mehr Erlebnisse als andere Ehefrauen in meinem Alter – ich bin Anfang der vierzig – aufzuweisen habe. Diese drei Seitensprünge sind quantitativ meinen Beobachtungen nach eher unter als über dem Durchschnitt. Umso seltsamer ist die Krankheit, die mein Gefühlsleben infolge dieser wenigen Erlebnisse ergriffen hat und die ich »Routine des Gefühls« nennen möchte. Ich wundere mich über einige meiner Geschlechtsgefährtinnen, die sich unermüdlich von einem Abenteuer in das andere stürzen, ich verstehe sie nicht.

Meine Unternehmungslust in dieser Hinsicht ist wohl endgiltig vorbei, ich fühle eine Lähmung meiner seelischen Spannkraft, einen Pessimismus in Hinblick auf das Neue, das mir das Leben etwa noch zu bieten hätte, der grenzenlos ist.

Eine boshafte Freundin hat einmal von mir gesagt, ich trüge auch seelisch einen Klemmer. (Ich benutze ein Glas.) Wenn sie damit gemeint hat, ich verabscheue das Schrankenlose, das Vage, das Gefühlsduselige, das Chaos, so hat sie zweifellos recht.

Hat sie jedoch damit gemeint, ich könne mich nicht entschließen, die Konsequenzen meiner Erkenntnisse zu ziehen, meinem Mann und meinen Kindern Valet zu sagen und – eine andere Nora – in die Welt hinauszugehen, so hat sie wiederum recht.

Ganz abgesehen davon, dass über das Betrügen des Ehemanns mancherlei zu sagen bleibt, dass die ganze Redensart von dem auf einer Lüge aufgebauten Leben eben nur eine Redensart ist (denn welches Leben ist ohne Lüge –?), gehört zu einem solchen Valet ein sehr handfester Glaube an das Leben. Und, so bedauerlich ich das für mich auch finde, diesen Glauben habe ich eben nicht mehr, ich kann nicht mehr mit gutem Gewissen dem Leben diese tiefe achtungs- und hoffnungsvolle Reverenz machen.

Nebenan tollen die Kinder, Franz sechzehn, Emmi vierzehn und Ernst zwölf Jahre alt. Mein Mann ist Professor an einem Gymnasium und unterrichtet in den alten Sprachen, unsere Wohnung hat fünf Zimmer – eigentlich viel zu wenig! – und liegt dort im Westen Berlins, wo er lange nicht mehr fein ist, wo er längst Steglitz heißt. Ich habe zu tun, um das Gehalt bis zum Vierteljahresletzten reichen zu machen.

Das wäre das äußere Drum und Dran bei Lauterbachs, und ehe ich nun recht eigentlich von mir zu reden anfange, muss ich von meiner Schwester erzählen und wie es kam, dass ich durch viele Jahre einen Abscheu vor der »Liebe« behielt.

Ich wurde aus dem Paradiese (wenn es schon so heißen soll) vertrieben, ehe ich noch den Apfel gegessen hatte.

2.

Violet war, als dieses Ereignis sich zutrug, sechs Jahre älter als ich, einundzwanzig Jahr. Den ungewöhnlichen Namen hatte sie dem Vater zu danken, der zur Zeit ihrer Geburt grade für eine so benannte Heldin in einem sentimentalen englischen Roman schwärmte. Als ich geboren wurde, war er bereits drei Monate tot, und so heiße ich denn auch nur schlechthin Marie, gesprochen Mieze oder Mie. Ich bin ihm ebenfalls zu Dank verpflichtet, nämlich dafür, dass er sich in meine Benamsung nicht gemischt hat, denn ich möchte wohl wissen, was ich guter Durchschnitt, und im Aussehen kaum das, mit solch einem Namen hätte anfangen sollen.